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»Vielleicht ist es an der Zeit, Geschichten zu erzählen.« Zwischen Dimensionen und vergangenen Leben Ihr habt mich oft nach all den Jahren und Welten gefragt. Was soll ich sagen? Den Frieden der wenigen stillen Tage will ich nicht stören, die hässlichen bereue ich zu selten, als dass ich davon erzählen wollte. Übrig bleiben die Fragmente dazwischen: elf Regeln und ihre Geschichten. So etwas wie mein moralischer Kompass bei multiversen Problemen und Dingen, von denen ich die Finger nicht lassen kann. Keine Ahnung, ob es eine gute Idee ist, darüber zu schreiben. Von der Flucht vor dem Regime quer durchs Weltengefüge bis in eure Realität. Portalanomalien, Wesen in zu Batterien umfunktionierten Biozellen, die schwindende Magie sterbender Planeten, untote Hühner und was das Schicksal mir sonst so vor die Füße gekippt hat. Drumherum bleiben genug Geheimnisse. Vanjar Belaquar
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Veröffentlichungsjahr: 2023
SAMMELSURIUM DER WELTEN
Carolin Summer
Geschichtenband 2 zur
Urban-Fantasy-Krimi-Tetralogie
Content Notes: Tod/Mord, Suizid, psychische Gewalt, körperliche Gewalt, explizit: häusliche Gewalt, Missbrauch, Sexismus, Abusus, Drogenkonsum, Alkoholkonsum, Alkoholkrankheit, Selbstjustiz, Rassismus
IMPRESSUM
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt und jegliche Verwertung ohne Zustimmung der Autorin daher unzulässig. Insbesondere gilt dies für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Dazu zählt ebenfalls die Erstellung von RPG-Foren, Fan-Fictions etc. Die in der Geschichte enthaltenen, fiktiv-physikalischen Erläuterungen erheben keinen Anspruch auf wissenschaftliche Korrektheit und sollten mit einem nachsichtigen Augenzwinkern betrachtet werden. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Erste Auflage: 2023 Copyright 2023 Selina Carolin Summer c/o Fam. Töpler, Mozartstr. 8, 66399 Mandelbachtal Lektorat: Nina Hasse | texteule-lektorat.com Korrektorat: Roberta Altmann Cover und Satz: Selina Carolin Summer Bildmaterial: Selina Carolin Summer Textur: Sascha Duensing ISBN Taschenbuch: 978-3-347-96425-9ISBN Hardcover: 978-3-347-96426-6 Erschienen bei Tredition
Für alle, die wir nicht wiedersehen.
Geh, bevor der Tod kommt. Aufgeben ist keine Option. Nicht mit der Zeit anlegen. Schlag keine Wurzeln. Jedes Risiko hat einen Wert, es auch einzugehen. Stell dich auf keine Seite. Rette andere Leben, wenn du kannst. Jeder Wechsel fordert seinen Tribut. Wähle das kleinere Übel. Finger weg von multiversen Fixpunkten. Die Wahrheit geht andere nichts an.
Ich starre auf den Stift in meinen Fingern und die Zeilen darunter. Blassblaue Tinte auf rauem Papier, Buchstaben, verschlungen wie die Pfade zwischen den Welten, über die sie berichten.
Splitter der Zeit.
Anders als die vollgestopften Akten, die ich zu eurer Realität zusammentrage. Das Sammelsurium hier ist ein Flickenteppich, mal mehr, mal weniger zusammenhängend. So viele Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte. Über kaum welche bringe ich es fertig etwas zu verraten. Die stillen Tage sind zu selten, als dass ich ihren Frieden stören will. Die hässlichen gibt es haufenweise und ich bereue sie eindeutig zu wenig, um davon zu erzählen. Was übrig bleibt, sind die Fragmente dazwischen.
Elf Regeln und ihre Geschichten. Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, sie aufzuschreiben, aber sie haben mir beigebracht, im Multiversum zu überleben. Ihnen zu folgen und sie letztendlich zu übergehen, hat mich hergebracht.
In eure Realität. Keine Ahnung, ob ich hierher gehöre, aber gerade ist ohnehin alles seltsam. Verdammt zu warten, vertreiben wir uns die Zeit und ermogeln uns eine bessere Wirklichkeit. Zumindest für eine Weile.
›Ferien‹ hat Luna es genannt, ›Alltagsflucht‹ war Jordis Betitelung. Verdrängung, damit der Kopf nicht aus voller Fahrt in den Leerlauf schaltet und plötzlich dazu kommt, den ganzen Rotz zu verdauen. Er hat Recht. Zwei Wochen an der Küste der Normandie, ehe die aussichtslose Vampirjagd weitergeht. Ein paar Tage das Drama vergessen, all den Ärger mit der paranormalen Mafia – oder wie wenig Zeit mir noch bleibt. Eine Auszeit von der Wahrheit, weil wir momentan sowieso nichts anderes tun können.
Zu schlafen schaffe ich dennoch nicht, also trete ich meinen bösen Geistern mit Stift und Papier entgegen. Wie immer. Nicht als Teil der Akten, für die gerade irgendwer den Pauseknopf gedrückt zu haben scheint. Das hier ist genauso unwirklich wie unsere zu ehrlichen Gespräche nachts am Strand oder die verregneten Abende mit lauter Musik und Küchen-Schlemmerei-Eskalationen. Normalität, deren Seltenheitswert ebenfalls zu hoch ist, um mich darüber auszulassen. Dann doch lieber ein Blick in die Vergangenheit. Mal sehen, wie weit ich damit komme.
Im ersten verlieren wir alles und landen im Nichts.
Knirschend schoben sich die Schleusentüren auseinander. Das fahle Licht der Gänge mischte sich mit dem Pulsieren der Warnleuchten in der Registrierungspassage. Eine von vielen im wirren Labyrinth des Instituts. Der Herzschlag des imaginären Monsters, das ein Leben nach dem anderen verschlang.
»Kennung und Durchlassbeleg«, forderte die monotone Stimme des Kontrollpanels.
Meine Wärterin hielt ihre Marke unter den Scanner und trat vor die Linse. »Offizier Delacure, erbitte Zugang zu Abteilung 72. Vorladung von Subjekt Omega-49, gemäß Befehl 1967-7.«
Subjekt. Als ob sie für die KI hinter den Wanddisplays, Lautsprechern und Kameralinsen etwas anderes war. Genauso ein Subjekt, nur eins mit ›sauberem Genpool‹, ohne magische Begabung. Eine Uniqua, noch dazu in Uniform samt Dienstgrad und Abzeichen statt dem schwarzen Overall der Inhaftierten.
Zweimal glitt der Lichtstreifen über ihr Gesicht, dann entriegelte der Gegenpart der Schleuse unter hydraulischem Zischen.
»Zutritt erteilt«, kommentierte die Einheit. »Prüfung der Magierestriktion bei Omega-49 zwingend erforderlich.«
Delacure zerrte an der Verbindungskette zwischen den Metallringen, die eng genug um meine Handgelenke lagen, dass sie an den Knöcheln wunde Stellen hinterließen.
»Finger in die Öffnung.«
Leises Sirren über unseren Köpfen warnte mich davor zu zögern. Im Schatten saß mindestens eine Drohne, geladen mit giftigen Nadeln, die einen tagelang in ein Delirium aus Schmerzen und Angstzuständen katapultierten. Eine Erfahrung, die ich kein weiteres Mal machen wollte.
Der Schacht unterhalb des Kommunikationspanels war gerade breit genug, um hineinzugreifen. Kaltes Metall und scharfkantiger Kristall, erhellt vom Glimmen einer Sphäre. Seltene Zauber innerhalb staatlicher Einrichtungen. Aufgeladene Speicher, zu nichts weiter zu gebrauchen, als jegliche Magiebegabung zu reglementieren. Überwachung des Verbotenen mit Verbotenem. Ich konnte die Energie spüren. Sie quoll förmlich aus den Nieten und Spalten vor meinen Fingern und doch gelang es mir nicht, einen Funken davon zu nutzen. Es tat weh. Nicht auf physische Weise, sondern auf eine, die mit Verzweiflung die Seele zu ersticken drohte. Dumpfes Pochen unter meinen Nägeln verriet, wie tief die Zauber sich zwischen die Barrieren und Blockaden bohrten, die mich hier drinnen festhielten. Abschotteten. Nicht einmal Gedanken konnte ich lesen. Seit Wochen war es viel zu still in meinem Kopf. Platz für eine hässliche Endlosschleife. Die Erinnerungen an den schlimmsten Tag meines Lebens. Die letzten Worte, die ich Lou hatte sagen hören.
Ich will nicht, dass du sterben musst, aber ich will auch nicht, dass du gehst.
Dieser vermaledeite Streit. Das erste Mal, dass ich meiner kleinen Schwester ihren Dickkopf nicht gelassen hatte. Nicht nachgab, sie eiskalt auslachte, ihre Einwände in der Luft zerriss und sie letztlich sogar mit Ignoranz strafte. Ich war gegangen, ohne Klärung, ohne Versöhnung – und keine zwei Stunden später von einem Trupp gestellt worden.
Sterben oder gehen.
Die einzigen beiden Varianten, die noch existierten. Gegen diesen Gedanken kämpfte ich genauso an wie gegen die Beeinflussung der magischen Überprüfung. Den Impuls, die Gestalt zu wechseln, den Drang zu verschwinden oder zumindest nach dem silbernen Schlangen-Talisman zu fassen, der nach wie vor um meinen Hals hing. Ein Geschenk von Lou, das mir nur nicht abgenommen worden war, weil sämtliche Untersuchungen eine Amulettnutzung ausgeschlossen hatten - und Symbole alten Aberglaubens als nettes Detail vermutlich perfekt zum schlechten Bild passten, das die Regierungspropaganda über den Widerstand so gerne in Szene setzte.
Das Regime sperrte seine Feinde nicht nur weg und brachte sie in Verruf, es zersetzte ihre Identität. Verurteilt zur Magielosigkeit, solange wir von Nutzen waren. Entzug. Eine hervorragende Basis für die Folter, mit der sie unsere Existenzen Schicht für Schicht auseinanderblätterten. Um zu sehen, was sich dahinter verbarg. Um Beweise für all die Vorwürfe zu finden. Gründe, um die Todesstrafe bei jener Farce zu rechtfertigen, die sie Verhandlungen nannten.
Als ob sie das in meinem Fall gebraucht hätten. Der Sohn eines Spions, gerade erst volljährig, Mischwesen in dritter Generation, dem per Gesetz kein Recht auf Leben eingeräumt wurde. Artenmischung, Verbreitung mutierten Erbguts, Nutzung irregulärer Fähigkeiten. All das, was sich nicht eindeutig definieren und mit ausreichend Pedanterie kontrollieren ließ. Die pure Existenz ein Vergehen gegen die Staatssicherheit. Ihr Freifahrtschein, auf jede noch so grausame Weise Geständnisse und Informationen zu erzwingen.
Der Name Belaquar stand weit oben auf der Roten Liste der Verräter und Staatsfeinde. Eine jener Familien, die vom Regime in den letzten Jahren nahezu ausgerottet worden waren. Opfer der Maschinerie, in der ich genauso gefangen war wie so viele andere hinter den Mauern und Gittern hier.
Ein real gewordener Albtraum. Tage, die Spuren aus Schnitten, Prellungen und Quetschungen hinterließen und besser nicht gezählt gehörten. Ich tat es trotzdem.
An den vergangenen beiden Morgen hatten sie mich nicht geholt. Die Folge davon, dass ich bei der letzten Befragung geplaudert hatte. Über Standorte und Lager der Rebellion. Interna aus den innersten Kreisen des Widerstandes, herausgepresst unter Zwang - und doch besaß nichts davon den geringsten Wahrheitsgehalt. Lügen und Verwünschungen, mehr hatte ich ihnen nicht entgegenzusetzen. Zwei Tage Stille bewiesen zweifelsfrei, dass sie mir auf den Leim gegangen waren und die Angelegenheit eskaliert war. Keine Ahnung, was jetzt kam, wohin sie mich dieses Mal durch die Gedärme des Instituts führten.
Eine Folge von Signaltönen ließ die Magieströme verebben.
»Zutritt gewährt.«
Sofort zog ich die Finger aus der Maschinerie, übersät von roten Flecken. Delacures kritischer Blick dazu verhieß nichts Gutes, genau wie das Pochen unter meinen Nägeln, das nicht weichen wollte. Der Beweis, dass die Formwandlung schleichend weiter gor. So weit wie mit den Fesseln möglich schob ich die Hände in die Taschen. Gerade rechtzeitig.
Aus dem Durchgang vor uns traten weitere Uniformierte. Geleitschutz? Kein gutes Zeichen. Den Rangabzeichen zufolge eine Mitarbeiterin der Forschungssektion, begleitet von einem Jäger. Die Hälfte seines Gesichts war geschwollen, über dem rechten Auge und dem dazugehörigen Ohr lag ein Verband, der dafür sorgte, dass seine Mütze schief auf dem rasierten Schädel saß. So wie er sich bewegte, schmerzten ihm gehörig die Glieder. Magische Wunden. Die Reste der Zauber hafteten ihm noch an. Im Mundwinkel balancierte er eine fast aufgerauchte Kippe.
Das freie Auge zusammengekniffen, begutachtete der Soldat die Anzeigen auf dem Display der Kontrolleinheit. »Dir ist sicher bewusst, dass eine Anhörung deine letzte Chance ist, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, Belaquar? Wenn du nicht redest -«
»Was dann? Bringt ihr mich um?« Anhörung. Kein Verhör, keine Magieregulierungsmaßnahme. Der nächste unvermeidliche Schritt. »Darauf läuft es doch sowieso hinaus. Ihr habt nichts zu bieten, was den Verrat wert wäre.«
Ich hatte den letzten Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da packte er mich am Kragen.
»Weißt du, was das Problem mit Lügnern ist? Selbst wenn sie einmal die Wahrheit sagen, schenkt ihnen niemand mehr Glauben.«
Eher schlecht als recht rang ich mir ein Grinsen ab. »Eben.«
Sollten sie zweifeln. An jedem Wort, das sie aus mir herausquetschten. Sämtliche Hinweise doppelt prüfen und mit ihrer Vorsicht Warnungen und Nachrichten zum Widerstand tragen, ohne es zu wissen. Einheiten, die an den falschen Stellen nach Spuren suchten, funktionierten hervorragend als Alarmsignale.
Brüllend stieß der Soldat mich rückwärts gegen die Metallverkleidung der Wand, eine Hand an meiner Kehle, die andere zerrte an den Handschellen, um jegliche Abwehr zu unterbinden. Die Zigarette fiel zu Boden und brannte ihm auf dem Weg beinahe ein Loch ins Hosenbein.
»Ich bringe dich zum Reden, Métis. Verlass dich -«
»Gernaud!«, fuhr Delacure dazwischen.
Schnaufend verstärkte er seinen Griff und verlagerte das Gewicht. Das Gesicht so nah an meinem, dass ich die pulsierenden Adern an seinen Schläfen sehen konnte. Stoßweiser Atem wehte mir in alkoholgeschwängerten Schwaden entgegen, gemischt mit widerwärtigem Kippengeruch.
»Sergeant!« Diesmal packte ihn die Mitarbeiterin der Forschungssektion am Ellbogen.
Zur Raison gerufen, nahm er einen Schritt Abstand, jedoch bloß, um mich mit durch den Gang zu zerren, entlang der riesigen Nietentüren. Drei Stück passierten wir, ehe sich eine zischend auseinanderschob, geöffnet vom Autorisierungschip der Forscherin. Eine Doktorin also, wenn sie die Freigabe dazu besaß. Ich hatte lange keine mehr von ihnen gesehen.
Der Raum dahinter wirkte, als ob er nicht zum düsteren Rest des Gebäudes gehörte, und strahlte eine beängstigende Vertrautheit aus. Beton und Metall wichen hellen Fliesen, unter der Decke verliefen weder Kabel noch Rohre, dafür wölbte sie sich zu einer Lamellenkuppel. Grelles Licht flutete jeden Winkel und spiegelte sich auf polierter Ausrüstung. Instrumente, die an einen Operationssaal aus dem vergangenen Jahrhundert erinnerten, gespickt mit Unmengen Technik und angeordnet rund um einen Tisch samt Stuhl, der mit Hebeln und Gelenken versehen war. Zwei Zeiten, aus dem Kontext gerissen und miteinander zu einer Horrorkulisse verschmolzen, in der es süßlich nach Ritualkerzen stank und zahllose Bannzeichen übereinander auf den Boden geschmiert worden waren. Als ob die Riemen und Fixierungen nicht genügten. An der Kopfseite warteten mehrere Pulte. Ihre Fronten zierte je ein Zeichen der Elemente. Die Plätze der Richtenden. Noch blieben sie leer, keine der stummen Schauergestalten mit den schwarzen Masken in Sicht. Dafür schwebten rundherum Drohnen mit riesigen Linsen. Das Pendant der neugierigen Augen, die mit Sicherheit auf den Straßen an den Bildschirmen klebten.
Jeder Schritt innerhalb dieser vier Wände beschwor eine abstruse Mischung aus Angst und Ohnmacht herauf. Sie wurzelte im Wissen, auf welche Weise Anhörungen im Institut abliefen. Ich hatte genügend davon mitverfolgt. Auf der anderen Seite, vor Monitoren und Leinwänden.
Delacure bezog neben dem Eingang Position, die Forscherin schlüpfte in einen Kittel. Die weiße Weste der Wissenschaft. Zum ersten Mal zeigte sich eine Regung auf dem nichtssagenden Gesicht. Ausgerechnet ein scheinheiliges Lächeln, mit dem sie zum Stuhl deutete. Als ob sie ihrem Versuchstier den Kopf tätschelte, während sie es aus dem Käfig zog.
Mein eigener Atem hallte mir zu laut in den Ohren. Genau wie das Klacken der am Tisch verschraubten Fixierungen. Neue Fesseln. Sie hielten meine Hände an der Keramikplatte fest. Keine Chance, mich zu wehren – oder wenigstens schützend die Arme zu heben.
Gegenüber baute Gernaud sich auf. Die nächste Zigarette schon im Mundwinkel nestelte er seine Waffe unter der Uniformjacke hervor und platzierte sie direkt vor sich, so dass ich das Glimmen aus den beiden Läufen sehen konnte. Zwei bedrohlich funkelnde Augen. Geladen und entsichert.
»Deine Lügen haben sieben meiner Kameraden auf die Krankenstation gebracht.«
Mit skeptischer Miene lehnte ich ein Knie gegen die Tischkante. Vorgegaukelter Schutz. Als ob das die Kugeln davon abhalten könnte, meine Organe zu zersieben, wenn er aus nächster Nähe den Abzug drückte. Nichts zu entgegnen sorgte dafür, dass der Jäger die Fassung verlor. Unvermittelt donnerte seine Faust auf die Platte, dazu blies er mir eine Rauchwolke entgegen.
»Zwei haben den Einsatz nicht überlebt!«
»Umgekehrt hätte es mir besser gefallen.«
Meine geflüsterte Erwiderung ließ die Doktorin scharf die Luft einziehen. »Sergeant Gernaud …« Sie wedelte mit einem Klemmbrett.
Er ignorierte sie und wandte sich zu einer der Ablagen zwischen den Drohnen um. »Du hattest also Spaß daran, ihre Leben zu stehlen, ja? Es wäre dir sicher lieber gewesen, das persönlich zu übernehmen, oder? So wie an dem Abend, an dem du festgesetzt wurdest? Mit blutigen Händen?«
Ich biss mir auf die Zunge, um ihm nicht den nächsten Konter auf dem Silbertablett zu präsentieren, den er sich zurechtbiegen konnte. Gerade hätte ich ihm verdammt gerne seine stinkende Kippe im Schritt ausgedrückt.
Fast schon behutsam nahm er eine kleine Maschine zur Hand. Die Basis erinnerte an einen Metallstift mit sich verdickendem Griffstück, über dem ein Aufbau aus zwei Spulen verschraubt hing. Ein Kabel führte daran zur Decke.
»Initiierte des Widerstands gelten mit dem sicheren Beweis ihrer Zugehörigkeit zweifelsfrei als schuldig.« Aus einer Schublade nahm er einen schmalen Behälter voll schwarzer Flüssigkeit. »Dieser Angriff war die längst überfällige Bestätigung.«
Klatschend landete das Klemmbrett auf dem Tisch. Der obere Bogen strotzte vor offiziellen Stempeln und Unterschriften. Mein Blick klebte an den fett gedruckten Worten inmitten des Textes.
Signum resistendi.
Mein Reflex aufzustehen wurde von einem elektrischen Schlag quittiert. Blitze, die aus den Symbolen am Boden schlugen und dafür sorgten, dass ich krampfend zurücksank. Jedes noch so leise Geräusch malträtierte überlaut meine Trommelfelle. Das Klacken von Glas auf Keramik, das Quietschen eines hakenden Scharniers irgendwo über mir und die Schritte der Soldatenstiefel. So gut es ging, richtete ich mich auf. Gernaud reichte die Maschine an die Forscherin weiter, zog das Kabel von der Wand mit sich in den Raum.
»Frau Doktorin.«
Sie stellte etwas auf dem Tisch ab und nahm das Ding entgegen. Dem Klicken eines Schalters folgte aggressives Surren – und verstummte wieder. Gleichzeitig wurde ich von hinten gepackt.
»Stillhalten«, flüsterte Delacure mir ins Ohr. Ohne Vorwarnung zog sich eine magische Fixierung zusammen. Unsichtbare Stricke, die mich an den Stuhl fesselten und mir die Luft abschnürten. Fest genug, dass mir das Atmen schwerfiel.
Finger in Einweghandschuhen lösten die Handschellen und fassten nach meinem linken Arm. Weiß wie der Kittel ihrer Besitzerin. Grob zerrte die Doktorin den Overallärmel hoch, kippte einen Hebel am Stuhl und bugsierte die seitliche Lehne in eine höhere Position. Der Mechanismus gab ein Knirschen von sich, das genauso gut von meinem Ellbogen hätte stammen können, so weit überstreckte sie das Gelenk dabei. Prüfend fuhren zwei der Handschuhfinger die Adern auf der Arminnenseite entlang. Vom Handgelenk aufwärts, über rote und blaue Flecken hinweg. Überbleibsel der letzten Verhöre. Ich sah nicht hin. Nicht darüber nachdenken, nicht einknicken. Mit aufeinandergebissenen Zähnen und zusammengekniffenen Augen. Knapp unterhalb der Ellenbeuge hielt sie inne.
Vielleicht wäre es besser, tot zu sein. Raus aus diesem Elendsstrudel, der mich ohnehin den Hals kostete. Aber die Angst davor zu sterben, vor der Leere und Ungewissheit, erstickte den Gedanken. Aufgeben kam nicht infrage. Niemals. Zeit für die herausschlagen, die noch nicht in die Fänge des Regimes geraten waren. Sollten sie den Aracyis wieder ins Messer laufen, wie Gernaud und seine Leute. Sollten sie ihre Zeit weiter damit verschwenden, Fehlinformationen zu enttarnen, während ihre Stützpunkte überfallen und Lager geplündert wurden, um unsere Seite zu versorgen.
Das Surren der Maschine setzte wieder ein und mit ihr nahm auch das Pochen unter meinen Nägeln zu. Was folgte, war der Beweis dafür, dass ich unwiderruflich mit einem Bein im Jenseits stand.
Signum resistendi. Jenes Zeichen, mit dem sie brandmarkten, wen das Todesurteil erwartete – und das wir genau aus diesem Grund zum Symbol unseres Kampfes erkoren hatten. Keine Ahnung, wie oft ich es an Wände geschmiert, in Scheiben gekratzt und als aufgesticktes Abzeichen getragen hatte. In Solidarität mit jenen, die damit auf den Overalls des Instituts gekennzeichnet wurden und deren Namen diesem Symbol wichen, nur unterschieden durch ein paar Zahlen.
Omega.
Subjekt Omega-49.
Ich wagte zu blinzeln. Sah Gernauds zufriedenes Grinsen, die Schale mit schwarzer Tinte vor mir auf dem Tisch und die schmalen Aufsätze, deren Spitzen aus dünnen, gebündelten Nadeln bestanden. Mittlerweile stank der ganze Raum nach kaltem Zigarettenqualm.
Einen Fuß gegen das Tischbein gestemmt, versuchte ich, zumindest die Fesseln zu lockern, aber weder die magischen Schlingen noch das Mobiliar gaben nach. Weil die Metallstangen im Boden verschraubt und die Zauber in den Fliesen verankert hingen, die ihnen als Speicher dienten. Ausweglos.
Mit einem Aufschrei wich Delacure zurück, nur um einen Befehl in Richtung des Kontrollpanels zu bellen.
»Umgehende Defragmentierung der Magierestriktion innerhalb dieser Einheit!«
Was?
Ich sah auf. Grünes Flackern spiegelte sich in den Linsen der Drohnen, wischte Gernaud das Grinsen aus dem Gesicht und hielt die Doktorin davon ab, näherzukommen. Ihr gegenüber stand Delacure und blickte gehetzt zwischen ihren und meinen Händen hin und her. Weiße Blasen überzogen ihre Finger, an meinen verformten sich die Nägel zu Krallen.
Neinneinnein … alles, nur das nicht!
Keine Wandlung, nicht jetzt, nicht hier!
Mit aller Kraft versuchte ich, die menschliche Gestalt beizubehalten und nicht mehr als ohnehin schon von meinem tatsächlichen Gesicht nach außen zu kehren. Dem angeekelten Gesichtsausdruck der Offizierin nach zu urteilen nicht sonderlich erfolgreich.
Unstet zuckte ihr Blick nach oben. Zu den beiden giftgrünen Irrlichtern, die über mir in der Luft taumelten. Bereit, jeden zu versengen, der mir zu nahe kam. Bruchstücke meiner Schutzzauber, die ich wohl weder besonders lange aufrechterhalten konnte noch viel bewirkten. Dennoch Magie. Etwas, das innerhalb des Instituts für mich nicht funktionieren durfte und das ich beim besten Willen nicht erklären konnte. Mit ihr schwand die Taubheit und brachte die Normalität zurück. Eine Realität, die aus mehr als vier Dimensionen bestand und seit Monaten Zweifel gären ließ.
Gehen oder sterben.
Ehe der Gedanke weiter wurzeln konnte, setzte die KI neue Bannzauber aus den Speichern frei. Leuchtend schälten sich die Runen aus den Wänden, begleitet von einer eisigen Druckwelle, die meine Irrlichter erstickte und mich in den Taumel der Bewusstlosigkeit schickte.
Der süßliche Geruch frisch angezündeter Ritualkerzen übertünchte Gernauds Kippenqualm und mischte sich mit dem Surren der Maschine und jenem seltsamen Schmerz. Stechend, kratzend, beständig, aber nicht annähernd so zermürbend wie das, was während der Verhöre passierte. Immer wieder tauchte die Doktorin die Nadel in die Tintenschale und setzte sie neu an. Dort, wo sie mit ihren Handschuhfingern innegehalten hatte. Zwischen den Flecken und Schrammen, zu denen sie die schwarze Farbe unter die Haut trieb, um das Mal der Todgeweihten zu hinterlassen.
So verbissen ich mich dagegen zu wehren versuchte, die von der KI abgerufenen Banne kamen jeglichen Kontern zuvor. Magisch wie physisch. Eine diffuse Last, die mir sämtliche Glieder lähmte und den linken Arm unnachgiebig in Position hielt. Zu schreien war vermutlich das Einzige, wozu ich in der Lage war. Aber den Gefallen wollte ich ihnen nicht tun. Konzentriert zählte ich die Sekunden. Jede einzelne brachte mich dem Tod näher.
Dabei gab es einen Ausweg. Eine Möglichkeit, auch wenn die Angst vor der Ahnungslosigkeit genauso lähmend erschien wie das Wissen, auf der Schwelle zum Tod zu stehen.
Sterben oder gehen.
Es war verboten zu wechseln. Wer das Universum verließ, kehrte nicht zurück. Endgültig aus der Welt sortiert. Nicht besser als der Tod – aber eben auch nicht schlechter. Letztendlich machte es keinen Unterschied.
Das Surren verstummte, die magischen Fixierungen gaben nach und die Doktorin löste die Fesseln.
»Aufstehen, Dämon!«
Der Befehl dröhnte von irgendwo hinter uns durch den Raum. Grell und schneidend. Zu gehorchen fühlte sich unwirklich an. Fremdgesteuert. Benebelt von den Nachwirkungen des Banns rappelte ich mich auf. Absichtlich langsam, den schmerzenden Arm gegen den Bauch gepresst, den Blick gesenkt. Zeit schinden, um die Halbmenschengestalt loszuwerden, Krallen und Federn in ein Erscheinungsbild zu pressen, das in den Hallen des Instituts nicht für Drohnenalarm sorgte. Die Wandlung tat weh. So penibel ich mein tatsächliches Gesicht sonst mied, gerade weigerte sich mein Körper standhaft, es abzulegen. Der nicht zu leugnende Beweis, zu welcher Art ich gehörte. Wahrscheinlich wäre es sogar leichter gewesen, zur Krähe zu werden. Aber als Vogel war ich den Drohnen noch schneller ausgeliefert als in dieser Form. Sie würden mich innerhalb kürzester Zeit aus der Luft holen und mir sämtliche Federn vom Körper reißen.
»Vortreten!« Gernaud betätigte einen zwischen den Fliesen eingelassenen Kippschalter. Ein Mechanismus, der mehrere Bodensegmente übereinander sowie zur Seite schob und ein rautenförmiges Gitter freigab. Mit unmissverständlicher Geste zitierte Delacure mich darauf in die Mitte. Weg von Tisch und Stuhl. Das Metallgestell wankte knirschend gleich einem klapprigen Transportlift. Im Halbdunkel unter mir versuchte ich etwas auszumachen. Zahnräder, Ketten und Asche.
Als ich aufsah, betraten die Richtenden den Raum. Stumm bezogen sie Position an den Pulten. Mit ihrem Erscheinen nahmen die Drohnen sirrend neue Plätze ein. Bessere Aussicht auf das, was das Institut nach außen hin Verhandlung schimpfte. Gleichzeitig rief die KI Schutzkreise um die Pulte herum auf. Abweisend und drückend unterstrichen sie die Unnahbarkeit der Schauergestalten.
Die Magie bekam nicht nur ich zu spüren. Delacure verzog immer wieder das Gesicht, wenn sie die verbrannten Finger bewegte. Es fiel ihr sichtlich schwer, Haltung zu bewahren. Unterdrückte Furcht davor, magisch kontaminiert zu sein. Mehr zu spüren, als sie sollte. Kontakt mit der verbotenen Macht. Ihr standen Tage der Läuterung bevor, die sich alles andere als angenehm gestalten würden. Sowohl der Sergeant als auch die Doktorin hielten Abstand zu ihr. Im Gegensatz zur Offizierin leuchtete Gernauds Gesicht rot vor Hass und Wut. Die Waffe in den Händen baute er sich neben dem Gitter auf, den Lauf auf meine Schläfe gerichtet. Der Wächter am Schafott, der den Rest seiner Zigarette durch das Gitter zu meinen Füßen schnippte.
Die angebrachte Panik setzte erstaunlicherweise aus. Kraftreserven aufgebraucht. Viele von uns knickten in diesem Moment ein. Redeten, in der Hoffnung, doch zu überleben. Die Chance zu bekommen, von der Gernaud im Gang draußen gesprochen hatte. Fakt war: Sie existierte nicht. Das Omega aus schwarzer Tinte auf meinem Arm war der beste Beweis dafür. Sie würden mich nicht am Leben lassen.
Zwei Richtende traten hinter ihren Pulten hervor. Gruselgestalten in Uniform mit ausdruckslosen Masken vor den Gesichtern.
»Hiermit erheben wir Anklage gegen Subjekt Omega-49 im Tatbestand der Spionage, des Regierungsverrats sowie der Widerstandszugehörigkeit. Hinzu kommen der illegale Gebrauch von Magie, Aneignung verbotenen Wissens, Verstoß gegen das Artengesetz, Beschädigung von Staatseigentum und die Verursachung des Todes von mindestens zwei Regierungsvertretenden.« Ihre Stimmen klangen glatt und unpersönlich, passend zum Rest ihres abweisenden Auftretens. »In jeglichen Belangen spricht die Beweislast gegen den Angeklagten. Wir sehen uns daher gezwungen, eine umgehende Verurteilung nach Paragraph 27 Absatz 10 auszusprechen. Gibt es Punkte, die zur Entlastung von Subjekt Omega-49 vorgebracht werden können?«
»Nein«, presste ich hervor. Das war keine Anhörung, sondern ein öffentliches Exempel. Die hochoffizielle Farce, um den Massen da draußen klarzumachen, was es bedeutete, gegen die Gesetze zu verstoßen.
»Relevante Details zur Bekämpfung des Widerstandes können je nach Brisanz durchaus eine Entlastung erwirken. Standorte der Aracyis. Lagepläne. Namen, insbesondere.«
Was sollte das werden? Ein letzter Versuch, mir Informationen abzuringen? Oder glaubten sie ernsthaft, dass ich mir noch Hoffnungen machte? Einknickte, im Angesicht des Todes, nur um letztendlich doch genau dazu verurteilt zu werden?
»Nein.«
Von einer der Ablagen reichte Gernaud dem Wortführer eine versiegelte Mappe. Beide legten die Daumen über das Siegel, um die Sperre zu lösen. Die Aufzeichnung darin flackerte als Hologramm auf, sobald der Deckel sich hob. Auswertungen medizinischer Daten, versehen mit dem Emblem des Genanalyseministeriums. Magiewerte, Berichte mehrerer Soldaten, Wandlungsdokumentationen.
»Die Probenauswertungen und Beobachtungen in der Zeit der Inhaftierung belegen des Weiteren zweifelsfrei einen Verstoß gegen das Artenregulierungsgesetz.«
Ich konnte nicht anders, als zu lachen. »Wollt ihr dafür die Toten zur Rechenschaft ziehen? Mal abgesehen davon, dass ihr siebzehn Jahre zu spät dran seid?«
Die Richtenden hoben die Schultern. »Korrekt. Omega-Subjekte dürften nicht am Leben sein. Die Reinigung der Bevölkerung von jeglichen Métis ist ein unerlässlicher Punkt im Schutz des Systems. Diesen Fehler werden wir nun korrigieren.«
Ich wagte nicht, zu den Kameras zu sehen. Die Linsen unter den blinkenden Statusanzeigen waren die Augen derer, die den gleichen Kampf bestritten. Die uns nach Danis Verurteilung aufgenommen und versteckt hatten, bei denen Lou und ich bleiben durften, nachdem Mam gestorben war. Die Augen unserer Freunde, des Meisters und im schlimmsten Fall die meiner Schwester. Keinem dieser Blicke wollte ich begegnen. Also sah ich nach unten. Auf das blanke Gitter und die Mechanik darunter. Träge setzten die Zahnräder sich in Gang. Begleitet von Dampfschwaden griffen sie ineinander und brachten die eingelassene Plattform in Bewegung – ebenso wie die Lamellenkuppel in der Decke. Klack–klack-klackklack. Der Schlund des Monsters sperrte sich für mich auf.
Meine Knie drohten nachzugeben, als beißend-süßlicher Geruch hereinströmte und das Konstrukt sich hob. Aus der weißen Fliesenneutralität heraus, zwischen ein Gewirr aus Rohren, an denen unzählige verbrannte Körper baumelten. An Kabeln aufgeknüpfte Mahnmale, drapiert in einem riesigen Spinnennetz aus ehemaligen Datenleitungen über den Dächern des Instituts. Scheiteropfer, hingerichtet, wie sie mich gerade zum Tode verurteilten.
Ich blickte an ihnen vorbei, hinauf zur Mondsichel. Verschwommen hing sie hinter dem Dunst der Stadt. Das gelbe Strahlen der Metropole genügte, um die Sterne beinahe unsichtbar erscheinen zu lassen. Genauso wie der permanente Lärmpegel die Stille vertrieb. Seit Jahren vertraut. Heute Nacht mischte sich noch etwas in diesen Sermon. Passend zum Takt des Klapperns und Ratterns der Scheiteranlage. Zuerst ein Murmeln, doch mit jedem Meter, den die Plattform an Höhe gewann, nahm die Lautstärke zu. Silben, Worte, Zeilen, die so allgegenwärtig waren wie der Klang der Straßen. Verse, in denen die Elemente um Hilfe angefleht wurden. Um Gnade für eine sterbende Seele. Beistand und Erlösung. Dabei war das hier nichts von alldem. Glaube und Gebete halfen nicht das Mindeste. Sie waren lediglich eine Strategie. Das, was die Gesellschaft wahrhaben wollte, wenn sie Erklärungen und Rechtfertigungen brauchte. Wenn ihr nichts Besseres einfiel und zermürbende Ungewissheit die Nerven zerfraß. Aber ich wollte nicht gehen.
Nein, ich wollte nicht sterben.
Passend zu diesem Entschluss hoben sich andere Worte aus der Elegie. Verfasst in der verbotenen Sprache riefen sie eine Macht an, die so viel realer war als all die Legenden und Hoffnungen veralteter Tradition. Die Rezitation des Schwurs, der seit Generationen nur im Verborgenen ausgesprochen wurde. Das Versprechen an die Magie, die alles war, was mich jetzt am Leben hielt. Immer mehr Stimmen fielen ein und obwohl ich die Menge durch Qualm und Dampf nicht ausmachen konnte, wusste ich verdammt genau, wer da unten Position bezog. Ich hatte selbst oft genug dabeigestanden, zwischen den Zugehörigen der Gemeinschaft. Offiziell existierten magische Zirkel nicht. Jeder Einzelne riskierte damit sein Leben. Aber es war die einzige Möglichkeit, die uns blieb, einander Respekt zu zollen.
Nicht allein.
Der Gedanke wurde von einer Hitzewelle davongefegt, gefolgt von Stichflammen, die fauchend die Zahnräder emporzüngelten. Die Augen zusammengekniffen, riss ich die Arme vors Gesicht. Nicht allein, doch helfen konnten sie mir genauso wenig.
Niemand entkam dem Feuer.
Eine weitere Flamme zischte von der Seite über die Plattform. Ich stolperte rückwärts, so weit der Platz es zuließ. Der nutzlose Versuch auszuweichen, erstickt in einem Funkensturm, unter dem die Mechanik zum Stillstand kam. Gleichzeitig spuckte alles um mich herum Feuer. Die Welt verschwand hinter Licht, Schmerz - und magischer Energie. Genug davon, um meine aus Reflex hochgerissenen Schutzkreise halbwegs zu stabilisieren.
Wie? Oder eher: woher? Setzten hier oben die Blockaden aus? Im Gewirr aus Schornsteinen, Rohren und Kabeln über dem Institut trafen sich ohnehin nur Drohnen und Leichen. Die Silhouetten der Toten schaukelten an ihren Kabelgalgen im Wind und schürten die Verzweiflung, weil sie mir mein eigenes Schicksal vor Augen führten.
Flackerndes Orange und Rot verblasste um mich herum zu fahlem Weiß und färbte sich in giftiges Grün. Trotzdem stachen Hitze und Rauch in der Lunge und jede Bewegung schmerzte. Mein eigener Schrei hallte mir in den Ohren wider, als ich in die Knie ging, die Finger um das heiße Gitter gekrampft. Als ob es etwas brachte, mich daran festzukrallen. Die nächsten Flammen fauchten dazwischen hindurch und wechselten gleichfalls die Farbe. Statt Blasen hinterließen sie weiße Flecken auf der Haut. Nichts weiter als halbgare Magie. Noch schützte sie mich, allerdings mehr schlecht als recht. Lange würde ich das nicht durchhalten.
Das Grün verschwamm, dazu gellte ein Schrei über das Rattern und Fauchen der Mechanik hinweg. Begleitete meine eigenen, zusammen mit einer Flut aus Angst, Hilflosigkeit und Wut, die sich schlagartig in den mentalen Äther ergoss. Vertraut und vor allem nah genug, dass mir speiübel wurde.
Lou.
Sie war dort unten, irgendwo in der Menge, gemeinsam mit Javos. Seine Gedanken mischten sich mit ihren, er versuchte, sie zu beruhigen und ihr Halt zu geben. Ich konzentrierte mich darauf, zuzuhören, die mentale Verbindung über die Reste magischer Ausläufer hinweg zu wahren, aber darum zu kämpfen kostete mehr Kraft, als es bewirkte. Lous Worte aus unserem Streit hallten in meinen Gedanken wider. Die gleiche grausame Endlosschleife, die mich jeden einzelnen Tag in Haft heimgesucht hatte.
Ein paar Sekunden würden reichen, um sie zumindest wissen zu lassen, wie bitter ich das alles bereute. Aber sie nahm mich nicht wahr. Stattdessen brüllte sie unseren Meister an. Gegen die Verse, die er aus dem Canon konstruierte und die sich mit jedem Satz mehr von dem unterschieden, was die anderen dem rauchgeschwängerten Himmel entgegenriefen.
Zwischen das grüne Flackern mischten sich Bilder aus Lous Gedanken. Wie sie an Javos’ Mantel riss und ihn anflehte, nicht weiterzusprechen. Die finstere Miene, mit der er nach oben sah, während er sie an sich drückte.
»Bitte, du darfst ihn nicht lossprechen!«
Er schluckte so schwer, dass es sogar unter dem hochgezogenen Schal zu sehen war. Bedauern und Schuld, auch wenn das Netz aus Narben über seinem Gesicht kaum eine Regung verriet. »Louisa, ich kann meine Verantwortung als Meister nicht einhalten. Was ich kann, ist ihm zumindest das bisschen Freiheit schenken. Niemand sollte an diesen Schwur gebunden zu den Toten gehen.«
Die Wahl zu verschwinden. Javos sprach es nicht aus, aber wir hatten oft genug darüber diskutiert. Alle Wandernden kannten das Ziehen des Weltengefüges. Viele von uns wurden nicht alt, weil es sie zerfraß, weil sie irgendwann nicht länger widerstanden. Javos war immer dagegen gewesen. Er gehörte zu denen, die es schafften, den Ruf zu unterdrücken. Keine Ahnung, ob aus Angst oder Willensstärke heraus. Seiner Verbitterung nach zu urteilen vielleicht beides gleichermaßen. Wer in andere Dimensionen wechselte, kehrte nie zurück – und wer in den Flammen stand, verreckte, um als Mahnmal aufgeknüpft hier oben zu hängen, bis die Knochen in die Tiefe stürzten. Absolute Ungewissheit oder das Scheiterfeuer. Womöglich zersplitterte mich der Versuch in Partikelregen, vielleicht ging ich zwischen den unzähligen Realitäten verloren oder nichts davon existierte tatsächlich. Möglicherweise waren die Geschichten genauso ein Aberglaube wie die Gebete der Menge. Doch alles war besser als vor Lou zu verbrennen. Hier würde nicht mehr von mir bleiben als ein Name auf den Listen.
Für einen Moment verlor ich die Welt aus den Augen, es fühlte sich an, als ob mein Bewusstsein die Verbindung zum Körper kappte und Halt im Gewirr aus Magieströmen fand. Hunderte davon wirbelten hier oben durcheinander und pulsierten doch im immer gleichen Takt. Dazwischen die letzten Ausläufer der Blockaden, durchwuchert von den Fäden meiner eigenen Aura. Das Element, das drauf und dran war, meinen Körper zu zerfressen, lieferte gleichzeitig die magische Kraft, mich dagegen zu wehren. Widersprüchlich wie der Genmix verschiedener Spezies, der Schuld an sämtlichen meiner Probleme war - und mir die einzige Chance bot, zu entkommen.
Gehen oder sterben.
Ich hatte längst entschieden.
Der letzte Rest dieser Welt zerfloss und schmolz zu Pfützen, aus denen mir brodelnde Tropfen ins Gesicht spritzten.
Aus Hitze und Enge in kalte Leere.
Von Maschinenlärm und Feuerfauchen in betäubende Stille.
Aus glühenden Fesseln ins physische Nichts. Weg von Hoffnungslosigkeit und Todesangst hin zu Euphorie und Freiheit – und dem Wissen, sämtliche Kontrolle verloren zu haben. Haltlos zu fallen, ohne in irgendeiner Realität existent zu sein. Dabei waren da unendlich viele Pfade, neben-, über-, unter- und zwischeneinander auf Unmengen von Ebenen. Ich konnte sie spüren, es gelang mir bloß nicht, einen davon zu fassen. Obwohl das alles absolut logisch erschien.
Nicht tot, war das Erste, was mein Kopf dazu ausspuckte. Noch nicht. Ich durfte nur nicht bleiben. Dieser Zustand fraß eine Menge Energie und hier gab es nichts, woraus ich neue hätte generieren können. Irgendwo musste ich hin. Eine Wahl treffen, mich für einen der Wege entscheiden und –
Ganz in der Nähe glomm ein Funken auf. Nicht visuell, eher ein Gefühl, ähnlich wie Hoffnung. Nein, Vertrautheit. Pulsierend im Rhythmus, den die Magieströme über dem Institut angeschlagen hatten. Mich darauf zu konzentrieren, trat einen Sturm los, der sämtlichen Horror, vor dem ich gerade geflüchtet war, wieder aufblitzen ließ. Ein Sog zurück zu Verzweiflung und Schmerzen, der so fest nach mir packte, als lägen die Fesseln noch um meine Gelenke. Grüne Funken tanzten vor meinen Augen, schlossen sich zu einer schwebenden Flamme zusammen, die flackernd darum kämpfte, nicht zu verlöschen. Das war nicht … richtig. Ich sollte sie nicht sehen können, nicht –
Wortwörtlich aus dem Nichts gerissen, taumelte ich zurück. Weg von der Schwelle, raus aus der Leere, um unvermittelt auf Händen und Knien in Sand zu landen. Fast so, wie ich in den Flammen auf der Gitterplattform des Galgenlifts verschwunden war, nur dass sich meine Finger jetzt zwischen feine Körner bohrten, statt sich an heißes Metall zu klammern. Türkisgrün und feucht kühlten sie die weißen Flecken der magischen Verbrennungen. Jeder Atemzug kondensierte als bläulicher Dampf in der klaren Luft. Sie roch nach Salz und Algen und hinterließ einen zunehmend herben Geschmack auf der Zunge. Der Beweis, am Leben zu sein, genau wie das Gefühl des rieselnden Sands zwischen den Fingern. Der Anker in der Realität.
Einer Realität.
Und ich war hier nicht allein.
Mit der Erkenntnis glommen endlich meine Defensivzauber auf. Die Energie einer anderen Welt zu nutzen, fühlte sich merkwürdig an. Ähnlich etwas zum ersten Mal zu probieren, nur um festzustellen, wie gut es schmeckt.
Die Gestalt wich zurück. Vor den Zaubern genauso wie vor den beiden Irrlichtern, die gehetzt um mich herumschwirrten. Grün flackerten sie auf, verloren jedoch schnell die Farbe. Im Nebel über der türkisen Bucht wirkte ihr Leuchten noch schwächer, als es ohnehin schon war. Nicht einmal gegen die dunklen, vom Wasser geschliffenen Steine weiter hinten hob es sich ab.
Beschwichtigend hob der Fremde die Arme, die Finger beladen mit Amulettringen. Silbern wie die Knopfreihe seiner Robe. Eine Vogelscheuche undefinierbaren Alters mit hagerem Niemandsgesicht. Gramfalten gruben darin Furchen. Etwas an ihm wirkte in dieser surrealen Szene genauso deplatziert, wie ich mich fühlte. Außerdem spülten seine Sorgen mir auf telepathischer Ebene ungefiltert entgegen. Keine Feindseligkeiten, nicht mal eine Nuance Skepsis war zu erkennen - vorausgesetzt das hier war nicht die mentalmagische Variante einer Falle.
Der Anflug eines Schmunzelns hellte seine Miene auf. ›Eine vernünftige Überlegung, aber nein.‹
Obwohl ich die Sprache nicht verstand, schien die Bedeutung seiner Gedanken absolut klar.
Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte ich mich auf die Füße und zog die Ärmel so weit es ging herunter. Um das Mal der Todgeweihten zu verbergen – und das Zittern meiner verbrannten Finger. Kam nicht infrage, vor irgendwem zu knien. Weder in einem Scheiterfeuer noch am Strand eines fremden Universums. Kein einziges Mal in den vergangenen Wochen hatte ich klein beigegeben, jetzt also erst recht nicht.
Nicht tot.
Die magische Geste reichte lediglich für einen fahrig in den Sand gezogenen Schutzkreis und brachte die Irrlichter gehörig ins Schlingern. Der unübersehbare Beweis dafür, dass meine Kraftreserven nicht für eine ernsthafte Verteidigung ausreichten.
Kopfschüttelnd ließ der Fremde die Arme sinken. ›Spar deine Kraft. Wenn ich dir schaden wollte, hätte ich es mit einem Bann versucht. Hier herrscht keine Gefahr. Hör auf das Flüstern. Es hat dich befreit, dich hergeholt. Vertrau darauf.‹
Was?
›Nein, da war … Ich wurde -‹
›Gezogen? Ja, ich weiß, so fühlt es sich an. Erst zurück - natürlich - dann dimensionenweit von dort weg. In Sicherheit. Ich habe es gesehen.‹ Aufmerksam sah er sich um. ›Die ersten Welten, die wir betreten, sagen viel über uns aus. Besonders jene, die wir unbewusst wählen.‹
Das ergab keinen Sinn. Die Bilder mischten sich mit denen aus dem Feuer, der Leere und tausend anderer Orte, an denen ich nie zuvor gewesen war. Ich ertappte mich dabei, mit den Fingern nervös den seltsamen Rhythmus zu trommeln. Jener Vierteltakt der pulsierenden Magieströme über dem Institut, die meine Flucht begleitet hatten.
Angespannt trat der Fremde einen Schritt näher. ›Doch. Doch, warst du. Sekundenbruchteile, nicht lang genug, um zu materialisieren, aber du warst dort überall, auf gewisse Weise.‹
Wie … ? Wieso? Wie lange? Die Fragen fanden keinen Weg nach draußen, weder verbal noch mental.
Weil die Welt sich erneut auflöste.
*
»Ein Wechsel bedeutet nichts anderes, als Masse in Energie zu transferieren. Den höherdimensionalen Raum als Übergang zu nutzen. Sei es als Weg in eine neue Welt oder um mithilfe temporaler Differenzen Strecken innerhalb eines Universums zu überwinden.«
»Zwischendimensionen also?«
»Ja. Unsere Realität besteht aus sieben Dimensionen, nicht nur aus vier. Es gibt diverse Theorien –«
»Ich weiß, ich hatte Physikstunden. Aber müssten es nicht mindestens elf Ebenen sein? Was ist mit den restlichen?«
»Sie liegen außerhalb unserer Reichweite. So wie jene, die wir zwar zusätzlich nutzen, für Nicht-Wandernde aber unerreichbar bleiben. Vielleicht helfen sie uns auch unterbewusst, so wie Magiebegabte die fünfte Dimension zur Energiedirektion verwenden.