Ashaya - Kerstin Panthel - E-Book

Ashaya E-Book

Kerstin Panthel

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Beschreibung

"Geh nach Hause zu deiner Hexenmutter ..." "Sie zünden ihnen die Häuser über den Köpfen an ..." "Schnell, zieh dich an und pack deine Kleider in deinen Sack! Und sei leise, verstanden?" Als Kind musste sie aus ihrer Heimat fliehen. Jahre später und erwachsen verlässt sie gegen den Willen ihres Vaters zusammen mit ihrer Großmutter Weyla den gemeinsamen Zufluchtsort, um sich von Letzterer in ihren Fähigkeiten unterweisen zu lassen. Doch Ashayas Vergangenheit holt sie ein, nicht nur in Gestalt Ajans, ihres Freundes aus Kindheitstagen, sondern auch in der des Kaisers persönlich, der damals die Verfolgung all derjenigen befahl, die der schwarzmagischen Kunst verdächtigt werden. Aus Ajan ist ein kaiserlicher Soldat geworden, ebenso wie aus dessen Freund Zebhet, der schon immer ihr größter Widersacher war. Und nicht zuletzt ist da nun auch noch Scherak, des Kaisers Leibwächter und diesem treu ergeben. Ihrer aller Wege kreuzen sich und führen unaufhaltsam und schicksalhaft für eine Weile in die gleiche Richtung. Wie soll Ashaya ihre Identität und ihre Fähigkeiten verbergen, wenn sie mit gleich zweien ihrer Feinde sogar unter einem Dach wohnen muss?

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Inhaltsverzeichnis

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Teil 2

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Epilog

Teil 1

Kapitel 1

Kiumar, am Rande der Wüste

„Wenn du so weitermachst, bleibt für jeden nur noch ein winziges Bröckchen übrig! Wie oft willst du es denn noch teilen?“

Zebhets Stimme klang ungeduldig und fordernd, aber Ajan ließ sich nicht beirren. Noch einmal setzte er sein kleines Messer aus scharfem Feuerstein an und schnitt ein weiteres Stückchen von dem süßen Kuchenlaib ab, nahezu exakt gleichgroß wie die vier anderen. Fünf Stücke weichen, köstlichen Kuchens lagen vor ihnen auf dem Tuch und nachdem er die Schneide an seinem Hosenbein abgewischt hatte, schob er das Messer zurück in die Scheide an seinem Gürtel.

„So oft, bis für jeden eines da ist!“

Zebhet rümpfte prompt die Nase und warf mir einen hasserfüllten Blick zu.

„Also auch für die da!“

Ich schaffte es, nicht zurückzuzucken, aber mein Herz klopfte bis zum Hals. Zebhet war längst nicht mehr der Einzige im Dorf, der meine Familie und mich anfeindete. Hasste wäre das bessere Wort, aber auch für Hass gab es verschiedenste Abstufungen dessen, wie er sich äußerte. Angefangen bei schiefen Blicken und Getuschel über kaum mehr zu überhörende hämische Bemerkungen bis hin zu unverhüllten Attacken und – was uns Kinder anging – inzwischen auch offenem Angriff. Nicht nur mit Worten, seit einigen Wochen auch mit Taten.

Ajan konnte seinen Blick nicht sehen, denn noch immer kniete er vor dem Tuch mit dem Kuchen, wandte ihm daher mehr oder weniger den Rücken zu. Jetzt aber begann er damit, die seltene Köstlichkeit zu verteilen und drehte nun auch den Kopf mit den glänzend dunkelbraunen Haaren zu Zebhet herum.

„Aliona hat das Bällespiel mit uns gespielt und gewonnen, oder? Und Mutter hat gesagt, ich soll ihn gerecht unter uns aufteilen. Willst du nun dein Stück haben oder nicht?“

Wie jedem anderen lief Zebhet sicherlich längst das Wasser im Mund zusammen. Ajans Mutter buk weit und breit den besten und lockersten Baklat-Kuchen und während ich schnell meine staubigen Finger an meinem Kleid abwischte und meinen Teil davon in Empfang nahm, ein leises ‚Danke!‘ murmelnd, schnaubte Zebhet vernehmlich, bejahte dann jedoch. Der Appetit siegte über seine Abneigung gegen mich.

Ajan ließ sich im Schatten neben ihm nieder und kaute bereits eifrig auf einem Bissen herum, während ich mich wohlweislich ein klein wenig abseits der Jungen hinhockte und bedeutend langsamer an einem bedeutend kleineren Stück kaute. Der flaumweiche Teig zerging fast auf der Zunge und die Nussstückchen knackten zwischen den Zähnen, während die getrockneten Beeren ihr süßes Aroma freisetzten. Ich seufzte genießerisch und erntete einen amüsierten Seitenblick von Ajan. Etwas, das wohl auch Zebhet mitbekam, denn sofort schoss er mir den nächsten wütenden Blick zu.

„Wer weiß, wieso sie gewonnen hat! Jeder weiß doch längst, dass solche wie sie irgendwelche Hexereien betreiben. Vater hat es erst heute Morgen gesagt: Ihre ganze Familie wird inzwischen verdächtigt, allen voran ihre Mutter … Wer hat denn je gesehen, dass ein Mädchen, das noch dazu fast einen ganzen Kopf kleiner ist als wir, gleich fünf Bälle hintereinander durch die Ringe schlagen kann, hm?“

Ajan hörte auf zu kauen, warf mir einen kurzen, wie es aussah prüfenden Blick zu und musterte dann seinen Freund.

„Rede nicht solchen Unsinn! Welchen Grund sollte sie haben, bei einem Spiel zu schummeln? Ich habe sie keine Hexenkunststücke ausüben sehen, du etwa? Oder einer von euch?“

„Als ob sie das so offensichtlich machen würde, dass einer von uns es mitbekommen würde!“ konterte Zebhet sofort und schob gierig das letzte Stück seines Kuchens in seinen Mund.

Aber diesmal war ich schneller mit einer Antwort als Ajan, denn Zebhets Bemerkung über meine Mutter hatte einen wunden Punkt getroffen. Ich konnte nicht an mich halten und ließ den Kuchen sinken.

„Leute, die so etwas von uns sagen, sind allesamt riesige Dummköpfe! Wenn ich tatsächlich hexen könnte, würde ich solchen wie dir den Mund stopfen, glaub mir! Und ich habe gewonnen, weil ich es besser kann als du! Ziel nächstens sorgfältiger und stell deine Füße richtig, dann triffst auch du die Bälle und durch die Ringe!“

Zebhet schluckte wütend und entsprechend krampfhaft das noch viel zu große Stück herunter, hustete prompt weil er sich verschluckte und rang keuchend nach Atem – was nun wiederum mir schiefe Blicke von Korma und Retan eintrug.

„Seht ihr?“ keuchte Zebhet sofort und deutete mit dem Finger auf mich. „Sie wollte mir den Mund stopfen und was passiert? Ich ersticke beinahe an einem kleinen Stück Kuchen! Und dass ich nicht lache: Ich ziele besser als du!“

Ich warf einen Blick auf seine kleinen, ledernen Bälle, die er wie jeder andere Spieler mitgebracht hatte. Fünf feste, harte, unterschiedlich große Bälle und den hölzernen Schläger mit dem runden Griff, der erst zum oberen Ende hin flach und ein wenig fächerförmig wie ein Ruder wurde; ein sehr altes, überall bekanntes und ausgesprochen beliebtes Spiel, bei dem man versuchen musste, möglichst fehlerfrei alle eigenen Bälle nacheinander durch fünf immer kleiner werdende und immer höher an den Mauern angebrachte hölzerne oder metallene Ringe zu schlagen. Mehr als drei Versuche pro Ball waren nicht gestattet; ging auch der dritte Versuch nicht durch, musste man an diesem Ring ganz von vorne beginnen. Hier in Kiumar trieb dieses Spiel uns zwangsläufig einmal quer durch das ganze Dorf, denn die Ringe waren an den Rückseiten der höchsten Häuser des Ortes angebracht. Der erste, größte Ring gleich am Ortseingang unweit des jetzt fast schon sumpfigen Flussgebiets, der kleinste und höchste am Haus von Ajans Eltern.

Ich wagte, ein abfälliges Geräusch von mir zu geben. Gegen Ende des Spiels hatte ich insgesamt fünfmal erst beim dritten Mal getroffen, er hingegen gleich neunmal. Und heute hatte nur Retan am letzten Ring nach dem dritten Ball von vorne beginnen müssen; er war Letzter geworden weil er nun mal die meisten Schläge benötigt hatte.

„Werde nicht frech, kleine Ratte, das wird dir nicht gut bekommen!“ zischte Zebhet wütend. „Überhaupt habe ich keine Lust, dieses Spiel noch einmal mit einem Mädchen zu spielen! Geh nach Hause zu deiner Hexenmutter und rühr in deinem Zauberkessel! Aber gib acht, dass dich niemand dabei erwischt!“

„Es reicht, Zebhet! Wir haben in den letzten Jahren immer mit ihr gespielt und ich werde das nicht aufgeben nur wegen irgendwelcher … Geschichten, die die Leute über sie erzählen! Meinetwegen geh. Oder hör auf zu streiten!“ mischte Ajan sich wieder ein, erhob sich und klopfte den Staub von seiner Hose. „Wer hat Lust auf eine zweite Runde? Oder sollen wir im Fluss baden gehen? Es ist heiß heute!“

Ich schluckte meine Erwiderung herunter und zupfte ein weiteres Stückchen Kuchen ab. Natürlich stimmten sie jetzt alle dafür, zum Fluss zu gehen. Gleich hinter dem Dorf gab es für uns Kinder eine ideale Stelle zum Baden und Schwimmen. Dort bildete ein Seitenarm eine Schleife, die die Fließgeschwindigkeit deutlich verlangsamte. Er war dort weder zu seicht noch allzu tief und die Böschung mit den überhängenden Ästen der Bäume bot sich an, darüber hinweg zu balancieren, um dann so weit vorne wie möglich hineinzuspringen.

Und natürlich war klar, dass dieses Angebot Zebhet nur allzu gelegen kam, denn ich würde nicht dabei sein dürfen. Seit vor etwa einem halben Jahr meine Brüste zu wachsen begonnen hatten und ich kürzlich das erste Mal geblutet hatte, verboten mir meine Eltern, mit den Jungen zusammen zu schwimmen. Seitdem war es mir wie allen Mädchen zu meinem großen Leidwesen nur noch gestattet, ein Stückchen weiter und nur unter Aufsicht wenigstens eines älteren Mädchens oder einer Frau, die die Umgebung im Auge behalten musste, an einer weitaus seichteren, von Büschen umsäumten, langweiligen Bucht zu baden.

Innerhalb weniger Augenblicke hatten alle ihre Bälle und Schläger eingesammelt und rannten los. Nur Ajan ließ sich etwas mehr Zeit und blieb zuletzt, die Bälle in einem kleinen Netz, den Schläger über der Schulter, vor mir stehen.

„Es tut mir leid, Aliona. Zebhet ist mein Freund, aber manchmal ist er ein sturer Riesendummkopf.“

„Zebhet ist mir egal!“ gab ich zurück, forscher als ich mich fühlte. „Glaubst du, was die Leute reden?“

Er schien zu zögern, dann jedoch schüttelte er den Kopf.

„Nein. Ich weiß nicht, ob es so etwas wie Hexerei gibt, aber du bist keine. Und deine Mutter auch nicht. Und ich weiß genau, dass du nicht schummeln würdest!“

„Und woher weißt du das?“ erhob nun auch ich mich und teilte das verbliebene Kuchenstückchen in zwei Hälften, um ihm die eine zurückzureichen.

Er grinste, schob es sich in den Mund und nuschelte: „Weil du dich wie immer jedes Mal unglaublich geärgert hast, wenn du danebengetroffen hast! Und ich hätte bemerkt, wenn du irgendwelche Zaubersprüche gemurmelt hättest! … Schade, dass du nicht mitkommen darfst. Ich habe nicht nachgedacht, als ich das vorgeschlagen habe.“

Sein Bedauern war echt und ohne jeden Hintergedanken und ich wusste, dass er einer der wenigen älteren Jungen und jungen Männer war, die bislang noch nie an der Badestelle der Mädchen und Frauen erwischt und davongejagt worden war. Ich musterte sein braungebranntes Gesicht und zuletzt blieb mein Blick an seinen braunen Augen hängen. Er war im letzten halben Jahr aufgeschossen und seither fast einen ganzen Kopf größer als ich und auch wenn er dadurch dünner als zuvor wirkte, war er doch kräftig. Sein Vater ließ ihn durchaus hart arbeiten, nicht nur wenn es auf die Felder ging.

„Schon gut, geh nur. Und Ajan?“

„Hm?“

„Danke. Ich möchte nicht Ursache dafür sein, dass du dich mit deinen Freunden zerstreitest, also könnte ich verstehen, wenn du mich zukünftig nicht mehr beim Bällespiel dabeihaben möchtest. Oder überhaupt bei irgendwas. Aber danke.“

„Unsinn! Es macht viel zu viel Spaß, gegen jemanden zu spielen, der eine Herausforderung darstellt!“ grinste er.

Ich grinste ebenfalls. Mir war nur zu bewusst, dass er beim letzten Ring absichtlich einmal danebengezielt hatte. Anders als sonst hatte er nicht richtig seitlich zum Ball gestanden und in letzter Sekunde hatte er den Schläger verzogen, sodass der Ball schräg aufkommen musste, ungünstig an die Hauswand traf und dann am Ring abprallte. Aber auf diese Weise hatte ich ihm einen Schlag voraus.

„Lügner! Geh jetzt, die anderen warten schon!“ erwiderte ich, steckte den Rest meines ‚Gewinns‘ in den Mund und beeilte mich dann, auch meine Bälle, die erkennbar mit rot eingefärbten Sehnen zusammengenäht worden waren, aufzuheben.

„Bis dann!“ hörte ich ihn noch, dann erklangen seine eiligen Laufschritte, die zusehends leiser wurden je weiter er sich entfernte. Als ich mich wieder aufrichtete und den letzten Ball ins Netz fallen ließ, waren sie bereits hinter den nächsten Häusern verschwunden. Und mir blieb nichts weiter übrig, als seufzend den Heimweg anzutreten.

„Wir müssen darüber reden, Banthia, denn über Kurz oder Lang werde ich keine Arbeit mehr haben! Über Kurz oder Lang werden wir Hunger leiden weil ich nicht mehr weiß, wie ich unser tägliches Brot verdienen soll! Wir können nicht mehr länger warten, wir müssen von hier fortgehen!“

Vaters Stimme klang drängend und ernst und ich blieb, erschrocken über den Inhalt des Gehörten, an der Hausecke neben dem offenen Fenster stehen und lauschte. Heute, am Baklat-Tag, war auch er zu Hause geblieben, weil die Arbeit ruhte. Doch als ich heute Morgen nach dem gemeinsamen Frühstück mit Schläger und Netz aufgebrochen war, um nicht zu spät zu dem vereinbarten Spiel zu kommen, hatte ich mir noch nichts dabei gedacht, dass die Stimmung eigenartig zu sein schien. Erst jetzt erkannte ich rückblickend, dass Mutter sich ein bisschen zu heiter gegeben hatte, Vater dagegen ein wenig zu schweigsam gewesen war und anders als sonst keiner der beiden darauf bestanden hatte, erst noch den selbstgebackenen Baklat-Kuchen anzuschneiden. Beide hatten vielmehr gemeint, man könne das ausnahmsweise auch auf den Nachmittag verschieben, wenn die größte Hitze vorüber sei.

Kiumar lag an einer der selten günstigen Stellen am Rand einer weiten, ausgedehnten Talsohle, deren Mitte vom Kium, dem breiten, lebensspendenden Fluss durchflossen war. Aber jetzt, nach dem ersten Hochwasser und der Aussaat, waren die Temperaturen früher und höher als sonst gestiegen und es zeichnete sich nicht ab, dass sich daran etwas ändern würde. Die Sommer mit ihren trockenen Wochen kamen immer früher und seit fünf oder sechs Jahren war es unumgänglich, die Felder rechts und links des Flusses jedes Mal erneut mit mühsam ausgehobenen Bewässerungsgräben vor dem verfrühten Austrocknen zu bewahren – Arbeit, die zusätzlich nötig war und viele Hände von ihrem sonstigen Tagwerk abzog. Früher, als ich noch ganz klein gewesen war, seien Ernte und der heißeste Teil der Trockenzeit in etwa den gleichen Zeitraum gefallen, erzählte Vater mir oft. Natürlich hatte es auch früher schon hin und wieder besonders heiße Sommer gegeben, aber nicht so schlimm und so früh wie in den letzten Jahren. Und die zweite Regenzeit, die sonst eine zweite Aussaat und Ernte ermöglicht hatte, schob sich von Jahr zu Jahr immer weiter nach hinten, das Korn hatte danach kaum mehr genügend Zeit, zu reifen, bevor die Frühjahrsregen den Fluss wieder über die Ufer treten ließen und alles unter Wasser setzten. Das Korn verfaulte noch halb grün und die Preise für Getreide stiegen zusehends.

Jemand rückte einen Hocker.

„Ich weiß. Ich höre durchaus, was die Leute sagen, Thorem. Aber wohin sollen wir denn gehen? Denkst du wirklich, wir würden anderswo anders empfangen? Letzte Woche erst hörte ich von einem der fahrenden Händler, dass man tief im Süden sämtliche Familien wie die unsere mit Stöcken und Steinen aus den Dörfern getrieben hat und wen sie danach noch irgendwo erwischten, den haben sie am nächsten Baum aufgehängt! Und im Norden macht man sich nicht mal mehr die Mühe, sie zu vertreiben, man zündet ihnen einfach nächtens das Dach über den Köpfen an und hindert sie daran, das brennende Haus zu verlassen!“

Mir wurde übel und ich presste die Lippen so fest ich konnte zusammen.

„Ein Grund mehr, so bald wie möglich hier wegzugehen! Oder sollen wir bleiben und warten, bis uns entweder das eine oder das andere Schicksal blüht?“ erwiderte Vater.

„Nein. Aber wir müssen ausharren, bis es nicht anders geht. Wenigstens bis ich Nachricht von Mutter habe! Ich habe ihr ein paar Zeilen geschickt und warte seitdem sehnsüchtig auf ihre Antwort. Sie wird Rat wissen.“

Vaters Schnauben war unüberhörbar.

„Ich will dich ganz sicher nicht noch zusätzlich beunruhigen, aber was, wenn wir vergebens auf diese Antwort warten? Weyla lebt ebenfalls weit südlich von hier …“

Er sprach seine Befürchtung nicht aus, aber selbst ich begriff, dass das nicht nötig war. Auch Mutters Schweigen sprach für sich.

Ich hielt den Atem an und lauschte weiter.

„Wir können nicht länger warten!“

„Nur noch eine Weile!“

„Und wie lange soll diese Weile dauern, Banthia? Wann hast du ihr diese Nachricht geschickt? Und warum hast du mir nichts davon gesagt?“

„Weil ich weiß, dass du am liebsten zu deinen Eltern hoch in den kalten Norden ziehen möchtest. Aber an deren Einstellung mir gegenüber hat sich in all den Jahren nichts geändert. Sie haben mich von Anfang an abgelehnt. Und sie würden auch Aliona ablehnen. Ich habe Mutter vor etwa acht Wochen einen Brief geschrieben und ich rechne damit, dass schon die nächste Karawane eine Antwort mitbringen könnte … Können wir nicht wenigstens die noch abwarten?“

Vater murmelte etwas vor sich hin, das ich nicht verstand.

„Du hättest eine andere Frau zur Frau nehmen sollen, Thorem, ich habe dir nicht viel Glück gebracht!“ versetzte sie daraufhin tonlos.

„Rede nicht solchen Unsinn! Ich weiß sehr gut, was ich an dir habe und ich liebe dich. Und ich liebe auch Aliona, aber hier werden wir nicht mehr lange sicher sein. Ich habe erst gestern zwei Arbeiter reden hören. Wie es aussieht, hat der Kaiser seine Soldaten ausgeschickt, um Nachwuchs für seine Truppen zu suchen. Sie rekrutieren in allen Landesteilen junge Männer und mancherorts sogar halbe Kinder, um sie zu Soldaten zu machen. Und nicht nur wegen des drohenden Krieges mit Enorth, sondern auch, um sie als Kopfgeldjäger zu benutzen. Es heißt, die Ratgeber des Kaisers flüstern diesem schon seit langem ein, dass Hexen und Schwarzmagier die Wurzeln allen Übels seien. Sie seien verantwortlich für Hitze und Trockenheit, für sintflutartige Regenfälle und Überschwemmungen, für darauffolgende Krankheiten unter Mensch, Vieh und Ernten, für die Ernteausfälle, für die provokative Haltung des enorthischen Königs – kurz: für alles, was unser Reich seit Jahren zusehends beutele. Rechne dir aus, wie lange es noch dauern wird, bis die ersten Kopfgeldjäger hier eintreffen und bis die Soldaten die Söhne unserer Freunde wegschleppen und diese als unsere Feinde zurückkehren. So sie überhaupt zurückkehren!“

Mir stockte der Atem. Schon die Schilderung der Gräueltaten im Norden und Süden hatten mir den Magen herumgedreht, aber die Aussicht, dass die Bedrohung von allen Seiten kommen könnte …

Und noch ein anderer Gedanke setzte sich in meinem Kopf fest, so sehr ich mich auch dagegen wehrte: Zebhet in seinem Ehrgeiz und seinem anerzogenen, blinden Neid und Hass würde als einer der Ersten und sehr freiwillig mitgehen, da war ich sicher. Und seine Freunde Retan und Korma vermutlich ebenfalls. Aber Ajan … Seit ich denken konnte waren wir befreundet und alleine die Vorstellung, er könnte als gnadenloser, kaltherziger Soldat zurückkehren und Menschen wie Mutter und mich verfolgen und töten, ließ mich jetzt leise würgen.

So schnell und leise ich konnte trat ich rückwärts von der Hausecke fort und rannte los, sobald ich annehmen durfte, dass sie mich nicht mehr hören konnten. Mir war klar, dass ich eine Strafe riskierte indem ich geradewegs zum Badeplatz an der Flussschleife lief, obwohl sie es mir verboten hatten, aber das nahm ich in Kauf!

Völlig außer Atem und mit heftigem Seitenstechen erreichte ich zuletzt die Baumreihe und hörte schon von Weitem das Gelächter und Gebrülle der Jungen, das Platschen des Wassers, wenn sich wieder jemand hineingeworfen hatte und das Protestgeschrei, wenn sie sich gegenseitig unter Wasser zu drücken versuchten.

Der Fersenriemen meiner linken Sandale war gerissen und Schweißflecken hatten sich am Rand des Ausschnitts meines lose herabfallenden Kleides gebildet. Mein Gesicht dürfte entsprechend hochrot sein und die Strähnen meiner schwarzen Haare klebten an Stirn und Wangen, doch auch das war mir egal.

Ein etwa fünfzehnjähriger Junge kam mir entgegen, offenbar auf dem Weg nach Hause. Ich kannte ihn, sein Name war Ogerus.

„Ogerus, warte!“ keuchte ich und stemmte meine Faust in die Seite.

„Was?“ fragte er misstrauisch und verlangsamte lediglich, anstatt stehenzubleiben.

„Du musst für mich zum Fluss laufen … und Ajan holen! Ich muss ihm … etwas sagen!“

„Ich muss? Ich muss gar nichts! Ich muss nach Hause, ich bin sowieso schon spät!“ versetzte er und wandte sich schon wieder ab.

„Du bekommst meine Bälle, wenn du … mir diesen Gefallen tust!“ meinte ich schnell.

Sofort stockte er noch in der Bewegung und drehte sich wieder herum.

„Deine Bälle? Wirklich?“ fragte er, einen begehrlichen Blick auf mein Netz gerichtet.

„Wenn ich es doch sage! Aber … du musst dich beeilen, ich muss ebenfalls … nach Hause.“

„Wehe, du lügst mich an!“ knurrte er und rannte los, geradewegs auf die Bäume zu.

Stöhnend versuchte ich, wieder zu Atem zu kommen und konzentrierte mich darauf, möglichst gleichmäßig ein- und auszuatmen, damit das Stechen endlich aufhören würde. Es wurde besser und als ich Ogerus und Ajan herankommen sah, seufzte ich erleichtert auf.

„Aliona? Was ist los? Ist was passiert?“ rief er bei meinem Anblick und trabte los, auf mich zu. Er glänzte noch nass und hatte sich lediglich rasch die hellbraune Hose übergezogen, die nun überall wasserfleckig war.

Ogerus hielt mühelos Schritt und rief: „Nichts ist! Und bevor sie es sich anders überlegt: die Bälle, wie versprochen!“ forderte er.

„Hier.“ warf ich ihm gleich das ganze Netz zu. „Ich habe noch immer Wort gehalten, merk dir das!“ grollte ich noch und hatte ihn schon vergessen, kaum dass er sich mit meinem Spielzeug davonmachte.

„Deine Bälle? Bist du verrückt? Sie sind noch besser und fester gefertigt als meine und ich hätte sonst was dafür gegeben, sie …“

„Kannst du mal aufhören damit?“ unterbrach ich ihn. „Wäre ich da vorne aufgetaucht, hätte das sämtliche Aufmerksamkeit auf uns gezogen und anders konnte ich ihn nicht dazu bringen, dich herzuholen!“

Ajan riss die Augen auf.

„Anders … Dieser kleine … Der kann sich auf etwas gefasst machen! Lass das meine Sorge sein! Was ist los, weshalb bist du hier?“

Mit einem Mal kam mir mein Anliegen irgendwie albern und viel zu weit hergeholt vor. Jetzt, da er vor mir stand, nicht mal ganze drei Jahre älter als ich … Was sollten Soldaten schon mit ihm anfangen können? Andererseits: Wenn sie wirklich halbe Kinder mitnahmen …

Irgendeine Begründung musste ich ihm ohnehin liefern, also gab ich mir einen Ruck und fingerte verlegen an meinem Schläger herum.

„Der Kaiser schickt Soldaten aus, um Rekruten anzuwerben. Wusstest du das?“

Ich sah ihn nicht an, aber seine Verwunderung war ihm anzuhören.

„Nein, aber das war doch zu vermuten. Wenn es tatsächlich Krieg gibt wie Vater erzählen hörte …“

„Nicht nur für den Krieg, Ajan, er will sie, um mit ihnen Jagd zu machen! Jagd auf solche wie … uns!“

„Ich verstehe nicht … Solche wie euch?“

„Leute, über die ähnliche Gerüchte kursieren wie über uns!“ Ungeduldig wiederholte ich ihm das Wesentliche dessen, was ich vorhin erst von Vater gehört hatte und diesmal behielt ich sein Gesicht im Auge.

Er wurde blass.

„Sie zünden ihnen die Häuser über den Köpfen an? Bei allen Göttern!“

Ich schwieg und wartete ab. Möglicherweise kam er ja von selbst darauf, weshalb ich hier war. Und richtig: Es dauerte eine ganze Weile, in der er in Gedanken versunken an mir vorbei ins Leere starrte, dann runzelte sich seine Stirn, über der die nassen Haare jetzt glatt zurückgestrichen waren. Und dann fixierte er mich begreifend.

„Du hast Angst, dass ich zu ihnen gehören möchte? Denkst du wirklich von mir, ich könnte so etwas tun? Ganze Familien einfach so … töten? Wir sind Freunde, Aliona, ich dachte, du kennst mich besser!“

„Ich kenne dich, ja. Aber anders als du kenne ich auch das Verhalten der Menschen und wie es einen mit der Zeit verändern kann!“

„Verändern? Ich bin doch kein Mörder!“ schoss er hervor. „Ich tue niemandem etwas zuleide! Und du übertreibst, was die Leute hier angeht.“

„Ach ja, tue ich das? Wann hat dir schon mal jemand ‚Hexe‘ hinterhergerufen, dir bei jeder Gelegenheit ein Bein gestellt oder dich mit Steinen, Stöcken oder Dreck beworfen? Wann hat jemand über dich Gerüchte verbreitet, sodass immer mehr Menschen nichts mehr mit dir zu tun haben wollen? Wann hat dir oder deinen Eltern ein Händler seine Ware verweigert, bloß weil es heißt, du seist ein Schwarzmagier? Und wann hat dich zuletzt jemand beschuldigt, ihn ersticken zu wollen, bloß weil er viel zu gierig sein Kuchenstück verschlingen wollte?“

„Zebhet ist ein Dummkopf, das sagte ich doch schon! Wer hört schon auf jemanden wie ihn?“

„Alle, Ajan! Wann immer es gerade passt und ein Sündenbock gefunden werden soll! Der Regen nimmt kein Ende? Hat nicht gestern erst meine Mutter schnell noch ihre eigenen Früchte im Garten geerntet und sie so vor dem Verfaulen gerettet? Es ist ungewöhnlich heiß für die Jahreszeit? Banthia aus Kiumar hat schon vor Tagen mehrere große Stoffstücke zu einer großen, schattenspendenden Plane zusammengenäht und hinter dem Haus aufgespannt, sodass ihre Kinder im Schatten spielen können; sie muss es gewusst haben, wenn sie es nicht sogar herbeigehext hat! Du weißt nicht, wie das ist …“

Er war noch ein wenig blasser geworden, aber jetzt machte sich auch erste Ablehnung in seinem Gesicht breit.

„Ich gebe nichts auf dieses Gerede, genauso wenig wie meine Eltern!“

„Ich weiß, aber ihr seid rühmliche Ausnahmen. Doch das galt auch einmal für Kaiser Memoneth, kurz nachdem er den Thron bestieg!“

Seine Augenbrauen ruckten nach oben, ein einziges Bild des Erstaunens und der Ungläubigkeit.

„Sieh mich nicht so an, ich weiß genau, wovon ich rede. Ich höre, was die Leute erzählen, wenn sie Nachrichten aus den großen Städten bringen. Was die Leute wie Zebhets Eltern hingegen verbreiten …“

„Gerüchte! Nur Gerüchte!“ fiel er mir ins Wort.

Jetzt wurde ich wütend und ballte die Hände zu Fäusten. „Gerüchte, ja. Doch sie sind immer nur der Anfang. Wenn man ein Gerücht nur oft genug hört, dann nimmt man es irgendwann für bare Münze, denn erst schleichen sich leise Zweifel ein, dann erinnert man sich daran, wenn wieder etwas vorfällt und zuletzt …“

Eine deutliche Falte stand zwischen seinen Brauen als er mich unterbrach.

„Wieso kümmert dich das Gerede der Leute? Ihr gehört nicht dazu, oder? Zu diesen Schwarzmagiern.“

Ich hielt den Atem an. Und stieß ihn gleich darauf resigniert wieder aus. Auch wenn er uns nicht dafür hielt, er glaubte an die Existenz von schwarzer Magie und das war gleichbedeutend damit, dass er – wenn auch noch nicht heute – irgendwann dazu bereit sein würde, auch an den Einsatz jeglicher Magie zu üblen Zwecken zu glauben! Und falls er auch nur einen Funken dessen glaubte, was man über uns sagte, falls er auch nur ahnte, dass wir … anders waren …

„Nein, niemand von uns betreibt schwarze Magie.“ antwortete ich tonlos. „Aber du verstehst nicht, weil du nicht verstehen willst und weil es dich nicht betrifft. Mutter hat recht: Ihr seht nicht, was sich vor euren Augen abspielt und ich kann nur hoffen, dass es nicht zu spät ist, wenn ihr es irgendwann doch seht. Geh ruhig wieder schwimmen, ich muss jetzt nach Hause.“ wandte ich mich ab und humpelte ein paar Schritte, bevor ich die jetzt nur noch hinderlichen Sandale vom Fuß zog – und wenige Schritte später auch die zweite.

„Aliona! Ich würde niemals … Wann hätte ich dich jemals mit Steinen oder Stöcken beworfen?“ rief er hinter mir her, aber ich ging einfach schweigend weiter.

In Gedanken jedoch formulierte ich meine Antwort: ‚Bislang noch nicht! Aber was, wenn dir eines Tages jemand den Befehl dazu erteilt?‘

Unsere Freundschaft war dazu verurteilt, sich über Kurz oder Lang dem Ende zuzuneigen, so oder so!

Zu Hause empfing mich bedrückende Stille und das sichere Gefühl, dass das Gespräch zwischen meinen Eltern in einem schlimmen Streit geendet hatte. Ihre Mienen waren zwar glatt, doch ihr Lächeln aufgesetzt und in der Luft lag die Gewissheit, dass dieser Streit nur zu leicht erneut wieder ausbrechen konnte. Die Schwere dieser Beklemmung wurde mir umso mehr bewusst, als Vater zwar nach meinen Bällen fragte, aber nichts dazu sagte als ich antwortete, ich habe sie im wahrsten Sinne des Wortes an einen Jungen verloren.

„Schon gut. Sobald ich Zeit finde, fertige ich dir neue. Ich habe noch Leder übrig und wenn du dir ein paar Sehnen neu färbst …“ erwiderte er nur.

„Wasch dich gründlich und zieh dich um, du bist ganz schmutzig und verschwitzt. Und wir haben noch unseren ganzen Baklat-Kuchen, der auf uns wartet, wir können ihn ebenso gut als Nachtisch essen.“ warf Mutter ein und klopfte meinem kleinen Bruder, den sie offenbar soeben gestillt hatte, behutsam den Rücken.

Nach mir hatte sie zwei Kinder verloren und weder sie noch Vater hatten noch damit gerechnet, dass sie noch ein Kind würde bekommen können. Umso größer war die Freude gewesen, als Gevded geboren wurde. Ich schluckte. Gevded … Mit seinen gerade einmal sechs Monaten würde er eine lange, hastige Flucht möglicherweise nicht überleben …

Schleunigst kletterte ich über die Leiter nach oben, um ihrer Aufforderung nachzukommen. Sie hatten sich gegenseitig nicht eines Blickes gewürdigt.

Irgendetwas schien ihn zu quälen, denn sein leises Quengeln wurde zu einem zunehmend lauter werdenden Weinen, als ich, gewaschen und in einem frischen, etwas über knielangen Kleid zurückkam und am Tisch Platz nahm. Mit ihm auf dem einen Arm, der Kelle in der freien Hand hatte sie Mühe, jedem von uns etwas von der dicken, sicher nicht mehr ganz heißen Suppe in den Teller zu füllen. Die Brotscheiben, die es dazu gab, waren dünner denn je geschnitten.

„Soll ich ihn dir abnehmen?“ fragte ich sofort, aber sie schüttelte nur lächelnd den Kopf, stellte die Schöpfkelle in den Topf zurück und vollführte, ein leises Schlaflied summend, eine kleine Fingerbewegung über Gevdeds Gesicht – und beinahe sofort verstummte sein Weinen und der kleine Mund öffnete sich zu einem niedlichen Gähnen.

„Hör auf damit!“ kam es jedoch sofort von Vater. Er war nicht laut geworden, aber sein Tonfall war unnachgiebig. „Wenn das jemand sieht wird er sagen, du …“

Er brach ab und Mutter hob den Kopf, um ihn anzusehen. Ihre Augen funkelten. Ich zog den Kopf ein als ich begriff, dass dies der Funke war, der ihren Streit wieder aufleben lassen würde. Und richtig:

„Dass ich was? Ich singe meinen Sohn in den Schlaf, genauso wie ich es mit meiner Tochter gemacht habe!“

„Mit einem derart raschen Erfolg?“ konterte er. „Das nimmt dir niemand ab! Was auch immer du da mit deinen Händen vollführst, es macht dich … verdächtig.“

Sie erstarrte. Ich hielt den Atem an und schaute von einem zum anderen. Sie schienen sich nun mit Blicken zu duellieren, so als ob es darum ginge, wer als erstes blinzeln würde. Aber diesmal gab Vater nicht nach. Seine Augen wurden schmal und er erhob sich langsam, stützte beide Hände auf dem Tisch ab.

„Solange wir hier in Kiumar leben, wirst du jede noch so geringe … Tätigkeit unterlassen, die den Gerüchten über dich neue Nahrung liefern könnte! Und für dich gilt das ebenfalls, Aliona, ist das klar? Ich nehme an, du weißt, wovon ich rede.“

„Ja, Vater. Aber ich habe noch nie …“

„Keine Ausflüchte! Gehorche einfach, das genügt! Weder im Geheimen, wenn du dich unbeobachtet glaubst, noch vor den Augen irgendeines anderen, habe ich mich verständlich ausgedrückt?“

Ich nickte stumm und eingeschüchtert. Dann jedoch wurde mir etwas klar: Nur die Sorge um unser Wohlergehen trieb ihn dazu, sich derart despotisch und hart zu geben.

Wortlos stand ich auf und tat an Mutters Stelle jedem etwas von der sämigen Suppe auf. Und ebenso wortlos löffelten wir dann, nachdem Mutter sich mit dem schlafenden Gevded endlich steif auf ihrem Hocker niedergelassen hatte, vor uns hin.

Ich wusste es noch nicht, aber das war das letzte Mal, dass wir Baklat in Kiumar feierten. Das bedrückendste und am wenigsten glückliche Baklat meines bisherigen Lebens!

Zwei Wochen später…

Es war schwer genug, sich den anderen Kindern zu entziehen. Es war schwer genug, sich kaum mehr aus dem Haus oder dessen Nähe zu begeben um nicht Gefahr zu laufen, von irgendjemandem misstrauisch angesehen, mit Schimpfworten bedacht oder sogar geschlagen oder beworfen zu werden. Aber es war fast unmöglich, Ajan auf die Dauer zu entgehen! Wann immer er zum Feld ging oder von dort kam, nahm er einen kleinen Umweg an unserem Haus vorbei, um Ausschau nach mir zu halten und nach Möglichkeit ein paar Worte mit mir zu wechseln.

Spätestens nach Ablauf einer Woche musste ihm klargeworden sein, dass ich ihm aus dem Weg ging. Und nach vier weiteren erfolglosen Tagen stand er am Abend vor unserer Tür und klopfte. Doch auch diesmal war das Glück auf meiner Seite, denn Mutter hatte mich mit dem Auftrag, Vater sein Essen auf unser Feld zu bringen und ihm wenn nötig noch zu helfen, weggeschickt und da es ganz am anderen Ende der langen Reihe von Äckern lag, liefen wir uns auch hier nicht über den Weg.

Aber bei meiner Heimkehr bewirkte Mutters Erzählung über Ajans enttäuschtes Gesicht etwas bei mir, das ich nach unserem letzten Gespräch am Fluss verdrängt hatte: Ich vermisste ihn. Sehr sogar, mehr als geahnt. Doch auf Mutters Nachfrage hin tat ich dies alles mit einem Schulterzucken ab und redete mich damit heraus, dass er offenbar seine Gegnerin beim Bällespiel vermisse, mehr nicht. Und an den darauffolgenden Tagen hielt ich umso mehr Ausschau, bevor ich irgendwohin ging, flüchtete einmal sogar in unseren Hühnerstall, als er etwas vor der sonstigen Zeit nach Hause kam.

Doch ein weiteres Mal Versteckspiel war danach nicht mehr nötig. Vater war nach getaner Arbeit auch an diesem Tag wieder auf unserem Feld gewesen und hatte mühsam dafür gesorgt, dass die noch jungen Keimlinge nicht verdursteten, bevor er nach Hause gekommen war. Inzwischen übernahm ich das morgendliche Wässern und er das abendliche, doch es war schon jetzt abzusehen, dass die kaum mehr vorhandenen weil verschlammten Gräben vom Vorjahr mühevoll wieder ausgehoben werden mussten. Die Hitze war schon am frühen Vormittag schier unerträglich und wir standen umso früher auf, um unsere tägliche Arbeit möglichst in den kühleren Morgenstunden und nach der größten Tageshitze zu erledigen. In diesem Jahr würde der Sommer möglicherweise eine einzige Hitzekatastrophe werden …

Ich war an jenem Abend schon zu Bett gegangen und nur noch kurz wieder aufgestanden, als ich Vater hereinkommen hörte. Seine und Mutters Stimme klangen wie immer leise zu mir herauf und nachdem ich beiden eine kleine Weile Gesellschaft geleistet hatte – Vaters müdes Gesicht und Mutters besorgtes ständig beobachtend – war ich schon wenig später wieder über die Leiter nach oben verschwunden. Und obwohl ich mir vorgenommen hatte, noch eine Weile zu lauschen, waren mir in der seit Langem noch einmal kühlen Nachtluft sehr schnell die Augen zugefallen.

Das Rütteln an meiner Schulter riss mich daher aus einem tiefen Schlaf und mitten aus einem Traum, der von irgendwelchen Hunden gehandelt hatte. Hunde, die sich um einen längst abgenagten Knochen gestritten hatten, bis sie von einem gewaltigen schwarzen Straßenköter davongejagt wurden und dieser sich über die urplötzlich noch mit reichlich Fleisch behaftete Beute hermachte.

„Aliona, du musst aufstehen! Schnell, zieh dich an und pack deine Kleider in deinen Sack! Und sei leise, verstanden?“

Verständnislos blinzelte ich im Schein der Kerze Mutter an, aber deren besorgtes, fast schon ängstliches Gesicht trieb mir auch noch den Rest Müdigkeit aus den Gliedern.

Während ich mir so schnell es ging meine Kleidung über den Kopf zerrte, warf sie bereits alles, was sich in meiner Truhe befand, auf mein Lager und deutete mir, auch an meine sonstigen Habseligkeiten zu denken. Viel war dies ohnehin nicht, aber als ich daran ging, auch meinen selbstgefertigten Schmuck, den ich mühsam aus Splittern der seltenen und begehrten Schmelzstücke, die man im Sand der Wüste ausgraben konnte, geschmirgelt hatte, aus zurechtgefeilten und durchbohrten Feuersteinstückchen und aus dem mattglänzend polierten Fettstein hergestellt hatte, winkte sie aufgebracht ab und meinte, dass ich mein Herz nicht an unwichtige Dinge hängen solle, nicht an irgendwelchen unnützen Tand. Notgedrungen ließ ich sie also liegen, stopfte stattdessen alles andere in den länglichen Stoffsack, dessen oberes Ende ich zuletzt nur noch mühsam zuziehen und -binden konnte. Und ich knotete soeben mein zweites und inzwischen geflicktes Paar Sandalen von außen daran fest, als sie bereits wieder an der Leiter stand und nach unten lauschte.

„Beeil dich, wir haben keine Zeit zu verlieren!“ zischelte sie dann.

„Was ist los, Mutter? Wohin gehen wir?“

„Das erkläre ich dir unterwegs! Für jetzt musst du lediglich wissen, dass du so leise wie irgend möglich mit uns kommen wirst. Wir verlassen das Dorf und durchqueren den Fluss an der Furt unweit unseres Feldes …“

Ich erstarrte. Natürlich war dies eine Flucht, das war mir schon in dem Moment klar geworden, als sie mich all meine Habe einpacken geheißen hatte. Aber jetzt, in finsterster Nacht und nicht mal auf dem Weg aus dem Dorf und über die Brücke …

„Komm jetzt, ich warte mit Vater und Gevded unten. Denk an dein Kopftuch und an deine Kalebasse!“

Ihr Kopf verschwand schon durch die Luke im Boden und mit angehaltenem Atem und offen stehendem Mund starrte ich erst fassungslos auf meine Hände an meinem Reisesack, dann warf ich einen Blick in die Runde. Einen letzten Blick auf mein Zimmer, in dem ich die ersten nahezu zwölf Jahre meines Lebens verbracht hatte.

Ich würde es heute zum letzten Mal sehen! Mein Bett, der Kasten daneben, auf dem die heruntergebrannte Kerze stand, meine Truhe, Waschschüssel und Wasserkrug, der kleine, von Mutter aus Resten gewebte Teppich auf dem Boden, das winzige Fenster im Giebel, aus dem ich die halbe Dorfstraße sehen konnte …

Ein leises Zischen vom unteren Ende der Leiter riss mich aus meiner Erstarrung. Mit trockenem Mund und enger Kehle warf ich mir den schweren Sack über die Schulter, sodass dessen breiter Lederriemen quer über meine Brust lief, dann klemmte ich eiligst mein Kopftuch darunter und huschte zur Leiter … und sofort noch einmal zurück zu meinem Kasten neben dem Bett. Meinen Schmuck und viele andere Dinge musste ich hierlassen, das hatte ich begriffen. Aber die Lederschnur, an der der zu einem flachen Schneckenhaus zurechtgefeilte Schmuckstein baumelte, würde ich nicht zurücklassen. Es würde das einzige Erinnerungsstück sein, das ich von hier mitnehmen würde: Ajans Geschenk zu meinem zwölften Jahrestag, von ihm selbst aus fast reinweißem Fettstein hergestellt.

Fast reinweiß, denn mitten in diesem Schneckenhaus, sozusagen im Mittelpunkt der Spirale, war ein winzig kleiner farbiger und herzförmiger Fleck in einem blassen Rot zu erkennen. Fast exakt in Form eines Herzens, denn die Spitze war leicht zur Seite verzogen.

Ajan. Ohne es zu wissen hatte ich ihn vor zwei Wochen das letzte Mal gesehen.

Kapitel 2

Okathan, sechs Jahre später…

Mein Rücken schmerzte und nach dem letzten Schnitt der Sichel richtete ich mich auf und stöhnte leise, bevor ich die breiten Blätter des soeben geernteten Blattgemüses in das Tuch stopfte, das ich quer über Schulter und Oberkörper trug. Die Ernte dieser Pflanze war mühsam, da sie nur in diesen feuchten Niederungen gedieh und man meist bis zu den Knöcheln im Schlamm waten musste. Doch wenn man es richtig machte und nur den oberen Teil abschnitt, dann wuchs im nächsten Jahr an der gleichen Stelle noch einmal ein verjüngter Spross nach, bevor man nach dem zweiten Erntejahr alles herausreißen oder umgraben und neue Setzlinge ausbringen musste.

Das Land an der nördlichen Grenze zu Enorth war überaus dünn besiedelt, in unserer Gegend nahezu menschenleer, denn es bestand größtenteils aus undurchdringlichem Wald, war bergig, reich an Bächen und kleinen Seen – und in den Wintern kalt und den Sommern feuchtwarm. Wer hier lebte, musste achtgeben, sich in diesen Sommern nicht ein Fieber zu holen, denn in feuchten Niederungen fühlten sich nun mal auch Insekten wohl, deren Stiche üble Entzündungen und Infektionen mit sich brachten. Und wer sich nicht so wie wir mit Heilkräutern auskannte, war kaum in der Lage, die einfachsten Krankheiten zu kurieren.

Die Schmerzen in meinem Rücken ließen nach und der Matsch unter meinen nackten Füßen schmatzte und quoll zwischen meinen Zehen heraus während ich auf den gegenüberliegenden Rand des Feldes zuging und meine Fracht am Ende des Tages einfach mitsamt schlammig-feuchtem Tuch auf den Wagen warf. Der Esel, der stoisch wartend davorstand, ruckte glücklicherweise gehorsam an, als Vater ihm daraufhin mit einer dünnen Weidenrute einen leichten Schlag auf die Kehrseite verpasste und mit ihm an der Führungsleine losmarschierte. Ich bog wie Mutter und Großmutter den Rücken erst noch einmal durch, dann reinigten wir uns am Bach die schmutzigen Hände und Füße, bevor wir ihm folgten.

Großmutter reichte ihre soeben frisch befüllte Kalebasse an mich weiter und meinte dann, dass wir morgen und in den nächsten Tagen zusehen sollten, noch Wurzeln und Knollen im Wald auszugraben.

„Wir haben im letzten Winter einiges davon verbraucht und wenn die Nuggun-Ernte im Herbst ähnlich schlecht ausfällt wie die im letzten Jahr, werden wir Hunger leiden müssen.“

Ich seufzte leise. Nuggun waren ebenfalls Knollen, die man im Frühjahr mühsam eingrub in der Hoffnung, dass sie sich bis zum Herbst reichlich vermehrt haben würden. Aber sie vertrugen nun mal nur ein gewisses Maß an Feuchtigkeit und so waren wir nur so gerade eben über die kalte Jahreszeit gekommen. Die Wurzeln und Knollen, die wir in den hiesigen Wäldern fanden und die essbar waren, schmeckten dagegen oft bitter oder einfach nach gar nichts, egal womit man sie würzte.

„Der Sommer ist noch nicht vorüber; sollten wir ihnen nicht noch etwas Zeit zum Wachsen geben? Und Thorem meinte ohnehin, es sei nach dem heutigen Tag auf dem Feld dringend nötig, die Reusen zu kontrollieren und Fallen aufzustellen.“ erwiderte Mutter.

Weylas Ein- und Ausatmen klang wie ungeduldiges Seufzen.

„Dann teilen wir uns auf. Kontrolliert ihr die Fallen und ich gehe mit Ashaya Wurzeln suchen. Es wird bald viel Regen geben und dann saugen sich die Knollen mit derart viel Wasser voll, dass sie kaum mehr schmecken und schneller faulen. Es wäre daher besser, wenn er Entwässerungsfurchen zwischen den Nuggun-Reihen ziehen würde; den Fischen in den Reusen macht es nichts, wenn sie noch ein wenig nasser werden und kleine Wildtiere gibt es auch übermorgen noch.“

Ich warf Weyla einen schnellen Seitenblick zu. Obwohl sie es nicht aussprach war ihr anzumerken, dass sie erneut kurz davor war, die Geduld mit Vater zu verlieren. Er konnte das kommende Wetter allenfalls auf einen Tag im Voraus abschätzen. Anders als sie: Noch immer waren ihre Voraussagen eingetroffen, überaus pünktlich sogar. Eine Fähigkeit, die ich trotz mühsamer Übung nur mäßig beherrschte. Es bedeutete, seinen Kopf vollkommen von allen Gedanken zu befreien und seine ganze Aufmerksamkeit auf das Zukünftige zu richten, überaus gezielt, wenn man etwas Bestimmtes suchte. Und mehr als einmal hatte ich erlebt, dass Weyla hin und wieder noch ganz andere Dinge hatte ‚sehen‘ können!

Doch schon auf unserer Flucht vor inzwischen gut sechs Jahren wurde deutlich, dass er und sie sich auf Dauer nicht gut verstehen würden. Ergebnis war, dass schon nach dem ersten gemeinsamen Winter unter einem Dach eine weitere, wenn auch kleinere Hütte gebaut wurde, in der sie seither alleine lebte – immer noch in beständiger, unmittelbarer Nähe, aber wenigstens für wenige Stunden am Tag und in der Nacht getrennt von uns.

Vater kämpfte jeden Tag aufs Neue gegen ihre überlegene Art. Und jeden Tag verlor er den mühsam zurückeroberten Boden wieder neu gegen sie.

Die letzten Bäume lagen vor uns und zwischen ihnen war schon die Lichtung zu erkennen, als Mutter plötzlich stehen blieb und Weyla am Arm zurückhielt. Ihre Haare waren ähnlich wie die meines Vaters hier und da schon von weißen Strähnen durchzogen und die Fältchen um die Augen zeugten davon, wie sorgenvoll die letzten Jahre für sie beide gewesen waren.

„Ashaya? Geh voran und sieh nach Gevded. Er war den halben Tag alleine und ich hoffe inständig, dass er den Sirup nicht wieder hat anbrennen lassen. Wir kommen gleich nach.“

Ich runzelte die Stirn, nickte jedoch folgsam und wandte mich bereits um, um weiterzugehen, aber Weyla hielt mich zurück.

„Warte! Ich glaube, ich weiß, was nun kommt und es ist an der Zeit, dass du etwas hörst … Du willst mir erneut Vorwürfe wegen Thorem machen, richtig? Du findest, ich provoziere ihn zu oft, übergehe zu oft seine Meinung oder seine Anweisungen und lasse seine Entscheidungen nicht gelten.“

Mutters Lippen pressten sich fest aufeinander, dann nickte sie knapp.

„Überaus richtig, ja! Doch das ist kein Thema, das ich vor Ashaya zu bereden gedenke, denn Thorem ist noch immer ihr Vater und …“

„… und er hat vor annähernd zwanzig Jahren eine Frau mit magischen Kräften gewählt!“ fiel Großmutter ihr ins Wort. „Er wusste genau, worauf er sich dabei einließ, oder? Und er sollte in seinem Alter und mit den Erfahrungen seines bisherigen Lebens eigentlich gelernt haben, auf Frauen wie mich zu hören. Auf Frauen wie uns! Was nutzt uns all unser Weitblick, wenn wir die Augen vor dem verschließen, was wir sehen? Hat nicht auch ihm meine damalige Warnung den Kopf gerettet? Und was nutzen uns all unsere Fähigkeiten, wenn er dir und Aliona beständig verbietet, sie zu nutzen?“

„Ashaya! Ihr Name ist jetzt Ashaya!“

„Wir sind alleine hier, oder? Niemand hört, wenn ich sie bei ihrem früheren Namen nenne.“

Mutter hatte ihren Mund schon geöffnet, um eine Erwiderung zu geben, aber diesmal blieb Weyla hart und schüttelte unnachgiebig den Kopf.

„Nein, es reicht! Meinetwegen nenne ich sie fortan Ashaya, doch das ist nicht der Grund für deinen Missmut und unseren Disput. Und es ist an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen, etwas auszusprechen. Seit sechs Jahren schweige ich so gut ich kann, seit sechs Jahren sehe ich dabei zu, wie er euch zunehmend zu bevormunden versucht! Ist dir nicht klar, dass nicht nur deine eigenen Gaben verkümmern, sondern auch die deiner Tochter? Sie sind uns mitgegeben, um anderen zu helfen, aber auch, um uns notfalls selbst zu schützen! Gerade in unseren Zeiten etwas, das unser Überleben garantieren könnte, denkst du nicht? Und ich werde mir das nicht länger mit ansehen! Du wirst dich entscheiden müssen, Banthia: Entweder du beginnst endlich wieder …“

„Entscheiden?“ fiel sie ihr ins Wort und entzog ihr ruckartig den Arm. „Zwischen welchen Möglichkeiten? Oder sollte ich besser fragen: zwischen wem? Zwischen dir und Thorem? Ich liebe dich, Mutter, aber dann ist meine Wahl schon getroffen, denn ich habe damals geschworen, treu zu ihm zu stehen, egal was kommen mag! Hast du dir auch nur ein einziges Mal Gedanken darüber gemacht, wie sehr es ihn verletzt wenn du ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit daran erinnerst, wie … minderwertig er in deinen Augen ist, wie wenig er weiß und kann? Er ist ein Mann, der keinerlei magische Fähigkeit aufweist, ja, aber der bis an den Rand der Erschöpfung arbeitet, um seine Familie zu ernähren und der für jede von uns durchs Feuer ginge, wenn es denn zu unserem Schutz nötig wäre. Auch für dich! Ich liebe ihn!“

„Denkst du, das weiß ich nicht? Denkst du wirklich von mir, ich würde ihn für minderwertig halten?“ entgegnete Weyla, gleichermaßen fassungslos wie auch erbost. „Ich weiß genau, was für ein Mann und Mensch er ist und ich kann ihn gar nicht hoch genug dafür schätzen, was er tagtäglich tut und getan hat. Jeden Tag, seit ich dich an seine Seite gegeben habe, macht er dich glücklich und die Art, wie er eure Kinder erzogen hat, wie er sich für euch aufopfert und schindet nötigt mir den allergrößten Respekt und meine ganze Zuneigung ab, die ich für ihn als meinen Nebensohn nur haben könnte! Aber meine Einstellung ändert nichts daran, dass er sich beständig gegen mich und meinen Einfluss wehrt, beständig eifersüchtig darauf ist und sich in seiner Männlichkeit und als Familienoberhaupt herabgesetzt fühlt, wenn ich irgendeines seiner Argumente widerlege oder irgendeine seiner Entscheidungen infrage stelle.

Doch das ist sowohl unnötig noch darf es so weitergehen. Weder ich noch ihr werdet auf ewig bleiben und auf Ashaya achten können. Gevded hat wenig von dir geerbt und er wird seinen Weg sicher auch so machen, aber Ashaya … Ich bin nicht mehr die Jüngste, meine Fähigkeiten lassen zusehends nach. Dennoch sollten sie eigentlich noch hinreichend sein, doch so sehr ich mich auch bemühe, selbst für mich liegt in dieser Zeit voller Wirren und ständigen Veränderungen ihre und unsere Zukunft, sogar die nahe Zukunft im Dunkeln, während andere Dinge wenigstens in nebelhaften, wenn auch wechselnden Bildern zu sehen sind – und das stimmt mich bedenklich, erfüllt mich hin und wieder mit Sorge! Also ja, du wirst dich entscheiden müssen, ob du willst oder nicht! Du willst bei Thorem bleiben? Das verstehe ich, besser als du glaubst! Auch ich war einmal eine Frau, die einen Mann so sehr geliebt hat wie du den deinen, vergiss das nicht! Mir wurde der Mann und dir der Vater viel zu früh genommen, doch vergessen konnte ich nie, wie es einmal war. Aber du hast vieles vergessen, was ich dich gelehrt habe, deshalb sage ich hier und heute: Du darfst Ashaya nicht länger im Weg stehen, denn anders als für Gevded wird ihr Überleben womöglich irgendwann davon abhängen, dass sie ihre Fähigkeiten kennt. Kennt, akzeptiert und beherrscht! Und das wird sie nicht hier lernen, nicht unter Thorems Einfluss. Nicht, wenn er mir ständig Steine in den Weg legt!“

„Worauf willst du hinaus?“ flüsterte Mutter tonlos und fasste prompt nach meiner Hand, dann mit ihrer Linken auch nach meinem Arm – wie um mich sowohl festzuhalten als auch ihren Status als meine Mutter deutlich zu machen.

Ich hatte schweigend, wenn auch mit zunehmendem Herzklopfen zugehört und hielt nun erst recht den Atem an.

„Darauf, dass es Zeit für Ashaya ist, ihr Elternhaus zu verlassen. Für sie ist es höchste Zeit und noch bin ich nicht zu alt, um ihr nicht noch all das beizubringen, was ich kann. Ich fühle, dass ein großes Potential in ihr schlummert, aber wenn wir noch länger zögern und ihr den Zugang dazu nicht ermöglichen, wird es nutzlos verkümmern. Ich möchte, dass du Ashaya meiner Obhut übergibst. Sobald es geht, spätestens sobald der nächste Winter vorüber ist und die größte Kälte vorbei, werde ich sie irgendwo in der Abgeschiedenheit in ihren Fähigkeiten schulen. Und ich möchte deine Einwilligung dazu, denn Thorems werde ich niemals erhalten!“

Mutter ächzte, aber ich hatte in diesem Moment nur einen einzigen Gedanken – und der hatte zu meiner eigenen Beschämung nichts mit einer möglichen Trennung von Mutter und Vater zu tun:

„Potential? Welches Potential, Großmutter? Was genau?“ wollte ich wissen.

„Ashaya!“ kam es heiser und vorwurfsvoll von Mutter.

„Was genau? Das werden wir sehen. Auf jeden Fall etwas, das die Menschen mit Misstrauen und Angst sehen, Ashaya!“ antwortete Weyla fest. „Etwas, das du sie nicht sehen lassen darfst und das dich dennoch – klug, umsichtig, vorsichtig und vor allem im Geheimen eingesetzt – durchs Leben bringen wird. Es gibt keinen absoluten Schutz und Gefahren lauern überall, insbesondere die Gefahr, entdeckt und enttarnt zu werden, aber wenn du deine Gabe nicht nutzt oder sogar verleugnest, bist du erst recht schutzlos. Und in dir wartet in der Tat einiges darauf, entdeckt zu werden. Ich ahne es nur, ich kann es nicht wissen, aber ich glaube, dass du eines Tages besser sein wirst als ich. Als ich und deine Mutter zusammen. Was sagst du dazu? Du bist alt genug, um ein Mitspracherecht zu haben.“

„Ich möchte das! Ich möchte lernen, möchte wissen, was ich kann und wie ich es anwenden muss!“ hörte ich mich sagen, während sich Mutter neben mir die Hand vor den Mund schlug. „Ich bin es leid, zu fliehen und mich zu verstecken, ich bin es leid, dass meine Familie in diesem Land um ihr Überleben kämpfen und jedes Jahr aufs Neue bangen muss, zu verhungern! Das ist kein Leben und wenn ich auch nur das Geringste dazu tun kann, um …“

„Augenblick!“ unterbrach mich Weyla sofort. Zwischen ihren Augenbrauen stand eine scharfe Falte. „Ich glaube, du hast etwas ganz und gar missverstanden, Ashaya: Wir beide würden fortgehen, alleine! Und niemand, erst recht nicht ich, kann dir gewährleisten, dass du auch nur irgendetwas an ihrem Leben wirst ändern können! Wo und wie sie leben ist ganz alleine ihre Entscheidung und sie von hier fortzuholen ändert nichts an den Gründen, die uns alle vor Jahren hierhertrieben.

Du könntest eines Tages eine mächtige Frau sein, ja, aber nichts unter diesem Himmel wird dich mächtig genug machen, die Menschen und deren Einstellung zu unseren Fähigkeiten zu ändern. Wenn du deinen Eltern und deinem Bruder also eines Tags anbieten möchtest, sie von hier fortzuholen und wenn sie denn gewillt sein werden, wieder in eine Gegend mit gewöhnlichen Menschen zu ziehen: gut. Aber die Welt dort draußen hat sich nicht gewandelt. Sollte auch nur der kleinste Zweifel daran entstehen, dass du oder Banthia keine Frauen bar jeglicher magischer Fähigkeit seid … So groß dein Können auch sein könnte, so gering werden deine Möglichkeiten sein, es dort einzusetzen, wo ihr nicht mehr alleine lebt.“

Ich blies wütend den Atem aus.

„Was nutzt es dann, wenn ich sie übe? Warum hat man mir sie gegeben, wenn ich sie nicht auch einsetzen darf? Dann kann ich auch gleich darauf verzichten und als normale Frau unter normalen Menschen leben!“

‚So wie Mutter.‘ hatte ich noch hinzufügen wollen, aber im allerletzten Moment konnte ich an mich halten.

„Das kannst du nur deshalb sagen, weil du keine Ahnung hast von dem, was in dir ist! Dir fehlt jeglicher Respekt vor der dir verliehenen Gabe und Machtfülle und jegliche Weitsicht, was deine Verantwortung angeht!“ versetzte sie schneidend. „Ich sagte, dass die Welt sich nicht geändert hat, aber ich sagte nicht, dass dies auf ewig so bleiben wird! Ich werde es ganz sicher nicht mehr erleben und womöglich auch du nicht, aber wir haben die Pflicht, die Hoffnung darauf nicht aufzugeben, dass es eines fernen Tages vielleicht anders sein könnte. Für eine noch ungeschriebene Zukunft, in der Männer und Frauen wie wir nicht mehr gefürchtet und verfolgt, sondern geachtet und gleichberechtigt neben den Menschen und mit ihnen zusammen leben können, Ashaya, dafür leben wir, nicht für uns! Nicht, was unsere Gaben angeht!

Wenn du deine Macht annimmst, dann bist du dieser Macht schuldig, sie zu bewahren, bist verpflichtet, sie und unser altes Wissen darum weiterzugeben. Und wenn du das nächste Mal von deinem Mitspracherecht Gebrauch machst, dann überlege dir nicht nur deine Worte – ausgesprochene wie auch unausgesprochene! – wohl, sondern auch deren Tragweite! So, und jetzt solltest du gehen. Gevded und dein Vater warten. Ich erwarte deine Antwort nicht heute und ganz sicher auch nicht in nächster Zeit. Aber ich erwarte die deiner Mutter, also?“

Stumm wandte ich den Kopf und starrte Mutter abwartend an. Mein Herz schlug hart und viel zu schnell in meiner Brust. Nach Weylas Einwand, der durchaus einer Maßregelung gleichkam, tobten in mir meine beiden Wesen: Das eine, das beständig gegen alles rebellieren wollte, was mir aufgezwungen worden war mit unserer Flucht hierher in die grüne, dampfig warme Hölle, und das andere, das nur zu gut begriff, welchem Schicksal wir damals nur ganz knapp entgangen waren. Eine Flucht, die aus dem kleinen Mädchen mit dem seltenen Namen Aliona die heranwachsende Frau namens Ashaya gemacht hatte … die tiefinnerlich noch immer ein Kind beherbergte, das voller Entsetzen und vergeblich zu vergessen versuchte, zu welchen Gräueltaten die Menschen imstande waren.

„Meinetwegen!“ stieß sie nach viel zu langem Zögern und Überlegen hervor und ich stieß den Atem leise wieder aus. „Meinetwegen! Ich werde mich dem nicht in den Weg stellen, denn anders als du denkst erinnere ich mich gut genug … Ich überlasse es Ashaya, es ist ihre Entscheidung. Aber ich werde es nicht sein, die es Thorem beibringt.“

„Das werde ich tun, wenn es soweit ist. Ich werde mitgehen. Ich muss herausfinden, zu was ich fähig wäre, Mutter, ich kann nicht einfach meine Augen davor verschließen. Wenn es einen Grund dafür gibt, weshalb mir das mitgegeben worden ist, dann will ich es wissen.“ antwortete ich, leise aber fest. Dann erst wandte ich mich ab und marschierte davon, die beiden alleine dort stehen lassend.

Der restliche Sommer und der Herbst vergingen wie jeder andere zuvor: arbeitsreich und voller Mühsal. Als zuletzt auch das letzte Hälmchen abgeschnitten, das letzte Körnchen gedroschen und die letzte Nuggun-Knolle ausgegraben, das letzte Fleisch getrocknet und der letzte Fisch geräuchert war, waren auch die letzten halbwegs trockenen Tage vorüber. Mit der Regenzeit kam die Kühle, doch sie brachte wie zuvor die dampfige Schwüle das Fieber bringen konnte, neues Leid in anderer Form: Gevded, von Geburt an immer wieder einmal kränklich und dessen Widerstandskraft unter diesen Gegebenheiten trotz aller Schonung niemals wirklich stärker geworden war, erkrankte an einer immer schlimmer statt besser werdenden Erkältung. Und nach einem tagelangen Fieber zeichnete sich ab, dass er sich wohl niemals wieder von den Folgen würde erholen können. Als endlich der Winter mit einer gesunden, trockenen Kälte einsetzte, hatte er noch immer mit Kurzatmigkeit und trockenem Husten zu kämpfen und sein ohnehin schmächtiger Körper wirkte jetzt ausgezehrt.

Jeder von uns sparte sich immer wieder irgendetwas vom Mund ab, um es ihm zukommen zu lassen, aber als sein siebter Jahrestag anbrach und ich ihn morgens wecken wollte, glühte er zu meinem Schrecken wie ein heißer Topf.

„Gevded!“ stieß ich erschrocken hervor und fühlte seine Stirn. Sie war wie offenbar der ganze restliche Körper trocken, heiß und rot und als er seine Augen mühevoll ein wenig öffnete und antworten wollte, wurde daraus nur ein heiseres, unverständliches und offenbar schmerzvolles Krächzen.

„Mutter! Vater! Gevded … Er ist krank, kommt schnell!“ rief ich sofort laut und goss ihm mit zitternden Fingern etwas Wasser in seinen Becher.

Mein kleiner, gerade einmal sieben Jahre alter Bruder hatte schon jetzt nicht einmal mehr die Kraft, den Kopf zu heben und als ich ihn anhob und ihm den Becher an den Mund hielt, konnte er kaum schlucken, das meiste rann schon beim bloßen Versuch wieder aus seinem Mund heraus.

Mutter war als erste in seiner kleinen Kammer und verlor bei seinem Anblick sämtliche Farbe.

„Hol deine Großmutter, Ashaya, schnell! So schnell du kannst! Sie soll sämtliche schweißtreibenden und fiebersenkenden Kräuter mitbringen, die sie hat. Wir müssen ihn zum Schwitzen bringen und dafür sorgen, dass er sich abkühlt! Lauf!“

Ich stürzte regelrecht aus dem Raum so sehr beeilte ich mich und noch während Mutters Stimme Vater anwies, für kühles Wasser und Tücher zu sorgen und auch Wasser für Tee zum Kochen zu bringen, rannte ich nach draußen und rief schon auf halbem Weg zwischen unseren beiden Hütten laut nach Weyla. Zweimal fiel ich im über Nacht gefallenen Schnee beinahe hin, dann hatte ich ihre Tür erreicht – doch die wurde bereits von innen aufgerissen.

Es genügten wenige Worte und schon raffte sie mit meiner Hilfe in aller Eile zusammen, was nötig war. Und in den nächsten Stunden … nein, den gesamten Tag und beinahe die ganze darauffolgende Nacht verbrachten wir damit, alles dafür zu tun, sein offenbar immer noch steigendes Fieber zu senken. Doch sein Zustand wollte und wollte sich nicht bessern und hatte er irgendwann sogar angefangen zu fantasieren und sich unruhig zu wälzen, öffnete er zuletzt nicht einmal mehr die Augen und lag vollkommen reglos da. Und während sein Atem immer flacher und röchelnder ging – egal, welche Tees wir ihm einflößten, welche Dämpfe Weyla ihn einatmen ließ und wie oft wir die unfassbar schnell trocknenden Tücher um seine Beine wechselten und durch feuchte, lauwarme ersetzten – raste sein Herz immer schneller …

Der Morgen war nicht mehr weit, als er ein letztes Mal seine Augen einen winzigen Spalt öffnete, seinen Mund bewegte, als ob er etwas sagen wollte während er Mutter ansah und dann, nach einem leisen, pfeifenden Ausstoßen der Luft, einfach aufhörte zu atmen. Es war, als ob irgendjemand von einem Augenblick zum anderen seinen Lebensfaden abgeschnitten hätte. Er lag da, völlig schlaff und hörte einfach auf zu leben. Seine Augen wurden matt, sein noch immer viel zu heißer Körper zeigte nicht mehr die geringste Regung, das heiser-keuchende Geräusch, das seine Atmung die ganze Zeit über verursacht hatte, erstarb und die eintretende, entsetzliche Stille schien mich taub zu machen, so laut dröhnte sie in meinen Ohren.

„Nein!“ hauchte Mutter dann kaum hörbar. „Gevded! Nein! Nein, nein, nein! Komm zurück, geh nicht!“

Ich schlug die Hände vor den Mund und ein leiser, eigenartiger Ton kam aus meiner Kehle. Vater mir gegenüber erhob sich von seinem Hocker, den er direkt neben Gevdeds Bett platziert hatte, und beugte sich bleich und mit dunklen Ringen unter den Augen über ihn, fasste ihn mit der einen Hand an der Schulter, dann legte er ihm die Handfläche der anderen erst an die Wange, dann auf die Stirn.

„Gevded!“ krächzte nun auch er.

„Mutter?“ flüsterte Mutter flehend und wandte den Kopf zu Weyla, die, erschöpft von dem langen Kampf, schwer in ihren Stuhl sank und deren Augen jetzt feucht schimmerten.

„Es ist vorbei. Ich konnte und kann nichts mehr tun, Banthia. Sein Körper war viel zu geschwächt, er hatte diesem Fieber nichts mehr entgegenzusetzen. Ich war mit meiner Kunst am Ende. Der arme Gevded hat diesen Kampf verloren …“

„Verloren!“ echote sie tonlos, dann sah sie wieder zu dem schon jetzt langsam bleich werdenden Gevded und schluchzte auf. „Verloren!“

„Deine Kunst ist am Ende? Du musst doch etwas tun können! Was ist mit deiner Macht? Kannst du nicht irgendwas tun, wodurch er wieder …“ stieß ich fassungslos und fordernd zugleich hervor, aber Weyla schüttelte nur müde den Kopf.

„Nein. Das ist etwas, das kein Mensch auf der Welt kann. Und das ist deine erste und zugleich wichtigste Lektion, Ashaya. Ich hätte mir gewünscht, dass du sie erst viel später lernen musst, aber vielleicht ist es ganz gut, wenn du zuallererst die Grenzen kennenlernst, bevor du die Möglichkeiten …“