Siegel der Schattenwesen - Kerstin Panthel - E-Book

Siegel der Schattenwesen E-Book

Kerstin Panthel

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Beschreibung

Dwen ist erwachsen, wenn auch noch nicht in den Begriffen der Schattenwelt. Jahre, in denen die Schattenwesen abgewartet haben - und in denen Justin untätig geblieben ist. Vordergründig! "Du musst anfangen, die Dinge in einem Kontext zu betrachten. Wenn du so sehr danach strebst, endlich hinter die Kulissen zu schauen, dann muss das in einer Weise erfolgen, die höchst verantwortungsvoll sein muss!" Dwen Forester, Phoebes und Dorians Tochter, ist in dem Bewusstsein aufgewachsen, anders zu sein. Ihr Status und der ihres Bruders Tom ist in der Vampirwelt ein einmaliger und sie weiß, dass da noch irgendetwas auf sie wartet. Doch niemand klärt sie darüber auf, worum es sich bei diesem Etwas handelt und niemand - Dwen am allerwenigsten - ahnt, wie begierig ein ganz bestimmter Vampir darauf ist, sie in die Finger zu bekommen: Justin du Pont. Von den Ältesten nahezu aller Rechte beraubt versucht er fieberhaft, sie zu finden. Dwen hat ohnehin mit ihrem eigenen Leben schon genug zu tun. Zunehmend verärgert über die Geheimniskrämerei ihrer Eltern und doch voller Sorge um ihrer aller Inkognito kapselt sie sich von allem und allen ab - bis Adam Parish in ihr Leben tritt: auffallend anders, auffallend sympathisch und aufmerksam und mit einer auffälligen Narbe sowie einer verstörenden persönlichen Geschichte. Sie geht, bevor eine Beziehung überhaupt entstehen kann. Doch Adam gibt nicht auf; ungeachtet der Möglichkeit, dass schon einmal ein Schattenwesen seinen Weg gekreuzt haben könnte, folgt er ihr ...

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Seitenzahl: 615

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Handlung, Namen und Personen der folgenden Geschichte sind frei erfunden; Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und realen Handlungen sind unbeabsichtigt und rein zufällig.

IN JEDEM MENSCHEN LEUCHTET EIN LICHT. WENN SICH ZWEI MENSCHEN FINDEN, DIE EINANDER VORHERBESTIMMT SIND, DANN VEREINEN SICH ZWEI LICHTE, DIE GEMEINSAM DIE GROESSTE FINSTERNIS ZU DURCHDRINGEN UND ZURUECKZUDRAENGEN IMSTANDE SIND - GLEICH, WIE STARK ODER SCHWACH DAS JEWEILS EINZELNE ZUVOR GEWESEN.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 1

„Hey! Schau mal! Wer ist das?“

„Hm? Wer?“

„Die Blonde, die gerade an uns vorbeiging! Große, grüne Tasche, Laptop, eine… keine Ahnung, ist das eine Topfpflanze? ... in der Hand …“

Tim drehte den Kopf in die angedeutete Richtung und widmete sich dann wieder seiner Zeitschrift. „Das ist Dwen. Dwen Sherman. Ihre ältere Schwester hat den Bookstore da drüben vor ein paar Wochen übernommen. Kannst du vergessen.“

Er sah ihr aufmerksam hinterher, bis sie aus seinem Blickfeld verschwand, als sie den erwähnten Buchladen betrat. Dann fragte er: „Was heißt das: Kannst du vergessen?“

Sein Gegenüber sah auf. „Was ich sage! Abgesehen davon, dass sie sich erfolgreich jedem Annäherungsversuch entzieht, solltest du mal erleben, wie ihr Schwager drauf ist! Der braucht dich nur mal anzusehen und du ergreifst die Flucht!“

Er klappte sein Notebook zu. „Ja und? Das heißt doch nur, dass du es mal bei ihr versucht hast und abgeblitzt bist.“

Tim legte den Kopf schräg und hob eine Augenbraue, schwieg jedoch.

„Okay, schon gut, ich sag’s keinem. Seit ein paar Wochen sagst du? Sie ist mir noch gar nicht aufgefallen!“

„Das kommt daher, weil du deine Nase nicht mal aus deinen Büchern nimmst, wenn deine Hose brennt! Selbst jetzt, sieh dich doch mal an! Mann, es ist Sommer, keine Vorlesungen, die Sonne scheint, wir sitzen hier in einem Café, um uns herum haufenweise echt heißer Frauen und Mädchen … und du brütest über deinen Sprachen, büffelst schon jetzt Sachen, die erst in ein paar Monaten dran sind! Echt, manchmal frag ich mich, wie ich es überhaupt mit dir aushalte!“ Tim hatte die Zeitschrift zusammengefaltet und klatschte sie ihm bei diesen Worten an den Kopf.

„Danke!“, grinste er und lehnte sich dann in seinem Stuhl zurück. „Ich erinnere dich an deine Worte, wenn die nächste Prüfung vor der Tür steht oder du mal wieder nicht rechtzeitig mit …“

„Schon gut, schon gut! Aber was die Kleine angeht, wirst du schon sehen, dass ich recht habe. Ihr Schwager passt auf sie auf, als ob er ihr privater Bodyguard wäre! Irgendwie sieht er sogar danach aus, fehlt nur die Sonnenbrille, das Halfter unter der Achsel und der Knopf im Ohr.“

„Was ist mit ihren Eltern? Wieso passt ihr Schwager auf sie auf?“, fragte er und sah zu, wie sein Freund sein Glas leerte und dann die Schultern zuckte.

„Schwager, Lebensgefährte, Freund … Keine Ahnung, ich bin nicht so weit gekommen, die Art seiner Beziehung zu ihrer Schwester aufzuschlüsseln. Was ist, wollen wir noch an den See? Könnte gut sein, dass wir da noch ein paar von den anderen treffen oder die beiden Mädchen von vorhin – falls du Blindfisch die überhaupt bemerkt hast!“

Er runzelte die Stirn und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die kurzen Haare. „Nein, ohne mich. Aber tu dir keinen Zwang an.“

Ein Schnauben antwortete ihm. Dann: „Hör auf meine wohlmeinenden und weisen Worte, Adam: Genieß dein Leben auch mal ein bisschen, häng nicht immer über …“

„Wer sagt denn, dass ich lernen will?“, grinste er ihn an. „Ich überlege nur, ob ich nicht unbedingt ein Buch brauche.“, nickte er in die Richtung, in der Dwen Sherman verschwunden war.

„Oh! Ja dann … Viel Glück! Ich besuch dich mal im Krankenhaus!“, grinste Tim zurück, sprang auf und schlug ihm auf die Schulter. „Heute bist du mit Bezahlen dran!“, fügte er im Weggehen noch an und hob grüßend die Hand, bevor er schnell in einen Laufschritt verfiel.

„He! Das sagtest du die letzten beiden Male auch! Beim nächsten Mal kommst du nicht mehr davon!“, rief er hinter ihm her und schüttelte den Kopf. Dann wandte er sich um und warf einen Blick in Richtung Buchladen, bevor er sich erhob und auf dem benachbarten Stuhl wieder Platz nahm, um den Eingang besser im Blick behalten zu können. Nachdem er einen weiteren Kaffee bestellt hatte, klappte er nach kurzem Zögern das Notebook wieder auf. Wenn er elf Monate in Deutschland überleben wollte, hatte er noch viel zu tun!

„Wenn du das so stehenlässt, kriegen die Leute gesundheitliche Probleme!“, betonte ich grinsend, als ich, drei große Becher Kaffee zum Mitnehmen balancierend, hinter dem Typen mit dem Laptop vorbeiging. Nein, vorbeigehen wollte und stattdessen stehengeblieben war, um einen zweiten Blick auf den Bildschirm zu werfen und dann näherzutreten, um meine guten Augen nicht erklären zu müssen. Denn mehr als erstaunt hatte ich registriert, dass er einen Text ins Deutsche zu übersetzen versuchte. Oder einen deutschen Text zu verfassen, wie auch immer.

Seine Augen waren also graubraun; sie sahen im ersten Moment ein wenig irritiert hoch, dann aber hoben sich die schwarzen Brauen darüber.

„Was? Oh! Hi! Was meinst du? Du kannst das lesen?“

Ich schnaubte. „Ja. Diese Zeichen nennt man Buchstaben. Buchstaben bilden Worte, Worte bilden Sätze. Ich bin des Lesens mächtig. Und wenn du die Leute ‚Kirchen’ essen lässt, haben sie spätestens danach ein Problem, glaub mir. Entweder mit ihrer Verdauung oder mit ihrem Zahnarzt. So verputzen sie nämlich Gotteshäuser, kein Steinobst! Da fehlt ein ‚s’. Keine Ursache!“

„Was? Doch, danke! Hey, warte doch mal!“

„Keine Zeit, der Kaffee wird kalt!“, rief ich und ging weiter.

„Wo hast du Deutsch gelernt?“, rief er hinter mir her.

„In Deutschland!“

Nur zu deutlich hörte ich, wie sein Stuhl über den Boden scharrte und er hinter mir herkam. Einen Augenblick später stand er vor mir, allerdings ohne sein Notebook. Ich sah mich um und hob dann eine Augenbraue, bevor ich zu ihm hochsah. „Prellst du jetzt die Zeche oder hinterlässt du immer Hardware als Sicherheit?“

Er grinste und jetzt konnte ich erkennen, dass seine Augen mehr braun als grau waren. Zusammen mit seinem glänzend schwarzen Haar und seiner etwas dunkleren Hautfarbe erinnerte er mich ein klein wenig an Akai, auch wenn seine Vorfahren vermutlich keine Indianer waren. Er war auch nicht ganz so groß wie Akai.

„Nein, weder noch. Das Café gehört meinen Eltern, auch wenn ich trotzdem jedes einzelne Getränk bezahlen muss, vor allem wenn ich mit Freunden hier einfalle. Was mich nicht davon abhalten würde, dir Ersatz hierfür zu besorgen, falls er tatsächlich kalt werden sollte.“, ergänzte er schnell.

„Deinen Eltern? Wow! Richte ihnen mein Kompliment aus, der Kaffee hier ist echt gut! George ist nicht leicht zufriedenzustellen, was das angeht, also ist diese Aussage eine echte Auszeichnung!“

„George?“

„Eigentlich Georgios.“, ergänzte ich mit dem Gedanken daran, dass dies sein derzeitig offizieller Name war. „Ihm und meiner Schwester gehört der Laden da drüben. Wenn das alles war, sollte ich jetzt …“

„Georgios? Ist er Grieche? Nein, warte! Wenn du so gut Deutsch sprichst, hättest du nicht Zeit und Lust, mir ein bisschen unter die Arme zu greifen? Ich gebe dir auch von diesen tollen Kaffees aus … Oh, mein Name ist übrigens Adam.“

Ich musste lächeln, schüttelte aber verneinend den Kopf. „Danke für das Angebot, ‚Übrigens Adam’, ich muss trotzdem los! Hat mich gefreut.“

„Sehen wir uns?“

„Immer dann, wenn wir irgendwo über den Weg laufen!“, rief ich und musste jetzt darauf achten, die Becher im Blick zu behalten. Denn ich konnte deutlich spüren, dass sein Blick an mir hängenblieb, bis ich den Laden betrat – Marmora schien ein paar zusätzliche schöne Seiten zu haben, von denen ich bislang noch nichts wusste!

Mom blätterte bei meinem Eintreten mit großen Augen in einem dicken Bildband über Irland und stieß bei jedem neuen Bild einen leisen Seufzer aus.

„Sehnsucht, Pat?“, grinste ich und sie sah auf. Sie lebte hier offiziell unter dem Namen Patricia, in Anlehnung an den irischen Nationalheiligen, St. Patrick. Ihre Haare waren seit unserem Umzug hierher sehr kurz und fransig geschnitten und ihr Blond war einem etwas rötlich schimmernden Braun gewichen – ihre Augenfarbe wirkte damit nochmal so intensiv.

„Könnte man so sagen! Was ich früher nie gedacht hätte. Ich hab mich immer für eine eingefleischte Kanadierin gehalten und anfangs hat mir der häufige Regen nicht gefallen, aber“, sie zuckte die Schultern und lächelte ein wenig wehmütig, „inzwischen fehlt er mir! Und die anderen fehlen mir auch! Danke.“

Sie hatte ihren Milchkaffee entgegengenommen und wandte sich, gedankenverloren daran nippend, wieder ihrer Lektüre zu. Also huschte ich mit dem extrastarken Kaffee nach hinten ins Büro, wo Dad gerade dabei war, in immer noch übermenschlicher Geschwindigkeit irgendwelche Listen durchzugehen.

„Hier, Doping!“, grinste ich auch ihn an und erntete ein Stöhnen.

„Danke, kommt genau richtig! Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass ich mal einen Buchladen besitzen und dass ich es so hassen würde!“

„Nimm es mir nicht übel, aber du passt hier auch irgendwie nicht rein!“, erwiderte ich und nippte an meinem Becher. Vanille und Karamell, hmmm …

„Sag das deiner Mom!“, grummelte er und warf die Listen auf den Schreibtisch. „Seit wir hier sind, quäle ich mich mit Geschäftsbilanzen, Rechnungen, Bestellungen, Lieferungen und ähnlich erbaulichen Dingen herum. Wie hat Gideon das nur jahrelang ausgehalten?“ Er nahm einen Schluck Kaffee und nickte anerkennend.

„Kann es sein, dass mein Vater ein wenig verwöhnt ist?“, reizte ich ihn noch zusätzlich ein wenig und verschwand lachend um die Ecke, als er mir einen entsprechend finsteren Blick zuwarf.

Der Laden war leer. Die Sonne lockte heute die Menschen offenbar eher ins Freie als in die Geschäfte und so nutzte ich die Gelegenheit und warf einen Blick schräg aus dem großen Schaufenster in Richtung Café. ‚Übrigens Adam’ sah auch bei eingehenderer Betrachtung gut aus! Er trug eine alte, ziemlich ausgewaschene Jeans und ein dünnes, langärmeliges Henley-Shirt, das eng genug saß, um etwas von seinem durchaus ansehnlichen Bizeps und seiner muskulösen Brust ahnen zu lassen. Um viel von seinem sehr ansehnlichen Bizeps und seiner ziemlich muskulösen Brust ahnen zu lassen. Er zählte eindeutig zu der Kategorie Männer, die zumindest recht nahe an Halbvampire herankamen, was das anging. Er saß immer noch oder besser wieder an seinem Platz im Schatten und brütete über seinem Text – einem langweiligen Text, wenn ich richtig gesehen hatte – und ich war auf dem Weg zurück zum Laden durchaus mit Absicht um seinen Tisch herumgegangen. Offenbar bemühte er sich, allgemeine Konversation und ein paar gängige Redewendungen zu erlernen, jedenfalls war laut ihm mit manchen Menschen ‚nicht gut Kirchen essen’ – bei unserem nächsten Zusammentreffen würde ich ihn einfach mal auf Deutsch ansprechen! Falls wir uns nochmal über den Weg liefen! Jetzt kam eine Bedienung an seinen Tisch, wechselte ein paar Worte mit ihm und ich sah, wie er tatsächlich seine Geldbörse zückte und ihr einen Geldschein reichte. Wechselgeld wechselte den Besitzer und er schob sein Portemonnaie zurück in seine Tasche. Für einen Moment streifte sein suchender Blick unseren Laden und ich wollte schon zurückweichen, als mir klar wurde, dass er mich hinter der Scheibe nicht würde sehen können, der Sonnenstand verhinderte das.

„Dwen?“, hörte ich Mom hinter mir fragen.

„Hm?“

„Alles klar?“

„Natürlich. Könnte nicht besser sein.“

Sie seufzte. „Du hättest dein letztes Schuljahr noch in Deutschland machen können. Es war deine Entscheidung, wir hätten es dir überlassen.“

„Mom, das ist okay so! Ich hätte nicht ohne euch dableiben wollen und wenn ihr ein wenig näher bei Granny sein wollt … Gibt es was Neues? Geht es ihr gut?“

Ich wandte mich zu ihr um. Sie sah immer noch besorgt aus. Grandma hatte vor ein paar Monaten einen Herzinfarkt erlitten, von dem sie sich nur langsam erholte. Erst nach einer erfolgreichen Bypass-Operation ging es jetzt wieder aufwärts.

Die Nachricht hatte uns in Deutschland erreicht, wo wir erst seit knapp drei Jahren lebten und wo mein Bruder Tom und ich ursprünglich unseren Schulabschluss machen wollten. Doch Mom war in der Zeit danach immer unruhiger geworden. Zuletzt hatte Dad sie mehr oder weniger vor vollendete Tatsachen gestellt und gemeint, dass er nicht länger dabei zusehen werde, wie sie jeden Tag damit zubringe, auf Neuigkeiten aus Halifax zu warten. Er hatte eine Familienkonferenz einberufen und es uns freigestellt, in Deutschland und damit unter Benjamins und Sheilas – seiner Gefährtin – ‚Obhut’ zu bleiben, er aber werde mit Mom zumindest für eine gewisse Zeit wieder nach Kanada ziehen, um im Bedarfsfall schneller in Halifax sein zu können …

„Dorian, das wäre Dwen und Tom gegenüber nicht fair! Ian hält uns auf dem Laufenden und wie es aussieht, geht es Mom bereits besser …“

„Mom, es wäre anders herum dir gegenüber noch weniger fair!“, hatte Tom sich eingemischt und sich rittlings auf den Stuhl ihr gegenüber fallenlassen. „Wenn du bei Granny sein willst, dann solltet ihr beide gehen, doch wenn Dads Angebot so gemeint ist, wie er es sagt, dann möchte ich dieses Schuljahr lieber hier noch zu Ende machen und im Sommer nachkommen.“

Für dieses Mal hatte ich mir eine Bemerkung gespart, denn für seine sechzehn Jahre war diese Antwort unerwartet erwachsen ausgefallen. Jetzt stimmte ich ihm zu: „Ich bin der gleichen Ansicht, ihr solltet beide so bald wie möglich losziehen. Es sind nur noch ein paar Wochen bis zu den Ferien und das letzte Jahr kann ich auch dort machen…Nein, Mom, das ist in Ordnung so! Ich weiß genau, was du jetzt sagen willst, aber so schlimm finde ich das nicht.“

Ihr Blick sprach Bände, aber ich hatte eisern auf meiner Ansicht beharrt und gemeinsam mit Tom hatten wir sie irgendwann überredet …

Ihre Antwort holte mich aus meinen Gedanken. „Ja, die Ärzte sind hochzufrieden, der Bypass war die richtige Entscheidung. In zwei Wochen werden sie herkommen.“

Ich hob erstaunt die Augenbrauen. „Ist das nicht zu riskant? Damit meine ich nicht ihre Gesundheit …“

Wieder seufzte sie. „Es ist nicht richtig, dass du dir schon jetzt dauernd diese Gedanken machen musst, überlass das uns. Aber ich denke nicht, dass es riskant ist. Nicht erst seit Justin damals verschwunden ist, ist nichts mehr passiert, was darauf schließen ließe, dass er sein Wissen über sie irgendwie nutzen würde. Und sie werden ohnehin nicht auf direktem Weg herkommen, Akai wird sie begleiten und dafür sorgen, dass niemand ihr genaues Ziel kennt.“

Das war das Zweite, denn geblieben war die Sorge um ihr Inkognito, das unter allen Umständen gewahrt bleiben sollte – vermutlich mehr unseret- als ihretwegen. Während sie sich wie gewöhnlich um ihre und unsere dank Paul MacArtneys Verbindungen meisterhaft gefälschten Papiere keine Gedanken machten, konnten sie jedoch auch nicht einfach in Bedford aufkreuzen, wo immer noch jeder jeden kannte. Na ja, annähernd jeder jedenfalls. Und Granny weigerte sich nach wie vor standhaft, ihren Wohnsitz zu verlegen.

„Es hat mich einen Haufen Überzeugungsarbeit gekostet, um sie wenigstens dazu zu bewegen, uns nach einer angemessenen Erholungsphase einen Besuch abzustatten.“, fügte sie jetzt an. „Sie hatte Sorge, Justin könnte herausfinden, wo wir leben, falls man sie beobachten lässt.“

Sie hielt mir ihre Hand hin, wohl um mir ihr Gespräch zu zeigen. Ich legte meine freie Hand in ihre und konnte mühelos verfolgen, wie sich Mom und Granny gestritten hatten:

„Mom, ich weigere mich, unser oder euer Leben komplett davon abhängig zu machen, ob Justin irgendwann wieder aus der Versenkung auftauchen könnte! Er dürfte von Chance erfahren haben, wo ihr lebt und er hat all die Jahre nichts unternommen! Ich vermute mal, diese Vampirälteste, diese Sandrine, hat ihn gewarnt, mich nicht mit einem Übergriff auf euch herauszufordern. Ich denke auch, ich oder vielmehr die Wächter in mir haben einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen und sie hat so was wie ein Tabu über euch verhängt … Du solltest dir also nicht dauernd meinen Kopf zerbrechen.“

„Das heißt nicht, dass er nicht versuchen könnte, über Ian und mich euren Aufenthaltsort herauszufinden!“, betonte sie.

Mom hatte die Augen verdreht.

„Also gut! Wenn du so darauf beharrst: Ich werde Akai fragen, ob er euch beide auf Umwegen dorthin schaffen würde!“

„Wohin ‚schaffen’?“

„Wie es aussieht, werden wir nach Marmora ziehen. Lil und Gideon haben uns ihr Haus angeboten und zur Krönung des Ganzen werde ich wohl ihren Buchladen übernehmen, der derzeitige Inhaber will ihn aufgeben, weil er mit seiner Familie wegziehen will. Oder weil er ohne sie wegziehen will, ich weiß nicht mehr…War da nicht was von Scheidung?…Wir werden euch also ein kleines Häuschen am See organisieren, was hältst du davon?“

„Phoebe, was ist mit Thomas und Dwen? Sie sind mitten im Schuljahr, oder nicht? Ich möchte nicht, dass ihr nur wegen mir …“

„Das ist längst entschieden, demokratisch und einstimmig! Ob du nun mit Ian kommen willst oder nicht, wird nichts an unseren Plänen ändern, gib es auf!“

„Gott, von wem hast du nur diese Dickköpfigkeit?“

Sie hatte gekichert. „Ich bin deine Tochter, wie du immer betonst! Du darfst also einmal raten!“

„Hmpf. Also gut, wir kommen. Wenn Akai Zeit hat!“

„Danke, ich freue mich! Wir werden euch das schönste Häuschen reservieren lassen. Zur Tarnung auf die Namen Lord Fitzroy und Lady Meredith Windermere-Battleborough.“

„Was? Das kann nicht dein Ernst …“

„Mom! Das war ein Scherz!“

Ihre Hand ließ meine los und die Verbindung war unterbrochen. Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen und jetzt lächelte auch sie. Spontan legte ich meinen freien Arm um sie und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.

„Mom, was macht das alles mit dir? Ich meine damit nicht die Sache mit Grandma, ich rede von der Geschichte, die ich noch vor mir habe. Du hast bisher immer vermieden, mit mir darüber zu reden, aber ich weiß, dass du dir Sorgen machst. Sag mir endlich, was da auf mich wartet, ich bin alt genug.“

Sie schüttelte sofort den Kopf – wie immer wenn ich die Sprache darauf brachte. „Es ist zu früh.“

„Ich werde bald neunzehn!“, konterte ich.

„Immer noch zu jung! Als Vampirin würdest du erst mit einundzwanzig …“

„Ich weiß! Aber ich bin keine! Oder besser nur ein kleines bisschen. Und ich darf dich daran erinnern, dass ich kaum jünger bin, als du warst, als du Dad kennengelernt hast. Was, wenn ich morgen jemanden treffe und ein halbes Jahr später heiraten will?“, forderte ich sie heraus.

Sie machte prompt große Augen und meinte: „Wow! Fänd‘ ich toll! Sollte ich etwas wissen?“

Ich verdrehte meine Augen, als jetzt prompt auch Dad um die Ecke kam und mit verschränkten Armen abwartend in der Tür stehen blieb. Natürlich hatte er alles gehört!

„Ich glaub das jetzt nicht!“, stöhnte ich. „Ich denke, ihr solltet mir so langsam mal eure Regeln erklären, denn offenbar gelten für euch andere als für mich!“

Dads Augen funkelten, aber um Moms Mund zuckte es verdächtig.

„Willst du Sex haben?“, grollte Dad.

Ich wurde rot, schnaubte und versetzte: „Und wenn es so wäre?“

„Dorian!“, murmelte Mom seufzend.

„Dann würde ich dir sagen, dass es zu früh ist!“

„Bitte? Ich bin erwachsen!“

„Dorian …“

„Du bist gerade mal achtzehn!“

„Ich werde bald neunzehn! Ich bin volljährig, darf wählen gehen, Verträge abschließen und mein jeweiliges Heimatland verteidigen! Das Letztere nehme ich zumindest an…Wie sieht es in dieser Hinsicht in Kanada aus?“

„Do-ri-an!“, wurde Mom lauter.

„Und neigst immer noch hin und wieder dazu, Songs aus dem Radio laut in deine Haarbürste mitzusingen!“, entgegnete er mit hochgezogenen Augenbrauen. „Sehr erwachsen!“

„Du solltest jetzt aufhören, Dorian, du kannst dich nur selbst blamieren, wenn du so weitermachst. Ich habe ihr nämlich nie verschwiegen, wann genau wir uns kennenlernten.“

Ich stellte meinen geleerten Becher auf die Theke und verschränkte wie er meine Arme vor der Brust. Irgendwo in den Tiefen meines Schädels machte sich ein leises Pochen bemerkbar als ich jetzt versuchte, ein wenig von dem einzufangen, was er an Gefühlen aussandte. Mir war klar, dass ich kaum Erfolg damit haben würde, aber mich erreichten trotzdem ein paar Fetzen … Allem voran seine Sorge um mein Wohlergehen!

Wie immer, wenn ich solche oder ähnliche Empfindungen mitbekam, stieß ich die Luft wieder aus und kapitulierte seufzend. Seit ich denken konnte, widerstrebte es mir zutiefst, über einen bestimmten Punkt hinauszugehen, wenn wir innerhalb unserer Familie eine Meinungsverschiedenheit austrugen und ich wie Mom anschließend auszuloten versuchte, wie die anderen dabei empfanden. Meist ließ ich es daher bleiben. Mir war jedoch durchaus bewusst, dass ich mich auf diese Weise nie würde abgrenzen und durchsetzen können, aber bei Themen wie vor allem diesem wusste ich auch, dass sie tatsächlich ihre Gründe haben mussten, weshalb sie besorgt um mich waren. Abgesehen davon, dass Dad ständig ein wenig überbesorgt schien, war auch ich schließlich immer noch zu einem Viertel Vampir.

„Ich werde nicht aufgeben, Dad, Mom! Und was das andere angeht: Glaubt ihr wirklich, ich würde einfach so mit jemandem …“

„Nein, glauben wir nicht!“, mischte sich jetzt Mom ein und trat vor mich. „Du bist erwachsen und wirst wissen, was du tust und … ob es der Richtige ist; davon bin ich überzeugt! Und dein Dad weiß das auch, das sind nur die zwei Prozent antiker Grieche in ihm. Aber was das andere angeht: Tut mir leid, doch die Entscheidung, wann es so weit ist, wirst du mir überlassen müssen. Mir und deinem Dad. Und das ist zu früh!“ Sie strich mir behutsam über den Arm. „Vertraust du mir?“

„Mom! Natürlich vertraue ich dir! Aber wäre es nicht viel leichter, auch für mich, wenn ich endlich wüsste, was … da ist? Ich weiß doch längst, dass ich ein bisschen so bin wie du!“

Wieder schüttelte sie den Kopf. „Noch nicht! Hab Geduld!“

Trotz des Pochens hinter meiner Stirn fühlte ich jetzt wieder, wie ihr Geist warm und sanft über meinen strich, wie sie mir zu vermitteln versuchte, wie sehr sie mich liebte und zu beschützen versuchte, wie sehr sie sich sorgte.

Auch ich stieß daraufhin einen Seufzer aus und gab nach. Wie immer hatte sie mir damit noch zusätzlich den Wind aus den Segeln genommen, wenn auch mein eigenes Inneres mich wie stets noch zusätzlich daran hinderte, etwas zu tun, was sie traurig oder besorgt machte.

„Das Band, das uns verbindet, das dich wie vorhin mehr in meinem Geist sehen lässt als jeden anderen!“, nickte sie lächelnd in meinen Gedankengang und strich vorsichtig über meine Wange. „Es ist etwas, was uns immer verbinden wird und was uns auch zu dem macht, was wir sind. Und jetzt solltest du gehen und dich da draußen noch ein bisschen umsehen. Hier geht die Schule schon eine Woche früher wieder los, also nutz die Zeit. Oh, und falls du Tom siehst: Wenn er sein Zimmer nicht bis heute Abend aufgeräumt hat, wird sein Vater Kleinholz daraus machen, dann kann er zukünftig im Zelt übernachten! Sag ihm das mit einem schönen Gruß!“

Ich musste grinsen. „Mach ich! Obwohl ich gerne zusehen würde, wie er … Schon gut, ich sag’s ihm, falls ich ihn sehe. Nehmt ihr meine Sachen und den Kaktus mit, wenn ihr nach Hause fahrt? Ich laufe zu Fuß, ich brauche ein bisschen Bewegung.“

„Noch ein Kaktus? Der wievielte Stachelkamerad ist das?“

„Mit dem ist das Dutzend voll. Ein Kaktus ist Überlebenswille pur und wenn er blüht, vergisst du sein stacheliges Äußeres. Der hier kriegt angeblich lauter kleine, rote Blüten.“

„Klar nehmen wir den Überlebenskünstler mit.“, grinste sie, auch wenn sie jetzt dessen lange Stacheln ein wenig misstrauisch beäugte. „Wie der wohl mit lauter kleinen Sicherheitsflaschenkorken auf den Stacheln aussähe?“, fügte sie noch an und hielt dann meinem nähergetretenen Vater schnell mit einer Hand den Mund zu. „Viel Spaß!“

Ich nutzte die Gelegenheit und huschte hinaus, bevor er noch etwas sagen konnte. Grinsend winkte ich ihnen von draußen zu und schlug den Weg in Richtung…Café ein!

‚Übrigens Adam’ saß immer noch da und sah gut aus, auch wenn er jetzt offenbar dabei war, seine Sachen zusammenzupacken. Automatisch verlangsamte ich und überlegte, ob ich die Straßenseite wechseln sollte, damit er verschwinden konnte, ohne mich noch einmal zu sehen. Aber in diesem Moment sah er auf, warf einen Blick zum Buchladen und bemerkte mich. Ein erfreutes Lächeln huschte über sein Gesicht und ich registrierte überrascht, dass er höflich aufstand, als ich näher kam.

„Hi! Du hast den Kaffee abgeliefert?“

„Ja, hab ich. Und du hast deinen Text fertig?“

„Ähm, ja … Ich hätte nicht gedacht, dass Deutsch eine so schwere Sprache ist.“

Ich hob eine Schulter und ließ sie wieder fallen. „Kann sein, ja. Ich hab noch ein paar Minuten, wenn du also willst, sehe ich es mir doch mal an.“

„Oh, gerne! Es ist aber nur zusammengestoppelte und unzusammenhängende Konversation. Einfache Fragen, einfache Antworten, einfache, häufig verwendete Redewendungen, Alltägliches. Ich bin noch ein blutiger Anfänger … Setz dich doch!“

Ich verzog mein Gesicht bei dieser Bemerkung. Der Kleinigkeit eines Vampirs in mir fielen wie immer und immer noch solche Umschreibungen bei meinen Gesprächspartnern auf.

„Wie lange lernst du das denn bisher?“

„Wirklich intensiv erst seit vier Wochen, hab also Erbarmen.“

„Vier Wochen?“, echote ich laut und sah erstaunt auf den Bildschirm, den er jetzt so gedreht hatte, dass mein Blick ungehindert darauf fiel. Der Text erschien gerade wieder …

„Wenn du erst seit vier Wochen dran bist, dann…bist du echt gut!“

Ich überflog alles und scrollte die Seiten nach unten, dann warf ich ihm einen vorsichtigen, forschenden Blick zu. „Du wolltest eigentlich gerade gehen, richtig?“

Er hatte mir den Schattenplatz überlassen und die Sonne ließ daher seine kurzgeschnittenen, leicht gewellten schwarzen Haare schimmern, als er den Kopf schüttelte. „Nein … ähm … Ich wäre jetzt in euren Buchladen gekommen und hätte nach einem Deutschwörterbuch gefragt.“

Ein Deutschwörterbuch neben einem Laptop, mit dem man im Internet einen Übersetzer finden konnte! Aber seine absolut ernsthaft vorgebrachte Antwort entlockte mir ein Lächeln – was ihn sofort hochaufmerksam in meine Augen blicken ließ. Ich wandte den Kopf ab und schob ihm das Notebook wieder hin. „Auf der zweiten Seite sind zwei Fehler. Es muss heißen, ‚als wir ankamen’, nicht ‚ankommen’ und ein paar Zeilen tiefer hast du ‚Stundenwohnheim’ statt ‚Studentenwohnheim’ geschrieben. Wenn du in Deutschland danach fragst, könnte man das leicht missverstehen, glaub mir. Und meine Schwester führt keine Wörterbücher. Wieso Deutsch?“, wechselte ich jetzt zum Deutsch.

Stirnrunzelnd übersetzte er im Kopf, betrachtete seinen Text, schob dann die Ärmel hoch und verbesserte ihn mit ein paar raschen Eingaben. Ich hielt kurz den Atem an. An seinem Unterarm war deutlich eine kleine, dünne Narbe zu sehen, die sich hell von seiner gebräunten Haut abhob. Als er mich wieder ansah, atmete ich behutsam wieder aus und lächelte unverbindlich. Er antwortete langsam und überlegt, aber mit weniger Akzent, als ich vermutet hätte: „Danke! Weil ich die Gelegenheit geboten bekomme, demnächst zwei Wochen dort zu verbringen. Ich möchte feststellen, ob die Sprache mir … liegt? Ich möchte ein Jahr im Ausland studieren und Deutschland steht zur Wahl.“

„Du hast dich noch nicht entschieden? Ich hätte vermutet …“ nickte ich in Richtung des Notebooks.

„Noch nicht, aber ich hoffe auf einen Platz.“

„Erblich vorbelastet? Oder reines Talent?“

Er runzelte die Stirn. „Erblich vorbelastet?“, wiederholte er. „Ich weiß, was belastet heißt, aber …“

Ich lächelte entschuldigend und wiederholte die Frage auf Englisch.

„Oh … Etwas von beidem vermutlich. Mum stammt von hier, aber ihre Grandma war Deutsche und mein Dad…Er stammt von einer Französin und einem Afroamerikaner ab. Ich bin also nicht nur als Kanadier zweisprachig und mit ein paar deutschen Brocken aufgewachsen, sondern fände es auch interessant, das Land meiner Urgroßmutter kennenzulernen. Und du? Du sagtest vorhin, du hättest mal in Deutschland gelebt. Was verschlägt euch hierher?“

„Kanadas offensichtliche Multikultur würde ich sagen.“, erwiderte ich mit einer Geste in seine Richtung und lehnte mich unbehaglich zurück, verschränkte die Arme – und legte sie sofort wieder auf die Lehnen, als mir aufging, wie abweisend das aussehen musste. „Deinen Eltern gehört also dieses Café?“

„Ja. Und noch eins in Belleville. Und deine Eltern?“

„Die sind beruflich bedingt viel unterwegs.“, erwiderte ich und überlegte, ob ich nicht besser wieder gehen sollte. Sein Blick wurde immer neugieriger und mittlerweile hatte ich den Eindruck, als ob die Augen eines Halbvampirs meinen Rücken durchbohrten. Ich seufzte, schnaubte dann und wandte mich um, um einen unmissverständlichen Blick in Richtung Schaufenster zu werfen. Das Gefühl verschwand.

„Oh, tut mir leid, ich hab nicht mal gefragt … Möchtest du was trinken?“, interpretierte er mein Verhalten.

„Nein, danke.“

„Alles in Ordnung?“

„Hm…Doch, ja.“

„Der Buchladen gehört also deiner Schwester? Lebst du bei ihr, wenn deine Eltern nicht da sind?“

Viele neugierige Fragen!

„Ja … Ich glaube, ich sollte jetzt gehen, ich muss meinen Bruder noch finden. Dem droht ein Rauswurf, wenn er sein Zimmer nicht in Ordnung bringt.“ Ich schob den Stuhl zurück – und erhob mich gleichzeitig mit ihm.

„Machst du das immer?“, fragte ich, ernstlich erstaunt.

„Was?“

„Aufstehen!“

Irritiert wandte er kurz den Kopf und musterte mich dann wieder. Und lächelte. „Mein französisches Erbe! Immer höflich gegenüber dem weiblichen Geschlecht sein! Soll ich dir helfen?“

„Wobei?“

Ich rückte den Stuhl an den Tisch, bevor er auch das noch für mich tun würde.

„Deinen Bruder zu finden! Wie alt ist er denn?“

Jetzt musste ich kichern. „Alt genug! Und doch immer noch unreif genug, um sein Zimmern nicht in Ordnung zu halten! Hat mich gefreut, ‚Übrigens Adam’!“

„Warte! Das war’s? Du gehst einfach so? Ich meine, willst du mir nicht wenigstens deine Telefonnummer geben oder mich nach meiner fragen? Dwen, nicht wahr?“

Ich zog meine Augenbrauen zusammen. „Woher kennst du meinen Namen? Ich hab ihn dir nicht genannt!“

Verblüfft richtete er sich ein wenig auf und hob entschuldigend beide Hände. „Stimmt! Aber mein Freund Tim schien dich zu kennen, ich hab ihn gefragt! Du bist mir vorhin schon … aufgefallen.“

Er hatte jemanden nach mir gefragt, weil ich ihm aufgefallen war? Ich ignorierte den Extraschlag meines Herzens und fragte anstelle einer Antwort: „Tim wer?“

„Tim Stiller. Saß vorhin mit mir hier am Tisch. Etwa so groß wie ich, blonde Haare, blaue Augen, hängt bei diesem Wetter dauernd am See rum …“

„Ah. Ja, der ist mir allerdings begegnet! Das ist dein Freund?“

„Welche Antwort erhöht meine Chancen, dich wiederzusehen?“, fragte er vollkommen ernst zurück.

Ich konnte ein Lachen nicht unterdrücken. „Er hat versucht, mich anzubaggern. Sonntag, am See. Und nicht sehr gekonnt!“

Und Dad war in Reichweite gewesen – ein Fehler, den ich so bald nicht wieder zu machen gedachte!

„Ich kenne ihn nicht! Nie gesehen, den Typ!“

Ich grinste. „Und ich kann ‚Typen’ nicht ausstehen, die nicht zu ihren Freunden und deren Fehlern und Schwächen stehen können oder wollen!“

„Er ist mein bester Freund, schon seit dem Kindergarten! Ich würde ihm mein letztes Hemd überlassen!“

Glucksend schüttelte ich den Kopf, dann legte ich ihn schief.

„Okay! Morgen früh, am See. Ich schwimme gerne ein paar Runden, bevor zu viel Betrieb da herrscht. So um sieben?“

„Alles klar, ich werde da sein. Ähm ... muss ich mit ins Wasser? Ich schwimme nicht eben besonders gerne.“

„Musst du nicht, aber dann könnte es langweilig für dich werden! Und ja, mein Name ist Dwen.“

Das Lächeln in seinem Gesicht ließ seine Augen aufblitzen und ich drehte mich hastig um, um den Heimweg in Angriff zu nehmen.

„Es wird bestimmt nicht langweilig, ich bin super als Coach und Handtuchbewacher! Bis morgen! Hey, eine Frage noch …“ Er holte mich ein und jetzt musste ich zu ihm hochsehen.

„Ja?“, fragte ich misstrauisch und riss mich sofort wieder zusammen.

Er hielt meinen Blick für einen Moment fest, holte Luft, dann atmete er langsam wieder aus. „Ach, nichts! Wir sehen uns morgen …“

Als ich etwa eine Viertelstunde später den Ortsrand hinter mir gelassen hatte und einen langsamen, gleichmäßigen Trab anschlug, musste ich wieder lächeln. Adam war … mehr als ein ‚Übrigens’! Mein Lächeln schwand sofort wieder, denn was das ‚Übrigens‘ noch beinhaltete, würde ich erst noch herausfinden müssen.

Tom war, wie zu erwarten, nicht zu Hause. Er hatte mich in seinem Wagen mit nach Marmora genommen, dort abgesetzt und war sicher postwendend zum See gefahren. Anders als mir fiel es ihm überaus leicht, neue Kontakte zu knüpfen, er war wie Dad. Auch wenn seine Art, Kontakte zu knüpfen, sich sicher eher als ähnlich dem Verhalten von Tim Stiller herausstellen dürfte: Mädchen anbaggern! Tom wusste sehr wohl, dass er mit seinen sechzehn Jahren durchaus schon wie ein Achtzehnjähriger aussah – und gut aussah. Doch ich wusste auch, dass er zwar hin und wieder ein wenig dick auftrug und noch jedes Mal sein hinreißender Charme und sein sympathisches und ehrliches Wesen ihn zwar darin unterstützten, ihn aber auch nicht zu weit gehen ließen.

Ich schleuderte meine Schuhe von den Füßen und trank rasch hintereinander drei Gläser Wasser. Dann betrachtete ich die kleine Lichtung vor dem Küchenfenster. Unweit des Waldrandes, von hier aus gesehen rechts, befand sich ein kleines, kaum mehr zu erkennendes Grab, auf dem ein flacher Stein mit einer selbstgefertigten Gravur lag. Laut Lilith’ Erzählungen hatte sie dort nicht allzu lange vor ihrem Weggang von hier vor etwa fünf, fast sechs Jahren todtraurig ihre hochbetagte, zuletzt fast blinde Katze beerdigt. Miss Doubtfire. Ich hatte sie noch in Erinnerung, wenn auch das Bild, das ich von ihr hatte, eher auf der Erinnerung meiner Mom beruhte. Doch ich wusste noch, wie sie einmal – bei einem der jährlichen Treffen all unserer Freunde, die an immer wechselnden Orten stattfanden – mit hoch aufgerichtetem, buschig aufgeplustertem Schwanz zwischen den vielen Vampiren hindurch nach draußen geschossen und im Wald verschwunden war. Ich war furchtbar erschrocken, aber anders als alle vermutet hatten nur deshalb, weil die Vampire, die ich alle als so harmlos kannte, sie so sehr in Angst und Schrecken versetzt hatten.

Ohne darüber nachzudenken verließ ich die Küche und marschierte barfuß nach draußen, hin zu dem kleinen Grab und fing an, es von Unkraut und Moos zu befreien.

„Hi, Lady! So hat sie dich doch immer genannt, oder? Sie lässt dich grüßen … und ich weiß, dass sie dich unglaublich vermisst, mehr, als sie sich und anderen eingestehen will! Du bist für sie durch nichts zu ersetzen und in Gedanken bist du noch immer ständig bei ihr. Hast du uns verziehen, dass wir dich so erschreckt haben? Niemand von uns hätte dir etwas getan.“

Das herannahende Geräusch von Toms Wagen ignorierend beendete ich schweigend meine Arbeit und warf das Unkraut ein paar Meter weiter zwischen die Bäume. Ich würde vielleicht etwas anpflanzen. Oder ein paar Steine für eine neue Umrandung sammeln. Oder beides.

„Hi Schwesterchen! Was machst du da?“ Er war nähergekommen und ließ seine Schlüssel am Schlüsselring schwungvoll um seinen Finger kreiseln. „Das ist das Katzengrab!“, meinte er und hob die dunklen Augenbrauen.

„Ja, das ist es. Ich habe soeben beschlossen, dass ich es für die Dauer unseres Aufenthaltes hier pflegen werde.“

Er ließ den Schlüssel weiter kreiseln und warf einen Blick auf den Stein.

„Was ist? Kein abfälliger Kommentar?“

Die Schlüssel in der Handfläche auffangend senkte er den Arm und musterte mich mit zusammengepressten Lippen. „Was hab ich dir schon wieder getan? Nein, kein Kommentar! Ich steh zwar nicht unbedingt auf Katzen, aber ich weiß sehr gut, dass die hier Lil eine Menge bedeutet hat! Stell dir vor, auch ich habe ein Herz und wenn du das hier nicht übernommen hättest, hätte ich es getan!“

Er hätte sich um ein Katzengrab gekümmert? Ich klemmte die Unterlippe zwischen die Zähne. „Entschuldige! Du hast mich wohl nur auf dem falschen Fuß erwischt.“

„Das tu ich in letzter Zeit wohl dauernd! Ich frag mich allerdings, ob das jetzt an mir oder an dir liegt!“

„Weiß nicht…An dir, das macht es mir einfacher!“, lächelte ich schief.

„Klar. Warst du bei Mom und Dad? Sind sie noch im Laden?“

„Ja. Und ich soll dir ausrichten, dass du dein Zimmer auf Vordermann bringen sollst, wenn Dad es nicht niederreißen, abbrennen, in die Luft jagen und anschließend pulverisieren soll. Die vier Wände deines Heimes bestünden dann zukünftig aus Zeltleinen.“

Er verdrehte die Augen. „Ich bin doch erst letzte Woche eingezogen! Wieso machen sie so einen Stress wegen der paar Kartons?“

„Letzte Woche ist jetzt eine Woche her! Und zwischen deinen Frachtcontainern, die du als Kartons bezeichnest, bildet sich mittlerweile sicher schon ein eigenes Biotop voller unbekannter Lebewesen mit großen Augen und feuchten Nasen!“

Er grinste, fuhr sich mit den Händen durch die langgewachsenen schwarzen Haare und legte dann ein wenig ruppig einen Arm um meine Schultern.

„Keine Chance! Ich werde dir nicht helfen!“, schob ich ihn wieder fort.

„Bitte! Weil ich dein Lieblingsbruder bin!“

„Hmpf! Bei der Auswahl an tatsächlichen Brüdern, die ich habe …“

„Okay, was forderst du als Gegenleistung?“

Ich hob eine Augenbraue und sah ihn von der Seite an. „Gegenleistung?“

„Ja. Du hilfst mir beim Ausräumen und Putzen und darfst dir dafür was wünschen!“

„Falsch! Ich helfe dir beim Aus- und Einräumen, nicht beim Putzen! Und dafür wirst du etwas für mich tun. Genauer gesagt, zwei Dinge …“

„Hm…Und was?“

Ich verschränkte die Arme. „Kannst du etwas für dich behalten, wenn ich dich darum bitte?“

„Ich schweige wie Miss Doubtfires Grab!“

Ich schnaubte, als ich sein Grinsen bei diesen Worten sah, und wandte mich ab.

„He, Dwen, warte! Tut mir leid! Im Ernst, ich kann durchaus den Mund halten! Hin und wieder solltest du … Ich bin dein Bruder, okay? Und wir sind immer noch ein bisschen … vampirisch! Ich werde den Mund halten, wenn du mich darum bittest. Versprochen! Und … Gott, nicht nur, weil ich dafür eine Gegenleistung erwarte! Ich fasse es nicht, dass du mich zu diesem Geständnis getrieben hast!“

Als er erneut mit den Fingern durch seine Haare fuhr, standen sie in alle Richtungen ab, was ihm ein sehr jungenhaftes Aussehen gab – und was jetzt ganz im Gegensatz zu dem stand, was ich in seinen Augen sah!

„Also gut. Wir sollten anfangen, Mom und Dad werden nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen!“

Er kam mit großen Schritten hinter mir her.

„Und was willst du jetzt von mir?“

Ich grinste ihn an. „Du wirst morgen früh um halb sieben mit mir schwimmen gehen!“

„Bitte? Da lege ich mich für gewöhnlich erst schlafen, wenn ich Ferien habe! Und das Zweite?“

„Sag ich dir noch!“

„Nichts da! Ich kaufe nicht die Katze im Sack; einen Hinweis, sonst ist der Deal gestorben!“

„Ein Hinweis? Okay! Mission: Impossible!“

Seine restlichen Kartons waren, da wir jetzt zu zweit waren, schnell ausgeräumt. Was die übrige Ordnung in seinem Zimmer anging, war ich eher überrascht, denn anders als noch vor einem halben Jahr fand ich keine herumliegenden Kleidungsstücke und keine CDs und Zeitschriften, die offen und aufgeschlagen Bett und Schreibtisch blockierten. Was er bereits eingeräumt hatte, befand sich fein säuberlich sortiert oder nach einem gewissen System geordnet in den Regalen oder Schränken.

„Bist du sicher, dass das dein Zimmer ist? Wo sind die Staubflocken? Abgewandert wegen Überfüllung? Oder hast du sie zu einer Girlande aufgefädelt und hängst sie auf, sobald ich draußen bin?“

Das Kissen traf mich nicht unvorbereitet, aber ich ließ ihm seinen Spaß.

„Ich bin älter und reifer geworden, Schwesterchen!“

„Klar, du hast einen gewaltigen Entwicklungssprung gemacht.“

Er faltete den letzten Karton zusammen und warf ihn auf die anderen, dann sah er mich mit verärgertem Gesichtsausdruck an. „Kannst du mal aufhören damit? Echt, ich bin froh, dass du mir geholfen hast, aber es wäre schön, wenn du endlich …“ Er unterbrach sich frustriert und ich musterte ihn unauffällig.

„Was ist los?“

„Nichts! Ich bin es nur leid, ständig deine Zielscheibe zu sein! Du tust immer so erwachsen, aber wenn du dir mal selbst zuhören würdest … Manchmal glaub ich, ich bin älter als du!“

Ich sortierte die letzten Bücher zu ihren Genres – überwiegend Krimis, Sciencefiction und Bildbände oder Reiseführer – ins Regal und richtete mich dann wieder auf. „Okay, ich werde mich bessern. Aber du musst zugeben, dass meine Frechheiten bisher immer zutrafen! Woran liegt es also, dass du dich geändert hast?“

Er ließ sich wütend auf der Bettkante nieder, dann sah er mit einem Mal ratlos aus. „Granny.“, erwiderte er. „Das hat mir einen ziemlichen Schock versetzt!“

„Kann ich mir vorstellen.“, antwortete ich leise und nahm neben ihm Platz. „Damit stehst du nicht alleine!“

„Wieso … Ich meine, sie hätte doch die Möglichkeit … Wenn sie sich wenigstens nicht so sträuben würde, von dort weg und in unsere Nähe zu ziehen!“

Ich holte langsam und tief Luft. „Tom, sie ist zu 100% ein Mensch. Und die Entscheidung, die sie für sich getroffen hat … Sie hat mir mal davon erzählt, wie hart es für sie war, sich mit Moms Langlebigkeit anzufreunden. Nicht, weil sie ihr das nicht wünschen würde, sondern weil es für sie so unvorstellbar ist. Zusammen mit dem, was Mom und Dad immer noch tun … Es war und ist ihr wichtig, sich von diesen Dingen zu distanzieren, auf ihre Weise. Und dazu gehört auch, dass sie es ablehnt, sich durch Vampirblut heilen zu lassen. Oder rein platonisch mit einem Halbvampir einen Blutsbund zu schließen, um bei Mom bleiben zu können…Und Grand Ian teilt ihre Meinung.“

„Ich weiß! So schwer es mir auch fällt, ich respektiere und akzeptiere ihre Entscheidung durchaus! Ich verstehe nur nicht, warum sie sich so querstellt, wenn es darum geht, unter einem anderen Namen in unserer Nähe zu leben! Was, wenn sie … Sie könnte doch wenigstens … Schon nächste Woche könnte sie …“

„Schon klar, ich weiß, was du sagen willst. Du und ich, Mom und Dad, wir alle sind jedoch anders, in gewisser Weise erblich vorbelastet.“ Ich zuckte die Schultern, als ich diese Bezeichnung jetzt erneut verwendete. „Wir können deshalb besser und anders damit umgehen als ein Mensch. Als Granny! Sie mag die Jägergene weitergegeben haben, aber warum auch immer unsere Familie mit den Gegebenheiten der Schattenwelt so gut zurechtkommt, es kommt bei ihr nicht gerade sehr ausgeprägt zum Tragen. Für sie ist ihr Name und ihre Heimat ein so großer Teil ihrer Identität, dass sie…

Sie braucht das. Sie will ihre Identität nicht verlieren, Tom. Sie braucht etwas, das Beständigkeit hat in ihrem Leben, vor allem weil sie sieht, wie unbeständig und unwägbar Moms Leben ist. Es gibt ihr Sicherheit, mehr noch als sie sich im Hinblick auf die äußeren Umstände durch einen geänderten Namen und ständiges Umziehen schaffen könnte. Und wenn man Mom hört, dann kann es durchaus sein, dass Sandrine, diese Vampirälteste, so was Ähnliches wie ein Tabu für Grand Ian und Granny erwirkt hat. Sie haben mitbekommen, dass Mom ihre Familie bis zum Äußersten verteidigen würde und sie haben wohl auch ihre Mittel gesehen und ihre eingebauten Verbündeten kennengelernt. Seit damals sind sie vollkommen in Ruhe gelassen worden.“

Er beugte sich vor, die Ellenbogen auf die Knie gestützt und die Hände gefaltet. So wie er jetzt zu mir herübersah, sah er gleichzeitig wie ein kleiner Junge und wie ein erwachsener Mann aus. Er stand tatsächlich an einer Schwelle, von der er zwar hin und wieder noch in seine Jungenhaftigkeit verfallen, wohl aber immer mehr … erwachsen sein würde!

„Es wäre zu früh! Wenn ihr jetzt schon etwas passieren würde – es wäre zu früh! Sie könnte noch für lange Zeit bei uns sein, aber wir sitzen hier in Marmora und sie in Bedford. Okay, wir beide, du und ich, könnten sie besuchen, jederzeit. Aber Mom und Dad … Mehr als heimliche Treffen oder Besuche, bei denen kein Nachbar sie sehen dürfte, sind nicht mehr drin!“

„Nein. Aber das wissen sie.“

Er grunzte. „Das ist mir klar! Aber hast du mal Mom gesehen? Als sie die Nachricht von Grannys Herzinfarkt bekam und in der Zeit danach?“

„Es ist niemandem von uns entgangen. Aber mehr als das, was wir jetzt tun, können wir nicht tun. Und in zwei Wochen werden sie herkommen, für wenigstens eine Woche, zusammen mit Akai, der ganz sicher ein paar vampirneutrale Mittel weiß, um ihren Gesundheitszustand zu unterstützen … Nein, Tom, du musst damit aufhören. Du darfst so nicht denken, wenn du dich nicht kaputtmachen willst! Das Leben ist endlich, es währt nicht ewig und Granny geht es wieder gut, okay? Mom ebenfalls. Und egal, was irgendwann einmal passiert: Solange wir uns haben, werden wir alles durchstehen!“

„Manchmal bist du echt unausstehlich, weißt du das?“

Ich hob die Augenbrauen und wollte schon verärgert reagieren, als ein schiefes Grinsen über sein Gesicht huschte.

„Vor allem dann, wenn du mal wieder mit irgendwas recht hast! Ich hab halt nur ein Problem damit, wenn ich sehe, dass Mom traurig ist. Oder Angst um Granny hat. Oder wenn ich höre, dass es Granny oder Grand Ian nicht gut geht und man theoretisch mit ein bisschen Vampirblut…Nein, ich hör schon auf. Also, ich soll morgen früh mit dir schwimmen gehen? Warum? Du gehst doch sonst auch lieber alleine und ohne deinen kleinen Bruder.“, wechselte er rasch das Thema.

„Normalerweise schon. Aber morgen brauche ich deine Hilfe. Und ich warne dich: Halt ja Mom und Dad gegenüber die Klappe! Da ist ein Typ, der mich heute vor dem Café angesprochen hat …“

„Aha?“

„Nichts ‚aha’! Du sollst dich morgen nur sehen lassen, dann aber verschwinden. Seinen Eltern gehört das Café, sein Name ist Adam. Du sollst für mich rausfinden, wo er wohnt …“

„Ahaaa?“

„Lass das!“, unterbrach ich ihn verärgert. „Ich hab einen guten Grund dafür!“

„Das ist mir klar!“

Ich presste wütend die Lippen zusammen. „Jetzt wäre eigentlich die Gelegenheit für dich, dich mal erwachsen zu zeigen! Wenn du mir also zuhören würdest …“

„Schon gut. Was soll ich also tun?“

„Bei ihm einbrechen! Schaffst du das? Ich hab eine Uhrzeit gewählt, um die seine Eltern bestimmt aus dem Haus gehen oder schon weg sind, sofern er noch bei ihnen wohnt. Falls du es also ungesehen schaffen kannst, dann … sieh dich mal in seinem Zimmer oder seiner Wohnung um.“

Jetzt hatte ich seine Aufmerksamkeit!

„Möglicherweise impossible mission im wahrsten Wortsinn! Nicht dein Ernst! Was erhoffst du dir davon? So wie du dich anhörst, soll ich nach etwas Bestimmtem suchen!“

„Ich kann dir nicht sagen, wonach du suchen sollst, weil ich es selbst nicht weiß. Aber ich könnte mir denken, dass du es weißt, wenn du es findest. Falls du was findest!“

„Das ist mir zu hoch! Klär mich auf, was das Ganze soll! Was ist mit ihm? Wie alt ist er? Zu jung oder zu alt für dich oder was?“

Ich stieß einen Seufzer aus. „Ich schätze, er ist irgendwas zwischen zweiundzwanzig und fünfundzwanzig Jahre. Was mich hat aufmerksam werden lassen, war aber Folgendes: Er scheint ein Sprachengenie zu sein, denn ich habe heute die Ergebnisse von angeblich nur vier Wochen Deutschlernens gesehen. Er beobachtet höchst aufmerksam, reagiert schnell, hat ein paar Manieren, die heute kaum ein Mann seines Alters noch an den Tag legt … und als er sich zwischendurch die Ärmel seines Shirts hochschob, hab ich an seinem linken Unterarm, an der Innenseite, eine deutliche, etwa vier bis fünf Zentimeter lange Narbe gesehen! Es muss nichts bedeuten, eine Menge Menschen könnten dort Narben haben …“

„Was willst du damit andeuten? Wäre er ein Vampir oder teilweise Vampir, hättest du es gespürt! Und als Mensch … könnte er mal mit einem Vampir einen Bund eingegangen sein, klar. Aber a: Wie wahrscheinlich ist es, dass ausgerechnet du ausgerechnet hier und ausgerechnet jetzt einen solchen triffst und b: Selbst wenn, was soll’s? Seine zweite Hälfte wäre ja wohl friedlich! Ist das ein Anflug von Paranoia?“

Ich klappte den Mund auf – und wieder zu. „Kann sein. Kann sein, dass ich spinne und er einfach nur ein netter, aufmerksamer Typ ist, der ein Talent für Sprachen hat. Ich wäre froh, wenn er einfach nur ein netter, aufmerksamer … und gutaussehender Typ wäre! Wirst du dich mal bei ihm umsehen?“

„Dwen, du spinnst tatsächlich! Aber ich werde tun, was ich kann, ich hab’s versprochen. Himmel, Dad darf da wirklich nichts von erfahren, ich würde ein Jahr lang keinen Pudding zum Nachtisch kriegen und bekäme lebenslänglichen Hausarrest – was verdammt lang wäre, nebenbei bemerkt! Und ich glaube nicht, dass ich was finden werde, schon gar nicht dann, wenn er ein bisschen Vampir ist. Was nicht sein kann, weil du es dann gespürt hättest.“

„Tom, ich will nur sichergehen. Akais letzte Blockade ist gerade mal zwei Wochen alt und in der ersten Zeit danach kann ich oft genug selbst diesem Sinn nicht hundertprozentig vertrauen, zumindest, wenn auch Adam nur noch ein bisschen vampirisch sein sollte! Deshalb sollst du dich morgen mal sehen lassen – und dann verschwinden! Kapiert?“

Seine Augenbrauen wanderten immer weiter aufeinander zu. „Ich soll deinen Sensor spielen! Hat er denn irgendwelche Anzeichen gemacht, dass er bei dir etwas gespürt hätte? Deine Präsenz ist schwach, aber immerhin vorhanden.“

„Nein. Aber ich hätte ihn ja wohl auch kaum danach fragen können und er könnte Gründe haben, ebenfalls nichts zu sagen! Vermutlich hat mich Dad mit seiner ewigen Vorsicht auch nur angesteckt, aber anders als ich könntest du einen kleinen Vampiranteil mit deinen Sinnen sofort herausfinden.“

„Alles klar! Morgen werden wir also schwimmen gehen. Und dann werden wir mehr wissen.“

Es war nicht ungewöhnlich, dass Tom und ich die Gelegenheit nutzten, schwimmen zu gehen. Daher war es kein Problem, als wir am nächsten Morgen schon früh loszogen, jeder ein dickes Badetuch unter dem Arm. Wir nahmen meinen Wagen und waren lange vor sieben am Crowe Lake, wo sich heute tatsächlich noch kaum jemand zeigte. Ein paar einsame Jogger, irgendwo weiter draußen jemand mit einem Ruderboot …

„Ich fasse es nicht, dass ich mich dazu habe überreden lassen! Es ist erst kurz nach Mitternacht, ist dir das klar? Es ist total ungesund, in meinem Alter so wenig Schlaf zu bekommen, das hemmt mein Wachstum und meine geistige Entwicklung. Wie kalt ist das Wasser? Ich hätte mir eine Wärmflasche mitnehmen sollen oder Schal und Handschuhe …“, grummelte er und zog sich das T-Shirt über den Kopf.

„Stell dich nicht so an!“, grinste ich und warf meine Kleidung auf einen Haufen, um sofort mit Anlauf ins Wasser zu rennen. Mit Absicht ließ ich es hoch aufspritzen und schon nach den ersten Kraulbewegungen fühlte sich das Wasser angenehm warm auf der Haut an. Mein Metabolismus, dem ich mit einem zufriedenen Seufzen gedanklich sogleich dankte.

Tom brauchte nur wenige Augenblicke, bis er mich eingeholt hatte und eine ganze Zeitlang schwammen wir im absoluten Gleichtakt bis weit auf den See hinaus. Irgendwann drehte ich mich auf den Rücken und warf einen Blick zurück.

„Tom?“

Er war ein paar Meter weitergeschwommen, hielt auf meine leise Aufforderung hin inne und trat jetzt Wasser.

„Das ist er. Er hat seinen Wagen neben meinem geparkt … Kriegst du das hin? Geh bloß kein Risiko ein, das ist es nicht wert!“

„Tu ich nicht. Mach dir keine Sorgen…Wollen wir zurück?“

Ich nickte, wischte mir besorgt über die Stirn und nickte noch einmal.

Dann schwamm ich in wenigen Metern Entfernung hinter ihm her zurück Richtung Ufer, wo Adam wartend saß und uns zusah.

„Sei bloß vorsichtig!“, murmelte ich, aber er hatte mich gehört.

„Hi …“, rief Adam mir entgegen. „Geleitschutz?“

„Hi. Das ist mein verlorener Bruder, Tom. Tom, Adam … wie heißt du eigentlich hinten?“

Ich stieg aus dem Wasser und versuchte, den Blick, den er mir zuwarf, zu ignorieren.

„Parish. Hi, freut mich.“

Er schlug kräftig in Toms Hand ein und ich wickelte mich schnell in mein Badetuch, warf ihm einen möglichst unauffälligen Blick zu.

„Parish? So heißt auch das Café neben dem Buchladen.“

„Meine Eltern. Hat Dwen dir nichts von mir erzählt?“

„Nein, aber nimm es nicht persönlich, sie gehört nicht zu der geschwätzigen Sorte Mädchen.“

Ich schnaubte. „Idiot! Wolltest du nicht gehen?“

„Eigentlich nicht, ich bin mit dir gekommen … Schon gut, bin ja schon weg! Ähm … Dann muss ich allerdings deinen Wagen nehmen. Ich nehme an, Adam kann dich nach Hause fahren? Ich leiste euch allerdings auch gerne Gesellschaft, falls nicht!“ Er rubbelte sich grinsend die Haare trocken und rieb sich Arme und Oberkörper ab.

„Brüder!“, schnaubte ich. „Lass den Wagen beim Laden stehen, George kann dich zur Not nach Hause fahren. Adam? Würdest du mich bis dorthin mitnehmen? Oder wäre das ein Umweg?“

„Kein Problem! Ich fahr dich aber auch nach Hause, wenn du hier … fertig bist.“

„Na ja, ich würde schon gerne noch eine zweite Runde schwimmen…Halte ich dich von etwas ab? Musst du nach Hause oder im Café helfen?“

Tom hatte sich hinter den Wagen verzogen, wo er sich jetzt seine Kleidung wieder anzog.

„Nein, ich hab Zeit, geh ruhig noch eine Runde schwimmen.“

„Du nicht?“, fragte Tom, der jetzt, sein Badetuch über der Schulter, wieder zurückkam.

„Ähm, nein …“

Ich warf mein Badetuch wieder auf den Boden und lief zurück ins Wasser.

„Tja, dann sollte ich wohl mal so langsam … Ich nehme an, man sieht sich irgendwo? Wohnst du hier? Über dem Café?“

Ich war schon ein gutes Stück vom Ufer entfernt, als ich ihn endlich davonfahren hörte. Ich hatte wenig Erfolg gehabt mit meinen Andeutungen und konnte nur hoffen, dass Tom mit seiner unverblümten Art – die man mir nicht abgenommen hätte! – einfach gefragt hatte, wo genau Adam wohnte. Jetzt konnte ich nicht mehr tun, als ihm Zeit zu verschaffen. Eine Präsenz schien auch er nicht bei ihm gespürt zu haben, andernfalls hätte er mir das zu verstehen gegeben. Ein Vampiranteil war also mit ziemlicher Sicherheit auszuschließen. Blieb noch die Narbe …

‚Und wenn die auch nichts besagt? Dann hättest du heute deinen kleinen Bruder ganz umsonst zu etwas so Gefährlichem überredet!’, schoss mir durch den Kopf. Kurz kam ich aus dem Takt und hielt wassertretend inne. Ich hätte ihn nicht dazu überreden dürfen, ich war tatsächlich schon paranoid und unser aller Inkognito nicht im Geringsten in Gefahr!

Mit einem Blick stellte ich fest, dass er immer noch wartend am Ufer saß, jetzt die Hand hob und mir…beruhigend? zuwinkte.

Langsamer als auf dem Hinweg schwamm ich zurück, drehte mich auf halber Strecke auf den Rücken und paddelte mehr, als ich schwamm. Erst auf den letzten Metern drehte ich mich wieder um.

„Hast du das mal im Wettkampf betrieben? Du bist eine echt gute Schwimmerin, soweit ich das beurteilen kann!“, betonte er und reichte mir mein Badetuch. Ich wickelte mich eiligst darin ein, denn schon wieder konnte ich seinen Blick fast körperlich spüren. Obwohl mein Badeanzug kaum etwas sehen ließ!

„Nein, ich hatte kein Interesse daran, es in einer Mannschaft oder solo so intensiv zu betreiben. Ich schätze mal, ich hab das von meinem Dad, der schwimmt zwar nicht oft, aber gut. Besser als ich.“ Ich schnappte mir meine Klamotten und verschwand hinter seinem Auto. „Entschuldige mich kurz …“

Er wandte mir den Rücken zu, was mir die Gelegenheit gab, unbemerkt einen Blick ins Innere seines Wagens zu werfen. Ein etwas älteres Modell eines Chevrolets…Auf dem Rücksitz lag lediglich ein Pullover, sonst nichts.

„Du lebst also bei deiner Schwester. Dein Bruder ebenfalls?“

„Ja. Wie ich schon sagte, unsere Eltern sind beruflich ständig unterwegs und wenn wir nicht andauernd umziehen und die Schule wechseln wollen … Es klappt ganz gut so und wir verstehen uns bestens.“

Auf dem Beifahrersitz lag sein Notebook, darunter ein Buch über … Ich konnte den Titel nicht erkennen, der Buchrücken lag zur anderen Seite gedreht. Aber es schien ein Bildband oder ein Reiseführer zu sein. Oder ein Reisebericht. Jedenfalls ähnelte das Format denen, die Tom sammelte. Und vor dem Sitz auf dem Boden stand ein großer Korb. Zugedeckt.

Während ich mein Shirt überzog, warf ich einen forschenden Blick in seine Richtung, aber er wandte mir immer noch den Rücken zu.

„Und du? Du studierst … Wohnst du in den Semesterferien bei deinen Eltern?“

„Nicht mehr, nein.“

„Sondern?“

„Sie leben mittlerweile ständig in Belleville und kommen nur noch vergleichsweise selten her. Ich bewohne nicht nur jetzt in den Ferien hier ein kleines Häuschen, ein Stück vom See entfernt. Es gehörte mal Mums Eltern. Früher mal ein Ferienhäuschen, mittlerweile allerdings in die Jahre gekommen. Sie haben es vor Kurzem noch mal für mich herrichten lassen, weshalb ich bis vor ein paar Tagen bei Tim genächtigt habe. Du erinnerst dich, mein bester Freund, zu dessen Schwächen und Fehlern ich jederzeit stehe! Es ist nicht viel, nur zwei Zimmer, eine Kochnische und ein Bad, aber weil es nicht für was anderes genutzt wird …“ Er zuckte die Schultern.

„Okay, du kannst dich wieder umdrehen.“ Ich wickelte den nassen Einteiler in mein Badetuch und legte beides auf der Motorhaube ab. „Wo liegt es? Oder bin ich zu neugierig?“

„Von hier aus in dieser Richtung. Und nein. Hast du Hunger? Oder hast du schon gefrühstückt?“

„Ist das da drin ein Picknickkorb? Ich hab gestern nicht gefragt, weil ich eingeladen werden wollte!“

„Das war mir klar. Du bist eine seltsame Mischung aus Ablehnung und Offenheit, weißt du das? Also? Hunger nach diesem Marathon?“ Er hatte die Autotür geöffnet und schwenkte den Korb einladend ein wenig hin und her.

Ich grinste. „Dir wird kaum etwas davon übrig bleiben! Ich hab immer Hunger, nicht nur nach dem Schwimmen!“ Und es war eine perfekte Fügung: Ich würde ihn auf diese Weise lange genug davon abhalten können, wieder zu verschwinden. Tom würde Zeit genug haben, sich ungestört umzusehen …

Wir ließen uns auf die Decke fallen, den Korb zwischen uns und sahen wenig später kauend zu, wie der See sich langsam mit Leben füllte. Noch mehr Frühaufsteher, die sich jetzt mit den Booten auf das Wasser begaben. Vor den von hier aus zu sehenden Häuschen regte es sich ebenfalls und wir waren zuletzt nicht die Einzigen, die ihr Frühstück nach draußen verlegten. Das Wetter verwöhnte zurzeit alle.

„Noch Kaffee?“, hielt er die Thermoskanne hoch.

„Danke.“, schüttelte ich den Kopf.

„Du bist ziemlich schweigsam!“, meinte er und goss sich den Rest in seine Tasse. „Liegt das an mir oder ist es ein Kompliment?“

„Ein Kompliment?“, fragte ich verwundert.

„Ja. Es ist selten bei einer neuen Bekanntschaft, dass Schweigen nicht sofort unangenehm wird, findest du nicht? Und du hast seit vorhin kein Wort gesagt, genauso wenig wie ich…War es unangenehm?“

„Nein.“, meinte ich erstaunt und hielt für einen Moment seinem Blick stand.

„Schön! Seit wann wohnst du hier? Ich habe gehört, dass deine Schwester und dein Schwager erst vor ein paar Wochen hergezogen sind.“

„Tom und ich sind erst vor gut einer Woche nachgekommen. Wir haben vorher noch das Schuljahr in Deutschland beendet.“

„Du gehst noch zur Schule?“, fragte er erstaunt.

„Ja.“, lächelte ich schief. „Ist das ein Problem?“

„Kommt darauf an! Ich hab dich nicht nach deinem Alter gefragt und wenn ich jetzt mit…Na ja, du siehst … erwachsen aus!“

Ich warf ihm einen kurzen Seitenblick zu und musste grinsen, denn er sah tatsächlich ein wenig betreten aus.

„Ich mache dieses Jahr meinen Abschluss. Ich meine, nächstes Jahr. Ich bin erwachsen!“

Täuschte ich mich jetzt oder atmete er auf? Ich beschloss, dieses Thema auf sich beruhen zu lassen.

„Dann kennst du hier niemanden?“

„Nein. Doch: Tim! Er war ziemlich anhänglich!“ Ich grinste erneut, als er die Stirn runzelte. „Wann fliegst du nach Deutschland? Läuft dein Semester nicht noch?“

„Nein, erst wieder ab September.“

„Und wann geht es los?“

„Nächste Woche.“

„Oh! Verstehe.“

Ich leerte meine Tasse und schleuderte die restlichen Tropfen auf den Boden. Dann deutete ich auf seine Armbanduhr. „Wie spät ist es?“

„Musst du schon los?“

„Ich war im Grunde schon länger hier, als ich beabsichtigt habe!“, erwiderte ich ausweichend und kniete mich hin, um rasch die Reste in seinen Korb zu packen. Er sammelte die Verpackungen ein.

„Was das angeht: Ich hätte nichts dagegen, das noch ein wenig auszudehnen! Soll ich dir ein bisschen von der Gegend zeigen?“

Ich lächelte. „Versteh mich nicht falsch, aber auch wenn ich hier niemanden kenne, hab ich mich doch schon hier umgesehen. Und ich war schon mal hier, als Kind … Ähm … Bekannte unserer Eltern haben hier mal gewohnt, ihnen hat früher der Buchladen gehört.“

Er hob erstaunt die Augenbrauen. „Die Picards?“

„Nein, davor.“

Jetzt runzelte er die Stirn. „Die Lewellyns? Er groß und dunkel, sie kleiner, braune Haare? Da hat der alte Besitzer noch oben im Haus gelebt, wie hieß er doch gleich?“

„Mr. Sanders, ja. Warum…Du klingst ein wenig seltsam!“

„Tut mir leid, das wollte ich nicht. Aber ich kenne ihn ein bisschen.“

Jetzt war ich dran mit erstauntem Heben meiner Augenbrauen. Gideon und Lil hatten wie wir alle ein zurückgezogenes Leben geführt und sämtliche Kontakte in und um Marmora beschränkten sich auf den Umgang zwischen Kunden und Verkäufer.

„Du kennst Gideon? Näher? Ich meine…Klar, wenn du hier aufgewachsen bist, in direkter Nachbarschaft zum Buchladen …“