Erbe der Schattenwesen - Kerstin Panthel - E-Book

Erbe der Schattenwesen E-Book

Kerstin Panthel

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Beschreibung

Ein Leben endet, ein anderes beginnt. Was aber, wenn das eine Leben gewaltsam beendet und das andere gewaltsam aufgezwungen wurde? "Ich wollte nie dazugehören zu eurer Schattenwelt! Wie hätte ich all das ahnen können?! Ihr habt das getan, es war nicht meine Entscheidung!" Sheila ist auf dem Weg zu einer Party und ihrem Freund, doch dort kommt sie niemals an. Noch Jahre später erfüllt sie die Erinnerung an das in jener Nacht erlebte Grauen mit Furcht. Viel mehr aber graut es ihr vor ihrem eigenen Wesen, denn was damals aus ihr wurde, ist zu Gleichem in der Lage. Seither kämpft sie sich unter wechselnden Identitäten mühsam und einzelgängerisch durch dieses verhasste"Leben". Philip, der sie damals fand und in letzter Minute in einen Vampir verwandelte, ruft ihr dies jedes Jahr zu alledem neu ins Gedächtnis. Nun jedoch hat dessen Vater Simon - der Vampir, der sie damals beinahe umgebracht hätte - von ihrer Verwandlung erfahren. Es ist so gut wie sicher, dass er Anspruch auf sie erheben wird. Fortan geht es daher für June alias Sheila nicht mehr länger nur ums Überleben, sondern darum, ob sie auch gegen den Willen von Simon erfolgreich auf ihre Abstinenz bestehen kann. Und letztlich auch darum, ob sie sich endlich als Angehörige der Schattenwelt zu betrachten bereit ist. Phils Freund Benjamin Willow bietet ihr seinen Beitand an, doch June blockt jede Hilfe entschieden ab ...

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Handlung, Namen und Personen der folgenden Geschichte sind frei erfunden; Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und realen Handlungen sind unbeabsichtigt und rein zufällig.

Wie schon den allerersten Band widme ich auch diesen letzten Band der Reihe meiner Tochter Anna-Lena.

„Du bist das Beste, das mir je passiert ist!“

„Die wesentliche Voraussetzung für Glück ist die Bereitschaft, der zu sein, der man ist.“

Erasmus von Rotterdam (1466 – 1536)

Sheila

Zu werden, womit man niemals gerechnet hätte, zu sein, was man nie war …

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Epilog

Prolog

Ich bin Sheila.

Nicht, dass mein Name von irgendeiner Bedeutung wäre, aber für mich stellt er seit dreiundzwanzig Jahren, fünf Monaten, sieben Tagen und acht Stunden die letzte Verbindung … nein, die einzige Verbindung zu dem dar, was ich einmal war. Zu Beginn dieser Zeitspanne, in einer Nacht, in der man sich eigentlich mit Wünschen und Vorsätzen beschäftigt, die alle irgendwie mit dem neuen Jahr zu tun haben, hatte ich mich nur noch damit beschäftigt, zu überleben. Zu leben auch, ja, irgendwie, aber von diesem Zeitpunkt an wusste nur noch ich: Sheila würde fortan jeden einzelnen Tag, an dem die Sonne aufging, ein bisschen mehr sterben, wenn June sie nicht am Leben halten würde.

Oh, fast hätte ich vergessen, mich vorzustellen: Ich bin June. Für die Welt da draußen bin ich zurzeit June.

Und seit dreiundzwanzig Jahren, fünf Monaten, sieben Tagen und fast genau acht Stunden bin ich das, was jemand namens Phil aus Sheila gemacht hat, damit sie nicht stirbt: ein Vampir!

Kapitel 1

08. Juni, 08.00 Uhr, Montag

Dreiundzwanzig Jahre, fünf Monate, acht Tage und acht Stunden

„Ich bin verliebt! Ist dir das eigentlich klar?“

Ich ignorierte Pat – Patrick – für gewöhnlich, aber heute erwies er sich als besonders hartnäckig. Er hatte vor der Mädchentoilette gewartet, obwohl er – wir! – längst im Kursraum hätten sein müssen.

„Freut mich für dich. Wer ist die Glückliche?“ Ich hastete an ihm vorbei und versuchte, seinen aufdringlichen Worten genauso zu entgehen wie seinem aufdringlichen Geruch. Noch immer machte es mir zu schaffen und wenn ich nicht aufpasste …

„Wer die … Du! Wenn du mal stehen bleiben würdest …“ hielt er mich am Arm fest.

Ich blieb ruckartig stehen, sah auf seine Hand, hob eine Augenbraue, griff nach seinen Fingern und bog sie ohne jede Mühe auf – meine Kraft allerdings sehr wohldosiert einsetzend. Gerade genug, um ihn zu beeindrucken, nicht aber zu verletzen.

„Habe ich dir das erlaubt?“, grollte ich.

Das Styling seiner recht kurzen, braunen Haare, die immer wild in alle Richtungen standen, erlitt keinen Schaden, als er ein weiteres Mal mit den Fingern hindurchfuhr. Dann hob er die Hände wie um sich zu ergeben. „Mich in dich zu verlieben? Komm schon, June! Es kann dir doch wohl nicht entgangen sein …“

„Nein, ist es auch nicht! Ich hab so was bemerkt, stell dir vor! Weil du es so diskret rüberbringst wie ein Presslufthammer eine Gravur in Glas. Wegen deiner Penetranz übersiehst du jedoch ständig, dass ich nicht in dich verliebt bin! Und ich bezog mich auf meine Erlaubnis, mich anzufassen. Hör mir also gut zu: Ich! Möchte! Das! Hier! Nicht! Länger!“

„Was …“

„Wo soll ich anfangen?“, unterbrach ich ihn zischend. „Gehen wir in umgekehrter Reihenfolge vor: Du fasst mich an, ohne mich zu fragen, du lauerst mir vor der Toilette auf, du wartest jeden Morgen und jeden Nachmittag auf dem Parkplatz der Schule darauf, dass ich komme oder fahre, du quatschst mich …“

„Miss Watts, Mr. Singer: Warten Sie auf eine gesonderte Einladung? Zwei Sekunden, um da drin zu verschwinden, sonst machen Sie beide heute Überstunden, klar?“

Ich war schneller und hielt wie jeden Morgen beim Betreten eines der Räume voller Menschen für ein paar Sekunden den Atem an, bevor ich mir erlaubte, ihn langsam auszustoßen und vorsichtig die ersten flachen Atemzüge zu tätigen. Für gewöhnlich brauchte ich vier, fünf Minuten, um wieder auf ein normales Level ohne allzu große Begierde zu gelangen, aber jeden Morgen irgendwo als Erste zu erscheinen und mit dem langsamen Eintreffen der Schüler nach und nach und behutsam auf dieses Level zu kommen, würde mich wie eine Streberin aussehen lassen. Und jede irgendwie herausragende Position war … nicht gut. Nicht für mich.

Pat blieb direkt hinter mir, ich konnte seine Schritte hören. Und er besaß heute sogar die Unverfrorenheit, sich neben mich zu setzen, obwohl sein Platz für gewöhnlich zwei Tische weiter vorne neben Amanda war. Amanda Ramsay. Sie drehte sich prompt zu uns herum und sah erst ihn erstaunt, dann mich fragend an, während sie ihre schulterlangen roten Haare hinter ihr Ohr schob.

Immer noch flach atmend verdrehte ich vielsagend die Augen, hob die Schultern und ließ sie dann wie resignierend sinken, alles mit einem möglichst ernsten, unwilligen Gesichtsausdruck. Sie grinste schief, hob die Augenbrauen und wandte sich wieder nach vorne. Was Pat dazu zu veranlassen schien, seinen Stuhl ein Stück näher an meinen zu rücken. Ich seufzte lautlos. Offenbar blieb mir heute nichts erspart, denn anscheinend war es Mrs. Jennings Aufmerksamkeit entgangen, dass er …

„Mr. Singer, ist nicht Miss Ramsay Ihre Projekt…“

Es war ihr nicht entgangen! Doch er unterbrach sie.

„Oh, Verzeihung, aber June hat mich vorhin darum gebeten, ihr diesmal ein wenig unter die Arme zu greifen, und da Amanda und ich schon fast fertig sind …“

Mrs. Jennings Kopf neigte sich um eine Kleinigkeit nach vorne, damit sie über den filigranen silbernen Rahmen ihrer Brille blicken konnte. Die dunkelbraunen Augen in ihrem farbigen Gesicht funkelten unheilvoll.

„Soso, um Hilfe gebeten, aha! Seltsam, denn Miss Watts hat mir ihre vollständige Arbeit bereits am Freitag ausgehändigt. Eine halbe Woche vor dem Abgabetermin also, und das, obwohl sie alleine daran gearbeitet hat. Welche Hilfe könnten Sie ihr denn wohl sonst noch leisten, hm?“

Ich konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie seine Ohren langsam rot anliefen, und rückte unmerklich noch ein wenig mehr von ihm ab. Fast tat er mir schon leid.

„Kann es sein, dass Sie heute ein wenig desorientiert sind, Mr. Singer?“

„Ähm … Nein, wieso?“

Ich verbarg mein Grinsen hinter meinen langen Haaren. Auch noch nach dem Grund für diese Frage zu fragen!

„Weil Sie sich laufend verirren. Obwohl sich die Herrentoilette ein gutes Stück weiter den Gang herunter befindet und deutlich gekennzeichnet ist, haben sie geschlagene zehn Minuten vor der Tür der Damentoilette verharrt. Ich bin zweimal an Ihnen vorbeigegangen, da ich heute Morgen etwas im Büro vergessen hatte – Sie haben es nicht mal bemerkt, weil sie jedes Mal, wenn die Tür sich öffnete, einen Giraffenhals bekamen! Ist Ihnen klar, dass das hart an Belästigung grenzt und ich das melden sollte?“

Seine Ohren wurden schon violett und als jetzt allgemeines Getuschel und Gekicher hörbar wurde, ertappte ich mich schon dabei, mir eine geeignete Ausrede für ihn auszudenken.

Er setzte zu einer Erwiderung an, aber Mrs. Jennings fuhr ihn ungehalten an: „Setzen Sie sich gefälligst auf Ihren Platz. Und ich rate Ihnen, mir für den Rest des Tages nicht mehr irgendwie unliebsam aufzufallen, klar? Ich vergesse so schnell nichts! Genug jetzt, meine Herrschaften, fangen Sie an! Miss Watts?“

Ich holte ein wenig tiefer Luft. „Ja?“

„Ich würde Sie gerne kurz unter vier Augen sprechen.“, deutete sie in Richtung Flur und ich nickte ergeben.

Patrick, der sich soeben neben Amanda platziert hatte, warf mir einen besorgten Blick zu. Ich tat, als ob ich ihn nicht bemerkt hätte, aber ich konnte mir denken, welche Befürchtung er jetzt hegte. Ich würde ihn nicht tiefer in etwas hineinreiten, was er selbst zu verantworten hatte, aber ich würde auch nicht für ihn lügen.

Mrs. Jennings leichtes Parfum konnte nicht vollständig ihren eigenen Duft überdecken und ich atmete erst wieder ein, als ich an ihr vorbei und im Flur angekommen war. Dann übte ich mein vorsichtiges, ein wenig neugieriges Lächeln.

„Miss Watts, ich hatte am Wochenende Gelegenheit, einen ersten Blick in Ihre Arbeit zu werfen.“, begann sie.

Pflichtschuldigst schob ich beide Augenbrauen zusammen, um besorgt auszusehen.

Sie seufzte laut und verschränkte ihre Arme. „Es ist wie immer! Es ist wie immer und in jedem einzelnen Kurs, den sie belegt haben! Ihre Ansätze sind ausnahmslos sehr gut, egal, ob es um Mathematik, Biologie, Sprachen oder … was weiß ich geht! Egal, was sie anfangen, sie starten mit voller Kraft. Und dann, mit einem Mal, häufen sich die Fehler. Und es sind immer solche, die meine Kolleginnen und Kollegen und auch ich als Flüchtigkeitsfehler einordnen würden …“

Sie endete auffallend abrupt, ließ das Ende des Satzes mit Absicht offen und wartete auf eine Erwiderung von mir. Ich tat ihr den Gefallen, wohl wissend, dass ich zukünftig besser aufpassen musste. Es war nicht einfach, diese Dinge zum x-ten Mal zu wiederholen und nicht ausnahmslos mit Bestnoten dazustehen. Vielleicht sollte ich in meinem nächsten Leben, meiner nächsten Identität zur Abwechslung mal wieder eine junge Frau mit erfolgreichem Schulabschluss geben.

„Würden? Ich verstehe nicht ganz.“

„Wir ebenfalls nicht! Sie besuchen meinen Kurs jetzt schon, seit sie hierhergezogen sind. Ich kenne Sie also schon eine Weile und wenn nach den Ferien Ihr Abschlussjahr beginnt … Miss Watts, bremsen Sie Ihr wahres Können möglicherweise mit Absicht ein wenig aus? Wenn ja, dann fragen wir alle uns, warum! Fühlen Sie sich von irgendwem unter Druck gesetzt? Haben Sie ein privates Problem? Ich weiß, Sie sind volljährig und kommen offenbar ganz gut alleine zurecht, aber ich weiß auch, dass es gerade in Ihrem Alter schwierig ist, ohne Eltern und ohne Familie zu leben. Ich stehe Ihnen zur Verfügung, wenn Sie Rat oder Hilfe brauchen, ebenso wie alle Kollegen hier. Wir sind zwar eine kleine Schule, aber wir haben auch einen ausgezeichneten Schulpsychologen und wenn Sie möchten …“

Ich hatte eine Menge mehr vergeigt, als ich dachte!

„Mrs. Jennings … Danke, aber ich kann Sie beruhigen, es ist alles in Ordnung. Ich habe keine Probleme und niemand setzt mich irgendwie unter Druck. Mal abgesehen von ein paar unreifen Jungs mir Testosteronüberschuss.“, konnte ich mir nicht verkneifen. „Nein, ich denke, ich bin nur in einen alten Fehler zurückverfallen, den ich eigentlich schon hinter mir gelassen zu haben glaubte. Ich werde mich bemühen, zukünftig sorgfältiger zu arbeiten. Aber nochmals danke für Ihr Angebot.“

Sie wirkte alles andere als überzeugt, doch sie nickte. „Wie Sie meinen. Nun, Sie haben noch bis zum endgültigen Abgabetermin am Mittwoch Zeit … Holen Sie sich nach dem Unterricht, sobald alle draußen sind, ihre Arbeit noch einmal ab und korrigieren Sie sie. Und das werde ich ganz sicher nicht noch einmal für Sie tun, klar? Ich werde sogar jedem gegenüber abstreiten, das angeboten zu haben, verstanden? Wehe also, Sie händigen sie mir irgendwann vor den Augen des ganzen Kurses aus, nachdem ich gerade da drinnen gesagt habe, sie sei fertig!“

Ich nickte schweigend.

„Gut! … Hm … Testosteronüberschuss … Was hatte Patrick Singer vor der Mädchentoilette zu suchen?“

Ich machte ein kleines, unwilliges Geräusch und schüttelte dann den Kopf. „Nichts. Er hat auf mich gewartet, das ist alles. Er ist unglaublich lästig und stocktaub auf beiden Ohren, wenn man ihm sagt, er solle sich verziehen, aber er hat nichts weiter angestellt, Mrs. Jennings. Und wenn er zu weit gehen sollte, habe ich keine Probleme damit, Ohrfeigen zu verteilen. Sie sollten also möglicherweise schon mal einen entsprechenden Verweis für mich vorbereiten und einen Stuhl, um meine Überstunden abzusitzen.“

Die Andeutung eines Lächelns huschte über ihr Gesicht, dann war es schon wieder verschwunden.

„Hm … Ich lasse das wohl einfach mal auf mich zukommen. Also dann … Rein mit Ihnen! Fangen sie etwas mit Ihrer Zeit an! Arbeiten Sie meinetwegen etwas vor, na los!“

Ich war diesmal schon fast froh, wieder in den dichten Geruch nach Menschen eintauchen zu können. In den nächsten zwölf Monaten würde ich eine langsame aber beständige Verbesserung der Noten und eine langsame aber beständige Reduzierung meiner ‚Flüchtigkeitsfehler’ erzielen müssen. Langsam, aber beständig! Und als ich mich nach meiner Tasche bückte, musste ich hinter meinen langen Haaren grinsen, als Mrs. Jennings von vorne rief: „Mr. Singer, ich will ihre Augen für den Rest der Stunde auf nichts anderes gerichtet sehen als auf die Literatur vor Ihnen, ist das klar?“

„Ähm … Ich weiß ja, dass du für gewöhnlich lieber für dich bist, aber könnte ich mich eine Weile zu dir setzen?“

Amanda. Warmer, ansprechender, etwas blumiger Duft. Ich unterdrückte ein unwilliges Knurren – unwillig, weil ich immer noch und immer wieder diese Gedanken und Empfindungen hatte und spontan in solche Kategorien einordnete! Ich sah zu ihr hoch. Ihre dunkelroten Haare schienen wie immer im Licht der Sonne Funken zu schlagen. Ich hatte mein Mittagessen mit nach draußen genommen, mich im Schatten eines Baumes an dessen Stamm gelehnt und wie üblich hinter irgendeinem Buch oder Heft vergraben, um meine Ruhe zu haben, kaute langsam an irgendwelcher Rohkost und trank schal gewordenes Wasser. Patrick wurde heute glücklicherweise von der Gruppe seiner Freunde abgelenkt; sie schienen von irgendeinem Basketballspiel zu reden, bei dem einer von ihnen, Mitch, offenbar gleich zwei rekordverdächtige Körbe hintereinander geworfen hatte. Ich blendete ihre Anwesenheit und ihre unüberhörbare Lautstärke aus und war froh, als sie sich jetzt entfernten.

„Wenn du einmal da bist …“, bemühte ich mich um einen neutralen Tonfall Amanda gegenüber.

„Danke. Hier, für dich. Ich weiß, dass du den magst.“ Sie reichte mir einen Becher mit Schokocappuccino und ging neben mir in den Schneidersitz.

„Oh … Allerdings! Danke! Woher weißt du das?“ Ich wusste nicht, ob ich angenehm oder unangenehm berührt sein sollte.

„Hab gesehen, dass du den hin und wieder an dem Stand kaufst, an dem ich mir meinen auch hole. Gern geschehen!“, lächelte sie und machte sich über eine Portion Salat mit Nüssen und Obst her.

Ich nippte an meinem Becher und warf ihr hin und wieder einen vorsichtigen Seitenblick zu, aber sie vertiefte sich sofort in ein Buch und futterte ihr Mittagessen ganz nebenbei, offenbar ohne von mir ein Gespräch zu erwarten. Dennoch schaffte ich es nicht ganz, mich wieder auf etwas anderes als sie zu konzentrieren, alleine ihre Anwesenheit war … ungewohnt.

„Laura ist deine Freundin!“, meinte ich irgendwann und presste unwillig meine Lippen zusammen. Was war das denn für ein Gesprächsbeginn? Wie blöd konnte ich mich denn noch anstellen?

„Hmhm. Na ja, was man so Freundin nennt. Wir haben ein paar Gemeinsamkeiten. Und fast noch mehr Unterschiede!“, grinste sie und schob sich eine weitere Gabel Grünzeug in den Mund. „Sie hatte einen Unfall.“, nuschelte sie undeutlich. „Bein gebrochen, musste operiert werden.“

„Verstehe.“ Deshalb nahm sie mit mir vorlieb. Ich schnappte mir lustlos mein letztes Stückchen Möhre, betrachtete es und legte es zurück. Der Cappuccino war besser.

Amanda blätterte eine Seite weiter. Was hatte ich denn früher in solchen Situationen gemacht? Unbehaglich schlug ich die Beine übereinander, wippte mit dem oberen Fuß und drehte den Becher in der Hand.

„Ähm … Wenn ich dich störe, dann sag es ruhig.“, meinte sie Sekunden später leise. „Ich bin eigentlich gekommen, weil ich dachte … Na ja, ich hatte dein Eindruck, dass du nicht pausenlos von mir zugetextet werden musst, nicht erwartest, dass jemand dich ständig unterhält. Und umgekehrt übrigens auch. Und weil ich das so erholsam fand …“ Sie zuckte die Schulter und lächelte dann schief.

„Erholsam?“

Sie fand mich erholsam?

„Klar! Ist dir nicht aufgefallen, dass die meisten Mädchen nichts anderes im Kopf haben als Kleider, Jungs, Musik und was weiß ich noch?! Jetzt, so kurz vor den Ferien, ist es immer besonders schlimm. Ich wollte nur ein stilles Eckchen zum Lesen finden und da du das meist erwischst, dachte ich, ich besteche dich damit!“, deutete sie. „Die Leute lassen dich in Ruhe und ich wollte was davon abhaben, tut mir leid.“

Ich konnte ein schiefes Grinsen nicht unterdrücken. „Die Leute lassen mich in Ruhe!“, echote ich. „Okay. Aber deshalb musst du mir keinen Kaffee spendieren, klar? Der Baum ist … Allgemeingut. Öffentliches Astwerk und nicht-privater Schatten.“

„Klar!“, grinste sie – und vertiefte sich nur einen Augenblick später wieder in ihr Buch.

Ich klappte meines endgültig zu, lehnte den Kopf nach hinten an den Stamm und schloss langsam ausatmend die Augen, so als ob ich die Wärme genießen würde – eigentlich nicht in der Hoffnung, ihre Anwesenheit so dicht neben mir vergessen zu können, wenn auch ein wenig entkrampfter als noch vorhin. Doch als es Zeit war, wieder zum Unterricht zu gehen und sie mich antippte, ging mir etwas auf: Ich hatte es mit der Zeit tatsächlich geschafft, sie völlig auszublenden. Sie hatte nicht ein einziges Mal mehr das Wort an mich gerichtet!

„Ich wecke dich ja ungern, aber wir müssen wohl … Bis dann!“

„Oh! Ja, bis dann! Danke nochmal!“

Sie winkte ab und verschwand, während ich schnell meine Sachen einsammelte und dann mit den letzten Nachzüglern hineinging. Zum ersten Mal hatte ich mich so vollständig entspannen können, während nur Zentimeter von mir entfernt ein Mensch gesessen hatte!

War das jetzt gut oder wurde ich unvorsichtig?

Als ich an diesem Nachmittag wieder nach Hause fuhr, war ich mir darüber immer noch nicht im Klaren. Meine Laune hatte sich jedoch stark gehoben, als es mir gelang, Patrick auszutricksen und gerade früh genug vor ihm an meinem Wagen anzukommen, sodass er für heute das Nachsehen hatte. Ich erntete zwar ein paar erstaunte Blicke, als ich – die Schultasche fest unter den Arm geklemmt – als erste aus dem Klassenzimmer stürmte und aus dem Gebäude stürzte, aber immer noch besser als Patricks Dackelblick wieder für unendliche Minuten ertragen zu müssen. Schnell hatte ich mich also in meinen etwas ramponierten Suzuki Swift geworfen, dessen stumpfer, roter Lack lediglich stellenweise durch Abwesenheit glänzte, und war losgefahren, direkt an ihm vorbei. Mir entging seine verzogene Miene keineswegs, aber ich konnte mir keine solchen Komplikationen wie liebeskranke Teenager leisten. Im Grunde war ich – rein äußerlich – nicht älter als er, aber dennoch trennten uns Welten. Was er natürlich nicht wissen konnte.

Wieso bloß funktionierte bei ihm meine stets abweisende Haltung nicht? Ich hatte es mittlerweile erfolgreich geschafft, mich überall und ausnahmslos als Einzelgängerin zu etablieren. Wie Amanda heute schon sagte, die Leute ließen mich in Ruhe. Für gewöhnlich dauerte es rund vier Wochen, bis auch der letzte und begriffsstutzigste Mensch in meiner Umgebung einsah, dass ich eine unterkühlte, unnahbare und unfreundliche Zicke war.

Ob ich etwas falsch machte? Amanda hatte heute einen Vorstoß gewagt. Wurde ich nachlässig?

Alle Welt – zumindest die, die es etwas anging! – ging davon aus, dass ich, seit ich erwachsen geworden war, von meiner Pflegefamilie abgenabelt meine eigenen Wege ging. Für die Menschen hier kam ich aus Manchester und hatte schon als Kind meine biologische Familie verloren. Weit von der Wahrheit entfernt, aber dank Phil … Bei dem Gedanken an ihn knurrte etwas in mir wütend! Jedenfalls befand ich mich dank ihm in der Lage, über ein gewisses Vermögen verfügen zu können und über das Wissen, wo und wie man schnell an hervorragend gefälschte Papiere kommen konnte. Ich hatte deshalb zuletzt vor etwas über einem Jahr eine Adresse in Boston aufgesucht und mich gleich mit zwei verschiedenen Varianten eingedeckt. Von hier aus war es für mich nur ein Katzensprung bis nach Kanada …

Phil ‚verdankte’ ich überhaupt noch einiges mehr. So auch das kleine, unauffällige Haus außerhalb von Richford, gleich an einem Waldgebiet gelegen und wo niemandem mein nächtliches Kommen und Gehen auffiel. Ursprünglich seins, er hatte es mir zur Verfügung stellen wollen. Ich hatte darauf bestanden, es ihm abzukaufen – was ihn mit einer eigentümlichen Erheiterung erfüllt hatte …

„Wenn du hierherziehen willst, dann nutze es. Für mich ist es wertlos, ich sollte mich hier für die nächsten fünfzig bis fünfundsiebzig Jahre noch nicht sehen lassen. Minimum.“

„Verkauf es mir oder vergiss es. Ich will nichts von dir geschenkt.“

Er hob die Augenbrauen.

„Hätte ich eine andere Wahl gehabt, hätte ich auch das Geld nicht von dir genommen, also lass mich jetzt nicht darum betteln, dir eine angemessene Summe für die Bruchbude zu zahlen.“, hatte ich geknurrt. „Oder genießt du es, wenn ich dich um etwas …“

Er ließ mich nicht einmal ausreden und sein Tonfall war nach wie vor ruhig, fast nachsichtig – was mich nur noch mehr auf die Palme brachte. „Das Vermögen steht dir zu. Eigentlich steht dir noch weit mehr zu, aber …“

„Ich will nichts davon hören, klar? Sag mir einfach, ob du es mir verkaufst oder nicht!“

Wir traten bei diesen Worten aus dem Haus und unsere Atemluft hinterließ weiße Wölkchen in der Nachtluft. In einer Stunde würde das neue Jahr beginnen.

„Du bist ein Sturkopf. Wegen mir. Ich werde dafür sorgen, dass in den nächsten Wochen hier jemand alles auf Vordermann bringt und dann gehört es dir.“

Er nannte mir eine Summe, die ich ohne zu verhandeln akzeptierte. Ich hatte mich schon abgewandt und wollte loslaufen, als seine dunkle Stimme mich noch einmal zurückhielt. „Du hast mir immer noch nicht verziehen.“

Ich stoppte abrupt und ruckte herum. „Du hättest mich sterben lassen sollen! Das hier … Ich wäre das niemals freiwillig geworden!“, schrie ich ihn an. Wie jedes Mal. Jedes Jahr. Wie auch immer er mich auffand, immer in dieser Nacht tauchte er auf, um mich daran zu erinnern, was aus mir geworden war! Wie auch immer er herausgefunden hatte, dass ich möglicherweise in die Gegend von Richford ziehen wollte, er hatte mich hierherbestellt. Wäre ich dem nicht gefolgt, wäre er wie immer zu mir gekommen.

„Willst du so weitermachen? Wenn du nicht endlich deinen Frieden damit …“

„Meinen Frieden!“, dehnte ich. „Verschwinde! Ich bin mittlerweile alt genug, um alleine zurechtzukommen, also kannst du zukünftig auch von deinen ‚Besuchen’ absehen! Meinetwegen behalte auch das Haus, ich finde schon was!“

Jetzt steckte er vollkommen ruhig seine Hände in die Jackentaschen. „Du bist eine Vampirin, daran lässt sich nichts mehr ändern. Und du bist durch mich im Grunde genommen eine vom Hain. Das Blut, das dich verwandelt hat und das, was ich anschließend zu dir sagte, macht dich zu so etwas wie meiner Schwester oder besser Cousine. Egal, was du fühlst, du fühlst auch das! Ich kann nicht mehr rückgängig machen, was Vater mit dir tat und ich kann nicht mehr ändern, was ich anschließend getan habe, aber ich kann für dich da sein. Und ich werde nicht aufgeben. Vater weiß nach wie vor nichts von dir und dass du überlebt hast. Und das ist auch besser so, denn er hat sich nicht verändert. Er tötet also nach wie vor Menschen, aber du und ich nicht. Ich nicht erst seit dir! Bislang habe ich deine Existenz vor ihm verheimlichen können, aber möglicherweise findet er es irgendwann heraus, er ist schließlich nicht blöd. Ich bin auch deshalb gekommen. Du musst endlich etwas erfahren in Bezug auf den Gehorsam dem Familienoberhaupt gegenüber, denn es haben sich Dinge ereignet in der Schattenwelt …“

Ich hatte das Gesicht zu einer Grimasse verzogen und die Hände zu Fäusten geballt. „Ich wollte nie dazugehören zu eurer Schattenwelt! Wie hätte ich all das ahnen können?! Ihr habt das getan, es war nicht meine Entscheidung! Hör auf, mir gegenüber davon zu reden, als ob …“

„Schluss damit!“, fuhr er mich an, zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, laut. „Mag sein, dass ich einen Fehler gemacht habe, aber du musst in deinem eigenen Interesse anfangen, endlich das Beste daraus zu machen! Beantworte mir eine Frage: Wie gut schaffst du es mittlerweile, deine Begierden zu ignorieren? Wie oft gehst du jagen, um deinen Blutdurst zu stillen, um alleine den Alltag unter Menschen zu bewältigen? Wenn du nicht endlich einwilligst, dass ich dir dabei helfe …“

„Wenn du nicht auf der Stelle verschwindest, garantiere ich für nichts mehr! Hast du das verstanden? Geh! Sofort!“

Er schnaubte wütend. Dann nickte er knapp. „Dann bis in zwölf Monaten also – sofern nichts vorfällt. Meine Handynummer hast du. Pass auf dich auf, June.“

Ich war längst vor dem Haus angekommen und stellte jetzt den Motor ab, aus der Erinnerung an diese ‚Unterhaltung’ auftauchend. Er hatte mich June genannt und seit diesem Augenblick wusste ich, dass er mich unter anderem über Mr. Prescott, den Typen, der die meisten meiner Papiere gefälscht hatte, im Auge behielt. Ich hatte damals die neue Version bereits in Auftrag gegeben und vermutlich hatte er einen Deal mit ihm, ihn irgendwo zu kontaktieren, wenn ich wieder auftauchte. Er brauchte dann jedes Mal nur zu warten, bis ich meine Papiere abholte. Meine unterschwellige Wut entlud sich, indem ich mit voller Wucht die Wagentür zuschlug. Völlig unzureichend und alles andere als gut für den Wagen.

Seufzend schulterte ich meine Tasche, sah mich kurz und aufmerksam um und huschte zum Eingang. Phil hatte damals Wort gehalten, ich hatte das Haus in wesentlich besserem Zustand übernommen als ich es bei meiner nächtlichen ‚Besichtigung’ angetroffen hatte. Woraufhin ich die Kaufsumme, die ich ihm überwiesen hatte, um einen nicht gerade unerheblichen Betrag aufgerundet hatte.

Er versuchte, dies bei seinem letzten ‚Besuch’ vor einem halben Jahr zur Sprache zu bringen, aber wie in jedem Jahr hatte ich ihn schnell abgewürgt und ihm unmissverständlich die Tür gewiesen. Oder besser den Vorplatz, denn diesmal hatte ich ihn nicht mal hereingelassen. Es war der kürzeste Besuch von allen gewesen!

Die Schultasche gleich neben der Tür auf den Boden fallen lassend schleuderte ich als erstes meine Sandalen von den Füßen und betrat barfuß die winzige Küche, um mir ein riesiges Glas Orangensaft einzuverleiben. Ich war erst letzte Nacht jagen gewesen; Vermont war ein ergiebiges Gebiet. Doch wie immer am Wochenanfang kam es mir vor, als ob die bevorstehenden Tage kaum zu bewältigen sein würden, ohne jeden einzelnen Tag wenigstens etwas Blut zu bekommen! Normalerweise – und ich wusste das im Grunde – genügten mir die Wochenenden, aber hin und wieder, wenn zum Beispiel irgendwer in meiner Umgebung eine Verletzung davongetragen hatte oder Nasenbluten bekam, musste ich entweder Übelkeit mimen und den Raum verlassen oder meinen ganzen Willen aufbringen, um diesem Geruch nicht nachzugehen und mir zu holen, was das Monster in mir haben wollte!

Ich hatte schon aus diesem Grund längst jede Form von Sport aufgegeben, besuchte nicht einmal mehr als Zuschauer irgendwelche Wettkämpfe, bei denen die Verletzungsgefahr höher als beim Schälen eines Apfels war. Auch Veranstaltungen, bei denen ich gezwungen war, stundenlang zwischen Menschen eingepfercht auszuharren, waren tabu – und so hatte ich meine Rolle als Eremitin stets und überall erfolgreich bis ins Letzte ausgebaut.

Doch das hieß nicht, dass ich all das nicht tief in mir drin vermisste!

Ich goss mir schnaubend ein weiteres Glas ein, holte den Rest meines Mittagessens vom Sonntag aus dem Kühlschrank und schob es in die Mikrowelle. Das geschnetzelte Fleisch wurde hart und zäh, die Fertigsoße fast pastös und die Nudeln knackten zwischen den Zähnen, aber es machte satt. Und nachdem ich die Form unter Wasser gesetzt und ein drittes Glas Saft heruntergestürzt hatte, konnte ich an die Hausaufgaben denken. Und an Mrs. Jennings.

„Keine Flüchtigkeitsfehler, June!“, murmelte ich und nahm im Schneidersitz vor dem Couchtisch Platz, drehte wie früher die Musik auf eine ohrenbetäubende Lautstärke und legte los.

Die Dämmerung hatte gerade begonnen und ich hatte vor höchstens einer Stunde letzte Hand an meine Arbeit gelegt, als ich ihn spürte. Mit einem Grollen, das tief aus meinem Bauch zu kommen schien, erhob ich mich von der Couch, auf die ich mich soeben geworfen hatte und huschte zum Fenster. Er tauchte nur einen Wimpernschlag später zwischen den Bäumen auf und verlangsamte erst, als er nur noch wenige Schritte vom Haus entfernt war. Und kam immer noch näher.

„Du verdammter …“, murmelte ich, trat die wenigen Schritte bis an die Tür und riss sie ungeduldig auf. „Was willst du hier? Hast du dich in der Jahreszeit geirrt?“

Seit seinem letzten Besuch waren seine blonden Haare gewachsen; sie lagen in dichten, verwuschelten Wellen kreuz und quer um seinen Kopf und er schien sich seit ein paar Tagen nicht rasiert zu haben. Hatte er sich fernab von jeder Zivilisation aufgehalten, um nicht aufzufallen? Auch seine nicht gerade saubere Kleidung sprach dafür.

Die dunklen Augen der Vampire, die so gar nicht zu seinem etwas blassen Teint passen wollten, wurden eine Spur schmaler bei meiner Begrüßung, aber seine Miene blieb wie immer undurchdringlich. Wenn auch das winzige Lächeln, das jetzt um seinen Mund spielte, wie stets ein wenig nachsichtig wirkte. Herablassend in meinen Augen.

Wie ich das hasste!

„Hallo June. Ich würde nicht außer der Reihe kommen, wenn ich dir nicht etwas Wichtiges zu sagen hätte. Wie du dir sicher denken kannst!“

„Nachrichten aus der ‚Schattenwelt’? Mach‘s gut, gute Heimreise!“, schob ich die Tür wieder zu. Aber diesmal war er schneller. Eine Hand an der Tür hielt er mich davon ab, sie vollends zuzuschieben und auch wenn ich sofort reagierte, hielt er mit unverminderter Kraft dagegen. Wenn ich sie nicht ruinieren wollte, dann …

Mit einem heftigen Ruck zog ich sie wieder auf und schlug ihm die andere Hand flach vor die Brust, sodass er fast einen Schritt nach hinten getorkelt wäre. Aber er war Vampir und ich zu zaghaft gewesen: Schneller als ich meinen Arm zurückziehen konnte, hatte er mich am Handgelenk gefasst – und hielt mich fest. Und jetzt funkelten seine Augen wütend und bedrohlich.

„Es reicht! Du benimmst dich wie ein verzogenes Gör und allmählich habe ich die Nase voll davon!“ Ebenfalls mit einem heftigen Ruck zog er mich näher, seinen Griff noch verstärkend. Ich presste die Lippen fest zusammen. Es tat weh, aber das würde ich ihm gegenüber nicht eingestehen!

„Niemand zwingt dich, hier dauernd aufzukreuzen und dir das ‚verzogene Gör’ anzutun!“

„Falsch! Anders als du empfinde ich es als meine Pflicht, meine Familienangehörigen zu schützen! Also hör dir an, was ich zu sagen habe. Was du danach tust, bleibt dir überlassen, aber du wirst dir jetzt anhören, was ich dir erzähle, ist das klar?“

Dumpf und grollend stieß er diese Worte hervor und ich knirschte hörbar mit den Zähnen. „Lass das! Ich weiß genau, was du da versuchst!“, zischte ich ihn an.

Er nickte mit schmalen Lippen, dann stieß er mich rücksichtslos nach hinten, zurück ins Zimmer und schob die Tür hinter sich zu, bevor er mich freigab. „Gut, du spürst es also! Das lag in meiner Absicht! Und ich warne dich: Heb noch einmal die Hand gegen mich, dann werde ich nicht mehr zögern, dir eine Tracht Prügel zu verpassen, für deren Folgen du mehr als eine Jagd benötigen wirst! Ich bin besser, schneller und kräftiger als du. So, und nun gewähre mir wenigstens Gastrecht für die Dauer unserer Unterredung!“, forderte er.

„Das Äußerste, das ich dir zugestehe! Also fang schon an, damit ich anschließend die Tür hinter dir zumachen kann!“, zischte ich.

Mein Arm pochte schmerzhaft an der Stelle, wo er mich festgehalten hatte, aber schon jetzt spürte ich, wie der Schmerz langsam nachließ. Dank meiner gestrigen Jagd.

„Du bist wirklich noch ein Kind, noch dazu das unhöflichste, das ich kenne! Bietest du mir einen Sitzplatz an?“

Ich verschränkte die Arme und nickte knapp und wortlos in Richtung Sessel, blieb selbst jedoch demonstrativ neben der Tür stehen. Er war derjenige, der mich letztlich zu June gemacht hatte und ich würde ganz sicher nichts dafür tun, dass er sich hier auch noch wohlfühlte!

Er entschied sich offenbar dafür, mein Verhalten zu übergehen, ließ sich in einer gleitenden Bewegung nieder und schlug entspannt die Beine übereinander.

„Ich warte!“, grollte ich.

„Vater weiß von dir.“, meinte er völlig gelassen und wartete auf meine Reaktion.

Ich schluckte. „Wie weit geht sein Wissen?“, fragte ich zurück, ebenso ruhig. Äußerlich! Der Vampir, der Sheila gebissen hatte, um ihr genussvoll das Blut auszusaugen und der sie sterbend zurückgelassen hatte, weil er angeblich gestört worden war, war vor einer Sekunde urplötzlich aus der Versenkung aufgetaucht! Und selbst June hatte immer noch Angst vor ihm!

„Das kann ich nicht mit letzter Sicherheit sagen. Er weiß, dass du lebst, auch wenn er vermutlich nicht weiß, wo.“

„Woher?“

„Prescott.“

„Von dem also, den du mir als zuverlässig empfohlen hast!“, konterte ich sofort. „Wie?“

„Er hat herausgefunden, wo ich meine Papiere fertigen lasse, und ein Passbild von dir bei ihm gesehen, den Rest hat sein Vampirgedächtnis übernommen.“

Er erinnerte sich also an seine Mahlzeiten!

„Keine Ahnung, ob Prescott das Foto übersehen oder ob er es mit Absicht nicht wie sonst vernichtet hat: Er hat mir glaubhaft versichert, dass er sich nicht an deine derzeitige Adresse habe erinnern und sie ihm daher auch nicht habe nennen können, aber das wird Simon nicht lange aufhalten.“

Ich schloss die Augen. Sein Vater hieß Simon – noch etwas, was ich für den Rest meines Lebens nicht wieder würde vergessen können! Rasch sah ich Phil wieder an. „Kennt er meinen Namen?“

„Nur den Vornamen.“

„Laut Prescott!“

Er nickte.

„Es gibt haufenweise Junes.“

„Er ist nicht dumm. Das Bild von dir befindet sich jetzt in seinem Besitz, er wird nach dir suchen und suchen lassen und du solltest seine Sinne und seinen Instinkt nicht unterschätzen. Du bist jung, beeinflussbar und unerfahren. Ungeschult, was deine Blutgier und deine Widerstandskraft angeht. Mich weiß er bereits an die Gegenseite verloren. Was denkst du, wird er bei dir versuchen?“

„Bei mir versuchen? Welches Interesse kann er noch an mir haben? Woher soll er wissen, wer mich in das Monster verwandelt hat, das ich bin?“

Er presste erneut die Lippen zusammen und nahm das Bein wieder herunter, um sich zu erheben. „Du hast dir nie anhören wollen, was ich dir zu sagen habe! Du hast nie wissen wollen, was aus meiner Sicht in dieser Nacht geschehen ist! Also auch jetzt nur so viel: Vater ahnt es! Ihm fehlt natürlich der letzte Beweis dafür, dass ich es war, aber er ahnt es! Und sobald er weiß, wo er dich finden kann, wird er statt meiner hier vor der Tür stehen und sofort die Bestätigung dafür spüren. Nur wird er nicht auf ein höfliches Willkommen warten, verstehst du? Du bist vom Blut her eine vom Hain und er hat ein sehr einnehmendes Wesen …“

„Im wahrsten Sinne des Wortes! Er war brutal und hat es genossen!“

„… und er wird nicht zögern, deinen Gehorsam zu erzwingen! Ich sage dir noch etwas: Er muss dich nur ein einziges Mal dazu bringen, menschliches Blut zu trinken, und er hat gewonnen! Deine beständige Weigerung, dir von mir helfen zu lassen, mich dir beistehen zu lassen, hat dich jetzt in eine Lage gebracht, die in einer Katastrophe für dich enden könnte! Was ich dir schon seit Langem sagen wollte über die Dinge, die sich in unserer Welt verändert haben …“

Ich knurrte ungehalten, aber diesmal wischte er jede meiner möglichen Reaktionen mit einer wütenden Handbewegung einfach beiseite und trat mit einem raschen Schritt dicht vor mich hin. Ich war gezwungen, zu ihm hochzusehen, wenn ich nicht zurückweichen wollte.

„Unsere Welt! Unsere, June! Egal, wie du dazu stehst, es ist nicht rückgängig zu machen. Und jetzt hör mir zu! Das Gehorsamsgebot ist seit geraumer Zeit schon nur noch eingeschränkt gültig, wir können selbst unserem Familienoberhaupt gegenüber also den absoluten Gehorsam verweigern. Aber dir wird das aus begreiflichen Gründen schwerfallen. Ich sage es noch einmal und in aller Deutlichkeit: Du bist jung, unerfahren, blutgierig, deiner Wut über das, was du bist, hilflos ausgeliefert und stehst daher jeder äußeren und inneren Bedrohung ohnmächtig gegenüber und bist in einem solchen Fall außerstande, klaren Kopfes zu handeln. Du bist unfähig, Rat und Hilfe anzunehmen, ungeübt in jeglicher schweren Askese, alleine und ohne den Schutz der Familie, viel zu leicht beeinflussbar, wenn er seine Absichten gekonnt als Maßnahmen zum Erhalt der Blutlinie darstellen wird …

Du dürftest genug über unser Wesen wissen, um dir selbst ausrechnen zu können, was dir blühen könnte! Menschenblut, June! Hast du Freunde hier? Wer darf es als Erstes sein, welches Aroma bevorzugst du: männliches oder weibliches? Wie schnell wirst du schwach werden?“

Ich presste meine Fingerspitzen mit aller Kraft in meine Arme. Der Schmerz half mir dabei, nicht besorgt zu schaudern. Dennoch konnte ich zum ersten Mal seinem Blick nicht standhalten und wandte mich ruckartig ab, um nach draußen zu starren.

„Ich werde fortgehen. Ende der Woche beginnen die Ferien und danach werde ich einfach nicht mehr …“

„Er findet dich überall. Willst du den Rest deiner Existenz damit verbringen, fortzulaufen?“

Ich schnaubte. „Das tue ich sowieso, dank dir. Vor irgendwelchen Jägern und Eingeweihten, vor meiner eigenen Familie, von denen wohl immer noch irgendwo jemand leben wird und die Suche womöglich nie aufgegeben hat, vor meinen ehemaligen Freunden, die mir unverhofft über den Weg laufen könnten … Kommt es auf einen Vampir da noch an?“

„Diese Frage kannst du dir wohl selbst beantworten!“, grollte er. Dann fasste er meinen Arm und drehte mich herum, deutlich behutsamer als zuvor. „Wie lange hältst du es ohne Blut aus? Und ich erwarte eine ehrliche Antwort!“

Ich presste meine Lippen aufeinander. Sein Blick wurde durchdringend und wütend.

„Wie lange, June? Hierbei geht es um Menschen, das, was du einst warst!“

„Danke, dass du mich daran erinnerst!“, zischte ich und entzog ihm meinen Arm, ballte die Hände zu Fäusten. „Du hättest mich sterben lassen sollen!“

„Du wolltest nicht sterben, du wolltest leben!“

„Leben ja, aber als Mensch, nicht als das, was mich nur Augenblicke zuvor angefallen hat!“, schrie ich ihn an. „Woher sollte ich wissen, wie es sein würde? Was du getan hast …“

Er atmete hörbar ein. „Denkst du nicht, dass ich mir das nicht längst pausenlos selbst zum Vorwurf gemacht habe? Seit dreiundzwanzig Jahren vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denken muss! Gütiger Himmel, glaubst du wirklich, ich hätte das getan, wenn es einen anderen Ausweg für dich gegeben hätte? Dein Herz drohte bereits auszusetzen, als ich zu dir kam …“

„Du verlogener Mistkerl!“, hob ich die Fäuste. „Woher hätte ich wissen sollen, was du bist? Du hast gesagt, du könntest mir nur helfen, wenn ich bereit wäre, wie du zu werden und …“

„Du erinnerst dich also daran?“

Ich schrie auf, völlig außer mir! „Längst nicht an alles, aber an das schon! Als ob ich diese Nacht vergessen könnte!“, schlug ich mit aller Kraft um mich und scherte mich nicht darum, wo und wie hart ich ihn traf. Blitzschnell griff er meine Hände und hielt sie fest, aber ich hatte bereits einen Fuß gehoben und trat ihm mit voller Wucht vor das Knie. Ächzend lockerte er seinen Griff so weit, dass ich meine rechte Hand befreien und ihm mit Schwung durch das Gesicht ziehen konnte …

Er blutete! Meine Fingernägel hinterließen vier breite, deutlich sichtbare Kratzer, die quer über seine linke Wange führten. Und im gleichen Moment wurde mir die Luft aus den Lungen gepresst, als er mich mit einem schmerzhaften Ruck und mit voller Wucht gegen die Tür warf und mich mit seinem Körper dort festhielt, meine beiden Unterarme fest umklammernd.

Sein vor Wut verzerrtes Gesicht war dicht vor meinem und so wurde der Geruch nach Blut fast unerträglich für mich – und weckte gleichzeitig zum ersten Mal etwas in mir, das sich wie ein entsetzter, innerer Aufschrei anfühlte. Ich hatte jemanden verletzt, der in gewisser Weise zu meiner Familie gehörte!

Nein! Er war nicht meine ‚Familie’!

„Du Monster! Du hast mich verwandelt! Du hast aus mir etwas gemacht, was ich nie sein wollte, nie hätte werden wollen: Vampir! Vampir! Ich hasse mich für das, was aus mir geworden ist! Und ich hasse dich, weil du das aus mir gemacht hast! Sieh mich an, ich bin eine grauenvolle, blutgierige Kreatur, dank dir! Ich hatte ein Leben!“, schrie ich ihn an …

… und bemerkte erst jetzt, dass mir die blanken Tränen über die Wangen liefen. Mit einem seltsamen Laut wehrte ich mich erneut gegen seinen Klammergriff, aber diesmal gab er nicht nach. Der Geruch nach Blut wurde erträglicher, als sich die Kratzer langsam schlossen, aber etwas anderes war aufgebrochen – in mir! Und das würde so bald nicht heilen, wenn ich nicht endlich von ihm wegkommen würde!

„Das war offenbar überfällig!“, murmelte er leise.

„Lass mich los! Lass mich auf der Stelle los, fass mich nicht an! Fass mich nie wieder an, nimm deine Hände weg!“, ächzte ich heiser und konnte doch nicht verhindern, dass weiterhin Tränen aus meinen Augen quollen.

Er rührte sich keinen Millimeter. Aber jetzt hörte ich, wie er etwas flüsterte: „Es tut mir leid!“

Ich hielt automatisch den Atem an in der Annahme, mich verhört zu haben. Dann sah ich ihn wieder an.

„Es tut mir leid! Ich dachte damals, ich würde dir das Leben damit retten und deinen Worten nach zu urteilen dachte ich, du hättest verstanden, was … dazu nötig sein würde. Und nachdem ich einmal begonnen hatte, konnte ich doch nicht damit aufhören! Ich hielt damit dein Leben in meinen Händen, Sheila! Was hätte ich tun sollen? Also habe ich es vollendet und dich mitgenommen. Ich wollte für dich da sein … Es tut mir so leid!“

Ich öffnete den Mund, aber kein Wort kam über meine Lippen. Langsam und vorsichtig ließ er seine Hände sinken und trat zurück.

„Ich war einer von zweien, die Vater davon abhielten, sein Werk zu vollenden, dich vollends auszusaugen. Ich ließ ihn einfach laufen, als ich dich dort draußen liegen sah. Der Schnee unter deiner Schulter war schon rot verfärbt von deinem Blut und du warst ganz kalt. Mir blieb nicht mehr viel Zeit, denn jede menschliche Rettung wäre zu spät gekommen. Mit Mühe habe ich dich wach bekommen … Du hattest solche Angst! Nie werde ich vergessen, welche Angst in deinen Augen stand! Du hast gefleht, du wolltest nicht sterben und als du immer schwächer wurdest … Ich dachte damals, du hättest die Ähnlichkeit zwischen Vater und mir bemerkt als du anfingst zu weinen. Ich habe nicht darüber nachgedacht, dass es viel zu dunkel gewesen sein muss für deine Augen; du konntest nicht sehen, dass es mein Vater gewesen ist, der dich … Also habe ich dir die einzige mir zur Verfügung stehende Möglichkeit geschildert, dich am Leben zu erhalten. Du sagtest immer wieder ja und ich solle dich retten, aber offenbar warst du schon zu schwach, um zu begreifen … Ich tat es. Ich gab dir von meinem Blut zutrinken und selbst als die Schmerzen anfingen und du dich wehrtest … Ich habe pausenlos auf dich eingeredet, damit du nicht vorzeitig aufhörtest, denn dann wäre alles vergebens gewesen. Und ich hielt doch dein Leben in meinen Händen, es zerrann buchstäblich zwischen meinen Fingern! Wie hätte ich das zulassen können? Du warst so schwach, so verletzlich, so … verletzt! Und dennoch so wunderschön! Ich hätte dich nicht mehr sterben lassen können, nachdem ich einmal angefangen hatte. Aber mir ist längst klar, dass ich diese Entscheidung nicht hätte treffen dürfen.“

Er sah mich wieder an und diesmal waren seine Augen tiefschwarz. „Es tut mir leid! Was ich dir angetan habe, ist unverzeihlich!“

Ich blinzelte, um wieder etwas sehen zu können. „Woher weißt du meinen Namen? Ich habe ihn dir niemals gesagt!“, flüsterte ich heiser.

Er lächelte traurig. „Das war nicht schwer. Ich habe nachgeforscht. Nach deinem Verschwinden … Ich erwarte nicht, dass du mir jemals vergibst, aber ich hoffe, dass du wenigstens mein Hilfsangebot annimmst. Ich habe versucht, dich nie wirklich aus den Augen zu verlieren, um jederzeit für dich da zu sein, falls etwas sein sollte. Ich habe meine Besuche auf einen pro Jahr eingeschränkt, nachdem du damals davongelaufen bist.“

„Um mich daran zu erinnern!“, murmelte ich, aber er schüttelte den Kopf.

„Nein. Um mich daran zu erinnern, was ich getan habe. Deine Reaktion jedes Mal war eine viel zu geringe Strafe dafür und ich musste mir doch wenigstens das abholen. Und gleichzeitig musste ich doch sehen, ob ich nicht doch etwas mehr für dich würde tun können.“

Ich schluckte und blinzelte weiter, um Herrin meiner Stimme und der nur langsam versiegenden Tränen zu bleiben. „Ich war ein Mensch! Ich hatte einen Freund! Ich war auf dem Weg zu ihm, wir hatten uns auf einer Silvesterparty verabredet… Ich wollte mein Leben leben, ich war erst neunzehn und ich hatte noch so viel vor!“

„Ich weiß! Du warst begeisterte Softballspielerin, du liebtest die Musik von Madonna, warst Cheerleader, hattest Freunde … Es tut mir so leid, all das habe ich dir genommen!“

Ich begann zu zittern. Ich konnte nicht das Geringste dagegen tun, ich zitterte am ganzen Körper. Obwohl ich sofort Arme und Beine versteifte, mir mit aller Kraft auf die Lippe biss, bis ich Blut schmeckte und meine Hände zu Fäusten ballte, zitterte und bebte ich von Kopf bis Fuß.

Und ließ es zu, dass er erneut dicht an mich herantrat und … sanft und behutsam seine Arme um mich legte, um mich an sich zu ziehen. Doch ich machte mich stocksteif.

„Es tut mir so unsagbar leid, Sheila!“, flüsterte er.

„Sheila gibt es nicht mehr!“, flüsterte ich tonlos zurück. „Sie ist damals verschwunden. Ich bin jetzt June.“

Er stöhnte leise, hielt mich jedoch weiterhin fest umarmt.

„Wer war der andere?“, forderte ich zu wissen und ohne mich zu regen. Gerne hätte ich mich für dieses eine Mal in eine tröstende Umarmung gegeben, aber das konnte ich nicht. Es war dreiundzwanzigeinhalb Jahre her, dass mich jemand so umarmt hatte, aber ich konnte mich nicht fallen lassen. Nicht bei ihm!

„Der andere?“, fragte er leise zurück.

„Eine von zwei Personen, die ihn davon abhielten.“, wiederholte ich.

Er rückte ein Stück von mir ab – und zog mich sofort wieder an sich, als das Zittern wieder stärker wurde. Ich versteifte noch mehr, woraufhin er vorsichtig mit der Hand über meinen Kopf strich. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr – etwas, was ich sofort würde abstellen müssen. Wenn ich nur wüsste, wie! Wann würde endlich die Vampirin in mir wieder das Ruder übernehmen?

„Ein anderer Vampir, der damals in der Gegend ansässig war. Er war und ist wie ich abstinent, aber er konnte dennoch so etwas wie einen Revieranspruch geltend machen und Vater dadurch vertreiben. Mit anderen Worten: Er und seine Eltern haben auf solche und ähnliche Weise wo immer sie lebten so gut es ging dafür gesorgt, dass in ihrer näheren Umgebung die Menschen geschützt sein würden. Und doch waren wir zu spät …“

Ich lachte hart auf und sofort wurde seine Umarmung etwas fester. Dann jedoch ließ er mich los und trat zurück.

„In unserer Gegend lebte damals eine Vampirfamilie?“ Völlig widersinnigerweise schauderte ich – was ihm nicht entging.

„Für kurze Zeit, zwei oder drei Jahre vermutlich nur. Und eher etwas westlich, ein wenig tiefer in den Rockys. Abstinente Vampire, alle.“

„Wer?“

„Die Namen werden gerade dir nichts sagen, zumal die Mutter mittlerweile tot ist und der Vater … Er lebt seither alleine und zurückgezogener denn je. Er bevorzugt es laut seinem Sohn seit ihrem Tod als absoluter Eremit zu leben – noch mehr als du. Ich kannte den Sohn, wenn auch damals nur flüchtig und von mehreren gemeinsamen Jagden in den Rockys, doch ich habe ihn sehr schnell schätzen gelernt … Ich verdanke ihm eine Menge. In jener Nacht habe ich ihn zwar gesucht, bin ich ihm jedoch eher zufällig begegnet. Er war wie ich besorgt über die Präsenz eines fremden Vampirs und hinter Simon her, als wir uns bei der Verfolgung über den Weg liefen. Und als wir feststellten, dass er jemanden … dass Simon einen Menschen … Ich war froh, anschließend seine Hilfe zu haben. Sein Name ist Benjamin und alles Weitere sollte er dir selbst erzählen.“

„Selbst erzählen!“ Das implizierte, dass ich mit ihm würde reden müssen, ihn treffen oder was auch immer.

„June, was auch immer ich getan habe, du bist so etwas wie ein Mitglied meiner Familie und ich fühle mich für dich verantwortlich. Als ich vor ein paar Tagen bei Prescott war und hörte, was passiert ist … Ich bin so schnell es ging aufgebrochen und seither nahezu ohne Unterbrechung … Ich kann nicht wissen, wie dicht Vater bereits an dir dran ist und ich kann hier in der Gegend nicht offen auftreten. Doch ich kann mich durchaus unsichtbar machen für die Menschen hier. Wenn Ende der Woche die Ferien für dein derzeitiges Ich losgehen, solltest du einen Koffer hier stehen haben und …“

„Ich denke, er findet mich überall!“, fiel ich ihm ins Wort.

„Du sollst auch nur vorübergehend von hier verschwinden. Es ist nicht länger aufschiebbar, dass du mehr über unsere Welt lernst – und deine Askese übst! Es wird nicht leicht, aber wir werden dir dabei helfen.“

„Wir!“, runzelte ich die Stirn und trat automatisch einen Schritt zurück.

„Benjamin und ich.“

„Ich glaube das alles nicht! Wenn er damals dabei war … Er hätte die Möglichkeit gehabt, dich an deinem Tun zu hindern! Und sag mir nicht, dass das Gegenteil der Fall ist, ich weiß es besser!“

Er schüttelte den Kopf. „Er hat Vater verfolgt, um ihn zu vertreiben, und ich musste dich doch von dort fortschaffen, möglichst weit. Benjamin wusste damals also nicht, was ich getan habe – inzwischen weiß er davon. Es war alles andere als leicht, ihn wiederzufinden, ich habe Jahre dazu gebraucht. Und er ist bereit, dir zu helfen.“

„Ich soll mich freiwillig in die Hände zweier …“

„Überleg gut, was du jetzt sagst! Ich rechne nicht damit, dass du mir jemals verzeihst, aber bei allem Hass, den du für mich fühlst, solltest doch auch du noch die Vernunft aufbringen können, die Wahrheit und die absolute Notwendigkeit für unser Vorhaben zu sehen. Wir kennen einen Platz, wo du lernen kannst, die Instinkte, die tief in dir lauern, zu beherrschen. Ich verschweige dir nicht, dass die Lektion, die dir bevorsteht, schmerzhaft sein wird, aber sie ist unabdingbar, wenn du nicht beim Anblick oder Geruch selbst kleiner Mengen menschlichen Blutes über dessen Besitzer herfallen willst. Vielleicht hilft es dir, wenn du es so siehst: Du würdest nicht ein solches Monster werden, wie ich es bin – ein Ziel, das dir doch sicher erstrebenswert erscheinen wird.“

Ich blies die Luft durch die Nase aus. Dann musterte ich ihn ungerührt von oben bis unten. „Du bist von Boston aus gelaufen.“

„Ja. Vorwiegend nachts, wo immer es ging abseits aller Wege und mehrfach zur Sicherheit einen großen Kreis rückwärts schlagend, um mich zu vergewissern, ob ich verfolgt werde. Ich wollte zudem nicht das Risiko eingehen, irgendwo irgendwem aufzufallen, der unserem Vater hätte mitteilen können, wohin ich unterwegs bin. Wie schon gesagt: Ich weiß nicht, ob er deinen Aufenthaltsort nicht bereits kennt, aber ich wollte im gegenteiligen Fall nicht derjenige sein, der ihn direkt zu dir führt. Ich werde in der Gegend einen Unterschlupf finden für die restliche Woche, dann brechen wir zu Benjamin auf.“

„Du hast etwas vergessen!“, meinte ich hart, froh, das Zittern losgeworden zu sein.

Er hob eine Augenbraue.

„Du vergisst es ständig, wie mir scheint: Mein Einverständnis einzuholen!“

Er wurde blass. Nein, sein Gesicht wurde grau. Sein Nicken fiel steif aus und als er jetzt seine Lippen zusammenpresste, wurden sie fast weiß. „Ich verstehe. Nun, dann bleibt mir nichts weiter übrig, als dir viel Glück zu wünschen. Versuch, Simon solange wie irgend möglich aus dem Weg zu gehen. Oh, und noch etwas: Ich bin gerade planmäßig dabei, mir eine neue Identität zuzulegen, und noch habe ich weder eine Adresse noch eine neue Handynummer, die ich bei solchen Gelegenheiten wie wohl die meisten von uns ebenfalls ändere. Ich werde also nächste Woche für ein paar Tage nicht erreichbar sein und teile dir dann beides per SMS mit. Von da an werde ich es dir überlassen, noch einmal den Kontakt zu mir zu suchen. Also auch keine unliebsamen Besuche anlässlich des Jahreswechsels mehr.“ Er nickte mir noch einmal zu und stand bereits an der Tür, den Griff in der Hand. „Alles Gute also, halbe Adoptivcousine!“

Sie fiel leise hinter ihm ins Schloss – und ich schwankte leicht, als meine weichen Knie nachgeben wollten.

Was sollte ich tun? Ich war nicht so naiv zu glauben, dass er bei seiner Schilderung übertrieben hatte. Seit ich zu dem geworden war, was jetzt am Fenster stand und auf die Stelle starrte, wo er im Wald verschwunden war, hatte ich meinem zwangsläufig implantierten wenn auch unvollständigen genetischen Gedächtnis durchaus genügend Einzelheiten entnehmen können, die mich seine Beschreibung eher als stark untertrieben einschätzen ließen.

Meine eigenen Erinnerungen an diesen … an Simons Angriff waren voller brutaler Bilder, voller Todesangst, voller Schmerz, voller Entsetzen darüber, was mir da zugestoßen war und was er mit mir tat. Was hingegen völlig fehlte, war ein Gesicht, das ich damit in Verbindung bringen könnte. Seine Stimme würde ich ganz sicher jederzeit wiedererkennen, aber sein Aussehen …

Ich hatte damals den Wagen stehengelassen, weil der Parkplatz vor der Hütte ohnehin sicher überfüllt sein würde, und war die verhältnismäßig kurze Strecke zu Fuß gegangen. Eine große Hütte am Ortsrand, wo laute Partys niemanden störten, nicht weit von meinem Zuhause. Eine Viertelstunde zu Fuß, vielleicht zwanzig Minuten bei tiefem Schnee, in dem man so schwer vorwärtskam …

Er hatte mich keine hundert Meter von meinem Ziel entfernt erwischt. Die irrsinnige Geschwindigkeit, mit der er mich mitgeschleppt, die Mühelosigkeit, mit der er mir gleichzeitig die Arme an den Körper gepresst und mit der anderen Hand den Mund zugehalten hatte …

Ich schauderte erneut und zwang mich, die Erinnerung daran wieder weit von mir zu schieben. Doch jetzt war dieser Vampir wieder da und drängte sich mit aller Macht in mein Bewusstsein zurück. Er wusste nun, dass ich überlebt hatte und wenn er damals hatte fühlen können, wer da außer diesem Benjamin, der ihn weiter verfolgt hatte, näher gekommen war …

Phil hatte recht, es war leichter, als eins und eins zusammenzuzählen! Ich war mir rückblickend nicht mehr ganz sicher, aber wenn ich tatsächlich bereits ohnmächtig oder eine Ohnmacht nahe gewesen war, als er verschwinden musste, war er mit Sicherheit davon ausgegangen, dass ich entweder von seinem Sohn vollends ausgesaugt werden oder ohnehin nicht überleben würde.

Ich wandte mich ab und glitt mit dem Rücken an der Wand entlang auf den Boden, wo ich meine Arme um die angezogenen Knie legte, um deren erneutes Zittern zu unterbinden. Nicht nur der winzige Rest von Sheila hatte Angst, auch June ahnte, dass ihr ‚Leben’, wie sie es sich bisher eingerichtet hatte, sehr bald vorbei sein könnte!

„Eine Woche! Ich halte es längstens eine Woche ohne Blut aus!“, flüsterte ich, um seine drängendste Frage zu beantworten.

Kapitel 2

09. Juni, 07.40 Uhr, Dienstag

Dreiundzwanzig Jahre, fünf Monate, neun Tage und sieben Stunden, vierzig Minuten

Ich umrundete Patrick ein weiteres Mal auf dem Weg zum Eingang. Heute hatte er sich darauf verlegt, mir so oft es ging in den Weg zu springen.

„June, es tut mir leid. Nein, nicht alles, aber ein paar Sachen schon. Könntest du nicht wenigstens mal stehenbleiben und mit mir reden? Was ist schon dabei? Ich möchte doch einfach nur mal ein Date mit dir! Lass uns mal was zusammen unternehmen, was ganz Harmloses! Ich weiß ja, dass du zum Beispiel nicht zu Sportveranstaltungen gehst, aber vielleicht könnten wir ja mal ins Kino gehen oder so. Ich überlasse es ganz alleine dir, okay? Wo immer du hingehen willst, ich gehe mit.“

Ich verdrehte die Augen, täuschte links an und ging rechts an ihm vorbei. Zum vierten Mal. Sein Geruch war immer noch viel zu aufdringlich! Ob das tatsächlich an einem Überschwang von Testosteron lag? Wie roch das Zeug? Nicht einer der Jungs aus meinen Kursen roch so!

Prompt kam mir Phils Ermahnung wieder in den Sinn: Welches Aroma ich bevorzuge! Ich schnappte nach Luft und blieb abrupt stehen, um Pat zu fixieren.

Nein, ich wollte ihn ganz bestimmt nicht aussaugen, der Eindruck musste von etwas anderem kommen! Er war nicht mal unsympathisch und bestimmt auch nicht hässlich, er war einfach nur … eine Klette!

Begeistert über so viel Aufmerksamkeit strahlte er mich jedoch sofort an. „Endlich bleibst du mal stehen. Danke! Echt! Um mit dir mithalten zu können, muss man schon Leistungssportler und Entertainer zugleich sein.“

„Ich brauche weder einen Leistungssportler noch jemanden, der mich entertaint. Pat, wieso geht es nicht in deinen Kopf, dass ich nichts von dir will? Es ist nicht so, dass ich dich nicht leiden kann, aber es ist auch nicht so, dass ich ein Date mit dir würde haben wollen! Sag mir doch einfach, was ich tun muss, um dir das klarzumachen. Was du tust, ist nur nervig und macht mich umso wütender, je öfter du es versuchst. Was also muss ich tun, um das abzustellen? Sag’s mir!“

Sein Lächeln wurde etwas kleiner. „Weißt du, dass du manchmal echt unausstehlich sein kannst? Wenn du uns allen hier nicht pausenlos aus dem Weg gingest, würdest du vielleicht sogar überrascht registrieren, dass wir ganz nett sind. Klar, hier laufen auch ein paar Vollidioten rum, aber der Großteil von uns schafft es, mit geschlossenem Mund zu kauen, Gabel und Löffel auseinanderzuhalten und entsprechend zu benutzen, und ist sogar des Lesens und Schreibens mächtig. Und der Sprache, mehr oder weniger artikuliert. Was ich seit Monaten versuche ist … Gott, ich weiß nicht! Einfach nur mal Hallo sagen! Reden! Ich wette, du hast noch mit niemandem hier mehr als zehn Sätze am Stück geredet, die privater Natur waren, die nichts mit der Schule zu tun hatten!“

Prompt überschlug ich, was ich gestern mit Amanda gesprochen hatte, brach jedoch aus nahe liegenden Gründen wieder ab. „Mit dir. Gestern, auf dem Flur. Ich wette, das waren mehr als zehn Sätze! Und jetzt! Macht schon mindestens zwanzig!“

Er blies den Atem durch die Nase aus und presste die Lippen zusammen.

„Pat, ich weiß, was du da versuchst. Irgendwie hättest du sogar eine Medaille für deine Ausdauer verdient – wenn nicht ich dein Ziel wäre. Ich bin wie ich bin und ich werde mich ganz sicher nicht ändern! Ich bin nun mal lieber alleine mit mir und ich will nicht ständig jemanden um mich herumtänzeln haben, der …“

„Ich kann durchaus stillstehen und die Klappe halten. Du lässt mir nur keine Chance dazu!“

Wir versperrten den Weg zum Eingang und mehrere Schüler drängten an uns vorbei, sodass ich automatisch zur Seite auswich, um allzu direkten Kontakt zu vermeiden. Jetzt näherten sich auch Pats Freunde, allen voran Mitch. Mitchell Stubbs, der rekordverdächtige Basketballkörbe warf. Sein Grinsen wurde breit, als er uns beide hier stehen sah.

„Hi! Na so was! Heute kein Date vor der Mädchentoilette, Pat?“

Die anderen lachten und stießen sich gegenseitig die Ellenbogen in die Seiten.

„Kannst du mal die Klappe halten und verschwinden, Mitch?“, konterte Pat genervt und setzte ein gedehntes. „Danke!“ hintenan.

„Los, komm, lass die zwei!“, hörte ich den mit den raspelkurzen schwarzen Haaren sagen. Zach. Zachary. Wir hatten nur wenige Kurse gemeinsam. Glaubte ich, mich zu erinnern.

„Danke, Zach.“, meinte Pat.

Ein schiefes Lächeln, dann zog der Angesprochene mit einem entschuldigenden Blick in meine Richtung und kurzem Schulterzucken Mitch am Arm hinter sich her.

Offenbar war Zach nett.

„Was sagst du? Würdest du es zum Beispiel aushalten, beim Mittagessen mal am gleichen Tisch mit mir zu sitzen? Oder mit uns, wenn schon nicht mit mir alleine?“

Ich hob vielsagend eine Augenbraue. „Mit den Schimpansen, die gerade an uns vorbeigingen? Wissen die eigentlich schon, dass sie nichts mehr auf den Bäumen zu suchen haben?“

Ein kurzes Grinsen huschte über sein Gesicht. „Na ja, es sind meine Freunde. Und so sind sie nicht immer … Ich lad dich für heute Mittag ein. Unter deinem Baum. Ich bin nicht Amanda, aber ich bringe dir außer einem Kaffee auch einen Brownie mit. Und ich schwöre hoch und heilig, für den Rest des Tages dann nicht wieder um dich herumzutänzeln! Alberne Vorstellung übrigens, ich ‚tänzele’ nicht, ich bin ein Mann und folge nur entschlossen deinen Spuren!“

Gegen meinen Willen hob sich mein rechter Mundwinkel zu einem halben Lächeln. Sofort strahlte er wieder.

„Ja! Das war eindeutig eine Zusage! Nein, schon gut, ich bin schon fort! Oh, mein gnadenloser Optimismus musste sich doch irgendwann bezahlt machen! Bis heute Mittag also!“, hob er eine Hand, legte den Rückwärtsgang ein und drehte sich gerade noch rechtzeitig um, bevor er mit dem Rücken gegen die Eingangstür gestoßen wäre.