At home - Teil 1-3 - Savannah Lichtenwald - E-Book

At home - Teil 1-3 E-Book

Savannah Lichtenwald

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Beschreibung

Sammelband mit den ersten drei Teilen der bereits als Einzelromane erschienenen "At home"-Reihe und der Kurzgeschichte "Nobody - At home" (Frederike und Tobias). At home - Für 128 Jahre: Was aussah, als hätte es Liebe werden können, entpuppt sich für Marvin Brandt als Gefängnis. Sein Freund Angelo kontrolliert jeden seiner Schritte, verhält sich von Tag zu Tag besitzergreifender, bis Marvin ihn verlässt. Doch Angelo akzeptiert die Trennung nicht und verfolgt ihn hartnäckig. Als die Situation eskaliert und sein Exfreund ihn mit einem Messer bedroht, muss Marvin flüchten. So lernt er Steven Cooper kennen, der ihm Zuflucht bietet. Steven ist ein Kollege seiner Schwester, arbeitet als Bodyguard und lebt auf der Überholspur, denn auch er hat ein Problem: Seine Vergangenheit. Als er auf Marvin trifft, holt ihn diese unbarmherzig ein. In nur fünf Tagen ändert sich das ganze Leben - für beide. Not - At home: Eigentlich könnte alles perfekt sein. Mit der Cocktailbar "Charleston" hat Helge sich einen Lebenstraum erfüllt und aus einigen seiner Gäste sind mittlerweile gute Freunde geworden. Nur der richtige Partner fehlt noch zu seinem Glück. Der einzige Mann, den er sich an seiner Seite vorstellen kann, sitzt oft auf der anderen Seite der Theke. In einem einzigen kurzen Augenblick hat Helge sich in Jannik verliebt. Leider versteckt der zurückhaltende Mann seine faszinierend grünen Augen beharrlich hinter einer verspiegelten Brille. Nie sieht er jemanden an, lächelt nur selten und geht nirgendwo ohne seinen Zwillingsbruder hin. Eines Nachts geschieht etwas Furchtbares und nichts ist mehr, wie es war … At home - with you: Das Leben hat Leon hart und unbeugsam gemacht. Mit Gefühlen kann er nichts anfangen und verliebte Menschen gehen ihm auf die Nerven. Einige seiner Freunde, die er in der Cocktailbar "Charleston" regelmäßig trifft, sind bereits vergeben. Deren Verhalten ist ihm völlig unverständlich, was er bei jeder Gelegenheit mit bissigen Worten entsprechend kommentiert. Kay hat ebenfalls Furchtbares erlebt, doch im Gegensatz zu Leon haben ihn diese Erfahrungen nicht verbittert, hofft er immer noch auf die große Liebe. Selbst eine herbe Enttäuschung konnte seinen Traum vom richtigen Partner nicht zerstören. Was passiert, wenn ein überzeugter Zyniker auf einen echten Romantiker trifft? Normalerweise nichts Gutes und so geraten Leon und Kay heftig aneinander, als sie für ein Projekt zusammenarbeiten müssen. Gay Romance

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Savannah Lichtenwald

At home - Teil 1-3

Gay Romance

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

I. At home - Für 128 Jahre

 

 

„Es kommt für jeden der Augenblick der Wahl und der Entscheidung:

Ob er sein eigenes Leben führen will, ein höchst persönliches Leben in tiefster Fülle,

oder ob er sich zu jenem falschen, seichten, erniedrigenden Dasein entschließen soll,

das die Heuchelei der Welt von ihm begehrt.“

 

Oscar Wilde

I. 1. Wolkenbruch

„Du gehörst mir! Hast du verstanden? Mir!“ Angelo stand zwei Stufen unter ihm und schäumte vor Wut, die dunklen Locken verschwitzt, die braunen Augen schleuderten Blitze. Marvin dachte fieberhaft nach - sollte er jetzt die Treppe hinauf oder hinunter laufen? Mehr Optionen hatte er nicht.

„Du kannst mich nicht verlassen! Du brauchst mich! Wer ist er, verdammte Scheiße, sag´ mir, wie er heißt, ich schwöre dir, ich bringe ihn um!“

Angelo schrie so laut, dass es im ganzen Treppenhaus widerhallte. Leider kam niemand, um nach dem Krach zu sehen. Dörings ganz oben waren voll auf Karriere-Trip und arbeiteten fast rund um die Uhr und die alte Dame im Erdgeschoss hörte nicht mehr gut.

Marvin blaffte zurück: „Es gibt keinen anderen und ich gehöre dir nicht.“ Er schnaubte aufgebracht. „Ich bin doch kein Haustier. Und du gehst mir tierisch auf die Nerven, wenn du mich ständig verfolgst. Deine verdammte Eifersucht kotzt mich an. Das habe ich dir gesagt, immer wieder. Es tut mir leid, aber ich kann das nicht …“.

„Das werden wir ja sehen!“, zischte Angelo und zog ein Messer aus der Jackentasche.

Marvin schluckte trocken, die zitternde Hand steckte er in die Jackentasche - jetzt bloß nichts anmerken lassen. Sein Puls raste, die Gedanken hasteten durch seinen Kopf auf der Jagd nach dem rettenden Einfall.

„Wenn ich mit dir fertig bin, dann kommst du schon zurückgekrochen.“ Was für ein gruseliges Grinsen. „Dein Süßer ist dann nämlich weg. Wer will im Bett schon ein Gesicht mit Narben!“

 

Scheiße, der war ja komplett irre! Panisch sah Marvin sich um. Treppe rauf: Langer Weg, Wohnung mit altersschwacher Tür. Treppe runter: Angelo, groß, bullig, kurz vorm Kollaps. Verdammte Hacke, was jetzt? Marvin war nicht besonders sportlich, hatte sich auch vor dem Fußball im Sportunterricht oft erfolgreich gedrückt, aber seine einzige Chance führte über das Geländer ins Erdgeschoss. Besser ein verstauchter Fuß, als Löcher im Gesicht.

Bevor er über die Konsequenzen zu lange nachdenken konnte, sprang er über das alte Holz und landete unsanft auf der Kehrseite. Schnell rappelte er sich hoch und flüchtete durch die noch offen stehende Haustür.

Wie passend - es regnete es in Strömen. In der Straßenrinne floss das Wasser so schnell, als wollte es unbedingt heute noch das Meer erreichen. Marvin stand zwei Straßen weiter und atmete hektisch ein und aus, seine Hände flatterten. Rund um das Haus, in dem er wohnte, fing die Straßenbeleuchtung schon an zu glühen. Vorsichtig sah er sich um und überlegte, wohin er jetzt gehen sollte, während ihm das Wasser den Nacken hinunterlief.

Mama und Papa waren für eine Woche zu Oma nach Schweden gefahren. Kay und Hendrik wohnten noch zu Hause. Ihre Eltern wären sicher ganz begeistert, den schwulen Kumpel ihrer Söhne für mehrere Tage aufzunehmen.

Zur Polizei zu gehen war sinnlos - Zeugen hatte Marvin nicht und objektiv betrachtet war ja nichts passiert. Noch nicht. Nur, dass sein Ex die Trennung nicht akzeptierte und ihm Stalker-mäßig das Leben zur Hölle machte. Ihm Jammer-Mails schickte und Liebesbriefchen in seinen Briefkasten warf. Angelo lauerte auf der anderen Straßenseite, wenn Marvin abends aus dem Büro kam und sandte ihm eine SMS nach der anderen. Ans Telefon ging er kaum noch.

Vier Wochen hatte er durchgehalten, wollte sich nicht weichkochen lassen, wieder die erstickende Enge ertragen. Der Ton der Texte war jedoch immer schärfer geworden, die Abstände zwischen den Mails und SMS immer kürzer und heute dieser Treppenhaus-Horror. Damit war der Punkt erreicht, an dem Marvin nur noch seine Haut retten wollte, buchstäblich.

Angelo – was für eine Ironie. An dem Kerl war nichts Engelhaftes. Marvins Bedürfnis nach Nähe hatte ihn zwei Monate ausharren lassen. Sein Wunsch nach Geborgenheit, sich einmal anlehnen zu können, Blindheit verursacht. Wann hatte sich sein Gehirn verabschiedet, ihm nicht bewusst gemacht, wie gestört der Mann war?

Marvins Gedanken rotierten, wanderten zu seiner älteren Schwester, die ihn gleich am Anfang wissen ließ, dass sein neuer Freund unheimlich sei. Ha, Lara, perfekt. Hoffnungsvoll zog er mit klammen Fingern das Handy aus seiner Jackentasche und wählte ihre Nummer. Dieser Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar. Bitte versuchen … Mist, doch nicht perfekt. Lara arbeitete im Büro einer Security-Firma und machte jetzt bestimmt Überstunden. Freitagnachmittags erledigte sie die Aktualisierung der Kunden- und Personaldaten.

Lara war temperamentvoll und weichherzig und ihr Freund Mario lag ihr zu Füßen. Bei den beiden würde er ein paar Tage überbrücken können, bis Angelo sich beruhigt hatte. Jetzt begann das Wochenende und Marvin hatte einen großzügigen Chef. Als Programmierer könnte er vielleicht auch ein paar Tage von zu Hause aus arbeiten.

Das Wasser aus dem Gesicht wischend rannte er zur nächsten Haltestelle und stieg in einen dort wartenden Bus. Es war nicht der richtige, egal, dann halt mit Umsteigen. Wenigstens konnte Marvin hier in Ruhe trocknen und seinen Adrenalinspiegel wieder senken. Er mochte sich kaum hinsetzen. Alles war klamm, die Hose klebte an seinen Beinen fest, in seinen Schuhen schwamm Wasser.

Bedrückt verfolgte er die Tropfen am Fenster, wie sie aufprallten, zusammenfanden und schneller nach unten rollten. Angelo machte ihm nicht nur Angst - Marvin bedauerte ihn auch. Was war das für eine Auffassung von Liebe? Er gehörte diesem Mann nicht. Obwohl Marvin da nicht ganz aufrichtig war. Er wollte ja jemandem gehören, zu einem Menschen gehören, der ihn liebte, der ihm vertraute. Ohne Vertrauen ging jede Beziehung in die Brüche. Das hatte Angelo nicht begriffen und das würde er wohl auch nie.

Anfangs war alles prima gelaufen. Gemeinsam waren sie in der Kunstgalerie herum geschlendert und hatten am Wochenende die Bars unsicher gemacht. Fast unmerklich hatte sich diese Besessenheit herangeschlichen. Das war doch krank. Marvin schüttelte sich. Hatte er Angelo überhaupt geliebt? Es hatte Spaß gemacht, mit ihm Zeit zu verbringen, hatte sein eigenes Ego gefüttert, dass dieser gutaussehende Mann neben ihm ging, aber Liebe? Nein. Nein, das war es nicht.

 

Eine Stunde später stieg Marvin aus und lief zu dem großen Gebäude im Industriegebiet. Es schüttete immer noch wie aus Eimern, überall bildeten sich tiefe Pfützen und so langsam machte sich Müdigkeit in ihm breit. Der fette Angstknoten in seinem Magen war auch noch da. Laras Firma befand sich im 2. Stock, leider ohne Aufzug. Durch die Glastür sah er noch Licht brennen und klopfte gegen die Scheibe.

 

*

 

Steven gammelte vor dem Bildschirm herum und grübelte. Die Listen waren fertig, eigentlich hatte er nichts mehr zu tun. Daheim allerdings auch nicht. Er war in Gedanken versunken und so nahm er das Klopfen erst verzögert wahr. Verblüfft öffnete er die Tür. Die Kunden von „Schneidmann Security“ waren überwiegend Business-mäßig gekleidet oder zumindest teuer und die meisten Mitarbeiter hatten eine Ausstrahlung wie Türsteher.

Der hier sah allerdings aus wie frisch aus der Badewanne gezogen – mit Klamotten. Aus den braunen Strähnen tropfte Wasser, die etwas längeren Haare im Nacken klebten auf der Jacke und der Stoffrucksack hing ziemlich formlos über der Schulter. Der leicht gehetzte Blick machte den Eindruck auch nicht besser. Der Mann sah aus, als könnte er einen bequemen Polstersessel und ein Kaminfeuer gebrauchen.

„Hi, kann ich was für dich tun?“, fragte Steven freundlich.

Erschöpft blickte ihn der Fremde an und fragte: „Ist Lara Brandt noch da? Sie ist meine Schwester und ich muss sie dringend sprechen.“ Aha, dringend. Genau so sah er aus.

Bedauernd antwortete Steven: „Sorry, aber Lara ist für einen Last-Minute-Urlaub ein paar Tage nicht da. Kann ich dir irgendwie helfen?“

„Nein … nein, ich denke nicht.“ Bei dem unglücklichen Gesichtsausdruck war das Problem wohl größer.

„Na komm schon, was ist los?“, hakte Steven nach.

Der Mann sah ihn zweifelnd an. Schließlich gab er sich sichtbar einen Ruck und sagte: „Ich heiße Marvin und mein … Exfreund ist ausgetickt. Ich hab´ gehofft, ein paar Tage bei Lara bleiben zu können.“ Marvin steckte die Hände in die Hosentaschen und zog verlegen die Schultern hoch. „Klingt jetzt feige, oder?“

Dieser Kerl sah ja nicht gerade aus wie Arnold Schwarzenegger in seinen besten Zeiten. Zwar war er höchstens fünf Zentimeter kleiner als Steven mit seinen ein Meter vierundachtzig, aber schlank und kein Muskelpaket.

„Nein, nicht feige, nur umsichtig“, widersprach Steven.

 Wenn du das so sagst, klingt es schon besser.“ Das kleine Lächeln mit dem Grübchen auf einer Seite ließ Marvin echt nett aussehen.

Steven überlegte kurz – ach, was soll´s, einmal Samariter und zurück. „Hm, ich denke, ich mach´ jetzt hier Schluss und dann fährst du erst mal mit zu mir. So kannst du draußen nicht rumlaufen, du holst dir ja den Tod. Ich bin übrigens Steven, habe ein Gästezimmer und Bier im Kühlschrank. Wie klingt das?“

Marvins Erleichterung war deutlich sichtbar. „Macht dir das wirklich nichts aus? Ich will nicht stören, deine Familie oder Freundin oder so.“

„Da ist niemand, ist also kein Thema. Lara schuldet mir sowieso einen Gefallen und ich habe nichts Besonderes vor.“ Außer an einer Bar den Charmeur spielen. Immer das Gleiche, oberflächlich, bedeutungslos. Zur Abwechslung könnte er heute zu Hause sitzen und sich einfach nur unterhalten. Wäre ja mal was ganz Neues.

„Okay, cool. Dann vielen Dank. Ich fühle mich echt miserabel. Es wäre auch nur für eine Nacht.“ Er lächelte und Steven war überzeugt, dass Marvin mit diesem leicht schiefen Lächeln und den glänzenden, blaugrauen Augen in die Werbung gehen sollte, für Schäfchenwolle oder Partnerschaftsagenturen oder wo man sonst so ein Lächeln gut gebrauchen konnte.

 

*

 

Marvin atmete tief durch - wenigstens für heute brauchte er sich keine Gedanken zu machen. Die Fahrt dauerte mit dem blauen BMW nur zehn Minuten. Steven fuhr, als wäre der Teufel hinter ihm her und Marvin krallte sich ins Sitzpolster. Sein Herz klammerte sich verzweifelt an den Brustmuskeln fest, bis sie anhielten und er aus dem Auto steigen konnte.

Die Straße war gesäumt von kleinen Einfamilienhäusern, teilweise winzig, wohl aus den Sechzigern, mit gepflegten Vorgärten und der passenden Herbstdekoration an den Türen. Das Haus, vor dem sie standen, sah ähnlich aus, nur ohne Dekoration und mit Unkrautbüscheln davor. Die drei Stufen zur Haustür waren wie leergefegt. Bei den anderen standen hier Blumenkübel. Steven schloss auf und ließ ihn vorgehen. Der kleine Flur wirkte recht kahl. Es gab nur vier Haken an der Wand und zwei Paar Sportschuhe lagen in der Ecke.

Nachdem Marvin seine Jacke aufgehängt hatte, folgte er Steven ins Wohnzimmer. Hier war es auch nicht gemütlicher. Zwei dunkelblaue, alte Sofas, ein Flat-Screen auf einem niedrigen Tisch, ein Laptop daneben, ein Regal mit Büchern und zwei Flaschen Whiskey dazwischen. Sonst nichts. Kein Teppich auf dem Laminat, keine Bilder an der Wand. Es fehlte auch der übliche Schnickschnack, den jeder normale Mensch daheim herumliegen ließ, wenn man mal von der Sportzeitung neben der Couch absah.

„Du hast nicht gerade viel Zeug, oder?“, wandte er sich an Steven.

Der zuckte mit den Schultern und antwortete gelassen: „Wozu? Ich ziehe öfter mal um. Das Haus konnte ich billig mieten, weil die Heizung kaputt ist und die Möbel waren schon da. Ich hab´ nicht vor, die nächsten hundertachtundzwanzig Jahre hier zu bleiben. In zwei Wochen fahre ich für einen Auftrag nach Hamburg und bleibe dann dort. Willst du was trinken? Ich habe Bier da, Whiskey, Cola und Wasser, nimm dir, was du möchtest. Die Küche ist gleich auf der anderen Seite vom Flur. Ich hole dir schon mal was zum Umziehen und ein Handtuch.“

Mit den letzten Worten drehte Steven sich um und ging in Richtung Flur. Marvin sah ihm nach, bewunderte den knackigen Hintern und den kurzen, mittelblonden Zopf, der Steven über den Nacken hing. Mit den breiten Schultern in dem weißen T-Shirt und den schmalen Hüften passte er eigentlich genau in Marvins Beuteschema. Der leichte amerikanische Akzent, der ab und zu durchblitzte, war was Besonderes und nett war der Kerl auch noch.

Wer nahm schon einen fremden Mann mit nach Hause, nur weil er der Bruder einer Kollegin und in Schwierigkeiten war? Die meisten Menschen hätten zu viel Angst. Mal ganz abgesehen davon, dass Hetero-Männer einen Riesenbogen um Schwule machten. Wenn man Glück hatte. Wenn es schlecht lief, musste man mit blöden Sprüchen oder einer gebrochenen Nase rechnen. Als wenn er im Gebüsch lauern und freilaufende Männer anfallen würde. Haha, sehr witzig. Marvin war schon froh, wenn ihm einer einen zweiten Blick zuwarf. Dafür hatte er jetzt diesen Vollpfosten Angelo an der Backe.

Nachdenklich ging er über den Flur zur Küche und goss sich dort ein Glas Cola ein. Auch hier gab es nur Schränke, den Kühlschrank, einen Herd. Keine Vorhänge, kein Kleinkram, nichts.

Im Wohnzimmer setzte er sich auf die Couch und wartete auf Steven. Der kam mit Jeans, Shirt und Handtuch zurück und erklärte: “Hier, die Sachen sind wahrscheinlich zu groß, aber dafür trocken. Neben der Küche ist ein Gäste-WC, das Bad ist oben, wenn du duschen willst.“

Marvin stellte das Glas auf den Boden, stand auf und fühlte sich schon aufgewärmt. Lächelnd erwiderte er: „Danke, ich bin gleich wieder da.“

Auf dem Weg ging ihm durch den Kopf, dass diese Augenfarbe auf dem Index stehen sollte. Blau wie die Sofas im Wohnzimmer oder wie Kornblumen. Aber das Blau der Sofas war absolut unmodern, Kornblumen verwelkten schnell und solche Augen waren entweder hetero oder vergeben. Ach Mist.

Das Bad im ersten Stock sah aus wie die spartanische Küche, das halbleere Wohnzimmer und der karge Flur. Außer der Badezimmerkeramik gab es eine Zahnbürste, Rasierer, Aftershave, Handtuch. Sonst nichts.

Wieder zurück im Erdgeschoss ließ Marvin sich auf der Couch nieder und nahm sein Glas vom Boden. Entspannt saß Steven mit einem Whiskey auf dem anderen Sofa und musterte ihn interessiert. „Na dann erzähl´ mal, warum du jetzt nicht in deiner Wohnung bist.“

Marvin drehte das Glas in seiner Hand und überlegte, ob er überhaupt etwas erzählen wollte. Dann schüttelte er leicht den Kopf und sagte: „Lieber nicht, ich will dir nicht die Ohren vollheulen. Ich bin froh, wenn ich einfach eine Nacht hier bleiben kann. Ist ja nicht dein Problem, sondern meines.“

„Bullshit! Der Abend hat erst angefangen und mir ist langweilig. Betrachte es als Bezahlung für ein Hotelzimmer“, sagte Steven und forderte ihn mit einer Handbewegung zum Reden auf.

Der Mann hatte ihn aufgenommen, also war er ihm wohl eine Erklärung schuldig. Marvin atmete einmal tief durch und fing an: „Mein Ex-Freund heißt Angelo. Ich habe ihn im `Crazy Universe´ kennengelernt. Er sah heiß aus und er war witzig. Nach ein paar Wochen war es nicht mehr witzig. Alle paar Stunden rief er an und fragte, wo ich bin. Jeden Tag hat er mich im Büro abgeholt und heimlich mein Handy kontrolliert. Ich habe ihm gesagt, dass er mir mit seiner extremen Eifersucht auf die Nerven geht, aber das hat nichts genutzt.“ Fahrig strich er mit den Fingern durch die Haare und sah zum Fenster.

Steven lachte trocken auf. „Klammern ist lästig. Viel zu viel Stress.“

„Nein, das ist es nicht. Ich hatte die Schnauze voll von One-Night-Stands ohne … na ja, ich wollte jemanden, der bis zum Frühstück bleibt und mich anlächelt.“ Frustriert sah er Steven an und verzog das Gesicht. „Ja ja, ich weiß, Kitsch as Kitsch can. Und jetzt steht Angelo mit einem Messer in meinem Hausflur, weil er denkt, ich hätte einen anderen. Wann hätte ich den denn aufreißen sollen!“ Marvin schnaubte unwillig. „Über das Treppengeländer musste ich springen. Ich hab´ schon meine Schwester im Ohr: Supi, Marvin, die Sportskanone. Meine Leute sind im Urlaub und meine beiden Kumpels haben … konservative Eltern. Die ganze Situation ist komplett verfahren. Ich kann gar nicht so viel essen, wie ich kotzen möchte.“

Steven betrachtete ihn mitleidig und sagte: „Du bist jedenfalls erst mal hier und dein Ex kann sich draußen den Hintern abfrieren. Wenn du willst, kannst du auch ein paar Tage bleiben, das Haus ist groß genug. Morgen gehe ich ins `Charleston´, das ist eine Cocktailbar. Du kannst gerne mitkommen, das bringt dich auf andere Gedanken.“

Marvin sah ihn zweifelnd an und erwiderte unsicher: „Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist. Angelo kennt hier alle Clubs, Bars und Kneipen. Die nächsten Tage will ich ihm nicht über die Füße fallen.“

Steven schmunzelte, die schmalen Lippen zu einem wundervollen Schwung verzogen. „Ist klar, aber er weiß nicht, dass du jetzt einen Bodyguard hast. Komm schon, nicht nachdenken – machen.“

Vielleicht war das gar nicht so verkehrt. Die letzten Wochen hatte Marvin die Abende nur noch in seiner oder in Angelos Wohnung verbracht, weil der bei jedem Blick von anderen explodiert war. Außerdem war diese Bar sicher kein Gay-Club, das Risiko also relativ gering. Nach stiller Diskussion mit seinem inneren Angsthasen war Marvin einverstanden.

 

Den Rest des Abends hing jeder auf einer Couch und quatschte sich den Mund fusselig. Sie saßen da und fühlten sich wohl, als hätten sie seit Jahren nichts anderes getan. Beide hatten sie eine Schwäche für Playstation-Rollenspiele (in Maßen), für Erdbeermarmelade (in Unmaßen) und für schräge Witze (maßlos).

Um ein Uhr waren sie so müde, dass sie am liebsten einen Flaschenzug für den ersten Stock geordert hätten. Steven war leicht angetrunken. Er schien die Alkoholmenge gut zu vertragen, die er heute Abend vernichtet hatte. Auch Marvin ging es gut - der Angstknoten im Magen hatte sich aufgelöst und war davongeschwebt.

Nur war er jetzt dermaßen locker und entspannt, dass ihm beinahe die Augen zufielen. Als würde auf jedem Augenlid ein dicker Teppich liegen. Der Stress des Tages saß ihm schwer in den Knochen. Im Gästezimmer (typisch: ein Bett, ein Schrank, sonst nix) zog er nur noch Hose und Socken aus, fiel auf die weiche Matratze und schlief kurz darauf ein.

I. 2. Nebel

Am nächsten Morgen schlappte Steven in die Küche zum Kaffeekochen und schob Aufbackbrötchen in den Ofen. Danach ging er die Treppe hoch, um nach seinem Überraschungsgast zu sehen.

Leise öffnete er die Tür. Der arme Kerl war nachts wie erschlagen die Treppe raufgeschlichen und sollte besser ausschlafen. Marvin lag auf dem Bauch, mit dem Gesicht zu ihm. Richtig süß sah er aus. Die fransigen, braunen Haare lagen teilweise über dem Gesicht, mit ein paar roten Reflexen darin vom Sonnenlicht, das durchs Fenster schien. Die Decke war ein Stück gerutscht, ein schlankes Bein darum gewickelt, der knackige Hintern kaum zugedeckt.

Bah, wo kommt das denn her, knackiger Hintern, bist du noch ganz dicht?, dachte er. Schnell zog Steven sich zurück, um nach den Brötchen zu sehen. Der Kaffee müsste mittlerweile auch durch sein.

Er hatte gerade den Tisch gedeckt und hob den Kopf, da stand Marvin im Türrahmen und beobachtete ihn verschlafen. „Hey, guten Morgen, wieder fit?“, begrüßte er seinen Gast.

„Geht so, bin nicht so der Morgenmensch“, muffelte Marvin zurück.

„Dann setz dich erst mal, Kaffee ist schon fertig. Und nach dem Frühstück könnten wir uns das letzte Spiel der Packers ansehen.“

„Der was?“

„Green Bay Packers. American Football. War zwar ein unwichtiges Spiel, aber ich lästere immer gerne über die Gegner. Außerdem soll ein 68-Yards-Pass dabei gewesen sein. Das macht wach.“ Steven grinste.

„Ja, gerne, aber ich muss noch mal in meine Wohnung. In den Klamotten kann ich heute Abend nicht mit, das heißt, falls du mich noch mitnehmen willst“, sagte Marvin und sah ihn fragend an.

„Klar kommst du mit. Ich stelle dir meine Buddies vor. Die werden dir schon ein Lachen ins Gesicht zaubern.“ Jörgxs, wie schnulzig, er war doch hier nicht auf Anmach-Tour.

Marvin fuhr sich mit der Hand durch die Haare und ließ sich müde auf den Stuhl fallen. „Wie sind sie denn so, deine Kumpels?“

„Verrückter Haufen, jeder auf seine Art ein Freak, aber in Ordnung. Du kannst dir heute Abend ja selbst ein Bild machen“, antwortete Steven lächelnd.

„Mach ich. Kriege ich jetzt `nen Kaffee?“

„Noch keine zehn Uhr und schon ungeduldig. Ich dachte, du frühstückst gerne in Ruhe.“

Marvin blinzelte ihn brummig an. „Schon, aber ohne Koffein bin ich nur optisch anwesend.“

Steven betrachtete ihn grinsend. Selbst wenn er müde war, sah Marvin noch nett aus.

 

*

 

Nach einer halben Stunde fühlte Marvin sich schon wacher. Während Steven die Sachen vom Tisch räumte, holte er seinen Rucksack aus dem Gästezimmer und griff sich die Jeansjacke vom Haken im Flur. Nach dem kurzen Weg zum Auto fuhren sie durch die Stadt und mit jedem Stück näher zu seiner Wohnung krampfte sich Marvins Hand mehr in die Jacke, die auf seinem Schoß lag.

Steven blickte ihn besorgt an. „Hey, keep cool, ich bin dabei und du brauchst doch bestimmt nur fünf Minuten.“

Ja sicher, aber Stevens Fahrstil war beängstigend und Marvin wollte noch nicht sterben. Außerdem könnte Angelo irgendwo warten und der Gedanke war auch nicht gerade beruhigend. Beim Aussteigen war er in Versuchung, ständig um sich zu schauen, aber das wäre dann doch zu albern gewesen. Mein Gott, er mutierte zum Weichei, bääh. Doch jetzt war die Fahrt vorbei und Steven war bei ihm. Der feste Klumpen in seinem Magen schrumpfte.

Steven machte sich wirklich gut als Retter und Bodyguard. War ja auch kein Wunder, bei diesem durchtrainierten Körper. Nur seine Augen huschten oft weg, als wollten sie sich nirgendwo länger aufhalten, so wie er selbst. Dass er jedes Jahr den Standort wechselte, wie er nebenbei erwähnt hatte, war merkwürdig. Wer zog schon freiwillig so oft um? Er hatte doch einen guten Job und offensichtlich auch Freunde hier.

Dass Stevens Haus aussah wie ein Notlager, machte es Marvin leichter, seine eigene Wohnung vorzuzeigen. Da er nicht mit dem goldenen Löffel im Mund groß geworden war, hatte er Ausbildung, Miete und Unterhalt mit Kellnern finanzieren müssen und das war noch nicht lange her. Dementsprechend „vornehm“ sah seine Unterkunft aus. Die Gegend war auch nicht die beste, aber dafür bezahlbar. Ein großes Zimmer, Küche und Bad reichten für ihn alleine.

„Komm rein, kostet dasselbe“, forderte er Steven scherzend auf.

Der sah sich neugierig um. „Ich habe nicht viel Zeug und du nicht viel Platz, hm?“

„Für eine Person geht das schon. Ich muss noch meine Studiengebühren abzahlen. Mein Gehalt ist nicht so üppig, aber der Job macht sich gut in meinem Lebenslauf … Und die Größe der Wohnung ist nicht wichtig. Ich kann überall Chaos verbreiten“, fügte Marvin feixend hinzu. „Dauert ein paar Minuten, bis ich meine Sachen zusammen habe. Du kannst dich ruhig setzen“, bot er an und zeigte auf ein Monstrum von Polstersessel.

„Danke, ich stehe lieber. Schicke Bilder hast du hier hängen. Ungewöhnlich“, bemerkte Steven.

„Alles nur Nachdrucke. Informatik ist eine ziemlich trockene Sache. Zum Ausgleich möchte ich abends was Schönes sehen. Manchmal fahre ich auch in die Stadt zum Kunstmuseum oder ich versuche, mich in der Kunstgalerie in eine Vernissage reinzuschleichen. Ohne Einladung muss man da kreativ sein“, sagte Marvin und lachte.

„Von Kunst verstehe ich nichts. Das hier sieht gut aus. Von wem ist das?“, fragte Steven.

„Das ist `Der Tiger´ von Franz Marc und die Meereswelle an der anderen Wand ist von einem bekannten Graffiti-Sprayer, „Cèst Bleu“ von SEAK“, erklärte Marvin und freute sich, dass Steven die Drucke gefielen.

Dessen Blick fiel auf das Bild, das über dem Bett hing: Zwei Männer, die sich innig küssten. Stevens Körperhaltung versteifte sich, wirkte gespannt, wie ein Pfeil auf einem Bogen. Etwas verkrampft fragte er: „Und das? Ein schwuler Comic-Held? Gibt es sowas?“

Puh, das war jetzt irgendwie peinlich. “Ja, das stammt aus einem Comic und heißt `Green Lantern Kiss´. Man will damit wohl eine neue Zielgruppe ansprechen. Ich weiß, Comics sind ein bisschen kindisch, aber ich mag es“.

Steven lachte. „Schon okay. Wenn´s dir gefällt.“

Es klang in Marvins Ohren künstlich, wahrscheinlich täuschte er sich. Mit der Angelo-Gefahr vor der Tür war er etwas neben der Spur, seine Konzentration nicht in Höchstform.

Nachdem er frische Klamotten gesucht und in den Rucksack gestopft hatte, machten sie sich wieder auf den Rückweg. Marvin stand der Schweiß auf der Stirn, während Steven aussah, als wolle er voller Freude in den Tod rasen. Wäre eine Schande bei dem schönen Profil. Diese blauen Wahnsinnsaugen glänzten, ein paar blonde Haare hatten sich aus dem Zopf gelöst und hingen ihm ins Gesicht. Selbst das winzige Muttermal unter dem rechten Auge und die kleine Narbe am Kinn passten dazu.

 

Zurück in Stevens Wohnzimmer saßen sie auf der Couch und verfolgten das Footballspiel, das Steven aufgenommen hatte. Von dieser Sportart hatte Marvin keine Ahnung, aber es war spannend. Und anregend – zwei Dutzend Kerle auf dem Feld, breite Schultern und unbändige Kraft.

Der eine hier auf der Couch gefiel ihm auch immer besser. Ein Jammer, dass der nicht in Marvins Team spielte. Wenn Steven vom Football erzählte, leuchteten seine schönen Augen, die kräftigen Hände wirbelten durch die Luft und er strahlte eine Energie aus, dass Marvin ganz heiß wurde. Das sollte er ganz schnell wieder vergessen. Ach Mist.

 

*

 

Steven hatte höllischen Spaß daran, Marvin die Regeln des American Football zu erklären. Für Anfänger waren die etwas kompliziert und nicht mit europäischem Fußball zu vergleichen. Immer wieder brachte Marvin die Positionen der Spieler durcheinander und sah dann so schön verlegen aus, die Nase gekräuselt, mit dem leicht schiefen Grübchen-Lächeln im Gesicht. Nachmittags bestellten sie beide Pizza Peperoni, wieder waren sie sich einig.

Das letzte Stück hatten sie noch in der Hand, da klingelte Stevens Telefon und ihm wurde übel. Das war der pünktliche Samstagmittag-Kontrollanruf. Er entschuldigte sich kurz, stand auf und meldete sich ergeben.

„Cooper.“

„Hello Steven, hier ist Dexter.“

„Hi, MG.“

„Nenn´ mich nicht MG!“ Wieso nicht, Mashine Gun passt doch.

„Ich bin Major General.“ Und ein alter Bastard.

„Ist es zu viel verlangt, die korrekte Anrede zu verwenden? Du solltest letzte Woche zurückrufen. Du hast wirklich keinen Funken Ehre im Leib. Ich habe dir einen Job bei der Army angeboten, damit du endlich auf die Füße kommst!“ Sicher, und wieder unter deine Fuchtel.

„Ich habe einen Job, Onkel Dexter.“

Ein verächtliches Fauchen zischte durch den Hörer. „Ha! Wachmann! Das ist lächerlich.“

„Es ist Security für gefährdete Personen. Ich bin kein Wachmann, der durch Lagerhallen schleicht.“

„Ich sag dir, was du bist. Du bist verantwortungslos wie dein Vater und flatterhaft wie deine Mutter. Dieses Flittchen hat dir nichts beigebracht und ich muss mich mit dir herumschlagen.“ Zwingt dich ja keiner.

„Ich hätte dir Vernunft einprügeln sollen, als du noch ein Kind warst.“ Versucht hast du es ja. Mit wachsender Begeisterung.

„Ich will nicht zur Army. Wie oft muss ich das noch sagen? Mir geht es hier gut.“

MG schnaubte ungehalten. „Gut ist relativ und du bist relativ dämlich, wenn du dieses Angebot nicht annimmst. Ich habe Kontakte, von denen träumst du nur. Mit meinen Beziehungen könntest du selbst jetzt noch was erreichen und mit deinem armseligen Leben was Anständiges anfangen.“ Und den Fußabtreter spielen, vielen Dank auch.

„Ich will nicht…“

„Mit dir kann man einfach nicht reden. Dir fehlt die Selbstbeherrschung, genau wie damals.“ Das dürfen wir natürlich nicht vergessen.

„Man muss sich im Griff haben. Man muss durchhalten. Susan war schon immer der Meinung, dass du nichts taugst.“ Ach ja, meine warmherzige Tante, wie lieb von ihr.

„So ein Leben ohne Ziel ist doch sinnlos. Wenn du nur mehr Disziplin hättest. Aber bei den Eltern war ja nichts anderes zu erwarten.“

Das Gezeter ging weiter, Steven schaltete geistig ab und wartete auf den letzten Satz. Ah, da war er.

„Ich lege jetzt auf. Meine Zeit ist zu kostbar für den Unsinn. Bye.“ Berühmte letzte Worte: Meine Zeit ist zu kostbar für den Unsinn. Sollte man vielleicht auf seinen Grabstein schreiben. Steven legte das Telefon weg, senkte den Kopf und rieb mit den Fingern über seine Schläfen. Die üblichen Samstagmittag-Anruf-Kopfschmerzen. Waberten wie Nebel durch sein Hirn. Ätzend.

 

*

 

Marvin war bedrückt - es war offensichtlich, dass Steven auf diesen Anruf gerne verzichtet hätte. Er sah angespannt aus, seine Augen getrübt, die Falten auf der Stirn tief eingegraben.

„Das war wohl nicht dein Lieblingsonkel, was?“, fragte Marvin vorsichtig.

„Nein, war er nicht. Leider habe ich keine anderen Onkel zur Auswahl“, antwortete Steven und sah verdrossen zum Telefon.

„Willst du darüber reden?“, bot Marvin an.

„Da gibt es nicht viel zu reden. Er hasst mich und hat einfach Freude daran, mich fertigzumachen“, sagte Steven und zuckte mit den Schultern.

Marvin war betroffen, suchte seinen Blick. „Kannst du ihm nicht aus dem Weg gehen?“

„Ja … nein … ach Shit.“ Steven setzte sich, zog ein Bein hoch und legte den Arm darauf.

Unruhig fuhr er sich mit der Hand durch die mittlerweile offenen Haare, bis sie völlig durcheinander waren. Sein Haargummi hatte schon längst aufgegeben. Er wirkte verloren, wie er da saß und um Worte rang.

„Ach, was soll´s, ist egal. Also, die Kurzfassung: Meine Mutter war Tänzerin in Las Vegas. Mein Vater verliebte sich und gab seine Karriere bei der Army auf. Als ich vier Jahre alt war, verunglückten sie auf einem Highway und mein Onkel hatte mich am Hals. Seine Frau und er hatten keine eigenen Kinder und versuchten, mir mit altbewährten Methoden Ordnung und Disziplin beizubringen. Hat nicht so ganz geklappt.“

„Das tut mir leid.“

„Schon okay, ist vorbei. Eine Zeit lang ging es ja. Ich war sogar Kadett auf der Military Academy West Point in New York, aber ich konnte mich dort nicht anpassen. Es gab … Schwierigkeiten …“. Stille. Stevens Blick war leer, woanders, Jahrhunderte entfernt.

Die Augen flackerten und ruckten wieder hoch. „Ich wurde zu meinem Onkel nach Deutschland zurückgeschickt. Als er wieder mal versetzt wurde, bin ich hiergeblieben. Er hofft immer noch, dass aus mir was Anständiges wird. Es ist ja nur ein Anruf, immer samstags. Er ist eben sehr zuverlässig und pflichtbewusst.“ Sarkasmus schwang in den Worten mit.

„Und ihr sprecht Deutsch miteinander?“, wunderte sich Marvin.

„Seit ich hier lebe, antworte ich ihm nicht mehr, wenn er englisch spricht. Das kann MG nicht ausstehen, obwohl er es ganz gut beherrscht, weil er hier so lange stationiert war.“ Steven lachte bitter auf.

Mitfühlend sah Marvin ihn an. „Das war wohl alles nicht so …“

„Nein“, unterbrach Steven ihn und stand auf. „Aber heute ist das anders und deswegen werden wir nachher schön einen draufmachen.“ Er goss Whiskey in sein Colaglas, streckte sich und nickte ihm zu. „Du solltest dich jetzt duschen und umziehen, damit wir loskönnen.“

„Okay, ich denke, in zwanzig Minuten bin ich fertig.“ Ratlos stand Marvin auf und ging nach oben. Als er zurückkam, stand Steven immer noch am gleichen Platz und starrte abwesend in sein Glas. Am liebsten hätte er ihn in den Arm genommen.

 

*

 

Als Steven hörte, dass Marvin die Treppe hinunterlief, zerrte er seine Gedanken rigoros aus der Vergangenheit zurück. Das Grübeln darüber war ohnehin sinnlos. Er hob den Kopf, drehte sich zu Marvin um und sagte betont fröhlich: „Hey, fertig? Dann los.“

Mit dem BMW und seinem Fahrstil dauerte die Fahrt nicht lange und kurz darauf betraten sie das „Charleston“, seine zweite Heimat, seit er in dieser Stadt wohnte. Das „Charleston“ war eine gemütliche Cocktailbar mit roten Polstersesseln und Petroleumlampen an den Wänden. Dazwischen hingen Schwarz-Weiß-Fotos aus den Zwanziger Jahren. In der Mitte des Raums befand sich eine kleine Tanzfläche, über die ab Mitternacht oft Trockeneisnebel schwappte. Die Bar hinter der Theke war gut sortiert - es gab fast nichts, das Helge nicht vorrätig hatte oder besorgen konnte. Er war ein ruhiger Typ mit unerschöpflichem Aspirin-Lager und offenem Ohr für jedes Problem, wie es sich für einen guten Barkeeper gehörte.

„Hey, Jungs, da kommt Stevie!“, schallte es ihnen entgegen. Er zog Marvin mit sich zur Bar.

„Hi, das ist Marvin, ein Freund von mir. Er braucht heute Abend was zum Lachen. Also gebt euch Mühe.“ Er grinste und nickte zur Bar. „Das ist Helge, Barkeeper und Besitzer.“

Steven wies auf den Rothaarigen. „Der Feuermelder hier ist Tobias.“ Es folgte ein Schlag auf Marvins Schulter, dass dieser beinahe umfiel. Steven konnte ihn gerade noch am Arm festhalten und am liebsten hätte er seine Hand da gelassen. Nur falls Tobias nochmal zuschlug.

„Hey Alter, alles fit im Schritt? Hehehe.“ Typisch, sensibel wie ein Mähdrescher und genauso laut. Außerdem hatte er den IQ eines Knäckebrots.

„Der Mann mit der geschmacklosen, grünen Brille ist Jannik.“ Dieser streckte Marvin die Hand entgegen und sagte: „Sei gegrüßt.“ Ach ja, Schlaumeier, Klugscheißer, Nerd und in jedem Zeitalter König der Nervensägen.

„Der daneben mit dem bissigen Gesicht ist Leon, sein Zwillingsbruder.“ Kalte Augen, miese Laune, zynische Grundeinstellung, er nickte Marvin kurz zu.

„Die junge Dame mit dem hinreißenden Lächeln heißt Frederike, genannt Freddy.“ Halbe Holländerin mit Vorliebe für Zweideutiges. Erwischte stets zielsicher die falschen Männer.

Sie reichte Marvin die Hand und grinste. „Aber Hallo, wochenlang hat Steven keine Frau angeschleppt, der alte Casanova, und jetzt bringt er dich mit!“ Wie so oft, folgte auf das Grinsen ein Kichern. „Du warst aber noch nie hier, oder?“

Leicht verwirrt schüttelte Marvin den Kopf. Kein Wunder, so viele Spinner auf einmal waren nicht leicht zu verkraften. Steven musste schmunzeln – ach ja, nicht zu vergessen er selbst, Herzensbrecher, Ex-Ami, Sammler von Wohnorten.

Wie lange waren sie schon befreundet? Ein Jahr? Es hatte sich eines Nachts einfach so ergeben. Sie waren die letzten Kandidaten an der Theke gewesen mit schmutzigen Witzen, viel Gelächter und noch mehr Alkohol, der hirnfressende Kater am Tag danach eine eindringliche Warnung vor Wiederholung. Steven hatte vier Aspirin genommen und gefühlte zwanzig Liter Kaffee getrunken, bis er abends wieder einigermaßen geradeaus sehen konnte.

Seitdem trafen sie sich jedes Wochenende hier, oft auch unter der Woche, meistens mittwochs, ohne Verabredung. War auch nicht nötig. Es waren sowieso fast immer alle da - eine zufällig vereinte Handvoll Gäste, jeder für sich ein bisschen anders als normale Leute.

Helge fragte freundlich: „Was willst du trinken? Der erste geht aufs Haus.“

„Iih, du schleimst schon wieder“, knurrte Leon.

Helge lehnte sich auf die Theke und konterte: „Haben die Kakerlaken Ausgang, dass du dich hier breitmachst?“

Steven seufzte innerlich, immer das Gleiche, keiner konnte den Mund halten. Leon nutzte jede Gelegenheit, Gift zu versprühen und Helge konnte sich rotzige Antworten leisten, schließlich gehörte ihm der Laden. Dass er Leon nicht schon längst rausgeschmissen hatte, lag vermutlich an Jannik, denn die Zwillinge traten nur im Doppelpack auf.

Marvin bestellte Cola, er selbst nahm einen Whiskey. Der Laden war schon gut gefüllt mit den für Samstag üblichen Besuchern: Außer den Stammgästen ein paar harmlose Touristen und Pärchen in den Separees auf den Sesseln. Auf der Tanzfläche tummelten sich hauptsächlich Testosteronschleudern, Schmierlappen und Mädels, die scheinbar nicht genug Geld für ausreichend Stoff auf dem Körper hatten. Also alles wie immer.

Sein Begleiter war der einzige Lichtblick. Stevens Chaotentruppe machte schlechte Witze bis zum Erbrechen und Marvin lachte, dass sein ganzes Gesicht strahlte. Ja, so gefiel er ihm schon viel besser als gestern mit dem gehetzten Blick in den Augen. Schöne Farbe. Tagsüber blaugrau, schienen sie in diesem Licht eher blau.

Marvins lebhafter Tanz mit Freddy ließ sogar Steven mit dem Fuß wippen, obwohl er sich zur Kategorie „Tanzbär“ zählte. Das sah bei weitem nicht so elegant aus wie bei Marvin. Und wie der mit seinen schlanken Händen auf der Theke den Weg zu seinem kleinen Heimatort beschrieb, war faszinierend. Die Finger malten Muster und formten Kreise für die Städte und Abzweigungen, als gäbe es eine Choreographie für Hände.

Oh Fuck! Das hier war Thekenholz, Marvin ein Mann und er selbst ein Volltrottel. Hatte er denn gar nichts dazugelernt? Damn it!

 

Stunden später hatte Steven genug Whiskey intus, um sein Hirn auf Notbetrieb zu schalten und Marvin freiwillig den Autoschlüssel in die Hand zu drücken. Ihre Finger berührten sich und in seiner Lunge prallten dicke Wolken aufeinander wie bei einem Gewitter. Auf seinen Armen kribbelten die Härchen.

Während der Fahrt betrachtete er Marvins Profil und nuschelte: „Hey Marvin, warn geiler Abenn. Solldn wir noh ma machn. Deine Augn ... Du glissäsd.“

„Die können noch ganz anders funkeln, wenn du dir beim nächsten Mal so die Hütte zusäufst.“ You got it. Aalllles klar. Recht hatter.

Zu Hause stolperte er aus dem Auto und schwankte auf die kleine Treppe zu.

„Halt, warte!“ Marvin legte sich Stevens Arm um die Schulter und schob seine Hand um dessen Taille. Fühlte sich schön an, so warm und roch so gut. Vor dem Haus brauchte er Minuten, um den Schlüssel zu finden, mit dem Marvin dann aufschloss. Er selbst hatte dreimal daneben gezielt. Elender Allohol. Kannich mehr denken.

 

*

 

Marvin hatte seine Last, Steven im Haus die Treppe hinaufzuschleppen. Im Schlafzimmer gab es ein großes Bett und einen Kleiderschrank, daneben einen Wäschekorb mit Sportklamotten. Mehr nicht, man musste ja die Stilrichtung beibehalten, nicht wahr?

Steven fiel wie ein nasser Sack auf die Bettdecke. Mann, der war aber auch schwer. Er brabbelte leise vor sich hin. Marvin verstand nur: „… Duty, Honor, Country … fucking hell …“.

Mühsam zog er Steven die Schuhe und die Jeans aus. Ohne Hilfe war das ganz schön anstrengend. Dann setzte sich Marvin auf die Bettkante und betrachtete ihn. Der verkrampfte Ausdruck im Gesicht wich einem kleinen Lächeln. Wie er da so lag, schien er viel jünger zu sein, keine Falten auf der Stirn und mit diesem leichten Lächeln in den Mundwinkeln. Das verschwand kurz darauf und der schwere Atem deutete auf Tiefschlaf.

Warum hatte er sich an der Bar nur so volllaufen lassen? Gestern war Marvin noch davon überzeugt gewesen, den Kerl wirft nichts um. Steven hatte Humor, war geistreich und mitreißend. Doch seine Kindheit war wohl problematisch - und da war noch etwas Anderes, Rätselhaftes. Es lag wie ein Schatten um ihn, wenn er sich unbeobachtet fühlte, so wie heute Mittag oder später an der Bar. Marvin konnte es nicht benennen, nicht greifen, aber er hatte das Gefühl, es gehörte zu Steven. Und es war nichts Gutes.

Steven hatte überall so schöne Konturen. Muskelstränge auf dem Rücken und ein beeindruckender Bizeps, kräftige Hände, blonde Haare, gerade Nase und diese unbeschreibliche Augenfarbe. Die Lider waren geschlossen, doch Marvin sah sie trotzdem vor sich. Er hätte gerne ein Bild davon. Leider fehlte ihm das Talent zum Malen.

Marvins Hand hob sich wie von alleine, unaufhaltsam, und er fuhr sachte mit dem Zeigefinger über die Schläfen, den Wangenknochen, den Kiefer mit der Narbe, den Hals hinunter über das Schlüsselbein bis zu den Armmuskeln. Er malte Kreise auf dem Bizeps, streichelte über die zarte Haut der Innenseite und wachte erst auf, als seine Hand in der anderen lag.

Oh Himmel, was machte er denn hier? Er durfte doch keinen wehrlosen Mann begrapschen. Das war nicht gut, gar nicht gut. So was machte man nicht. Außerdem fischte der hier auf der anderen Seite. Ein leiser Seufzer huschte Marvin über die Lippen.

I. 3. Nordwind

Am Tag darauf ging Marvin schnell duschen, zog sich an und checkte seine E-Mails. Das Handy hatte er gestern ausgeschaltet, sonst wäre es durch permanentes Angelo-Gesülze wahrscheinlich geschrottet und seine Ohren Matsch. Also auch Handy nachsehen. Mails, Handy, Mailbox vom Handy. Wie erwartet, jede Menge Angelo-Müll.

Seine Mutter hatte sich gemeldet und Grüße von Oma ausgerichtet. Eine SMS von seiner Schwester, dass sie sich ein Last-Minute-Angebot geschnappt hatten und ein paar Tage am Strand von Antalya herumlungern würden. Vielen Dank, das weiß ich auch schon.

Eine Mail von Hendrik mit einer Einladung zum Geburtstags-Herrenabend inklusive allgemeinem Besäufnis, natürlich nicht bei ihm zu Hause. Das musste Marvin sich noch gründlich überlegen. Und eine Mail von seinem überkorrekten Kollegen Wagner, ob er die neue Software schon geprüft hätte. Ja, hab ich, zweimal. Hab ich dir auch gesagt, dreimal.

In der Küche setzte er Kaffee auf, schob Brötchen in den Ofen und grübelte über eine Lösung für sein Problem. Das brachte Marvin nichts außer Kopfschmerzen und so saß er lieber mit geschlossenen Augen auf dem Stuhl und träumte von blauen Augen, einem mitreißenden Lachen und starken Armen, also von niemand Bestimmtem. Nein, natürlich nicht.

 

*

 

Als Steven um elf Uhr in die Küche schlurfte, sah er Marvin mit verschränkten Armen vor der Brust auf dem Stuhl mehr liegen als sitzen. Mit geschlossenen Augen und diesem typischen, leicht schiefen Lächeln im Gesicht. Unwiderstehlich. Steven konnte nicht anders – auch auf seine Lippen schlich sich ein Lächeln, obwohl in seinem Kopf ein Dampfhammer wütete.

„Gibt’s schon Kaffee? Oder willst du oben weiterschlafen?“, sprach er ihn an.

Marvin öffnete ein Auge und fixierte ihn. „Wie kann man nur so wach sein nach den Mengen, die du gestern in dich reingeschüttet hast. Du müsstest noch im Koma liegen.“

„Geht schon. Zwei Aspirin, eine Kanne Kaffee und ich bin wieder einsatzfähig.“

Steven goss sich Wasser in ein Glas, holte die Tabletten aus dem Schrank und sackte auf einen Stuhl. Marvin stand auf, deckte den Tisch und holte die Brötchen aus dem Ofen. Mit zwei Tassen Kaffee in den Händen sahen sie sich an und mussten plötzlich ohne Grund lachen.

„Aber Spaß hat es gemacht, oder?“, sagte Steven grinsend.

„Ja, deine Leute sind wirklich etwas speziell. Ich habe selten so gelacht und es war gut, den ganzen Mist mit Angelo mal vergessen zu können. Du hattest Recht.“ Marvin grinste zurück.

Steven verschränkte die Arme, zog eine Augenbraue hoch und sagte mit schnöseliger Stimme: „Ich habe immer recht. Befolge meine weisen Ratschläge und deine Welt ist perfekt.“ Es fiel ihm schwer, doch er machte ein absolut ernstes Gesicht.

„Wenn du nicht sofort diese ekelhafte Arroganz aus deinem Gesicht wischst, kriegst du keinen Kaffee mehr!“, motzte Marvin wenig überzeugend und konnte sich nur mühsam das Lachen verkneifen.

Stevens Schädel brummte wie ein Bienenstock, aber wenn Marvin lachte, musste er mitlachen. Das war unausweichlich, gar nicht anders möglich. Man musste ihn einfach gern haben. Am liebsten hätte er ihn jetzt geknuddelt. Damn, Ablenkung, ganz schnell.

„Bei einer Sache habe ich aber recht. Angriff ist die beste Verteidigung. Du musst das mit Angelo selbst angehen, damit das ein Ende hat. Du machst das auch nicht alleine, ich gehe mit dir, ja?“

Marvin runzelte die Stirn und entgegnete: „Das ist mein Problem. Ich will dich da nicht noch mehr mit hineinziehen.“

„Denk doch mal nach. Ich habe die passende Ausbildung für so was – Deeskalationstraining, Kampfsport und so weiter. Ich werde mit ihm fertig“, versicherte ihm Steven.

Grimmig verzog Marvin den Mund und schwieg.

„Ja ja, chill out. Natürlich bist du ein Mann und kein Schwächling. Das habe ich auch nicht so gemeint, aber es ist sinnvoller, wenn du ihm nicht alleine gegenübertrittst. Und wenn ich nur mitkomme, damit du einen Zeugen hast. Ich mache das gerne, glaub mir. Das ist mein Job, das kann ich am besten. Ich tu das fast jeden Tag für fremde Menschen, warum nicht für dich?“ Er sah förmlich, wie Marvin den Gedanken hin und her wälzte.

Dann rang dieser sich doch noch zu einer Antwort durch: „Okay, gut. Aber ich will nicht mit Angelo in seiner Wohnung sprechen. Ich will da nie wieder hin. Er arbeitet in einem Restaurant in der Innenstadt. Sonntags öffnen sie um siebzehn Uhr. Wenn wir ein paar Minuten früher da sind, könnten wir ihn erwischen, falls er heute Dienst hat.“

„Guter Plan, und vorher ziehen wir durch die Stadt und gehen ein Eis essen. Dann kannst du mir erzählen, was du sonst so machst, wenn du nicht gerade Besoffene nach Hause schleifst“, sagte Steven grinsend.

 

Sie schlenderten durch die Fußgängerzone, der Wind wurde kräftiger, und die grauen Wolken am Himmel schoben sich übereinander.

„Wird wohl noch Sturm geben“, grummelte Steven.

Offenbar war Marvin kalt, denn er schloss die Jeansjacke und bemerkte: „Ja, sieht ganz so aus. Wenn der Wind von Norden kommt, wird es echt eisig.“

„Was machst du eigentlich beruflich?“, erkundigte sich Steven.

Marvin lächelte und antwortete: „Ich habe an der Fachhochschule meinen Informatik-Abschluss gemacht und arbeite jetzt als Programmierer. Aber ich will mich weiter spezialisieren. Dafür fehlt mir noch eine Prüfung. Für die lerne ich abends.“

„Da siehst du deine Familie wohl nicht oft?“

„Nein, der kleine Ort, aus dem ich komme, ist nur schlecht zu erreichen. Da bin ich Stunden unterwegs und die Fahrtkosten bekomme ich leider auch nicht geschenkt. Meine Eltern müssen jeden Cent zweimal umdrehen. Deswegen kommen sie auch nicht so oft zu mir. Aber ich habe hier meine Schwester und zwei Freunde, mit denen ich mich ab und zu treffe. Nur nie bei ihnen zu Hause. Sie haben sich noch nicht geoutet und ihre Eltern mögen mich nicht“, sagte Marvin ungehalten und steckte die Hände in die Hosentaschen.

„Verstehe.“ Steven verstand wirklich. Für ihn war dieses Thema auch schwierig. „Hattest du Probleme mit deinen Eltern?“

Gut gelaunt antwortete Marvin: „Nein, zum Glück nicht. Mein Vater hatte ein paar Wochen Mühe, sich damit anzufreunden. Dann hat er mit den Zähnen geknirscht und mich gewarnt, bloß den Schlägern aus dem Weg zu gehen. Meine Mutter hat mich in den Arm genommen und gesagt, wenn es für dich richtig ist, ist es auch für mich in Ordnung. Meine Schwester ist drei Jahre älter als ich. Sie war damals achtzehn und auch noch in der Pubertät. Ihre Reaktion war ein `Oh, wie süß, hast du schon einen Freund?´. Jörgxs. Das hätte ich auch nicht gebraucht, aber so ist sie eben.“

Dann verzog er das Gesicht und fuhr fort: „Nur die Schule war unangenehm. Mich hat zwar niemand körperlich angegriffen, das Getuschel und die miesen Witze habe ich trotzdem gehört. Viele sind mir angewidert aus dem Weg gegangen. Für einen Fünfzehnjährigen, der gerade erst seine sexuelle Orientierung entdeckt hat, war das hart. Aber insgesamt habe ich Schwein gehabt. Freunden von mir ging es da schlechter. Bei manchen hat das familiäre Katastrophen ausgelöst, und einer hat seinen Job verloren. Dabei war Christian ein ganz schüchterner, netter Kerl, nicht tuntig oder so.“

Steven sah ihn von oben bis unten an und sagte: „Du siehst auch nicht so aus.“

Marvin zog eine Grimasse und erwiderte: „Schwul sein bedeutet nicht unbedingt, dass man nackt auf dem Christopher-Street-Day herumtanzt. Die meisten sind mehr oder weniger normal, zumindest die, die ich kenne. Und was heißt schon normal? Ich mag eben Männer, das ist alles.“

„Wann hast du das denn bemerkt?“, fragte Steven. Das interessierte ihn besonders.

„Als die anderen anfingen, über Mädchen zu reden, wie sie aussehen und wie man sie ins Bett bekommt, hat mich das überhaupt nicht gereizt. Ich konnte damit einfach nichts anfangen. Aber wenn ich einen bestimmten Jungen aus meiner Klasse zu lange angesehen habe, hatte ich schwitzige Hände und eine enge Hose. Nach ein paar Monaten habe ich mir dann selbst eingestehen müssen, dass das wohl ein eindeutiges Zeichen ist. Ich denke, sonst unterscheidet mich nichts von anderen Männern“, sagte Marvin und runzelte die Stirn. „Und was ich im Bett mache, geht niemanden was an.“

Steven steckte die Hände in die Jeans. Er fühlte sich unbehaglich und blickte ihn entschuldigend an: „Das war auch nicht persönlich gemeint. Ich war nur neugierig.“

Marvins Züge entspannten sich. „Das ist okay. Besser so, als wenn deine Gedanken in die falsche Richtung gehen.“

Zum Beispiel, was Marvin so im Bett machte. Blaugraue, glänzende Augen, dieses verdammt süße Lächeln, ein paar braune Haare zerzaust über der Stirn. Steven stockte der Atem. Oh fuck, er musste das Thema wechseln. Über eindeutige Zeichen wollte er nicht mehr reden. „Der Eissalon ist gleich da vorne. Die müssten jetzt auf haben.“