Das Monster des Prinzen - Savannah Lichtenwald - E-Book

Das Monster des Prinzen E-Book

Savannah Lichtenwald

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Beschreibung

"Ich bin nicht normal - jedenfalls nicht das, was andere unter `normal´ verstehen. Ich bin schwul. Das ist mir seit einem halben Jahr bewusst und seit ein paar Monaten weiß es leider auch David und damit der Rest der Schule. Darin sehe ich nur einen einzigen Vorteil. Früher hatte ich keine Ahnung, was dieses Monster dazu trieb, mich zu tyrannisieren. Rempeleien und Rippenstöße gab es von Anfang an, doch jetzt weiß ich wenigstens, warum er mich hasst." Philip und David – zwei Jugendliche, so verschieden wie Tag und Nacht ... wie Magneten, die sich abstoßen. Sechs Jahre vergehen, schmerzhafte Erfahrungen drängen sich den Männern auf und hinterlassen Spuren. Vergessen können sie einander jedoch nicht. Als sie sich wiedersehen, haben sich beide verändert. Philip führt ein Café und kämpft mit seinen Komplexen, während David einen ausgeprägten Selbsthass mit sich herumschleppt. Die Vergangenheit steht zwischen ihnen wie eine unsichtbare Mauer und in der konservativen Stadt, in der sie leben, gehören Mobbing und Verachtung immer noch zum Alltag. Doch vielleicht gibt es eine winzige Chance und das Undenkbare geschieht ... David und Philip – zwei Männer, die mehr gemeinsam haben, als sie vermuten ... wie Magneten, die einander anziehen.

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Savannah Lichtenwald

Das Monster des Prinzen

Gay Romance

„Und hängt nicht dunkle, unselige und grenzenlose Finsternis ewig zwischen deinen Hoffnungen und dem Himmel?“ Edgar Allan PoeBookRix GmbH & Co. KG80331 München

Monsterjagd

Philip

 

Noch fünf Minuten, bis es klingelt. Bis dahin muss ich mich entscheiden, wie jeden Tag. Entweder bin ich der erste, das gibt mir einen Vorsprung. Ich muss nur schnell sein und aus der Schule verschwinden, bevor sie mich erwischen. Oder ich trödele herum, bis der letzte von ihnen keine Lust mehr hat, zu warten.

Die Schulglocke ertönt und meine Entscheidung ist gefallen. Heute werde ich schnell sein. Schnell, leise und möglichst unauffällig. Meine Sachen habe ich schon in den verschlissenen Rucksack gepackt und ich schleiche nervös zwischen anderen, harmlosen Schülern aus dem Raum, eile den Flur entlang, die Treppe hinunter. Kein Blick zurück und bloß nicht stolpern. Das hält nur auf und macht auf mich aufmerksam. Raus aus der großen Tür des Gebäudes, über den Schulhof bis zum Tor – und jetzt rennen. Zickzack, Querstraße links, ein Stück geradeaus, nach rechts, kurz in einen Hauseingang drücken und vorsichtig um die Ecke sehen. Gut – keiner zu sehen, weiter, am Kiosk vorbei, den Park entlang hetzen. Langsam geht mir die Luft aus, aber es ist nicht mehr weit …

 

„Hast du´s wieder eilig, Arschficker?“, ertönt es von hinten mit anschließendem Gelächter.

Ich zucke zusammen, jetzt gilt es, in den Endspurt zu gehen. Das ist nicht leicht mit dem schweren Rucksack auf dem Rücken, aber es muss gehen, irgendwie, sonst bin ich geliefert.

„Vielleicht wartet ein Schwanz auf ihn. Dann muss er doch rennen.“

„Eben, das kriegt der Weber nicht oft zu sehen, so hässlich wie er ist.“

Für sie heiße ich nur „der Weber“, nie Philip. Das stört mich, auch wenn es albern ist. Für sie bin ich kein Mensch, nur „der doofe Weber“ - oder alles, was ihnen sonst noch an Beleidigungen einfällt. Der Ton, in dem sie sie aussprechen, klingt nach etwas Widerlichem, Ekelerregendem. Sie kotzen es aus, rotzen es mir vor die Füße, spucken es in meine Ohren. Von dort kriecht es in mich hinein und setzt sich fest. Ich mag meinen Vornamen nicht besonders, ebenso wenig wie alles andere an mir, und doch darf ich nie vergessen, wie ich heiße. Sie dürfen nicht gewinnen. Für sie mag ich grotesk und nichtswürdig sein, aber ich bin ein menschliches Wesen. Ich bin Philip.

„Bleib endlich stehen, du Hungerzwerg.“

„Hey, du schmierige Ratte, warte auf uns. Wir wollen doch nur spielen.“ Verächtliches Lachen aus vier Kehlen.

 

Fünfhundert Meter, links um die Ecke, mir rinnt der Schweiß unter das Hemd, nächste Straße rechts, geradeaus. Flüchtig nehme ich den vorwurfsvollen Blick von Passanten wahr, die ich versehentlich gestreift habe. Es tut mir leid, ich habe keine Wahl. Hinter mir höre ich das Geräusch mehrerer Füße, die beim Laufen näherkommen. Meine Lunge pfeift, die Bücher in der Tasche schlagen bei jedem Schritt auf die Knochen. Krampfhaft halte ich die Riemen in den Händen, damit mir das Ganze nicht herunterrutscht. Das würde mich mindestens zehn Meter Vorsprung kosten. Gleich, gleich, noch eine Ecke, Hauseingang, Klingeln, meine Finger zittern, der Summer vibriert, ich drücke die Tür auf und hinter mir schnell wieder zu.

Außer Atem gehe ich langsam die Treppe hinauf und in die Wohnung hinein. Gerettet, wieder ein Tag geschafft, heil hinter mich gebracht. My home is my castle. An dem Spruch ist etwas Wahres.

 

„Na, war´s schön in der Schule?“, begrüßt mich meine Mutter.

„Die anderen sind wieder hinter mir her gelaufen.“

„Die wollten sicher nur mit dir spielen.“

„Nein, die wollen mich fertigmachen.“

„Ach Schätzchen, so schlimm ist das doch bestimmt nicht. Du musst sie einfach ignorieren. Dann verlieren sie schnell den Spaß daran.“

„Aber sie verlieren den Spaß nicht, David schikaniert mich seit Monaten.“

„Wir werden dieses kleine Problem schon lösen und jetzt wasch dir die Hände, das Essen ist gleich fertig.“

 

Daran habe ich meine Zweifel, aber manchmal soll es ja Wunder geben. Ich könnte eines gebrauchen. Körperlich mache ich nicht viel her, bin kleiner und dünner als die anderen. Ich warte auf den versprochenen Wachstumsschub, den Jungs angeblich mit vierzehn bekommen. Meinen Vater kann ich nicht fragen. Seit der Scheidung lässt er sich nur alle paar Monate in dem Café blicken, das meiner Mutter gehört. Er ist eher der intellektuelle Typ. Mit Kindern kann er nichts anfangen, weiß nicht, über was er mit ihnen reden oder wie er mit ihnen umgehen soll.

Nach den Hausaufgaben vergrabe ich mich in meinen Büchern, träume mich weg in andere Zeiten, an andere Orte. Dort kann jeder ein Held sein und selbst dem hässlichsten, niedrigsten Wesen kann noch eine ehrenvolle Aufgabe zufallen. Wenn alles verloren scheint, kommt die Magie ins Spiel und verändert die Regeln, gibt jedem Hoffnung und eine Chance. Am Ende ist die Welt ein Stück besser geworden – ich darf nur nicht das Buch zuklappen und die Augen schließen.

Meine Alpträume suchen mich auch heute heim, wie in fast jeder Nacht. Ich renne oder falle, ohne jemals anzukommen, höre das Hecheln, Grunzen und Grölen der Monster. Um mich herum ein Endzeitszenario aus Geröll, Blut und zerstörten Häusern. Alles ist schwarz, grau, rot, gezackt, gesplittert, zermalmt. Schreien will ich und kann nicht. Meine Kehle ist wie zugeschnürt, bin kurz vor dem Ersticken, wache schweißgebadet auf.

 

Der nächste Morgen ist ein Morgen wie jeder andere. In der Küche steht schon mein Frühstück bereit, gesunde Kost, genau abgestimmt auf Kinder meines Alters. Eine ausgewogene Ernährung ist meiner Mutter sehr wichtig. Sie gibt sich viel Mühe damit, auch mit dem Pausenbrot. Ich hoffe, dass ich es heute essen kann, bevor es die anderen aus meinem Rucksack ziehen und darauf herumtrampeln. Meine Mutter hetzt durch die Wohnung, weil sie zur Arbeit muss und ich gehe mit Magenschmerzen los. Der Hinweg ist einfacher, da lassen sie mich in Ruhe, sind wahrscheinlich selbst noch müde. Nur direkt vor dem Schulhaus muss ich aufpassen. Ich sehe auf die Uhr. Die Sonne blendet mich, kann die Zahlen kaum erkennen. Zwei Minuten bis zum Unterrichtsbeginn, Punktlandung. Das ist gut. Zwei Stunden Galgenfrist bis zur ersten Pause.

Im Klassenraum stolpere ich über ein ausgestrecktes Bein. Es gehört einem von Davids Fans. Ich komme ins Straucheln, kann mich nur knapp am nächsten Tisch abfangen und knicke mir einen Finger dabei um. Mist, ich habe nicht aufgepasst. Das rächt sich umgehend.

 

„Och, das tut mir jetzt aber leid. Hat sich der süße Analpilot wehgetan?“, fragt der Kerl mit künstlich hoher Stimme. Vereinzelt höre ich Lacher im Raum und gehe schweigend zu meinem Platz. „Ist was durcheinandergeraten bei unserem kleinen Knochenhaufen?“ Nicht reagieren, das macht es nur schlimmer. Nicht reagieren. Ich bin Philip.

Die zweite Stunde ist um, die Klingel ertönt. Ich räume umständlich die Hefte in meinen Rucksack, hoffe, Zeit zu schinden - erfolglos, wie meistens.

„Beeilung, Philip. Die anderen sind schon draußen. Ich muss jetzt den Raum abschließen“, sagt mein Klassenlehrer zu mir.

 

Er ist ein strenger Mann mit festen Grundsätzen und vermutlich faschistischen Ansichten. So klingt er jedenfalls zwischen den Zeilen. Es ist irgendwie unehrenhaft, widerspricht all dem, was ich über die Welt so denke, aber er ist der Einzige, in dessen Nähe ich sicher bin. Bei ihm traut sich keiner einen falschen Ton, eine unbedachte Handlung. Dafür ertrage ich auch seinen Geruch, der mich an die Mottenkugeln meiner Oma erinnert.

Zögernd schleiche ich aus dem Klassenraum in den Flur. Meine Schritte hallen von den Wänden wider. Hier ist niemand mehr und ich darf mich hier ebenfalls nicht lange aufhalten. Von den Schülern wird verlangt, die Pausen draußen zu verbringen. Die Toilette ist keine Option. Dort gibt es keinen Hinterausgang und das Fenster ist vergittert.

Zweimal hat der Prinz mich dort schon erwischt. Beim ersten Mal habe ich einem anderen Jungen hinterhergesehen und er ist meinem Blick gefolgt. Der Prinz ist nicht dumm und hat sofort die richtigen Schlüsse gezogen. Seitdem ist mein schulisches Leben ein einziger Spießrutenlauf. Beim zweiten Mal hat er mir mithilfe von zweien seiner Gefolgsleute den Kopf in eine der Kloschüsseln gedrückt und ihn dann gegen den Deckel gerammt. Es war eklig, demütigend und meine Kopfschmerzen hielten sich hartnäckig bis zum nächsten Tag.

 

„Da kommt er ja, der Schwanzlutscher“, empfängt mich David auf dem Schulhof.

Lässig lehnt er an dem Geländer, das die betonierte Fläche begrenzt und kaut lächelnd auf einem Kaugummi herum. Seine allgegenwärtigen Anhänger stehen links und rechts von ihm und lachen pflichteifrig. Alles Schleimer, einer wie der andere, niedriges Gewürm ohne eigene Meinung. Eigentlich sind sie bedauernswert. Sie kriechen hinter David her, hängen an seinen Lippen und lechzen nach seiner Aufmerksamkeit, die er je nach Laune huldvoll gewährt oder verweigert. Damit hat er sich den Spitznamen „Prinz“ erworben.

In unserer Altersgruppe ist er hier tonangebend, sein Wort ist Gesetz, seine Meinung gefragt. Selbst die Schüler der Parallelklassen respektieren ihn oder wollen ihm zumindest nicht in die Quere kommen. Darum spricht außer den Lehrern niemand mit mir. Der Prinz wirkt bedrohlich, überheblich, sein Lächeln erinnert an eine Schlange. Er lächelt oft. Man weiß nie, was er in der nächsten Sekunde tut oder sagt. Das macht ihn unberechenbar und gefährlich für jemanden wie mich.

Ich darf nicht reagieren, den Kopf nicht drehen, ihn nicht ansehen. Also gehe ich in die entgegengesetzte Richtung und bemühe mich, dabei normal zu laufen, nicht zu rennen. Angst kann man auch am Gang erkennen. Sie wirkt anziehend auf die gierige Meute.

 

„Was ist, Weber? Keine Lust, mit uns abzuhängen?“ Zustimmendes Raunen.

„Vielleicht hängt bei der Schwuchtel ja gar nichts und sie hat zu was ganz anderem Lust. Jungs, bringt euch in Sicherheit.“ Und schon gackern sie los. Wieder ein gelungener Witz dieses Monsters. Ich bin Philip.

In der zweiten Pause habe ich Glück. Der Prinz und sein Hofstaat wurden vom Hausmeister verdonnert, zwei Kellerräume zu reinigen. Er hat sie erwischt, als sie ihre Kippen durchs Kellerfenster geworfen haben. Gedankenverloren knabbere ich an meinem Brot und blinzele ins Sonnenlicht. Das Leben könnte so schön sein, wenn ich normal wäre.

 

Ich bin nicht normal - jedenfalls nicht das, was andere unter „normal“ verstehen. Ich bin schwul. Das ist mir seit einem halben Jahr bewusst und seit ein paar Monaten weiß es leider auch David und damit der Rest der Schule. Darin sehe ich nur einen einzigen Vorteil. Früher hatte ich keine Ahnung, was dieses Monster dazu trieb, mich zu tyrannisieren. Rempeleien und Rippenstöße gab es von Anfang an, doch jetzt weiß ich wenigstens, warum er mich hasst.

Bald sind Ferien. Darauf freue ich mich wahnsinnig - sechs Wochen Frieden, keine Angst, kein Versteckenmüssen, keine Schweißausbrüche, keine Magenschmerzen. Nur die Alpträume werden mir erhalten bleiben. Leider muss ich noch zwei Wochen warten und jetzt im Moment erst mal zusehen, dass ich unbeschadet nach Hause komme.

 

„David, Philip, kommt ihr bitte zu mir?“, ruft die Vertrauenslehrerin der Schule uns entgegen, als wir nach Unterrichtsende aus dem Klassenraum in den Flur gehen.

Mir schwant Übles, mein Magen dreht sich um. Ich beiße mir auf die Zunge und in die Wangen, bis ich Blut schmecke.

Die Frau lächelt uns an und verkündet: „Philip, deine Mutter hat mich angerufen, dass ihr beiden nicht gut miteinander zurechtkommt. David, das ist nicht in Ordnung. Du weißt, dass wir uns hier alle mit Respekt behandeln müssen. Ich möchte, dass ihr euch die Hände gebt und Frieden schließt.“

 

Dieser Aufforderung müssen wir nachkommen, daran führt kein Weg vorbei. Sie spricht weiter, hält einen Vortrag über Fairness und den Auftrag der Schule. Hinter ihr zieht das Monster langsam zwei Finger über seine Kehle und grinst. Das ist mein Untergang. Ich bin erledigt. Er weiß es und ich weiß es. Die Vertrauenslehrerin verabschiedet sich lächelnd von uns und wünscht uns einen schönen Nachmittag. David schlendert davon, während ich in entgegengesetzter Richtung das Haus fluchtartig verlasse.

Ich habe mich wieder für die Express-Version entschieden und rase den üblichen Weg entlang. Hinter mir höre ich Geräusche von Turnschuhen, die in schneller Folge auf dem Pflaster aufkommen, spüre förmlich die Blicke im Rücken. Sie brennen im Genick. Ich muss Haken schlagen, eine Abkürzung durch den Hinterhof beim Bäcker nehmen, den Weg kenne ich.

Jetzt links um die Ecke, dann rechts, noch fünfzig Meter, dann kommt die gewundene Kellertreppe. Sie ist uneinsehbar, das ist günstig. Leider ist sie völlig verdreckt und der leckere Geruch von frischem Gebäck schafft es nicht bis hierher. Ich kauere am Boden zwischen Staub und Schmutz – alte Kaugummis, Zigarettenstummel, Haare, Federn, Spinnweben. Ich habe Zeit, mir alles anzusehen, auch die tote Ratte, die dort schon seit Wochen liegt. Über den langsamen Prozess ihres Verfalls könnte ich ein Referat halten. Schließlich komme ich in regelmäßigen Abständen hierher.

Fünfzehn Minuten sind vorbei. Mein linker Fuß schläft ein. Vorsichtig bewege ich ihn, bemühe mich, nicht über den Boden zu schaben und nicht mit den Schnallen des Rucksacks an der Wand hängenzubleiben. Das kleinste Geräusch könnte meine Verfolger aufmerksam machen. Vielleicht stehen sie oben und warten auf mich. Die flache Atmung beherrsche ich schon lange, kann auch Hustenreize unterdrücken und das Bedürfnis, mich zu übergeben, ist längst bezwungen.

Ich darf nicht aufgeben, egal, wie erniedrigend das alles ist. Wenn sie mich in die Finger kriegen, bin ich fällig. Dann kann ich froh sein, wenn es bei ein paar blauen Flecken und Spuckeresten auf den Schuhen bleibt. Dass mein Zirkel verschwunden ist, habe ich zu Hause noch nicht gebeichtet. Ich habe ihn nicht wiederfinden können, nachdem das Monster vor einer Woche den Inhalt meines Rucksacks aus dem Fenster gekippt hat. Bei der Gelegenheit kann ich meiner Mutter gleich die Jacke mit den zwei Rissen zum Nähen geben. Dann habe ich das Gemecker in einem Aufwasch erledigt.

Ob man wohl ein Mann wird, wenn man sich ständig zwischen Schmutz und Abfall verkriecht? Vielleicht wachse ich deswegen nicht, bleibe für immer klein und schwächlich, überflüssig wie der Dreckhaufen hier. Ich bin ein erbärmlicher Feigling – nein, weniger, ich bin ein Nichts.

Spätestens mit dem Schulabschluss wird es ein Ende haben. Dann kann ich das alles hinter mir lassen und ein Etwas werden. Möglicherweise sogar ein Jemand. Ich bin Philip.

Jetzt sind es fünfundzwanzig Minuten, das sollte reichen. Ich rappele mich hoch, strecke leise meine steifen Beine. Das Herz schlägt mir bis zum Hals, meine Hände sind feucht und an einer Schläfe läuft ein Schweißtropfen herunter. Meine Eingeweide haben sich verknotet, sind fest verzurrt. Ganz langsam schleiche ich die Treppe hinauf, traue mich kaum, zu atmen. Hoffentlich sind sie weg.

 

Prinzendämmerung

Zwei Jahre später

 

David

 

Da läuft er, der kleine Loser, über den Schulhof hinter das Gebäude zu seinem Lieblingsplatz. Wo das ist, weiß ich schon lange, habe ihn oft genug dort aufgestöbert. Dieser Wichser hat was Provokantes. Ich muss ihn nur ansehen und habe das Bedürfnis, ihn leiden zu lassen, die Angst in den Augen zu sehen, das Zittern der Hände zu beobachten. Ich weiß, dass er Schiss hat - sollte er auch haben. Ist halt blöd, wenn man schwul und mickrig ist.

Ich konnte den Kerl von Anfang an nicht leiden, seit wir gemeinsam in die fünfte Klasse kamen. Immer hatte er die besseren Noten, war Liebling der Lehrer, hat nie was falsch gemacht. Ich dagegen durfte mir daheim von meinem Vater die Prügel abholen, wenn ich wieder mal was versaut hatte. Meine Mutter hat sich schon lange zu einem anderen Mann verpisst. Mittlerweile bin ich sechzehn, größer und breiter als der Alte. Darum traut er sich nicht mehr, mich anzufassen, der versoffene Penner.

Unser Schulabschluss rückt näher. Ich bin nervös, unruhig, kann innerlich kaum stillsitzen. Nach außen hin gammele ich reglos auf den alten Stühlen herum. Noch vier Monate und ich kann hier abhauen, raus aus der Stadt, rein ins Leben. Ich habe die Schnauze voll von allem. Dann muss ich auch Philip nicht mehr ertragen, diesen dürren Streber in seinen altmodischen Klamotten und mit dem hässlichen Topfhaarschnitt.

Seit das neue Schuljahr begonnen hat, habe ich die Lust verloren, ihn zu nerven. Die Verfolgungsjagden langweilen mich, ist eh immer dasselbe. Meine Leute langweilen mich auch. Es geht mir auf den Sack, wie sie mir in den Arsch kriechen, mich hofieren, jedes Wort aufsaugen, das ich sage. Was ich will, wird gemacht, egal, wie schwachsinnig es ist. Würde der Prinz „Friss Scheiße“ rufen, wären alle sofort auf dem Weg zum nächsten Misthaufen.

Alle außer Philip. Er hat nie versucht, sich bei mir einzuschleimen, mir in vorauseilendem Gehorsam versichert, wie cool ich bin. Es sei denn, ich habe ihn mit Gewalt dazu gezwungen, ihn genötigt, „Du bist der Größte“ zu sagen. Das hat er dann auch gemacht, aber er tat es leise, in gleichermaßen furchtsamem wie verächtlichem Tonfall. Er ist immer geflüchtet, doch er hat sich nie vor mir gebeugt.

Natürlich hat er sich körperlich geduckt, ist meinem Blick ausgewichen, zum Beispiel, wenn wir ihn in den Mülleimer des Schulhofs gesetzt und mit unserem Frühstück beworfen haben. Dennoch hat er eine seltsame Würde ausgestrahlt, es mit eiserner Geduld ertragen. Ich habe keine Ahnung, wie er das macht. Jeder andere hätte geheult wie ein Schlosshund und nach seiner Mama gebrüllt. Von der Schwuchtel kam dagegen kein Ton. Ein paarmal hat er kaum hörbar „Ich bin Philip“ geflüstert, keine Ahnung, warum. Jeder weiß doch, wie die kleine Ratte heißt.

 

Ich muss aufs Klo, die Blase drückt. Das Bier, das wir jeden Tag heimlich hinter dem Schulhaus saufen, läuft immer so schnell durch. Im Toilettenraum steht Philip, der Idiot, und pinkelt. Natürlich sieht er mich nicht an. Er beachtet mich ebenso wenig wie ich ihn. Wir haben eine Art Waffenstillstand.

Aus dem Seitenblickwinkel betrachte ich ihn. Durch das kleine, vergitterte Fenster fällt Sonnenlicht und reflektiert in seinen rotbraunen Haaren. Die Frisur muss neu sein, sieht cooler aus als vorher. Andere Klamotten hat er auch und ein schwarzes Lederarmband an der zierlichen Hand, mit der er seinen schönen, beschnittenen Schwanz hält ...

… was denke ich denn da? Scheiße, ich starre einem Schwulen aufs Gemächt!

Philip ist fertig, zieht schweigend den Reißverschluss hoch und verschwindet nach draußen. Ich bin auch fertig und verpacke den kleinen Prinzen, während der große Prinz sich über seine Gedanken wundert. Ich hatte wohl zu wenig Schlaf in den letzten Wochen. Mein Schädel brummt. Das wird der Grund sein, warum mir derart krankes Zeug durch den Kopf geht.

 

Die Sache ist schnell vergessen - bis zum nächsten Sportunterricht zwei Wochen darauf. Vergangenen Donnerstag ist er ausgefallen, was uns Freistunden beschert hat. Heute haben wir weniger Glück, die blöde Lehrerschnepfe ist da und lässt uns in der miefigen Halle im Kreis rennen.

„Uuund alle umdrehen, jetzt zehn Runden gegen den Uhrzeigersinn“, ruft die Schnepfe und schüttelt ihr graues Haupthaar nach hinten.

Zufällig laufe ich hinter Philip, drehe angeödet meine Runden, habe Zeit, über seine veränderte Optik nachzudenken. Das Sport-Outfit ist ebenfalls neu, wie der Rest seiner Kleidung, und sitzt ausgesprochen eng am Körper.

Mein Blick wandert über die fliegenden Haare, die angewinkelten Arme, die schlanke Taille entlang bis zu den schwarzen Sportschuhen. In den Kniekehlen spannen sich bei jedem Schritt die Sehnen an, Philips Oberschenkelmuskeln arbeiten. Seine Haut fängt an, zu glänzen. Mein Blick ist plötzlich wie festgetackert an dem kleinen, runden Hintern, verfolgt fasziniert jede Bewegung, registriert jede Falte im Stoff der knappen Sporthose. In meiner eigenen wächst mein Ständer und mir bricht der Schweiß aus.

Fuck! Ich muss hier raus, reiße meinen Blick los und haste durch die Tür in den Umkleideraum, falle wie ein nasser Sack auf die alte Bank an der Wand. Ich lehne die Unterarme auf die Beine und lasse den Kopf nach unten hängen, betrachte die Kratzer und Kerben im dunklen Holz. Unzählige Schülergenerationen haben hier schon gesessen, ausgelaugt von der Sportstunde oder jubelnd über einen Sieg beim Fußball gegen die Schüler der Nachbarschule. Ob einer von ihnen hier ebenfalls mit einem stahlharten Schwanz in der Hose gesessen und darüber nachgedacht hat, ob er schwul sein könnte?

Ein paar müssen es gewesen sein. Philip weiß es ja auch seit über zwei Jahren. Oder noch länger? Wann ist ihm das klargeworden? Kurz bevor ich ihn erwischt habe, als er dem schwarzhaarigen Nerd aus der Parallelklasse auf den Arsch geglotzt hat? Oder wusste er es schon lange davor? Ich habe keine Ahnung von dem Thema. Für mich sind das Perverse, abartige Monster, nicht normal eben.

Wenn ich jetzt hier sitze, geil geworden vom Anblick auf die Rückseite eines Jungen, bin ich dann auch eine Schwuchtel? Ein Perverser? Das kann nicht sein. Die ficken keine Mädchen. Ich schon. Während ich darüber nachdenke, was ich bin, wird meine Härte wieder weich. Vielleicht habe ich Glück und das war nur ein Zufall, eine kleine Verirrung in der Pubertät. Soll ja vorkommen. Und wenn nicht? Dann habe ich gelitten. Scheiße.

 

„Ist alles okay?“, höre ich leise Philip fragen. Was will der hier? Sich an meinem Unglück weiden? Oder hat er einen Riecher für Schwule und ist jetzt heiß auf mich? Wohl kaum. Soweit ich gehört habe, rammeln die zwar alles, was aussieht wie ein Mann, aber selbst diese Typen werden sich wohl keinem an den Hals werfen, der sie jahrelang verarscht hat.

Ich strecke mich und sehe ihm ins Gesicht. Blaue Augen blicken besorgt zurück. Den soll einer verstehen. Ist mir egal, verschwinden soll er, sich in Luft auflösen. „Ja. Lass mich in Ruhe, Philip, und verpiss dich einfach, okay?“

Wie festgewachsen steht er da, überlegt wahrscheinlich, was er jetzt sagen soll.

„Sicher?“, hakt er nach und sieht mich mit einem sonderbaren, unsicheren Ausdruck in den Augen an.

„Philip, mach´n Abgang“, antworte ich genervt.

 

Er hebt eine Augenbraue, zuckt dann mit den Schultern und dreht sich zum Spind um. Innerhalb weniger Sekunden hat er nur noch den Slip an und ich wieder einen Ständer. Mein Puls erhöht sich. Ich lehne mich mit dem Rücken an die Wand, verkreuze die Hände über meiner Körpermitte und senke die Augenlider. Sieht lässig und entspannt aus, dient allerdings einem bestimmten Zweck. Welcher Art mein Problem ist, muss der Blindgänger nicht wissen.

Während Philip eine halbe Ewigkeit braucht, um die verdammte Jeans zu schließen, ballen sich meine Hände zu Fäusten. Warum zittern eigentlich seine Finger? Ich habe ihm doch nichts getan – außer in meiner Scheißfantasie. Endlich hat er sich fertig umgezogen, wirft sich den Rucksack über die Schulter und geht wortlos aus dem Raum. Keine zwei Minuten später füllt der Rest unserer Klasse die Umkleidekabine, quasselt, lärmt, lacht – während ich am liebsten kotzen würde.

 

In den nächsten Wochen erwische ich mich immer wieder dabei, wie ich Phil anstarre, wenn er es nicht merkt. Ja, im Geiste nenne ich ihn Phil. Das tut sonst niemand, wie überhaupt niemand mit ihm spricht außer den Lehrern. Natürlich rede auch ich nicht mit ihm, das wäre zu auffällig. Außerdem wüsste ich nicht, was ich sagen sollte - „Hey Schwuchtel. Ich überlege gerade, ob ich selber schwul bin. Kannst du mir ein paar Fragen beantworten?“ Fuck!

Das Ganze ist mir unheimlich. Ich verstehe das alles nicht. Schwule fand ich immer widerlich, dachte „Warum wollen die nicht normal sein?“. Jetzt passiert es mir ab und zu, dass ich vor einer geilen Schnecke stehen und in meiner Jeans regt sich nichts. Am letzten Wochenende war ich auf einer Party und habe eine von den Schlampen angequatscht, die auf jedem Event rumhängen – und dann stehe ich eine Stunde später auf dem Klo und kriege keinen hoch. Scheiße, war das peinlich. Das Miststück hat sich halb totgelacht. Hab mich dann mit den Alkoholmengen rausgeredet, die ich angeblich schon drin hätte.

Vorhin nach der Schule habe ich mir ein Pornoheft gekauft, eines mit Männern. Bin extra ans andere Ende der Stadt gefahren, damit mich keiner dabei sieht. Man weiß ja nie, wie der Teufel Zufall zuschlägt. Im Internet kann ich nicht nach Antworten suchen, weil mein Alter kein Geld für einen Computer herausrückt. Mein Handy ist antik, damit komme ich leider auch nicht rein. Dass ich mir kein neues leisten kann, weiß keiner. Ich behaupte immer, dass ich keine Lust auf ständiges Gelaber und Gesimse hätte. Meine Freunde nehmen die Ausrede hin. Keiner hat es je gewagt, nachzufragen.

Ich sitze auf dem Bett, sehe mir Fotos von nackten Männern an und merke, wie mich das anmacht. Ein leiser Hauch von Panik beschleicht mich. Ich lasse mich nach hinten fallen, stelle mir heiße Weiber vor und versuche, mir einen runterzuholen. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit und funktioniert nicht halb so gut wie sonst. Wenn das so weitergeht, bin ich am Arsch. Davon darf niemand erfahren. Das Heft mit den Kerlen zerreiße ich in kleine Stücke und spüle es im Klo runter.

Noch sechs Wochen bis zu den Sommerferien. Dann ist der Schulmist erledigt und ich kann endlich abhauen. Einen Ausbildungsplatz bekomme ich mit meinen Noten sowieso nicht und jobben kann ich woanders genauso gut oder schlecht wie hier. Ans Meer würde ich gerne fahren, das habe ich noch nie gesehen. Außerdem bekommt man in Holland wahrscheinlich leichter Speed und das ganze andere Zeug als bei uns. Und die Frauen sollen auch heißer sein. Ja, das mache ich. Das ist genau die Kur, die ich brauche.

 

Am nächsten Morgen stehe ich vor meinem Spind und überlege, welches Fach ich in der ersten Stunde habe. So früh am Tag kann ich noch nicht klar denken. Abends ist Vollrausch angesagt, morgens Viertelrausch. Phil kommt auf mich zu, sein Blechkasten ist zwei Meter weiter. Früher habe ich hier manchmal auf ihn gewartet, nach der großen Pause. Ich lehne mich an die schmale Tür und quatsche ihn an. Keine Ahnung, was mich dazu treibt.

„Hey, Phil, was geht? Schon einen Stecher gefunden?“, sage ich grinsend und beobachte, wie er blass wird. Leider verschafft mir das nicht die gleiche Befriedigung wie früher.

„Nein“, antwortet Phil leise und öffnet seinen Schrank.

„Armer, kleiner Loser. Kann eben nicht jeder so cool sein wie ich“, erwidere ich boshaft.

Phil sieht mich an und denkt. Unglaublich, diesem Kerl kann man beim Denken zusehen. Er hat ein absolut ehrliches, offenes Gesicht, jede Regung sagt etwas aus und auch in seinen blauen Augen kann man erkennen, was in ihm vorgeht. Das ist zu viel für mich.

„Was starrst du so? Willst du mich ficken oder was?“, frage ich rotzig.

„Nein, das nicht“, entgegnet Phil unerwartet. Es klingt geheimnisvoll, irgendwie traurig.

„Was dann?“, hake ich nach … Was zur Hölle rede ich da? Ich frage Phil, was er mit mir tun will? Bin ich noch zu retten? „Vergiss es. Hab jetzt keinen Bock auf deine Scheiße“, sage ich und hoffe, dass sich das Gespräch damit erledigt hat. „Man sieht sich.“

Ich klopfe mit den Knöcheln zweimal auf meinen Spind und gehe zügig zum Klassenzimmer. Dabei halte ich meinen Rucksack vor mir fest. Es sieht etwas albern aus, ist jedoch besser, als dass jemand meine pralle Erektion bemerkt, die sich gerade eben entwickelt hat.

 

Während des Unterrichts habe ich Schwierigkeiten, an Phil vorbeizusehen. Ständig rutschen meine Augen in seine Richtung und mein Hirn produziert wirre Gedanken. Ich muss hier weg, ganz weit weg, sonst drehe ich durch. Hat es gerade geklingelt? Ja, hat es. Ich bin der Letzte in der Klasse, der das zur Kenntnis nimmt. Geistig bin ich offensichtlich schon abgereist.

Langsam schleiche ich in den Flur und zu den Schränken. Dort liegt etwas auf dem Boden, ein kleines Foto. Neugierig hebe ich es auf, sehe Phil darauf. Es muss ein neueres Bild sein, erkennbar an Frisur und Shirt. Er lächelt. Ich lächele zurück, kann es nicht verhindern und könnte mich selbst dafür ohrfeigen. Das Foto stecke ich ein. Warum, weiß ich selbst nicht, aber auf dem dreckigen Fußboden sollte es nicht liegenbleiben.

Es klingelt schon wieder. Wie lange habe ich jetzt hier herumgestanden? Hastig greife ich nach meinem Zeug und eile zum nächsten Unterricht. Hoffentlich hat mich niemand gesehen, als ich Phils Foto angestarrt habe. Von meinen Fans habe ich mich in den letzten Wochen zwar etwas zurückgezogen, dennoch will ich meinen Ruf nicht komplett ruinieren. Ich muss hier weg! Dringend!

 

Des Ungeheuers Wandlung

Philip

 

Hinter dem Schulgebäude ist mein Lieblingsplatz. Die meisten Schüler halten sich vor dem Haus auf. Ich habe nicht gerne so viele Leute um mich herum. Davon bekomme ich Platzangst. Psychologisch betrachtet ist das die Angst vor großen Plätzen und Räumen. Doch im allgemeinen Sprachgebrauch ist damit die Angst vor Enge, Eingeschlossensein gemeint. Das trifft es in meinem Fall.

Außerdem zieht es vorne wie Hechtsuppe. Hinter dem Haus ist es ruhiger und an sonnigen Tagen heller. Im Herbst duftet es nach den Äpfeln, die an den Apfelbäumen hinter dem Schulzaun hängen und man hat hier einen wunderbaren Blick in die Weite, auf die Felder bis hin zu den Hügeln am Horizont, weil die Schule am Ortsrand steht.

Der Prinz ist stiller geworden. Seit Anfang des Schuljahres beachtet er mich nicht mehr, sieht konsequent an mir vorbei. Da sein Hofstaat sich in allem an ihm orientiert, ignorieren sie mich ebenfalls. Wie oft habe ich mir früher gewünscht, dass jemand ganz normal mit mir spricht, eine schlichte Unterhaltung, ein Lächeln herbeigesehnt. Jedes Thema wäre mir willkommen gewesen. Ich hätte mich auch über die Verbreitung von Gänseblümchen in Skandinavien unterhalten oder über die Trikotfarben der verschiedenen Bundesligavereine, obwohl mich weder Botanik noch Fußball interessieren. Doch da war nichts. Kein freundliches Wort, kein Lächeln, nirgends.

Ich bin heilfroh, dass David mich wie Luft behandelt. Die Sticheleien haben aufgehört und niemand stellt mir mehr ein Bein oder rammt mir den Ellbogen in die Rippen, wenn die Lehrer wegsehen. Keiner schlägt mir ein Buch auf den Kopf oder wirft meine Sachen zum Fenster hinaus. Das macht alles bedeutend leichter. Auf dem Schulweg kann ich mir Zeit lassen und ab und zu die Schaufenster der Geschäfte betrachten. Den gehetzten Blick über die Schulter habe ich abgelegt.

Bis zum Abschluss sind es nur noch wenige Monate. Ohne tägliche Panik und Magenschmerzen werde ich die Prüfungen wahrscheinlich mit recht guten Noten bestehen und kann die Ausbildung zum Restaurantfachmann im Café meiner Mutter absolvieren. In einem Teil des Raumes hat sie eine Ecke für allerlei Schnickschnack eingerichtet, die sich großer Beliebtheit erfreut. Manchmal staune ich, für welchen Nippes die Leute sich begeistern können. Wenn ich eine eigene Wohnung hätte, würden dort nur Bücherregale stehen und Polstermöbel.

Vermutlich ist mein neues, entspannteres Leben auch der Grund dafür, dass ich mich öfter nach anderen Jungs umdrehe. Seit die Angst zum größten Teil ausgezogen ist, sind in meinem Kopf und in meinem Herz Kapazitäten freigeworden. Ich hätte gerne einen Freund, mit dem ich ins Kino gehen könnte oder einen Abend auf der Couch verquatschen. Oder einfach nur in jemandes Arm liegen, schweigend Musik hören und später vom Sofa zum Bett wandern, um dort Dinge zu tun, von denen ich bisher nur gelesen habe. Fantasien hätte ich genug dafür. Leider lebe ich in einer konservativ geprägten Kleinstadt und soweit ich weiß, bin ich der einzige Schwule in meiner Altersgruppe. So bleiben mir nur meine Gedanken und Wunschträume. Ist es eigentlich normal, sich geistig ständig mit sich selbst zu unterhalten? Noch mehr Unnormales an mir kann ich echt nicht gebrauchen.