ATLAN Marasin 2: Tschirque, der Kreuzwächter - Achim Mehnert - E-Book

ATLAN Marasin 2: Tschirque, der Kreuzwächter E-Book

Achim Mehnert

0,0

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zweiter Band der Marasin-Trilogie

Tschirque, der Kreuzwächter

von Achim Mehnert

Kleines Who is Who

Atlan – der Lordadmiral der USO findet sich auf einer nie gesehenen Wunderwelt wieder

Fagamaltas – der Paspa pendelt zwischen Kneipe und Tempel

Farfink – der Sektenführer wartet auf die Rückkehr der Leuchtenden Erlöser

Galafarm – der wissenschaftliche Rat von Tretlok verleiht den Illochim neue Gesichter

Githamainen, Thopoclarc, Methiklan, Dathakalaynen – die Doviate schwingen sich zu Herrschern auf

Hurrinka – die Hohrugk-Kuh wartet in der Verbannung auf den Tag der Befreiung

Juristhan – eine Ödwelt hält für den Raumfahrer eine Überraschung bereit

Karainis – der störrische Hohrugk-Züchter kuscht nicht vor seinem Herrchen

Karscht – der Wexlot liefert Antworten und sorgt für Verwirrung

Koschkromen – Juristhans Führungsoffizier macht einen unfreiwilligen Sprung

Leutnant Dart Hulos – der Waffeningenieur des Thunderbolt-Teams trifft eigene Entscheidungen

Lop – Tschirques Vertrauter entpuppt sich als Ränkeschmied

Major Amos Rigeler, Captain Cool Aracan, Captain Mirus Tyn und Oberleutnant Drof Retekin – die Siganesen sind Paradebeispiele für USO-Disziplin

Major Harl Dephin – der Kommandant der Thunderbolts wahrt stets die Form

Maudi-Haup Maon – ein kranker Kalfater-Junge liebt Geschichten über alles

Parjasthina – der Doviat führt die Illochim in eine neue Zeit

Schofarth – der Illochim-Kommandant trifft auf Widerstand

Shapda-Shapda Maon – die Flößerin erzählt eine Geschichte aus der Vergangenheit

Shinchen – der oberste Baumeister der Washiden fällt in Ungnade

Trilith Okt – das Schemawesen sucht seine Schöpfer

Tschirque – ein Tunneleinsturz raubt dem Kreuzwächter von Avidarn mehr als nur den Appetit

Zintob –

Kapitel 1Atlan

Die Worte des Hohrugk-Züchters Innis verwehten und blieben hinter mir zurück. In der nachfolgenden Stille war ich nicht sicher, sie wirklich gehört zu haben. Ich vernahm keinen Laut außer jenen, die mein Herzschlag in dieser absoluten Stille produzierte. Der Sog, der an meinem Schutzanzug und an jeder Faser meines Körpers zerrte, verriet mir, dass ich transportiert wurde, fort von Charastinte und hin nach Marasin. Ohne ihn hätte ich das Gefühl gehabt, bewegungslos in einem rotierenden Schlund aus Schwärze zu hängen.

Mein Körper kam mir tonnenschwer vor und wie der des Paladin aus Super-Atronital-Compositum gefertigt. Aus den Augenwinkeln sah ich den Giganten, in dem die Thunderbolts steckten. Er schwebte in meiner unmittelbaren Nähe, gelenkt von den gleichen unsichtbaren Kräften, die auch mich zur Untätigkeit verdammten. Dabei hätte ich während dieser Reise, auf die wir durch die Hohrugk-Kuh Jamanastan, durch diese Abstrahlstation eines organischen Transmittersystems, geschickt worden waren, auch bei uneingeschränkter Bewegungsfreiheit nichts unternehmen können. Das Medium, durch das wir glitten, war mir so unbekannt wie die Technologie, die den Transport von einer Galaxis in eine andere bewerkstelligte.

Nicht unbedingt in eine Galaxis, in ein Zwischenreich, erinnerte mich der Extrasinn an den Wissensschub, der von Innis auf mich übergeschwappt war. In die Domäne der Illochim, in ihre Heimat.

Der Einwurf meines Logiksektors war berechtigt. Ein Zwischenreich hatte der Züchter Marasin genannt, aus dem die Illochim vor vielen tausend Jahren verbannt worden waren. Marasin musste nicht zwangsläufig etwas mit einer Sterneninsel zu tun haben, wie ich sie mir unter dem Begriff Galaxis vorstellte.

Ich versuchte Trilith Okt zu lokalisieren, die bei unserem unfreiwilligen Aufbruch unmittelbar neben mir aufgetaucht war. Ich entdeckte sie nicht. Entweder schwebte sie in meinem Rücken oder hinter mir. Die Transportrichtung, der ich unterworfen war, erkannte ich an der Vektorierung des Ziehens und Zerrens an meinem Körper. Ich wollte mich rühren, um Ausschau nach dem Schemawesen zu halten, doch es gelang mir nicht. Ich war zu keiner Regung fähig, nicht einmal den Kopf konnte ich drehen. Unter Aufbietung sämtlicher Kräfte schaffte ich es zumindest, die Lippen zu bewegen. Zitternd formten sie stumme Worte, die auszusprechen mir unmöglich war.

Es war erstaunlich, dass ich überhaupt zu einer Wahrnehmung und zu klaren Gedanken fähig war. Die Transmitter, die wir benutzten, bewirkten eine räumliche Versetzung in Nullzeit. Das Gleiche galt für die von Mutanten durchgeführten Teleportationen. Bedeutete mein Erlebenszustand, dass dem Abstrahlvorgang durch eine Hohrugk-Kuh eine dem Linearflug vergleichbare Reise folgte, die eine für den Passagier messbare Zeitspanne in Anspruch nahm? Die Vorstellung hatte etwas Beunruhigendes an sich, da ich nicht wusste, wie viel Zeit außerhalb des Transporttunnels verging.

Meine Sorge endete, als sich übergangslos die Umgebung änderte. Die Schwärze des rotierenden Wirbels wich einer anderen, weniger intensiven Dunkelheit, die in der Ferne von Lichtstrahlen durchbrochen wurde. Ich stand auf meinen Beinen und konnte mich wieder bewegen. Probehalber streckte ich meine Gliedmaßen. Bis auf eine Schwäche, die vermutlich auf den Durchgang zurückzuführen war, war alles in Ordnung.

»Scheint so, als hätten wir unser Ziel erreicht«, drang schauderhaftes Interkosmo an meine Ohren.

Ich drehte mich um und sah in Trilith Okts wässrige Augen, die selbst im herrschenden Zwielicht hellrot leuchteten. Ich war erleichtert, das Schemawesen, neben dem der vier Meter große Paladin aufragte, vor mir zu sehen. In den hinter mir liegenden Jahrtausenden hatte ich zahlreiche Transmitter der unterschiedlichsten Völker benutzt, und diese Art des Reisens war für mich zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Dennoch blieb bei jedem fremden System ein Restrisiko, das sich nicht ausschließen ließ. Die Liste vorstellbarer Unfälle war lang, und ebenfalls war nicht auszuschließen, dass auf der Strecke ein Passagier auf Nimmerwiedersehen verloren ging.

»Offenbar«, sagte ich. »Wie fühlst du dich?«

»Blendend«, antwortete Trilith. »Du wirst es nicht glauben, aber meine Kopfschmerzen sind weg.«

»Sie sind einfach so verschwunden, nachdem du dich seit geraumer Zeit ohne Unterlass damit geplagt hast?«

Trilith nickte. Das Düsterlicht verlieh ihrem mit zahlreichen Muttermalen gesprenkelten Gesicht, in das die vorderen Ausläufer des um ihren Hinterkopf gespannten Knochenwulstes ragten, einen unheimlichen Ausdruck. »Ich spüre keine Nachwirkungen. Die Kopfschmerzen sind wohl auf Charastinte geblieben.«

»Die Passage hat dich davon befreit«, sagte ich verwundert, während ich mich umschaute. Wallender Nebel bedeckte den Boden und erhob sich als Schlieren bis in mehrere Meter Höhe. Inmitten der vom sanften Wind hin- und hergetriebenen Schwaden stand der Paladin regungslos wie ein Mahnmal seiner selbst.

»Major«, wandte ich mich an Harl Dephin, »wie geht es Ihnen und Ihren Männern?«

»Uns ist der Durchgang schlechter bekommen als Miss Okt, Sir.« Die Stimme des siganesischen USO-Spezialisten, der den Kampfroboter mittels SERT-Haube steuerte und das Thunderbolt-Team kommandierte, drang aus den Außenlautsprechern des Spezialroboters, der von einem groß gewachsenen Haluter nicht zu unterscheiden war. »Wir fühlen uns entkräftet, dadurch aber keineswegs in unserer Leistungsfähigkeit beeinträchtigt.«

»Ist der Paladin uneingeschränkt einsatzfähig?«

»Wir checken die Systeme.« Harl Dephin klang müder als sonst. »Eine erste Diagnose ergibt keine Schwierigkeiten.«

»Gut, Major.«

Ich verzichtete darauf, Dephin Anweisung zu geben, mit den Messungen zu beginnen. Die Thunderbolts waren seit beinahe 700 Jahren aufeinander eingespielt und wussten, was sie zu tun hatten. Der Kräfteverlust, den die Versetzung an diesen Ort mit sich brachte, würde ihrem Pflichtbewusstsein keinen Abbruch tun. Dephin war in der Lage, den Paladin im Alleingang zu steuern. Die anderen fünf Siganesen, Dart Hulos, Cool Aracan, Amos Rigeler, Mirus Tyn und Drof Retekin, konnten abwechselnd eine Auszeit nehmen, um wieder zu Kräften zu kommen, doch sie würden diese Option nicht ergreifen. Sogar für USO-Verhältnisse stellten die Spezialisten aus dem Sonnensystem von Gladors Stern ein außergewöhnliches Musterbeispiel an Disziplin und Durchhaltevermögen dar.

»Hast du mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen wie deine Zwergenschar?«, fragte Trilith.

Das hatte ich in der Tat. Ich spürte der körperlichen Schwäche nach, die sich in meinem Inneren deutlich bemerkbar machte. »Mein Zellaktivator kompensiert den Kräfteverlust.«

»Ich sehe dir an, dass das im Augenblick nicht zutrifft. Ich kenne deine Mimik zur Genüge, Arkonide.« Das Schemawesen machte eine wegwerfende Handbewegung. »Und ich kenne deine Zähigkeit. Du weißt so gut wie ich, dass wir keine Zeit für eine Rast haben.«

»Die ziehe ich nicht in Erwägung.« Ich ärgerte mich über Triliths Vorhaltung, obwohl ich mit ihrer direkten und häufig brüskierenden Art vertraut war.

»Was also hast du vor?«

»Zunächst machen wir uns mit den hiesigen Verhältnissen vertraut. Wir müssen herausfinden, wohin es uns verschlagen hat.«

»Lupenchoi muss gehalten werden«, zitierte die Psi-Kämpferin Innis. »Da die Passage uns hierher versetzt hat, können wir davon ausgehen, dass es sich bei dieser Welt um Lupenchoi handelt.«

Dessen war ich mir nicht so sicher. Vielleicht war es dem Hohrugk-Züchter nicht möglich gewesen, uns auf direktem Weg nach Lupenchoi zu befördern, und wir waren auf einer Zwischenstation herausgekommen, von der aus wir den weiteren Weg selbst finden mussten. Ich legte den Kopf in den Nacken und schaute zum Himmel empor. Die Sternbilder am Firmament sagten mir trotz meines fotografischen Gedächtnisses nichts. Wir hielten uns in einem unbekannten Teil des Universums auf. Da ich noch nie von einer Galaxis Marasin gehört hatte, wunderte mich das nicht.

»Hast du eine Ahnung, wer Parjasthina ist?«

»Nein.«

Triliths voller Mund verfärbte sich dunkelblau. Ich hatte mich an das Phänomen gewöhnt, das stets auftrat, wenn das Schemawesen einer intensiven Gefühlsregung unterlag. Die Farbpalette, die ihren Lippen zur Verfügung stand, schien unerschöpflich.

»Innis hat dich vor Parjasthina gewarnt«, bohrte sie weiter. »Du sollst dich vor ihm in Acht nehmen. Offenbar ist der Züchter davon ausgegangen, dass du mit dem Namen etwas anfangen kannst.«

»Dann hat Innis sich geirrt. Oder er erwartet, dass wir zwangsläufig auf Parjasthina treffen werden, wer oder was auch immer sich hinter diesem Begriff verbergen mag«, antwortete ich und spähte in alle Richtungen. Vergeblich hielt ich nach Gebäuden oder anderen Anzeichen von Besiedelung Ausschau. Der Nebel gestattete kaum eine Orientierung. Eine kleine Armee hätte sich als Empfangskomitee darin verbergen und in der nächsten Sekunde über uns herfallen können.

»In unserer Nähe gibt es keine Energieemissionen«, meldete sich Harl Dephin. »Oberleutnant Retekin hat ausgiebige Messungen vorgenommen, zumindest hat er es versucht.«

»Versucht?«, echote ich.

»Ja, Sir.« Der Major klang zerknirscht. »Meine Wortwahl dürfte Ihre Frage nach der uneingeschränkten Einsatzfähigkeit des Paladin beantworten. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass die Messungen Probleme bereiten, ohne dass wir die Ursache ermitteln können. Wir haben einen Systemcheck durchgeführt, der allerdings nur an der Oberfläche unserer Einrichtungen gekratzt und keine Resultate erbracht hat. Für eine eingehende Untersuchung brauchen wir mehr Zeit.«

»Die haben wir nicht, Major. Gibt es neben den Problemen mit den Messeinrichtungen weitere technische Pannen?«

»Negativ, Lordadmiral. Die Hauptpositronik arbeitet einwandfrei, Funk und SERT-Steuerung sind in Ordnung und die Waffensysteme einsatzbereit. Energieversorgung ist gewährleistet. Die drei Kraftwerke beschicken die Speicher mit Normalwerten. Keiner der fünfzehn Reaktoren zeigt Abweichungen in der Energieproduktion.«

»Also sind nur die Messeinrichtungen defekt.«

»Nicht defekt, sie arbeiten lediglich unzuverlässig und liefern Werte, die keinen Sinn ergeben.«

Ich seufzte. »Also schön. Haben die Versuche überhaupt Resultate erbracht?«

»Zumindest haben wir festgestellt, dass die Schwerkraft 1,2 Gravos beträgt und das Atemluftgemisch erdähnlich ist«, beeilte sich Dephin zu sagen. »Es gibt geringfügige Abweichungen in den Edelgaskonzentrationen, die keine Auswirkungen auf uns haben. Ich bedaure, dass die ermittelten Ergebnisse weit unter der normalen Leistungsfähigkeit des Paladin liegen. Wenn Sie es wünschen, degradiere ich Oberleutnant Retekin, Sir.«

Für einen Moment dachte ich, ich hätte mich verhört. Dann begriff ich, dass Harl Dephin wieder einmal die Gelegenheit nutzte, um auf das Thema hinzuweisen, das den Thunderbolts am Herzen lag. Trotz der Langlebigkeit von Siganesen waren alle sechs Besatzungsmitglieder des Paladin im fortgeschrittenen Alter und seit Jahrhunderten nicht befördert worden. Ich konnte Dephin verstehen, doch dies war weder der richtige Ort noch der passende Zeitpunkt, um auf sein Anliegen einzugehen.

»Der Oberleutnant bleibt vorerst Oberleutnant«, beschied ich. »Wir werden uns zu gegebener Zeit über seinen Dienstgrad unterhalten. Das gilt auch für den Rest Ihres Teams, Major.«

»Ich danke Ihnen, Sir.«

Trilith bedachte mich mit einem fragenden Blick. »Muss ich das verstehen?«

»Keineswegs. Kannst du mit deinen besonderen Fähigkeiten mehr erkennen als ich?« Ich spielte auf ihre angezüchtete Gabe an, gewisse Lichtbrechungsfaktoren ausklammern zu können. Ihre Sehfähigkeiten waren in der Dunkelheit und sogar in tiefes Wasser hinein ausgezeichnet, weil sie in der Lage war, extrem weit und extrem in die Tiefe zu fokussieren.

»Nein«, bedauerte sie. »Meine Scharfsicht hilft uns in diesem Fall nicht. Der Nebel stellt mich vor die gleichen Schwierigkeiten wie dich.«

»Und die Infrarotsensoren sowie die sonstigen optischen Einrichtungen des Paladin lassen uns im Stich.« Ich streckte einen Arm aus. »Da bei den uns zur Verfügung stehenden Informationen eine Richtung so gut ist wie jede andere, gehen wir dort entlang.«

»Der Paladin kann Sie und Miss Okt tragen«, schlug Harl Dephin vor. »Auf diese Weise kommen wir schneller voran.«

»Ich komme vielleicht darauf zurück«, lehnte ich das Angebot fürs Erste ab und setzte mich in Bewegung.

Im zunehmenden Licht des anbrechenden Tages änderte sich an dem Bild, das sich uns bot, nur wenig. Der Nebel schien sogar noch dichter zu werden. Milchigweiße Schwaden, die den Geruch von fauliger Erde mit sich trugen, umgaben uns. Stellenweise hatte ich den Eindruck, durch Watte zu marschieren. Ich musste mir meinen Weg buchstäblich bahnen. Die hohe Luftfeuchtigkeit benetzte mein Gesicht und ließ die Umgebungstemperatur niedriger erscheinen, als sie war.

Triliths einzige Äußerungen waren gelegentliche Flüche. Sie verwünschte Innis, weil er uns in dieses unwirkliche Niemandsland geschickt hatte. Das Schemawesen wich keine drei Schritte von meiner Seite, sonst hätten wir uns aus den Augen verloren. Wie ein monströser Schatten stapfte der Paladin neben uns her. Sein halbkugelförmiger Kopf blieb mir ebenso wie die uns umgebende Landschaft verborgen. Er kam mir vor wie ein Wolkenkratzer in Terrania City, dessen oberes Drittel in einer Wolkenbank versunken war.

Mit den eingeschränkten Möglichkeiten, die ihnen blieben, nahmen die Thunderbolts weitere Messungen vor. Sie erbrachten keine Resultate, die uns halfen. Uns blieb nichts anderes übrig, als auf gut Glück immer weiter geradeaus zu gehen. Ich vertraute darauf, dass wir früher oder später auf Einrichtungen einer Zivilisation stoßen würden. Innis erwartete, dass wir uns um Lupenchoi kümmerten. Daher ging ich davon aus, dass er uns mittels der Hohrugk-Kuh an einen Ort abgestrahlt hatte, an dem wir unsere Aufgabe beginnen konnten. Alles andere hätte keinen Sinn ergeben.

Deine Überlegungen implizieren, dass Innis über die aktuellen Verhältnisse auf Lupenchoi Bescheid weiß, meldete sich der Extrasinn. Davon abgesehen, dass du bislang keine Gewissheit hast, dich wirklich auf der Welt Lupenchoi aufzuhalten, solltest du in Betracht ziehen, dass Innis von früheren Gegebenheiten ausging, die heutzutage nicht mehr mit der Realität entsprechen.

Wenn Trilith und ich eine so wichtige Rolle dabei spielen, Lupenchoi zu halten und das Wiedererstarken der nach Marasin zurückkehrenden Illochim zu verhindern, wird der Züchter sich nicht auf ein Experiment eingelassen haben, widersprach ich. Er wusste genau, was er tat, als er uns auf diese Welt schickte.

Auf diese Welt, ja, aber es ist nicht gesagt, dass es sich bei Lupenchoi um einen Planeten handelt. Vielleicht ist es eine wichtige Einrichtung, eine Anlage, die einen unbekannten Machtfaktor darstellt.

Vor meinem inneren Auge erschien die riesige Ebene, die ich bei der Geburt des Hohrugk-Kalbes gesehen hatte. War sie lediglich eine Illusion bar jeglichen realen Hintergrunds, oder lieferte sie mir einen Hinweis auf das, wonach ich suchte?

Als ich mich umdrehte, konnte ich durch den Nebel hindurch die Sonne als einen verwaschenen Fleck erkennen, der nur wenig Licht spendete. Sie prangte als Ausschnitt einer diffusen Scheibe am Horizont. Irgendetwas an dem Bild störte mich. Es kam mir unwirklich vor, ohne dass ich definieren konnte, woran dieser Eindruck lag.

»Der Nebel lichtet sich ein wenig«, machte mich Trilith auf die Veränderung vor uns aufmerksam.

Seltsamerweise klarte es am Boden auf, während sich der milchige Schleier in Kopfhöhe des Paladin und darüber hielt. Immerhin konnte ich endlich das Gelände, durch das wir marschierten, einer näheren Betrachtung unterziehen. Die Gegend wirkte ländlich und karg. Soden eines grasähnlichen Bewuchses wechselten sich mit unbewachsenen, erdbraunen Schollen ab, die in dem düsteren Licht vor Feuchtigkeit schimmerten. Ein wenig rechts von uns bildete ein Waldstreifen die einzige Unregelmäßigkeit.

»Begeben wir uns dort hinüber«, forderte ich meine Begleiter auf.

Zum ersten Mal wurden mir die schmatzenden Geräusche bewusst, die bei jedem unserer Schritte entstanden. Zuvor waren sie mir nicht aufgefallen, nicht einmal die, die der knapp dreieinhalb Tonnen schwere Paladin produzierte. Sein Gewicht war bereits beim irdischen Normwert von einem Gravo beträchtlich. Hier wog er sogar noch ein wenig mehr.

Das Waldstück war nicht besonders ausgedehnt. Ein schmaler Bach trat daraus hervor und führte in unsere anfängliche Marschrichtung. Kurzerhand folgten wir seinem Verlauf und erreichten schon bald kultivierte Felder. An drei Meter langen Stangen wanden sich Pflanzenranken, irdischen Bohnen nicht unähnlich, in die Höhe. Sie waren dicht behangen mit knallroten Schoten.

»Landwirtschaftliche Ausprägungen«, kommentierte Trilith unsere Entdeckung. »Das wurde auch Zeit. Ich habe schon befürchtet, dass wir hier allein sind.«

»Ich registriere Bewegungen am jenseitigen Ende des Feldes.« Der Paladin streckte seinen unteren rechten Arm aus.

»Vielleicht erhalten wir dort ein paar Antworten«, verlieh ich meiner Hoffnung Ausdruck.

»Das glaube ich nicht. Ich erkenne eine automatische Arbeitsmaschine«, versetzte Harl Dephin meiner Zuversicht einen Dämpfer. »Sie ist nicht bemannt, wird uns also nicht weiterhelfen können.«

Triliths glattes Gesicht war ausdruckslos. »Zweifellos gibt es einen Besitzer. Wenn man hier nicht ganz hinterm Mond lebt, erhält er beim Ausfall der Maschine eine automatische Nachricht und wird sich so schnell wie möglich um eine Reparatur bemühen.«

»Sie ist aber nicht ausgefallen, sondern versieht ihre Tätigkeit.«

»Das wird sich gleich ändern«, versetzte das Schemawesen und ging, ohne einen Kommentar abzuwarten, in die angegebene Richtung.

»Bewusste Sabotage, Sir?«, wandte sich Harl Dephin an mich. »Ein solches Vorgehen halte ich für kein probates Mittel, um an Informationen zu gelangen.«

»Sie kennen eben Trilith Okt nicht, Major.« Auch mir war nicht wohl bei Triliths Vorhaben, doch ich kannte sie. Hatte sie sich etwas in den Kopf gesetzt, war sie kaum davon abzuhalten. Außerdem widerstrebte mir das ziellose Umherirren. Ich hatte mich schon häufig auf mich allein gestellt und ohne Ausrüstung durch unbekanntes Terrain geschlagen. Dazu blieb in diesem Fall keine Zeit. Ich musste mich so rasch wie möglich orientieren und mehr über diese Welt in Erfahrung bringen, um in die Offensive gehen zu können.

Bei der Maschine, auf die das Schemawesen zusteuerte, handelte es sich um eine automatische Ernteeinheit, die sich auf einem Antigravpolster zwischen den Stangen hindurch schlängelte. Das Antriebsaggregat summte wie ein Schwarm Insekten. Lange, flexible Aktionsarme griffen nach den Schoten, pflückten sie behutsam ab und warfen sie in einen Auffangkorb, der wie ein umgedrehter Höcker auf der Antriebseinheit der Maschine saß.

Trilith erreichte die Maschine und ging achtlos an ihr vorbei. Sie drehte den Kopf und bedeutete mir durch Winken, mich zu beeilen. Anscheinend hatte sie etwas entdeckt, das interessanter war als die Ernteeinheit. Ich beschleunigte meine Schritte und lief hinter ihr her, bis ich sie einholte.

Vor mir lag eine Trasse, die durch angrenzende Felder führte. Ein paar Meter vor mir hockte ein Wesen und befestigte einen vollen Auffangkorb wie den, den die Erntemaschine befüllte, an einem Schweber. Es drehte uns den Rücken zu und hatte uns noch nicht bemerkt.

»Einen schönen guten Tag«, sagte Trilith ohne Umstände.

Das Wesen drehte sich um und fuhr in die Höhe. In einem Echsengesicht funkelten zwei schwarze Knopfaugen, die erst mich und dann Trilith beiläufig maßen und sich schließlich auf den Paladin richteten. Die Echse, die etwa so groß war wie ich und auf zwei stämmigen Säulenbeinen stand, öffnete das Maul und zeigte zwei Respekt einflößende Zahnreihen.

»Puh, du stinkst ja bestialisch.«

»Halte dich zurück, Trilith«, mahnte ich meine gentechnisch aufgewertete Begleiterin. Mir entging nicht, dass sie Anstalten machte, nach ihrem Vibro-Messer zu greifen. »Und lass die Finger von deinem Messer. Mein Translator dürfte sich als effektivere Waffe erweisen.«

»Ja, du hast recht, Arkonide«, räumte sie ein und ließ die Hand sinken.

Noch immer starrte die Echse den hünenhaften Roboter an. Sie stieß eine Folge unverständlicher Laute aus und verharrte an Ort und Stelle. Die Tatsache, dass sie weder floh noch erkennbar Verteidigungs- oder gar Angriffstellung einnahm, ließ mich vermuten, dass sie an Zusammentreffen mit anderen Spezies gewöhnt war.

»Wir sind nicht die ersten Vertreter eines fremden Volkes, denen die Echse begegnet«, bestätigten Harl Dephins Worte meine Einschätzung.

»Ich bin Atlan«, nannte ich meinen Namen und deutete erst auf meine Lippen, dann auf die des Reptiloids.

Sofort begann unser Gegenüber zu sprechen und machte keine Anstalten, wieder aufzuhören. Es plapperte in einem fort.

»Entweder haben wir es mit einem besonders geschwätzigen Vertreter seiner Art zu tun, oder der Reptiloid kennt das Prinzip eines Translators«, überlegte Dephin.

Trilith maß den Schweber mit einem abschätzigen Blick. »Technisch besonders weit entwickelt sieht das Fahrzeug nicht aus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Bursche Ahnung von einem Translator hat.«

Trotzdem setzte die Echse ihre Tirade fort, bis die Positronik des Übersetzungsgeräts die Grundstruktur der Sprache erfasst hatte. Schon nach wenigen Minuten war eine fließende Verständigung möglich.

»Mein Name ist Atlan«, wiederholte ich meine anfängliche Selbstvorstellung und nannte die Namen meiner Begleiter.

»Karscht.« Die Echse zeigte keine Scheu. »So taufte mich meine Eimutter. Ich bin Karscht von den Wexlot. Die Völker, denen ihr angehört, sind mir fremd. Ich weiß, das besagt nicht viel. Schließlich leben Dutzende verschiedener Völker auf Lupenchoi und Kamsporn.« Karscht legte den Kopf schief und schien nachzudenken. »Nein, eher Hunderte. Ihr sprecht kein Shuli?«

Bei der Nennung von Lupenchoi merkte ich auf. Im gleichen Atemzug hatte die Echse den Begriff Kamsporn, mit dem ich nichts anfangen konnte, verwendet. Jedenfalls hatten wir die Bestätigung, an den richtigen Ort oder zumindest in dessen Nähe gelangt zu sein. Ich wägte meine Worte vorsichtig ab, um bei unserem neuen Bekannten kein Misstrauen zu wecken.

»Was dein Problem mit den zahlreichen Völkern angeht, so teilen wir es. Bei all den verschiedenen Wesen, die auf Lupenchoi leben, verliert man die Übersicht. An jeder Stelle des Planeten stößt man auf andere Wesen.«

Karscht, der den Paladin bisher nicht aus den Augen gelassen hatte, richtete seine Aufmerksamkeit unvermittelt auf mich. »Wieso nennst du Lupenchoi einen Planeten? Kamsporn ist die Welt, die um Ionkost kreist.«

Vorsicht, alter Narr, warnte mich der Extrasinn.

Sofern ich richtig verstand, stand ich auf der Oberfläche von Kamsporn, und dessen Sonne hieß Ionkost. Was war dann aber Lupenchoi? Womöglich eine Einrichtung, wie mein Logiksektor vorgeschlagen hatte? Ich durfte die Frage nicht stellen, um uns ins Karschts Augen nicht verdächtig zu machen, denn ich erhoffte mir weitere Informationen von ihm.

»Verzeih Atlans missverständliche Ausdrucksweise«, ergriff Trilith das Wort und deutete mit dem Daumen hinter sich. »Wir haben einen langen Weg hinter uns. Wir sind erschöpft und müde, da kommt es schon mal vor, dass man die Dinge durcheinander wirft.«

Die Echse stieß eine keckernde Lautfolge aus, die ich für Lachen hielt. »Du wirfst die Dinge ebenfalls durcheinander, Trilith Okt. So lang kann der Weg, den ihr beschritten habt, nicht gewesen sein. Es ist nicht viel mehr als ein halber Tagesmarsch bis zum Rand von Lupenchoi oder von dort nach hier. Niemand begibt sich bis zum Rand. Man weiß nicht, was am Ende der Welt mit einem geschieht. Jeder kennt die Schilderungen über unheimliche Begebenheiten, die einen in der Nähe des Randes ereilen und denen man nicht entkommen kann.«

Ich dachte über den Hintergrund von Karschts Ausführungen nach. Sie klangen wie Versatzstücke einer verbrämten Mythologie, die mangelndes Wissen ersetzen sollte. Wenn ein Sinn dahintersteckte, erschloss er sich mir nicht. Ich fürchtete, mit jeder weiteren Frage sein Misstrauen zu schüren. Vergeblich wartete ich darauf, dass der Extrasinn sich meldete und mir eine schlüssige Interpretation von Karschts Worten anbot, doch mein stummer Dialogpartner schwieg. Wir hatten allenfalls ein paar Kilometer Wegstrecke zurückgelegt. Sofern ich die Erklärungen der Echse nicht als Unsinn abtun wollte, endete nicht weit entfernt die Welt.

Welche Welt?

Ich ahnte, dass nur eine ausschlaggebende Information fehlte, ein einziges Puzzleteil, das einen Sinn in das Gehörte bringen würde.

Unwillkürlich drehte ich mich um und blickte in die Richtung zurück, aus der wir gekommen waren. Ich zuckte zusammen, als ich den verwaschenen Fleck der Sonne gewahrte. Wie zuvor sah ich nicht mehr als eine Halbscheibe. Sie war nicht höher gestiegen, sondern hatte sich exakt entlang der Trennlinie zwischen Himmel und Erde weiterbewegt. Sie ritt gewissermaßen auf diesem schmalen Grat.

»Trilith«, machte ich das Schemawesen auf die außergewöhnliche Konstellation, für die ich keine Erklärung fand, aufmerksam.

»Ein … erstaunliches Bild«, kommentierte die schwarzhaarige Frau den Anblick, der sich uns bot, und schob schnell hinterher: »Immer wieder, egal wie oft man es schon genossen hat.«

»Die Plattform Lupenchoi trennt Kamsporn, und Lupenchoi trennt Ionkost«, plapperte Karscht gedankenverloren vor sich hin. »Das Bild von Ionkosts Wanderung ist nichts gegen den Anblick Kamsporns, wenn er durch die Morgennebel Lupenchois zum Vorschein kommt. Ich genieße den Anblick während der Passage nach Avironda, oben auf der Anhöhe von Zelika, sobald der Nebel zerreißt.«

»Du fährst nach Avironda?«, reagierte ich geistesgegenwärtig, wobei ich darüber nachdachte, was der Wexlot mit Plattform gemeint hatte. »Das ist auch unser Ziel.«

»Ich bringe meine Ernte in die Stadt. Der Marktpreis für Mochikola zieht kräftig an.« Karscht deutete auf den geparkten Schweber. »Ich würde anbieten, euch mitzunehmen, aber Paladin passt nicht hinein.«

»Unser Kamerad ist gut zu Fuß«, tat Trilith die Einschränkung ab. »Ich schätze, er kann so schnell laufen, wie du mit deinem Schweber unterwegs bist. Für Atlan und mich genügt der Platz allemal.«

Nachdenklich musterte Karscht den Roboter, den er für ein lebendes Wesen hielt. »Ich erreiche eine Höchstgeschwindigkeit von 150 Stundenkilometern«, erklärte er stolz. »Da kann Paladin nicht mithalten. Kein mir bekanntes Wesen ist dazu in der Lage.«

»Paladin schon.« Ich lächelte in mich hinein. Der Roboter schaffte eine höchste Laufgeschwindigkeit von 162 Kilometern in der Stunde, und das über jedwede Strecke, ohne zu ermüden.

»Das will ich sehen. Ich bin sogar bereit, eine Wette abzuschließen. Wie wäre es mit einem Einsatz von hundert Carolen?«

Ich nahm an, dass es sich bei Carolen um die einheimische Währung handelte. Das Angebot der Echse kam mir sehr gelegen. Da ich sicher war, mich auf die Fähigkeiten des Paladin verlassen zu können, ging ich kein Risiko ein, auf möglichen Wettschulden sitzen zu bleiben. Ich zögerte ein wenig, damit meine Siegesgewissheit den Wexlot nicht zu einem Rückzieher bewog. Da wir mittellos auf Lupenchoi eingetroffen waren, konnten wir das Geld gut gebrauchen.

»Einverstanden.«

Die Echse war Feuer und Flamme. »Kommt, steigt ein. Ich habe den Frachtbehälter schon befestigt und wollte gerade aufbrechen.«

»In Ordnung, Major?«, fragte ich.

»Selbstverständlich, Sir.« Ich bildete mir ein, das schelmische Grinsen des Thunderbolt-Kommandanten zu sehen. »Sie werden staunen, wie gut ein Achthundertjähriger zu Fuß unterwegs ist.«

Karscht kletterte in den überdachten Pilotenstand des fachen Gefährts, und Trilith und ich stiegen neben ihm ein. Mit wenigen Handgriffen aktivierte die Echse den Antrieb. Ein sonores Brummen erfüllte die Fahrgastzelle, und meine Sitzmulde vibrierte sanft. Mit einem Ruck setzte sich der Schweber in Bewegung, und Karscht sah durch die transparente Verkleidung nach draußen. Er stieß einen überraschten Laut aus.

Der Paladin hatte sich auf seine Laufarme hinuntergelassen und stürmte los.

Kapitel 2Tschirque

Der Summton erklang ein und gleich darauf ein zweites Mal. Die nach Sekunden eintretende Wiederholung an sich war ein Verstoß gegen die Etikette, der schrille Dauerton glich gar einer Belästigung, die nicht hinnehmbar war. Das Mittagsmahl war dem Kreuzwächter heilig. Er vollzog es wie ein Ritual und verabscheute es zutiefst, dabei unterbrochen zu werden.

Abermals setzte das Summen ein, und Tschirque erhob sich von seinem Stuhl. Kein Wesen außer Lop war zu einer solchen Dreistigkeit fähig. Tschirques Augenband richtete sich auf das Bouquet aus frittierten Zulta-Käfern und erlesenen Naschki-Krschen, die in einem streng riechenden Sud schwammen, der umso milder mundete, je intensiver er den Geruchssinn penetrierte.

»Ja!«, rief Tschirque und ging achtlos an seinem Helm vorbei, der auf einer Anrichte ruhte. »Ich komme.«

Seine graue, mit schwarzen Pigmentflecken versetzte Haut raschelte, als er sich zur Tür begab und dem Störenfried öffnete. Wie nicht anders erwartet, war es sein Berater und engster Vertrauter Lop, der das heilige Mahl störte. Die stacheligen Haarbüschel des Ida-Boro waren aufgerichtet, was auf höchste Erregung hindeutete. Die rosafarbenen Gesichtszeichnungen, in die seine schwarzen Glubschaugen eingebettet lagen, pulsierten in schnellem Rhythmus.

»Verzeiht mein Eindringen, doch mein Anliegen duldet keinen Aufschub, Wächter. Etwas Furchtbares ist geschehen«, sprudelte es aus Lop heraus.

»Das will ich für dich hoffen.« Tschirque bedeutete seinem Berater einzutreten und schloss die Tür hinter ihm. »Ich nehme an, ich kann dir nichts anbieten. Mit deiner Störung hast du mir den Appetit verdorben.«

»Ihr wisst, was ich von Euren bevorzugten Speisen halte, Wächter. Sie mögen köstlich sein, aber sie stinken.«

Hunderte millimetergroßer Pünktchen trieben anstelle von Augen in dem ständig tränenden Band aus hellgelber Flüssigkeit, das sich um die Vorderseite von Tschirques Kopf spannte. Die Pünktchen trieben zueinander und formten einen diffusen Fleck des Unverständnisses, bevor sie sich wieder über das ganze Augenband verteilten. Was kulinarisches Vergnügen anging, war Lop ein unbeleckter Naivling, dem man einen Napf Fitzen-Würmer hätte vorsetzen können, ohne dass er den Unterschied zu einem Zulta-Käfer herausgeschmeckt hätte.

»Nun sprich. Was ist so wichtig, das nicht einen kurzen Aufschub duldet?«

»Es hat einen Unfall gegeben.«

»Einen Unfall?« Tschirque begriff nicht, wovon sein Berater sprach. »Drück dich gefälligst so verständlich aus, dass ich deinen kryptischen Andeutungen einen Sinn abgewinnen kann.«

»Es gab einen Unfall in Abschnitt Avi-7326-A.« Lops dreieckiger Mund öffnete und schloss sich hektisch.

Mit seinen 2,80 Metern Körpergröße überragte Tschirque seinen Vertrauten um mehr als einen Meter. Die dünnen Arme und Beine und die schmalen Schultern des hageren Kreuzwächters bewirkten, dass der Unterschied einem Betrachter noch gravierender vorkam. Tschirque wusste sehr wohl, dass das optisch ungleiche Paar die Zielscheine manch feinsinnigen Spotts war. Wären da nichts Lops herausragende Fähigkeiten gewesen, hätte er sich längst einen anderen Berater an die Seite geholt. Lops Anfüge ungezügelter Nervosität bildeten den einzigen negativen Aspekt seines Wesens, und in diesem Moment steckte er den Kreuzwächter damit an.

»Was genau ist geschehen?«

»Bisher gibt es lediglich Gerüchte. Ich habe Ordnungskräfte ausgeschickt und erwarte in Kürze ihre Berichte.«

»Obwohl du keine konkreten Informationen hast, machst du dir Sorgen. Anders kann ich mir deinen Auftritt nicht erklären.«

Lop antwortete nicht, und das war bedenklicher als eine Zustimmung. Tschirque konnte das gut verstehen. Allein die Gerüchte kamen einer Katastrophe gleich und würden, selbst wenn sie sich als falsch erwiesen, nicht so schnell aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwinden. Unruhig schritt der Kreuzwächter im Büro seiner Station auf und ab. Ein Unfall – darunter konnte man sich alles und nichts vorstellen, und er stellte sich das Schlimmste vor. Ein Baukran mochte umgestürzt sein, eine Magnetschwebebahn einen schwerwiegenden technischen Schaden davongetragen haben oder gar ein Arbeiter zu Tode gekommen sein. Solange Tschirque Stationsvorsteher der Haltestelle Avidarn war, war das noch nicht vorgekommen, und auch aus den Stationen in den Avironda nächstgelegenen Städten war ihm kein solcher Vorfall bekannt.

Der Kreuzwächter kannte sämtliche zu seinem Bezirk gehörenden Streckenabschnitte auswendig. Jedes Teilstück des Lupenchoi durchziehenden Transportnetzes, das dem Haltestellendistrikt Avidarn angegliedert war, hatte er in den vergangenen Jahren ein Dutzend und mehr Male besucht. Er konnte die Bezeichnungen aufzählen und hatte bei jedem ein bestimmtes Bild vor Augen, das eines Tunnelsegments, einer Verbindungsröhre, einer im Depot abgestellten Cabis oder der verschachtelten Haltestelle selbst. Das galt auch für Avi-7326-A, einen Abschnitt, in dem seit ein paar Monaten Bauarbeiten durchgeführt wurden. Das Verkehrsaufkommen stieg, und zwei Ausweichröhren für zusätzliche Vakuumtunnels sollten die in Betrieb befindlichen Bahnsteige entlasten.

Tschirque hatte seinen Einfluss in Chamenspall in die Waagschale geworfen und sich für den Ausbau stark gemacht. Es war ihm gelungen, Begeisterung für sein Vorhaben zu wecken und Fördermittel lockerzumachen. Damit hatte er sein persönliches Schicksal noch enger mit dem Avidarns verknüpft als zwischen einer Station und ihrem Kreuzwächter ohnedies üblich. Die Vorstellung, dass ein Zwischenfall eingetreten war, der sich nicht korrigieren ließ, verlieh Tschirques grauer Gesichtshaut einen aschfahlen Stich.

»Worüber denkt Ihr nach, Wächter?«, fragte Lop.

Die Stimme seines Beraters glich einem Rettungsanker, der Tschirque aus seinen Grübeleien zog. Er war dankbar dafür, denn es war wenig produktiv, sich den Verstand zu martern, solange er die Fakten nicht kannte.

»Ich frage mich, weshalb es so lange dauert, bis du eine Antwort erhältst«, fuhr er seinen Vertrauten an.

Lop zuckte unter dem Vorwurf zusammen. »Ich bin sicher, dass jeden Moment Entwarnung kommt.«

»Bis dahin versuche ich mir selbst einen Überblick über die Ereignisse zu verschaffen.« Der Stationsvorsteher begab sich mit weitgreifenden Schritten zu einem Bildgerät, das in einer Raumecke stand, und aktivierte es. Schon die ersten Holoaufnahmen ließen ihn keuchen. Was er sah, konnte nur einem Alptraum entsprungen sein.

Der Ida-Boro machte Anleihen in den Zeiten seiner Urahnen und stieß einen schrillen Pfiff aus. »Das soll ein Unfall gewesen sein?«, krächzte er. »Es sieht vielmehr so aus, als sei die Welt eingestürzt.«

»Und die Nachrichtensender sind schneller am Ort des Geschehens als unsere Leute.« Tschirque taumelte bei den Kommentaren, die den Bildbericht des Holofernsehens unterlegten. Seine anfänglichen Befürchtungen wurden bei weitem übertroffen. Der Vorfall war so ungeheuerlich, dass er ihn in den düstersten Befürchtungen nicht in Erwägung gezogen hätte. Ein Stück des Bauabschnitts, in den er so große Hoffnungen setzte, war eingestürzt. Über eine Länge von fünfzig Metern hatte das Erdreich nachgegeben und Arbeiter und Maschinen unter sich begraben.

»Ihr müsst Rettungsmaßnahmen in die Wege leiten, Wächter.« Lops Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen.

Die Bilder schlugen Tschirque in ihren Bann, und seine Gedanken kreisten nur um ein Thema. Er trug die Verantwortung für Avidarn, und jedes Unglück fiel zwangsläufig auf ihn zurück. Der Kommentar, dessen Inhalt er kaum mitbekam, schien ihn zu verspotten. Er glaubte sogar, seinen Namen zu hören. Die Öffentlichkeit rief bereits nach ihm.

»Wächter, kommt zu Euch!«

Nur mit Mühe gelang es Tschirque, sich aus seiner Erstarrung zu lösen. Seine dünnen Glieder schlotterten, doch sein Berater hatte recht. Er musste etwas unternehmen. »Leite alles Nötige in die Wege«, hörte er sich sagen.

»Sofort«, versicherte Lop. »Danach sollten wir aufbrechen und uns zum Ort des Unglücks begeben.«

»Bist du von Sinnen?«

»Man wird erwarten, dass Ihr dort erscheint und eine Stellungnahme abgebt. Ihr seid der Kreuzwächter.«

»Schließt das ein, dass ich mich dem Mob zur Schau stellen muss?« Tschirque hob seine Hände und malte mit den zwanzig Zentimeter langen Fingern wirre Symbole in die Luft. Die Situation überforderte ihn. In gleichem Maße wie sein Leben folgte die Rolle eines Kreuzwächters bestimmten Regeln, aus denen Tschirque niemals ausgebrochen war. Er war stets stolz darauf gewesen, alles unter Kontrolle zu haben, Abläufe voraussagen und den Fluss der Zeit mit geplanten Handlungen füllen zu können. Abweichungen von kalkulierten Schemata und seinen festgelegten Zeitplänen, zu denen auch das mittägliche Mahl gehörte, empfand er nur dann als Bereicherung, wenn sie sich mühelos korrigieren ließen.

Hier aber, begriff er mit selten gekannter Klarheit, ließ sich nichts korrigieren. Alle würden sie über ihn herfallen, denn das System der Cabis galt als zuverlässig. Weder gab es Störungen noch Pannen, weil es sich bei den meist hoch angesehenen Kreuzwächtern um Koryphäen handelte, denen keine Fehler unterliefen.

Fehler! Tschirque gluckste. Hätte es sich doch bloß darum gehandelt, um einen simplen kleinen Fehler, den selbst Lop zu beheben in der Lage gewesen wäre. Aber nein, das Projekt, das untrennbar mit Tschirques Namen verbunden war, stellte sich als Fiasko heraus.

Er bemerkte, dass sein Berater in ein Handgerät sprach. »Was machst du da?«

»Ich habe Anweisungen erlassen und die Notfallpläne freigegeben.«

»Gut.«

»Und ich habe den Medien mitgeteilt, dass der Kreuzwächter von Avidarn den Nachrichten-Sonden in Kürze am Ort des Unglücks für Fragen zur Verfügung stehen wird«, fügte der Berater nach kurzem Zögern hinzu.

»Wer hat dir das gestattet? Wie kommst du dazu, so eigenmächtig zu handeln?«

»Weil es notwendig ist und Ihr offenbar nicht die Kraft zu diesem Schritt aufbringt.«

Ein solches Aufbegehren hätte Lop vor dem heutigen Tag nie gewagt. Der Unfall schien ihm schwerer zuzusetzen, als ersichtlich war. Vor Entsetzen verschloss Tschirque seinen Corren, den unter dem Augenband liegenden vertikalen Fleischspalt, in dem die übrigen Sinnesorgane wie Geruchs- und Geschmacksnerven und Hörrezeptoren untergebracht waren. Wohltuende Stille hüllte den Stationsvorsteher ein. An den Bewegungen von Lops dreieckigem Mund erkannte er, dass sein Vertrauter einen wahren Redeschwall von sich gab, doch Tschirque vernahm die Worte nicht.

Eine schreckliche Ahnung plagte ihn. Hatte er womöglich etwas übersehen und damit eine Teilschuld auf sich geladen? Er kramte in seiner Erinnerung nach düsteren Vorzeichen, die ihn hätten warnen müssen, und fand keine. Nein, er hatte sich nichts vorzuwerfen. Die Vorstellung, sich der Öffentlichkeit zu stellen, verursachte dennoch ein Unwohlsein, das körperliche Schmerzen in ihm auslöste.

Er bemerkte, dass sein Berater ihn vorwurfsvoll anstarrte.

Reiß dich zusammen!

Er musste Stärke demonstrieren. Einen anderen Weg, mit der Situation umzugehen, gab es nicht. Lop hatte ganz recht. Tschirque war der Kreuzwächter und würde diese Krise überstehen, vielleicht sogar gestärkt aus ihr hervorgehen. Er öffnete seinen Corren und lauschte, doch Lop schwieg.

»Wir begeben uns zum Ort des Unglücks«, kündigte er an. »Du wirst mich begleiten.«

»Ich bin bereit, Wächter. Ich werde nicht von Eurer Seite weichen.«

Tschirque redete sich ein, vor Selbstsicherheit zu bersten. Doch wieso hatte er dann das Gefühl, zur Schlachtbank geführt zu werden, wenn er die sicheren Hallen seiner Station verließ?

Kapitel 3Shapda-Shapda Maon

Maudi-Haup stand an der Reling und schaute auf den Kovenor hinaus, auf dem unzählige weitere Boote wasserten. Sie sprenkelten den Fluss wie ein Flickenteppich, den jemand achtlos weggeworfen hatte. Einige trieben mit der Strömung, andere kämpften dagegen an. Die meisten, wie das Stammesboot von Shapda-Shapda Maon, ankerten in Ufernähe und waren durch Stege untereinander verbunden, über die andere Händler und die an Land lebenden Kunden spazierten, die ihre Vorräte an Gewürzen oder Kräutern ergänzen wollten.

»Was beobachtest du, Maudi?«, erkundigte sich Shapda-Shapda.

Ihr Enkel stand schon seit einer ganzen Weile regungslos zwischen mit Teeblättern gefüllten Ballen, was ungewöhnlich war. Normalerweise lief er unablässig umher und mischte sich in die Tauschgeschäfte der Erwachsenen ein. Kein Tag verging, an dem er nicht versuchte, seiner Großmutter zu beweisen, was für ein gerissener Händler er bereits war. Außer ihm kannte sie keinen Achtjährigen, der solche Freude am Tagwerk der Erwachsenen zeigte. Er entwickelte ein Verständnis fürs Geschäftliche, das sein Vater und sein Großvater bis zum heutigen Tag nicht besaßen.

»Den Kovenor.«

»Gibt es denn etwas Besonderes zu sehen dort draußen?«

»Der Kovenor selbst ist etwas Besonderes, oder nicht? Hörst du sein Wispern, Groom?«

Shapda-Shapda lächelte. Ihr Stamm zählte über einhundert Köpfe, von denen keiner so klug war wie Maudi-Haup. Shapdas drei Ehemänner waren so lästig wie dumm und taugten zu nicht viel. Sie waren brauchbare Händler und verstanden sich darauf, Nachwuchs zu zeugen, zwei Dinge zugegebenermaßen, die wichtig waren für den Fortbestand des Maon-Stammes. Doch damit erschöpften sich ihre Fähigkeiten. Shapda-Shapdas acht Kinder und die anderen beiden Enkel waren kaum besser geraten als die Väter. Allein der vorlaute kleine Maudi ließ die Kapitänin zuversichtlich in die Zukunft schauen. Wenn er eines Tages die Führung übernahm, war ihr um den Stamm nicht bange. Täglich unterrichtete sie ihn und lehrte ihn alles, was sie wusste, um ihn eines Tages zu ihrem Nachfolger zu machen.

»Ja, ich vernehme das Flüstern«, sagte sie. »Spricht Gevatter Kovenor zu dir?«

»Er hört niemals auf zu reden. Er trägt Geschichten mit sich. Er berichtet mir davon, dass er uns ernährt und uns beschützt. Er ist unsere Heimat und begleitet uns unser ganzes Leben lang.«

Die Kapitänin des Stammesbootes atmete tief ein und inhalierte den Geruch des Wassers. Das Verständnis ihres Enkels überraschte sie immer wieder. Männer begriffen Gevatter Kovenor und seine Verwandten nicht. Die Flüsse und Kanäle waren mehr als nur ein Gefecht aus Wasserstraßen, die als Verkehrswege und Handelsrouten dienten. Sie waren der Lebensraum, der den Maon-Stamm und all die anderen Kalfater-Stämme beherbergte.

»Willst du mir eine seiner Geschichten erzählen?«

»Nein, Groom.«

»Wieso nicht?«, fragte Shapda-Shapda verwundert. Ihr Enkel liebte Geschichten. Er hörte sie aus dem Mund seiner Stammesangehörigen ebenso gerne, wie er sie selbst zum Besten gab.

»Weil mein Kopf weh tut.«

»Komm her und lass mich einmal sehen, ob dir etwas fehlt.« Die Kapitänin legte eine Hand auf die Stirn des Jungen und erschrak. »Du bist ganz heiß.«

»Ja, es fühlt sich an, als würde mein Kopf verbrennen.«

»Wann hat das angefangen, Maudi? Seit wann schmerzt dein Kopf?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht seit wir hier angekommen sind?«

Seit drei oder vier Stunden, hieß das. »Warum hast du nichts gesagt?«

»Weil ich dachte, es hört von alleine wieder auf. Wir müssen Geschäfte machen, da darf niemand krank werden.«

Shapda-Shapda schnaubte ärgerlich. »Die Geschäfte können die Erwachsenen ausnahmsweise einmal ohne dich abwickeln«, tadelte sie ihren Enkel und zog ihn von der Reling weg.

»Was machst du, Groom?«

»Ich bringe dich in den Schatten.« Erst jetzt fiel der Flößerin auf, dass die sonst mäßig gefärbten Wangen des Jungen in dunklem Rot glühten, und seine Stirn sah nicht besser aus. »Das gefällt mir nicht. Du willst uns doch nicht wirklich krank werden, mein Lieber.«

»Nein, das will ich nicht«, versicherte der Achtjährige.

»Das war nur so eine Redensart. Man kann es sich nicht aussuchen, und ich fürchte, dich hat es erwischt, ob dir das nun gefällt oder nicht.«

»Es gefällt mir überhaupt nicht.«

»Das ist gut, aber es ändert nichts an den Tatsachen. Ich bin stolz auf dich, weißt du das?«

»Nein. Wieso denn, Groom? Du bist stolz auf mich, weil ich krank werde?«

Die Stammesführerin lachte glockenhell auf. Im Gegensatz zu Maudi-Haup wäre so mancher aus dem Stamm dankbar für eine Krankheit gewesen, um sich ein paar Tage auf die faule Haut legen zu können. Nicht so der Junge.

»Lachst du etwa über mich, Groom?«

»Nein, ganz bestimmt nicht. Ich erkläre es dir ein andermal«, versprach Shapda-Shapda. »Jetzt komm aber endlich aus der Sonne weg.«

Widerstrebend ließ sich Maudi-Haup mitziehen. Shapda-Shapda brachte ihn in den kastenförmigen Aufbau auf Deck, der in mehrere Räume unterteilt war. Eine kleine Kammer war für Fälle wie diesen angelegt. Der Junge verzog mürrisch das Gesicht.

»Warum kann ich nicht in mein eigenes Zimmer gehen?«, protestierte er.

»Es tut mir leid, mein Lieber. Aber ich will verhindern, dass du deine Brüder ansteckst.«

»Ist es so schlimm?«

»Nein, das ist es nicht. Trotzdem sollten wir kein Risiko eingehen, findest du nicht auch?«

Maudi-Haup verzog trotzig das Gesicht und wendete sich von seiner Großmutter ab. Nach nur wenigen Sekunden drehte er sich wieder um. »Ja, du hast recht. Ich sehe es ein. Aber ich will nicht allein hier drin bleiben, Groom. Das ist fürchterlich langweilig.«

»Soll ich bei dir bleiben?«

»Und mir eine Geschichte erzählen?«

»Na schön, unter einer Bedingung«, stimmte Shapda-Shapda zu. »Du legst dich hin und deckst dich gut zu.«

»Einverstanden.« Maudi-Haup ließ sich auf der Liegestatt nieder.

»Was möchtest du gerne hören, mein Lieber?«

»Eine Geschichte, die ich noch nicht kenne«, platzte es aus dem Jungen heraus. »Eine wahre Geschichte aus unserer Vergangenheit.«

Shapda-Shapda machte eine zustimmende Geste. »Es gibt etwas, das ich dir schon lange erzählen wollte. Bisher bin ich davor zurückgeschreckt, doch inzwischen bist du alt genug, um gewisse Dinge zu erfahren, die vor langer Zeit geschehen sind. Du bist klug genug, um die Geschichte zu begreifen.«

»Worum gehst es darin?«

»Um ein Volk namens Illochim«, eröffnete Shapda-Shapda, »und um ein Wesen namens Parjasthina.«

Kapitel 4Parjasthina

In Parjasthinas Kopf summten tausend Stimmen zugleich eine Melodie, die sich mit dem Rauschen des Meeres vereinigte und den Doviat jauchzen ließ. Er durchstieß die Wasseroberfläche und schmeckte das salzige Nass, dessen perlendes Vergnügen er nicht minder genoss als frisches Süßwasser.

Zehn Meter unter sich gewahrte er den weißen Schimmer feinen Sandes. Dorthin zog es ihn, dieses eine Mal noch, dieses letzte Mal wahrscheinlich. Denn bald schon würde er Unti an Bord eines Raumschiffs verlassen, um auf einer anderen Welt namens Trikrik seiner Pflicht nachzukommen. Zupfsporen warteten darauf, befruchtet zu werden, und dies war seine, Parjasthinas Aufgabe. Als einer von 22 Doviaten war er auserkoren, die Vermehrung und Ausbreitung seines Volkes voranzutreiben. Gleichwohl es eine ehrenvolle Aufgabe war, die vielleicht wichtigste, die man sich vorstellen konnte, war Parjasthina weit davon entfernt, Stolz zu empfinden. Die Natur hatte es so eingerichtet, dass allein die Doviate die Zupfsporen befruchten konnten. Sie beging keine Fehler. Ihr perfekt aufeinander abgestimmtes System war nicht immer auf Anhieb zu durchschauen, doch seine Funktionalität bestätigte sich über Äonen hinweg. Was an einem Tag fragwürdig erschien, erhielt tausend Jahre später einen Sinn und erwies sich als richtig. Die von der Natur ausgetüftelten Axiome waren über jeden Zweifel erhaben.

Bis auf das Zwischenreich, dachte Parjasthina ohne Gefühlswallung. Bis auf Marasin.

Marasin ergab keinen Sinn, jedenfalls keinen, der sich den darin lebenden Völkern erschloss. Denn nur dieser zerrissene Spiralarm, der einstmals Teil einer größeren Galaxis gewesen war, bestand noch. Nach kosmischen Maßstäben war er mit seiner Ausdehnung von 6000 mal 1000 Lichtjahren und einer Dicke von 150 Lichtjahren kaum der Rede wert. Doch es würde der Tag kommen, an dem sich den Illochim auch der Sinn der Restegalaxis offenbarte. Sie begingen nicht den Fehler, den die anderen Völker Marasins machten. Sie haderten nicht mit ihrem Schicksal. Während andere Völker unter den Auswirkungen der schrecklichen Katastrophe litten, die geschehen war, und Zeit brauchten, um sich zu sammeln und auf die neuen Verhältnisse einzustellen, wurden die Illochim bereits wieder aktiv. Sie jammerten und klagten nicht, sie wunderten sich nicht einmal über die bis vor kurzem unvorstellbaren Zustände, sondern zeigten unermüdlichen Einsatz, der stets auf den nächsten Tag und auf die kommende Generation ausgerichtet war.

Die Zukunft wird uns gehören, dachte Parjasthina, als er unter eine Welle hinwegtauchte und sich um seine Körperachse drehte.