ATLAN Polychora 1: Die geträumte Welt - Achim Mehnert - E-Book

ATLAN Polychora 1: Die geträumte Welt E-Book

Achim Mehnert

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Beschreibung

September 3126 alter Terranischer Zeitrechnung: Großadministrator Perry Rhodan und Solarmarschall Julian Tifflor weihen Atlan in ein streng geheimes Projekt des Solaren Impersiums ein. Doch bereits beim ersten Testlauf misslingt das Zeitexperiment im All. Um eine Katastrophe zu verhindern, begibt sich der Arkonide mit einer Gruppe von Terranern sofort auf die Suche nach dem verschollenen Testschiff WAV-E und dessen Besatzung. Dabei gerät er in eine bizarre fremde Welt, die unmöglich natürlichen Ursprungs sein kann. Zur gleichen Zeit untersuchen Wissenschaftler auf einem Mond des Planeten Nancanor eine Zone, an der sich die Welt, wie wir sie kennen, aufzulösen scheint. Ihre Auftraggeberin Tipa Riordan, die bekannte und gefürchtete Piraten-Anführerin, verfolgt dabei ein ganz bestimmtes Ziel .. Folgende Romane sind Teil der Polychora-Trilogie: 1. "Die geträumte Welt" von Achim Mehnert 2. "Kommandofehler" von Rüdiger Schäfer 3. "Versprengte der Unendlichkeit" von Dennis Mathiak

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Erster Band der Polychora-Trilogie

Die geträume Welt

von Achim Mehnert

Kleines Who is Who

Aliken Hantoon – ein weiblicher Korporal der Solaren Flotte entwickelt eine unerwartete Fähigkeit

Angen-Math – der eitragende Wanderer durch die Sphären spürt dem Rätsel seiner Herkunft nach

Atlan – der Arkonide findet sich als Zentralfigur einer Prophezeiung wieder

Berich Lursen – ein »Hoher« muss der sich »Niederen« fügen

Buchanan Churl, Eigen Korth, Fyderus Ynster und Lars Roupol – vier Raumsoldaten begleiten Atlan durch eine Welt voller Geheimnisse

Das Orakel – in der kleinen Positronik lebt das Bewusstsein einer alten Maschine

Denzen Hesper – der »Frischling« rät zur Vorsicht

Die Fünf – niemand kennt die mächtigen Herrscher Polychoras

Feynrich – Atlan geht dem »Hohen« an den Hals

Faun Malkovoch – wie immer ist der Erste Wesir ergebener Diener seiner Herrin

Galverin Schmidt – dem Korporal mangelt es nicht an Selbstbewusstsein

Ganus a That – der Mann vom Mars will dem Rätsel auf den Grund gehen

Glitter – die Macht der Auflösung ruft Widerwillen hervor

Harlon Darter – einem kleinen Mann ist ein anderer kleiner Mann Vorbild

Itter Krispen undRopander Tin – der Archäologe und der Epsaler erleben die Schrecken der Irrealität

Jeanery Harrison – die Generalin bittet den Lordadmiral an Bord

Kyle Griffin – ein Rebell wagt sich weit vor

Myriam Weyport – die Plophosgeborene sorgt sich um ihre Kollegen

Oberst Kalafarr – ein Kommandant verschwindet mitsamt seinem Schiff

Palster Weiren – für den Schaumbeherrscher kommt Hochmut vor dem Fall

Perry Rhodan und Julian Tifflor – der Großadministrator und der Solarmarschall gefallen sich als Geheimniskrämer

Pirl Crisp – ein junger Mann will dem Erlöser helfen

Saken Dasch, Ainut Hernason und Tirfin »Black Finger« Surget – das ungleiche Trio beherrscht eine dubiose Welt am Rand von Scutum-Cux

Serena – Atlan ignoriert ihren Augenaufschlag

Sheyfun – der ferronische Hyperphysiker wird blass

Tarquosch, die Krücke – ein Zwerg befreit Insekten aus Bernstein

Tipa Riordan – die Chefin der Piraten ist einer größeren Sache auf der Spur, als ihr lieb sein kann

Gorken Tansith – der oberste Feuerdiener ist Tante Tipa ein Dorn im Auge

Vernil Grosz – ein kleiner Leutnant muss einem Lordadmiral Befehle geben

Zhyr-Krit – der Ara bekommt einen unerwarteten Patienten

Kapitel 16. September 3126

Die Übertragung war stetig schlechter geworden. Einzig ein statisches Rauschen blieb als letzter Nachhall. Nachdem auch es verklungen war, herrschte gespenstische Stille.

Ganus a That starrte in den Bildschirm, obwohl es darin nichts mehr zu sehen gab. Schwärze füllte den holographischen Kubus aus, und für Sekunden legte sie sich als düsterer Schatten auf a Thats Gemüt. Er hatte kommen sehen, was geschehen würde, es aber nicht wahrhaben wollen. Dennoch brachte ihn die Lawine der Ereignisse nicht von seiner Haltung ab. Auch nachdem das Desaster eingetreten war, dachte er nicht daran, seine Linie zu ändern.

»Wir haben sie verloren. Die Zone hat sie verschluckt und wird sie nicht wieder preisgeben.«

Das Krächzen riss den Marsianer der a-Klasse aus seiner Erstarrung. Er desaktivierte den Monitor und richtete seine Aufmerksamkeit auf Denzen Hesper, seinen Kollegen mit den strähnigen roten Haaren. Dem sezierenden Blick aus Hespers wässrigblauen Augen schien kaum etwas zu entgehen.

»Das Abreißen der Verbindung muss nicht gleich bedeuten, dass ihnen etwas zugestoßen ist.«

»Ich fürchte aber, dass es ihnen nicht gut geht. Was wir eben gesehen haben, war … unheimlich. Mir läuft es noch immer kalt den Rücken hinunter.«

»Kriegen Sie sich wieder ein, Herr Kollege.« Frischling. So pflegte a That den zwanzig Jahre jüngeren Terraner bei sich zu nennen. »Es gibt eine wissenschaftliche Erklärung für die Vorgänge.«

»Die wir mit all unserer Ausrüstung nicht finden.« Hespers Stimme klang fast trotzig. Er sah sich nach Zustimmung heischend um.

Myriam Weyport, die zierliche Plophosgeborene, und der Epsaler Ropander Tin ließen nicht erkennen, was sie dachten. Beide galten als übervorsichtig mit der Äußerung ihrer Ansichten. Während Hesper den Konflikt mit a That nicht scheute, hielten sie sich häufig zurück, um den Marsianer nicht zu einem der cholerischen Anfälle zu provozieren, für die er bekannt war.

»Wir stellen weitere Erkundungen und die Suche nach einer wissenschaftlichen Deutung hinten an«, versuchte die blonde Plophoserin Gelassenheit zu demonstrieren. »Zunächst sollten wir uns darauf einigen, was wir unternehmen, um den Verbleib unserer Kollegen zu klären.«

»Wir überlassen sie nicht ihrem Schicksal«, stellte der Marsianer unmissverständlich klar.

»Sie plädieren dafür, eine weitere Suchmannschaft in die Zone zu schicken?« Ropander Tins dunkle Bassstimme drückte Zweifel aus.

»Sie etwa nicht?«

Der Epsaler zuckte unentschlossen mit den Achseln. Bei einem extrem muskulösen Humanoiden, der nur 1,60 Meter groß, aber dafür ebenso breit war und dessen Kopf auf einem äußerst kurzen Hals saß, wirkte die Geste linkisch. Wie immer, wenn er die Wortführung und Entscheidung lieber dem Marsianer überließ, verknotete er die Finger seiner mächtigen schaufelartigen Hände ineinander.

»Ich lehne es kategorisch ab, weitere Leben aufs Spiel zu setzen«, protestierte Denzen Hesper.

Ganus a That straffte seine hagere Gestalt. Von dem Frischling hatte er nichts anderes als Widerspruch erwartet. Allerdings, gestand er sich ein, war dessen ablehnende Haltung nicht unbegründet. Unerklärliche Phänomene spielten sich in dem Bereich ab, den sie die Störungszone nannten. In jüngster Zeit hatte sich bei den Wissenschaftlern der schlichte Begriff »Zone« für die Ausdehnung der Störungen eingebürgert, die im Inneren des Mondes »Nacht« auftraten. Die Wissenschaftler waren zu einigen wenigen Antworten gelangt, die von einer weitaus größeren Zahl Fragen übertroffen wurden. Um der Zone ihre Geheimnisse zu entreißen, waren in den vergangenen Monaten mehrere Forscherteams in Richtung der Magmakammer vorgestoßen und mit jenen unerklärlichen Phänomenen konfrontiert worden, die man als strukturelle Störung des Universums interpretierte. Nun war eine Expedition verloren gegangen, und keiner von ihnen hatte eine Vorstellung davon, was aus den Männern geworden war. Hespers Vorbehalte waren daher durchaus nachvollziehbar.

»Wir lassen unsere Leute nicht im Stich«, ließ a That keinen Zweifel daran aufkommen, wie er sich den nächsten Schritt vorstellte.

»Nur zu. Allerdings bezweifle ich, dass sich Freiwillige finden, die zu einem Vorstoß mit ungewissem Ausgang bereit sind. Maßen Sie sich an, jemanden für ein potenzielles Selbstmordkommando einzuteilen?«

Scharf sog der Marsianer die Luft ein. Es gelang ihm gerade noch, die harsche Entgegnung, die ihm auf der Zunge lag, zu unterdrücken. Der Frischling versuchte ihn zu provozieren. Wahrscheinlich wartete Hesper nur auf eine Bestätigung, um a That der Überheblichkeit bezichtigen zu können. Natürlich besaß der Marsianer seinen Kollegen gegenüber keine Weisungsbefugnis. Sie waren eine homogene Gruppe, darauf legte die Chefin wert. Sie hatte keinen von ihnen mit höherrangigen Kompetenzen ausgestattet. Stattdessen hatte sie den Wissenschaftlern das Orakel zur Seite gestellt, das sich zu a Thats Verwunderung bisher schweigend verhielt.

»Auf eine solche Idee würde Ganus nicht kommen«, behauptete Myriam Weyport diplomatisch.

»Richtig. Wir holen unsere Kollegen aus der Zone heraus.«

»Wie wollen wir das anstellen, ohne dass sich wiederholt, was geschehen ist?«

Ganus a That spürte Zorn in sich aufsteigen. »Uns wird etwas einfallen«, entfuhr es ihm. »Schwere Schutzanzüge, dazu Kampfroboter.«

»Die Anzüge haben der Gruppe nichts genützt.«

»Außerdem gab es keinen Feindkontakt«, erinnerte der Epsaler. »Gegen wen sollen die Roboter vorgehen? Gegen was?«

»Wir finden es heraus. Dazu brauchen wir nicht nur unsere Fähigkeiten und unsere Ausrüstung, sondern ein bisschen Zuversicht.« Andernfalls war das Projekt gefährdet. Nur wenn es sich als sicher herausstellte, würde es weiter betrieben werden. A That wollte herausfinden, was es mit der Zone auf sich hatte, ihr die Geheimnisse entreißen, die die Forscher bisher nur wenig durchschauten. Der Verlust oder das unerklärliche Verschwinden von Menschen waren der Zukunft des Projekts wenig zuträglich. Zumindest musste geklärt werden, was mit ihnen geschehen war und wie man ähnliche Fehlschläge künftig würde vermeiden können.

»Ich bin strikt dagegen«, widersprach der Rotschopf. »Jeder weitere Versuch ist viel zu gefährlich. Das wissen wir nun endgültig. Es wäre grob fahrlässig, die bisherigen Fehlschläge zu ignorieren.«

»Es gibt Argumente dafür und dagegen. Eine salomonische Entscheidung wäre es, wenn du selbst einen weiteren Vorstoß anführen würdest, Ganus a That«, meldete sich das Orakel mit sonorer Stimme.

In der Raumecke stand regungslos ein GLADIATOR. Der terranische Kampfroboter hatte sich während der ganzen Diskussion nicht ein einziges Mal gerührt. In seinen stählernen Händen hielt er ein silbernes Tablett. Das darauf ruhende Gerät von Ballgröße fiel erst auf den zweiten Blick auf. Die leistungsfähige Minipositronik glänzte metallisch im Schein der künstlichen Beleuchtung. Sie war das eigentliche Orakel. Das Orakel war a That suspekt, da es eine Reihe einer Positronik unangemessener Eigenheiten an den Tag legte und sich zuweilen verklausuliert und umständlich ausdrückte. Da es sich nun in die Diskussion einbrachte, war seine Aussage umso eindeutiger.

»Ich schließe mich nicht aus«, sagte a That.

»Das ist Wahnsinn!«, beharrte Denzen Hesper auf seinem Standpunkt. »Ich weigere mich, an einer Expedition ins Ungewisse teilzunehmen.«

»Ich habe es begriffen.« Frischling.

»Wollen Sie mir deshalb Vorwürfe machen?«

»Mich würde interessieren, wie die Chefin die Lage beurteilt«, enthob Weyport den Marsianer einer Antwort.

Die Anregung kam a That nicht ungelegen. Ohnehin war überfällig, die Chefin über die Entwicklung zu unterrichten. Seit ihrem letzten Besuch auf Nacht waren einige Wochen vergangen. Er hatte keine Ahnung, in welchem Teil der Milchstraße sie mit der BUTTERFLY kreuzte. Das Orakel als ihr Stellvertreter und Statthalter in der unterirdisch verborgenen Forschungsstation war jedoch jederzeit über ihren Aufenthaltsort unterrichtet.

Vor a Thats geistigem Auge spulten sich bizarre Bilder ab. Sie erschreckten ihn, waren faszinierend und verstörend zugleich. Er gewahrte einen Raum, dessen Abmessungen sich nicht definieren ließen. Eis bildete eine Blase, eine Art Kokon, durch den die verschollene Forschergruppe sich vorantastete. Zumindest sahen die verschwommenen Wände, der Boden und selbst die Decke des unüberschaubaren Refugiums aus wie aus Eis geformt. Sie schienen näher zu rücken, dann weiter entfernt zu sein, gewannen an materieller Stabilität und zerfaserten gleich darauf zu diffusem Trugwerk. Die letzten visuell übermittelten Eindrücke seiner verschollenen Kollegen verblassten und entließen den Marsianer in die Wirklichkeit.

»Ich stimme Ihrem Vorschlag zu, Myriam. Ist jemand dagegen?«

Niemand meldete sich. Noch zur selben Stunde setzte Ganus a Thart einen gerafften und kodierten Hyperfunkspruch ab.

Lustlos stocherte Tipa Riordan in dem Essen, das sie sich hatte auftragen lassen. Seit Tagen hatte sie kaum einen Bissen hinunterbekommen. Bongorischer Blumenkohl blickte sie vorwurfsvoll an, und die kunstvoll pochierte Venutenlende ertrank in der gelblichen Soße, in die sie sie mit ihrer Gabel missmutig hineinstieß.

Eigentlich hätte ihre Laune bestens sein müssen. Auf abenteuerlichen Wegen war ihr ein Speicherkristall in die Hände gefallen, der angeblich Hinweise auf ein uraltes technisches Artefakt von unschätzbarem Wert enthielt. Zwar war es ihr bisher nicht gelungen, das verschlüsselte Datenpaket zu knacken, doch sie war guter Dinge, dass sich das in Bälde ändern würde. Zu diesem Zweck war sie auf dem Weg ins Newton-System. Sie hatte ihre Verbindungen zu den Wissenschaftlern auf Kopernikus spielen lassen und einen Experten gefunden, der mit Anliegen wie dem ihren vertraut war. Angeblich. Hieß es. Große Sorgen, vergeblich zu der terranischen Kolonialwelt zu fliegen, machte sie sich nicht. Ihre Quellen waren verlässlich. Eine Tipa Riordan lockte man nicht ohne stichhaltige Argumente durch die halbe Galaxis.

Dennoch hatte ihr etwas die Stimmung verdorben. Die kaum mehr als anderthalb Meter große Piratin schnaubte und schob den Teller von sich. Nein, ihr war nicht nach Essen zumute, mochte es auch noch so köstlich sein. Sie sah auf, als sich das Schott zu der kleinen Messe öffnete, in der allein sie sich aufhielt. Ihr Erster Wesir Faun Malkovoch trat ein.

»Hatte ich nicht deutlich zum Ausdruck gebracht, ungestört sein zu wollen?«, maßregelte sie ihn. Der Hüne senkte demutsvoll den Kopf. Er setzte zum Sprechen an, doch Tipa Riordan kam ihm zuvor. »Außerdem ist dein Platz als mein Stellvertreter in der Zentrale, solange ich mich dort nicht aufhalte.«

»Verzeihung Ma’am«, brachte Malkovoch hervor. »Wir haben einen dringenden Funkspruch empfangen.«

»Du kommst her, um mir das persönlich zu sagen? Weshalb hast ihn nicht durchgestellt?«

»Weil ich Sie nicht erreichen konnte.«

Er hatte recht. Sie hatte den Interkomanschluss in der Messe desaktiviert. Auch ihr Armbandkom hatte sie ausgeschaltet. Sie presste die ohnehin schmalen Lippen ihres zahnlosen Mundes zu einem Strich zusammen. Ohne triftigen Grund hätte der Erste Wesir sie nicht belästigt. Also waren Umstände eingetreten, die eine rasche Informationsweitergabe erforderlich machten. Die Piratin seufzte. Sie hatte eine ungute Vorahnung.

»Der Funkspruch kam von Nacht?«

»So ist es. Ich habe ihn aufgezeichnet.«

»Ich habe es geahnt.« Tipa Riordan erhob sich so schwungvoll, dass der Stuhl gefährlich wackelte. Wie meistens war sie vollständig in schwarzes Leder gekleidet. Zu einer engen Lederhose trug sie bis zu den Waden geschnürte Sandalen, dazu eine schwarze Lederjacke, die von einem breiten Gürtel zusammengehalten wurde. Ein Mikroprojektor aus siganesischer Fertigung zum Aufbau eines HÜ-Schirms war darin untergebracht. »Wann ist der Funkspruch eingegangen?«

»Vor etwas mehr als fünf Minuten.«

»Dann hast du auf dem Weg zu mir ganz schön getrödelt«, schalt Tipa ihren Stellvertreter. Sie packte ihren Gehstock und begab sich zum Ausgang. »Komm schon. Worauf wartest du? Unterwegs kannst du mir erzählen, worum es geht. Ich hoffe, meine Leute haben einen Durchbruch errungen.«

»Davon kann keine Rede sein.«

»Sondern?«

»Es ist zu weiteren Komplikationen gekommen. Ein Forscherteam ist bei der Untersuchung der Störungszone verschwunden.«

Tipa Riordan erschrak heftig. Sie hatte es kommen sehen. Die Anlage, die sie auf Nacht betrieb, entwickelte sich zu einem scheinbar unerschöpflichen Reservoir an Schwierigkeiten.

»Einzelheiten!«, verlangte sie. »Was heißt verschwunden?«

»Das scheint den Wissenschaftlern auf Nacht nicht ganz klar zu sein.«

Unwillkürlich beschleunigte die Piratin ihre Schritte. Sie wusste, wie sie auf andere wirkte. Wer sie und ihre Fähigkeiten nicht kannte, unterschätzte sie zwangsläufig. Ein unbedarftes Gegenüber sah in ihr eine alte Frau mit lederartiger, runzeliger Haut, die sich straff über die Wangenknochen spannte. Sie hatte die silbergrauen Haare nach oben gesteckt, wo sie zu einem turmhohen Haarnest gerieten. Was großmütterlich und altbacken aussah, tarnte verschiedene Waffen und Mikrogeräte. Tipas vorspringendes Kinn und die scharf geschnittene, gekrümmte Nase verliehen ihr große Ähnlichkeit mit einem Raubvogel. Ihr leicht vornüber gebeugter Gang und die scheinbare Hilfsbedürftigkeit, mit der sie sich auf ihren Gehstock stützte, hatte jedoch schon manch einen falsche Schlüsse ziehen lassen, indem er sie als schwache Greisin wahrgenommen hatte statt als veritable Anführerin einer Piratenhorde. Man sah ihr nicht an, dass sie Trägerin eines Zellaktivators war. Das lebensverlängernde Gerät war ihr im biologischen Alter von 125 Jahren von Perry Rhodan ausgehändigt worden. Auch der Stock, auf den sie sich stützte, war weit mehr als das, was er zu sein schien. Mit den darin verborgenen Ortungs- und Sendegeräten, dem Paralysator, Impulsstrahler und Desintegrator sowie der hydraulischen Vorrichtung, die der gebrechlich wirkenden Frau Sprünge über fünf Meter und mehr erlaubte, war er ein kleines Wunderwerk der Technik. Alles in allem war Tipa Riordan ein wandelndes Waffenarsenal, das gegen alle Eventualitäten gefeit war.

Nur nicht gegen die Geschehnisse auf Nacht, dachte sie grimmig, nachdem Faun Malkovoch seinen Bericht abgeschlossen hatte.

»Um alles muss ich mich selbst kümmern«, beschwerte sie sich. »Ist es da ein Wunder, dass ich sogar das beste Essen kaum noch vertrage? Es schlägt mir auf den Magen.«

»Das ist nicht möglich, Ma’am. Schließlich tragen Sie einen Zellaktivator.«

»Papperlapapp, mein Junge. Was weißt du schon, wie sich ein Zellaktivator auf mein körperliches Wohlbefinden auswirkt? Und wie das spurlose Verschwinden meiner Leute?«

»Wir fliegen ins Gainbal-System?«, fragte Faun Malkovoch anstelle einer Antwort.

»Unverzüglich.«

»Und Ihre Vereinbarung mit den Wissenschaftlern auf Kopernikus?«

»Die können warten. Ich werde meinen Verbindungsmann kontaktieren und ihn unterrichten, dass ich auf unbestimmte Zeit verhindert bin.«

»Damit habe ich gerechnet. Ich war deshalb so frei, die Linearetappe unterbrechen zu lassen.« Im Gefolge der Kommandantin betrat der Erste Wesir die Zentrale der BUTTERFLY.

Tipa Riordan ließ sich in einen schweren Gliedersessel fallen. Auf dem Panoramaschirm zeichnete sich der Sternenozean des Einsteinraums ab. Die BUTTERFLY pflügte mit halber Lichtgeschwindigkeit durch interstellaren Leerraum, stetig beschleunigend. Die gewohnten Bilder auf dem zentralen Monitor lockten keinen Hund hinter dem Ofen hervor, eine weltraumerprobte Piratin wie Tipa schon gar nicht. Sie verlangte eine Funkstrecke nach Nacht, um sich von den Forschern noch einmal persönlich in Kenntnis setzen zu lassen.

Der Marsianer Ganus a Thart, mit dem sie verbunden wurde, wiederholte im Prinzip, was sie bereits von ihrem Stellvertreter erfahren hatte. Allerdings kam nun die Unsicherheit dazu, die sie a Tharts Bericht entnahm. Er wusste nicht weiter, plädierte jedoch dafür, unter allen Umständen eine Expedition auszusenden, um die Vermissten zu suchen. Im Prinzip stimmte Tipa ihm zu. Andererseits wollte sie keine weiteren Wissenschaftler verlieren. Sie fühlte sich für ihre Leute verantwortlich.

»Lässt sich kein Funkkontakt herstellen?«

»Nachdem er einmal abgerissen war, ließ er sich nicht wieder aufbauen. Die Bildverbindung war schon vorher unterbrochen.«

»Schickt Sonden hinein.«

»Das haben wir getan. Sie ereilte das gleiche Schicksal wie unsere Leute.«

»Der Kontakt zu ihnen ging verloren?«

»So ist es. Sollen wir den Versuch wiederholen?«

»Ja«, entschied Tipa Riordan. »Über unsere weitere Vorgehensweise entscheide ich vor Ort«, kündigte sie an und beendete die Verbindung. Das Gehörte war verwirrend. Schon bei früheren Vorstößen war es zu Zwischenfällen gekommen, doch nie so dramatisch wie in diesem Fall. Die Störungszone schien sich auszudehnen und sich der Forschungsstation zu nähern. Wenn das zutraf, blieb auf absehbare Zeit keine Alternative zu einer Evakuierung.

»Wir sind auf dem Weg ins Gainbal-System.« Faun Malkovoch hatte inzwischen die entsprechenden Befehle an die Zentralebesatzung weitergegeben.

Die Piratin nickte knapp. Ihre vierhundertköpfige Besatzung funktionierte so gut wie der Kreuzer. Auch für einen Raumer wie die BUTTERFLY fing das Leben mit 66 Jahren erst so richtig an, und die hatte das Schiff inzwischen erreicht. Es war damit, wie Tipa manchmal scherzend anmerkte, so verlässlich wie ein Mann in den besten Jahren. Sie vertraute dem zweihundert Meter durchmessenden Prachtstück, das auf der Zelle eines terranischen Angriffskreuzers der TERRA-Klasse basierte, uneingeschränkt. Zu seinen technischen Spezifikationen, die in einem Dreiviertel der Feuerkraft eines Flottenkreuzers gipfelten, kamen kleine vergnüglich Extras wie eine luxuriöse Saunalandschaft und das Schwimmbad, das Tipa hatte einbauen lassen.

Perlen vor die Säue. Viel zu selten gönnte sie sich die Muße, sich den Annehmlichkeiten der BUTTERFLY hinzugeben.

Ihre Gedanken drifteten zum Mond Nacht ab, auf den sie bereits im Jahr 3090 aufmerksam geworden war. Als Freibeuter der Sterne musste man Augen und Ohren überall haben. Tipa Riordans Anhängerschaft bestand nicht allein aus der Besatzung der BUTTERFLY. Sie unterhielt eine ganze Reihe von Stützpunkten und geheimen Stationen und wurde unentwegt mit Informationen versorgt. Damals hatte sie vom Kult der feurigen Wiedergeburt erfahren, der auf dem Planeten Nancanor sein Unwesen trieb. Der arkonidische Wissenschaftler Naron Falton hatte dort nach einer Schwachstelle im Universum gesucht, die laut seinen Aussagen Zugang in eine andere Welt bieten sollte – und sie auf Nancanor angeblich gefunden.

Die Neugier hatte Tipa Riordan ins Gainbal-System getrieben, zum innersten Planeten Nancanor und schließlich zu dessen Mond Nacht. Auf Nancanor war sie auf nichts gestoßen, was für sie von Interesse gewesen wäre. Auf Nacht jedoch hatten die von den Wissenschaftlern im Newton-System optimierten Einrichtungen der BUTTERFLY ein bemerkenswertes physikalisches Phänomen registriert, dem nachzugehen sich lohnte. Unter dem Deckmantel merkantilen Interesses hatte Tipa in den folgenden Jahren einen geheimen Beobachtungsposten eingerichtet, tief unter der Mondoberfläche gelegen. Die heutige, größtenteils aus Wissenschaftlern und Technikern bestehende Besatzung umfasste vierzig Mann. Wendete sich das Schicksal in Form unbekannter Kräfte nun gegen sie?

»Linearetappe programmiert«, vernahm die Piratin die Stimme ihres Stellvertreters. »Übergang steht unmittelbar bevor … Eintritt in den Linearraum vollzogen.«

Die Darstellung im Panoramaschirm änderte sich schlagartig, als die Kalupschen Kompensationskonverter die BUTTERFLY aus dem gewohnten Raum-Zeit-Gefüge in die Librationszone zwischen Normalraum und Hyperraum beförderten. Wo eben noch die Sternbilder des Einsteinuniversums zu sehen gewesen waren, zeichneten sich nun die Schlieren des Linearraums ab. Die fließenden Gebilde hüllten das Schiff ein und schienen es auf seinem Weg zu begleiten. Dabei war dort draußen nichts. Was Tipa Riordan zu sehen bekam, war eine optische Darstellung dessen, was die Positronik an irrealen Daten zu interpretieren versuchte und nicht anders zu visualisieren wusste. Raumfahrern war dieser Anblick vertraut, doch er blieb auf ewig unwirklich.

So unwirklich wie die Vorkommnisse auf Nacht, zog Tipa eine Parallele zu den sich zuspitzenden Ereignissen.

Ihre Wissenschaftler hatten im Inneren des Mondes eine strukturelle Störung des Universums entdeckt. Die Bezeichnung an sich klang in den Ohren der Piratin widersprüchlich. Denn die Struktur des Universums war bis heute nicht vollständig und längst nicht schlüssig erkundet. Daher war es vermessen, von einer Störung zu sprechen, die womöglich einen ganz normalen Bestandteil des Universums bildete, mit dem die Menschheit bisher bloß noch nicht konfrontiert worden war. Darüber ins Grübeln zu geraten war indes müßig. Die Zwischenfälle auf Nacht mussten geklärt, die Verschollenen gerettet werden, ohne dass es zu weiteren Verlusten kam.

Tipa Riordan machte sich größere Sorgen, als sie zu erkennen gab. Die folgenden Orientierungsphasen und Linearetappen verbrachte sie schweigend.

Am 8. September 3126 erreichte die BUTTERFLY das Gainbal-System.

Kapitel 28. September 3126

Nach der letzten Linearetappe stand Gainbal schimmernd im Zentrum des Panoramaschirms. Beiläufig registrierte Tipa Riordan die daneben eingeblendeten Daten. Es handelte sich um eine blaue Sonne vom Typ A mit der etwa doppelten Masse des Zentralgestirns des Solsystems. Die Oberflächentemperatur betrug rund 8000 Grad Kelvin. Gainbal gehörte zu einer langgestreckten Ballung aus etwa 120.000 Sonnen, die einen stark strukturierten Ausläufer des Scutum-Cux-Spiralarmes bildeten. Der Stern war 9920 Lichtjahre von Terra entfernt und lag zu Tipas Missfallen in relativer Nähe zum Einflussbereich des Carsualschen Bundes. Seit Jahrzehnten war die galaktopolitische Lage instabil. Die Piratin fürchtete deshalb schon lange, der Bund könne auf die Idee kommen, seine Finger nach Nancanor und Nacht auszustrecken. Bisher war er offenbar nicht auf die Vorgänge auf dem kleinen Mond aufmerksam geworden. Um die Besatzung der Station und die wichtigsten Ausrüstungsgegenstände notfalls evakuieren zu können, war auf Nacht eine Korvette geparkt.

Nancanor, der innerste Planet, lag im Anflugkorridor der BUTTERFLY. Da sein Bahnradius mit nur 0,1 Astronomischen Einheiten sehr klein war, galt er mit seinen rund hundert Erdmassen als sogenannter »heiße Jupiter« der Planetenklasse IV-V.

Regungslos betrachtete Tipa Riordan die Bilder der schmutzigen, rötlich-braunen Kugel, die sich aus Schichten heißen Heliums und Wasserstoffs zusammensetzte. Eine feste Oberfläche gab es nicht, und der vermutlich diamantartige Kern des Riesen war bis heute nicht zweifelsfrei nachgewiesen worden. Die Piratin rümpfte die Nase. Weiße Siliziumwolken zogen über das Antlitz der lebensfeindlichen Welt. Die Temperaturen in den oberen Atmosphäreschichten betrugen am Tag 900 bis 1100 Grad Kelvin, die Tagesdauer belief sich auf fünf irdische Tage, ein Umlauf um die blaue Sonne beanspruchte 8,16 Tage.

»Kontakt zu Asther herstellen und unser Eintreffen ankündigen. Ich will vermeiden, dass man mir vorwirft, mich anzuschleichen wie eine Diebin.«

Der Funker bestätigte und führte den Befehl aus. Während der Pilot eine leichte Kurskorrektur vornahm, schaltete seine Kommandantin eine Ausschnittvergrößerung.

Nancanor war nicht im eigentlichen Sinne besiedelt. Zwischen den rasch dahinziehenden Siliziumwolken hing ein verwinkeltes Habitat unterhalb der Atmosphärengrenze. Es bestand im Kern aus einer ausrangierten, fünfzehnhundert Meter langen Springerwalze und einer vierhundert Kilometer tiefer gelegenen Anlage namens Perya. Dieses Konglomerat setzte sich aus einem Dutzend kleiner Einheiten zusammen und war durch einen stabilisierten Feldtunnel mit Asther verbunden. Das gesamte Habitat hatte man mittels Antigravfeldern in einem geostationären Orbit verankert. Durch atmosphärische Prozesse waren die Temperaturen mit 500 Kelvin vergleichsweise moderat.

Der Pilot hatte die Geschwindigkeit gedrosselt und navigierte mit konzentrierter Aufmerksamkeit. Durch die Nähe zur Sonne gestaltete sich jedes Manöver als schwierig. Tipa Riordan war in diesem Augenblick für die technisch hervorragende Ausstattung des Kreuzers besonders dankbar. Ein Schiff mit weniger ausgefeilter oder schlecht gewarteter Ortungstechnik navigierte buchstäblich auf Sicht.

Überhaupt waren Nancanor und das Habitat weitgehend auf sich allein gestellt. Der Planet verfügte über keinen Anschluss an irgendeine Hyperfunkkette und hatte dadurch nur sporadischen Kontakt zur Zivilisation. Deshalb wurden in ausreichender Nähe vorbeifliegende Schiffe gern als Relais benutzt.

»Saken Dasch übermittelt seine Empfehlung«, meldete der Funker. »Er äußert sein Erstaunen darüber, dass die BUTTERFLY Asther schon wieder anfliegt und lädt Sie zu einem persönlichen Gespräch ein.«

Tipa Riordan merkte auf. »Schon wieder, was? So hat er sich ausgedrückt?«

»Ja, Ma’am.«

»Verstehe.« Der Akone war also hellhörig geworden. Im vergangenen halben Jahr hatte Tipa, bedingt durch die Vorfälle in ihrer geheimen Mondstation, Asther dreimal angeflogen.

»Das gefällt mir nicht.« Faun Malkovoch trat an die Seite der Kommandantin. »Je freundlicher Saken Dasch ist, desto misstrauischer ist er. Das Triumvirat argwöhnt schon lange, dass Sie beabsichtigen, Einfluss auf die Belange Nancanors zu nehmen.«

»Ich weiß, mein Junge. Deshalb wäre es dumm, die Einladung abzuschlagen. Das würde ihn nur noch hellhöriger machen.«

Außerdem war, wer auf Asther und Perya Geschäfte machen wollte, auf das Wohlwollen des herrschenden Triumvirats angewiesen. Zwar handelte es sich bei Saken Dasch, der Plophoserin Ainut Hernason und dem Naat Tirfin »Black Finger« Surget um eine von der Bevölkerung gewählte Regierung, doch das hinderte das Triumvirat nicht an willkürlichen Entscheidungen. Wessen Nase besonders dem Naat nicht passte, dem wurde das Andocken am Habitat verweigert. Die Piratin hatte den drei Herrschenden mehr als nur einmal versichert, dass sie nicht vorhatte, sich in die internen Angelegenheiten Nancanors einzumischen. Man glaubte ihr nicht. Wer sich selbst kaum vertraute, der traute anderen erst recht nicht, schon gar nicht der erfolgreichen und als gewieft bekannten Piratenlady.

»Soll ich mit Ihnen aussteigen?«

Tipa Riordan nickte. Die Begleitung ihres Ersten Wesirs konnte nicht schaden, auch wenn ihr klar war, dass es vorrangig auf ihr diplomatisches Geschick ankam. Sie lächelte still in sich hinein. Bei vielen galt sie im persönlichen Umgang als verschroben, schroff und wenig umgänglich, besonders bei dem Arkonidenscheich Atlan, der sie lieber auf einem Strafplaneten als in der Kommandozentrale eines Raumschiffs gesehen hätte. Doch sie war durchaus in der Lage, über ihren Schatten zu springen, solange sie sich dabei selbst treu blieb. Söhnchen Rhodan wusste ein Lied davon zu singen.

Jedenfalls kam sie nicht umhin, auszusteigen und sich an Bord der Springerwalze zu bemühen. Es war ihr unmöglich, die Mondstation auf direktem Weg von der BUTTERFLY aus zu erreichen. Dafür benötigte sie den geheimen Transmitter, der Asther mit Nacht verband.

Nach dem Andockmanöver hatte sich Tipa Riordans Aufregung gesteigert. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Triumvirat Verdacht geschöpft hatte. Das unterschiedliche Trio hatte keine Ahnung von den Geschehnissen, die sich im Mondinneren abspielten. Energetische Aktivität drang kaum an die Oberfläche und wurde weitgehend durch die Emissionen der nahen Sonne überlagert, trotzdem ließ sich nicht ausschließen, dass einmal etwas durchschlug und ortungstechnisch aufgefangen wurde. Die Piratin hatte keine Ahnung, was beim Verschwinden der Wissenschaftler geschehen war. Womöglich waren sie auf bislang unentdeckte unterirdische Einrichtungen gestoßen und hatten unbeabsichtigt ein Energiegewitter ausgelöst.

Tipa Riordan wurde bereits in dem speziell hergerichteten Eingangsbereich für Händler und Besucher erwartet. Ein untersetzter Terraner stand am Zugang zur Andockrampe und stierte ihr ungeniert entgegen. Tipa hatte einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt, ein Umstand, der beileibe nicht nur positive Aspekte beinhaltete. Dass sie allerlei nützliche Verbindungen besaß, hatte sich herumgesprochen. Zuweilen kam ihr entgegen, dass sie sogar schon mit dem terranischen Großadministrator Perry Rhodan kooperiert hatte. In anderen Fällen erwies sich diese Bekanntschaft als nachteilig für die Geschäfte. Es war ein schwieriger Balanceakt, einerseits die Vorteile der eigenen Prominenz auszuschöpfen und andererseits aus dem Verborgenen heraus zu agieren.

Der Terraner stellte sich als Neeson Gald vor. Er solle die Besucherin zum Triumvirat führen. Zu weiteren Aussagen war er nicht zu bewegen. Es war Tipa Riordan, die sich auf ihren Gehstock stützte, egal. Ihre Überlegungen beherrschten das ungleiche Herrschertrio. In den Gängen und Korridoren, die sie teil zu Fuß, teils mittels Förderbändern zurücklegten, wich Faun Malkovoch nicht von der Seite seiner Herrin.

Unterwegs hatte sie Muße, sich umzuschauen. Seit ihrem letzten Besuch hatte sich auf den erste Blick nichts verändert. Das hatte es seit Jahren nicht. In der alten Springerwalze schien die Zeit stillzustehen. Tatsächlich lagen die Dinge anders. Rund neunhundert Angehörige verschiedener Völker lebten derzeit noch in Asther, dem Hafen für den Export ausgefallener chemischer Verbindungen, die in den Gasschichten Nancanors geerntet wurden. Sie versuchten, am hauptsächlich von den Bewohnern Peryas erzeugten Wohlstand teilzuhaben, indem sie gefährliche Expeditionen in den extrem heißen Gasozean des Planeten unternahmen. Immer wieder war es dabei zu Katastrophen mit Toten gekommen. Die Tätigkeit in der turbulenten Hölle war vielen zu gefährlich, anderen letztlich nicht ergiebig genug. Daher war die Bevölkerungszahl in den letzten Jahren stark rückläufig. Der Handel starb allmählich aus, wodurch ein dauerhaftes Überleben der Kolonie zweifelhaft geworden war.

Neeson Gald führte sie in einen Bereich, den sie bei früheren Besuchen nie betreten hatte. Das besagte jedoch nichts. In einem Schiff dieser Größenordnung konnte man wochenlang umherstreifen, ohne zweimal an den gleichen Ort zu gelangen. Die nicht einmal tausend Einwohner verloren sich darin. Gewisse neuralgische Bereiche der Walze waren zwar durch Kraftfelder und positronische Sperren gesichert, doch die meisten Orte waren frei zugänglich. Auch wurde man nicht auf Schritt und Tritt von Überwachungseinrichtungen observiert. Weder die drei Herrschenden noch die Bevölkerung Nancanors hatten mit Aktivitäten feindselig gesinnter Gruppen zu rechnen. Andernfalls wäre es Tipa Riordan nicht möglich gewesen, seit Jahren einen geheimen Transmitter an Bord zu unterhalten.

Vor der gebückt gehenden Frau glitt ein Schott beiseite. Mit einer Handbewegung forderte Neeson Gald sie und ihren Begleiter zum Eintreten auf. Tipa kam der Aufforderung nach. Sie zweifelte nicht daran, in diesem Augenblick von einer Vielzahl unsichtbarer Einrichtungen durchleuchtet zu werden, denen ihre versteckten Waffensysteme nicht entgingen.

»Willkommen auf Asther, Tipa Riordan. Als Handelsreisende und Geschäftsfrau sind Sie uns jederzeit willkommen«, begrüßte sie ein kräftiger Mann, der sie um doppelte Haupteslänge überragte. Saken Daschs samtbrauner Teint und die dunklen, ins Rötliche spielenden Haare erinnerten an die Abstammung des akonischen Volkes von den Lemurern. »Unser Gruß gilt selbstverständlich auch Ihrem Begleiter. Ihr Erster Wesir Faun Malkovoch, wenn ich mich richtig erinnere?«

»Guten Tag, Sir.« Malkovoch hieb sich nach alter Begrüßungssitte der Weltraumpiraten mit der Faust drei Mal kräftig unters Kinn. Er wankte ein wenig, hatte sich aber kurz darauf wieder unter Kontrolle.

»Sehr richtig«, bestätigte Tipa Riordan, den Akonen gerade eben so lange musternd, dass er es nicht als unfreundlich werten konnte.

Gleich zu Beginn machte er seinem Ruf alle Ehre. Er galt als feinfühlig und diplomatisch. Tipa hielt seine zuweilen übertrieben wirkende Höflichkeit für Fassade. Was hinter der wohlwollenden Maske steckte, ließ sich nur schwer abschätzen. Die Piratin beging jedenfalls nicht den Fehler, sich von seinem Auftreten blenden zu lassen.

Bei den beiden anderen Anwesenden, Ainut Hernason und Tirfin Surget, bestand diese Gefahr erst gar nicht. Die junge Plophoserin mit den harten Wangenknochen und der zierlichen Stupsnase war eine kühle Taktiererin mit Hang zu gelegentlichen Anflügen von Jähzorn, das Hauptinteresse des Naats galt Machterlangung und Machterhalt. Er hatte aus seinen Ambitionen nie einen Hehl gemacht. Die Wichtigkeit jedes Handelspartners für die Prosperität des Habitats und für die Legitimation seiner eigenen Stellung erkannte er an, sein Vertrauen zu gewinnen war jedoch nahezu unmöglich.

»Ich freue mich über den großen Bahnhof. Je häufiger ich Nancanor besuche, desto mehr Aufmerksamkeit wird mir offensichtlich zuteil.«

»Ehre, wem Ehre gebührt.« Ainut Hernason machte eine einladende Geste. »Nehmen Sie Platz. Ihr Wesir auch.«

Tipa ließ sich nieder. Malkovoch verschränkte die Arme vor der Brust und positionierte sich neben ihr.

»Faun steht lieber.«

»Ganz wie er will.«

Der Bereich, in den Neeson Gald sie geführt hatte, war eine Mischung aus Regierungssitz, Technikzentrale und Besprechungsraum. Von einer großzügig angelegten Sitzlandschaft blickte Tipa auf einen Holoschirm, der ungehinderten Blick auf Perya vorgaukelte. Ringsum angeordnet, verbreitete die Blütenpracht exotischer Pflanzen einen süßlichen Duft. An zwei Wänden erstreckten sich positronische Bauelemente, Eingabeeinheiten und eine kleine Funkstation. Monitore zeigten Abschnitte des Walzenraumers. Es handelte sich um Lagerräume und öffentlich nicht zugängliche Sektionen.

»Ich weiß die Ehre, die mir zuteil wird, zu deuten. Das Maß an Aufmerksamkeit, das Sie einer rechtschaffenen Fahrenslady entgegenbringen, wäre mit Misstrauen treffend umschrieben.« Tipa Riordan hatte nicht vor, um den heißen Brei herumzureden. Sie hielt ihre Worte für ausreichend bedachtsam gewählt, um noch als diplomatisch durchgehen zu können. Ihre Sinne waren angespannt. Die Befürchtung, dass etwas von ihren Aktivitäten auf Nacht ans Tageslicht gekommen war, ließ sie nicht los.

»Das klingt nach schlechtem Gewissen«, sagte Hernason.

»Ganz gewiss nicht.«

»Also ist ihr dritter Besuch auf Asther innerhalb eines halben Jahres Zufall?«

»Nein, kein Zufall. Ich wickle Geschäfte ab.«

»Darf man fragen, was für Geschäfte?«, erkundigte sich Tirfin Surget mit grollender Bassstimme. Der Sessel erbebte, als sich der drei Meter große, füllige Naat darauf niederließ. In sitzender Position reichten seine langen Arme bis auf den Boden.

Tipa versuchte im schwarzhäutigen Gesicht des klobigen Hünen zu lesen. Es gelang ihr nicht. Der Blick aus den drei Augen, die seinen großen, haarlosen Kugelkopf dominierten, taxierte sie.

»Fragen dürfen Sie, aber erwarten Sie keine Antwort. Solange man sich keine Verstöße gegen die Regeln des Habitats erlaubt, sind die Gedanken frei und Geschäfte nicht für die Ohren Dritter bestimmt. Oder haben sich die Bestimmungen geändert, Black Finger?«

»Nein.« Surget ging nicht auf die Nennung seines Spitznamens ein. »Es sei denn, Ihre angeblichen Geschäfte sind nur vorgeschoben.«

Die Piratin fühlte sich ertappt. »Wie meinen Sie das?«

»Uns sind Gerüchte zu Ohren gekommen.« Die Plophoserin hob die Stimme. Der Vorwurf in ihren Worten war nicht zu überhören. »Asther ist ein lukrativer Ort, um Geschäfte zu machen, besonders wenn man eine Führungsposition inne hat. Es heißt, Sie liebäugeln damit, Einfluss auf die Politik unserer Kolonie zu nehmen.«

»Und damit auf die Politik des Triumvirats? Unsinn!« Tipa Riordan gab dem Ersten Wesir ein Zeichen.

»Meine Herrin ist dankbar für Ihre Erlaubnis, auf Nancanor ungestört ihren Geschäften nachgehen zu können. Geschäften, die, es braucht nicht ausdrücklich erwähnt zu werden, mit den hier geltenden Bestimmungen konform gehen«, erklärte Faun Malkovoch. »An mehr ist ihr nicht gelegen. Die häufige Wiederholung von unhaltbaren Gerüchten erhöht nicht deren Wahrheitsgehalt. Meine Herrin wäre dankbar für die Akzeptanz dieser Tatsache. Statt Ihr Augenmerk fälschlicherweise auf uns zu legen, wäre es geraten, sich auf eine andere Gruppierung zu konzentrieren.«

»Sie wagen es, uns Vorschriften zu machen?«, empörte sich Hernason. »Damit erreichen Sie nur das Gegenteil. Ich werde Sie nicht aus den Augen lassen, Piratin.«

»Nur die Ruhe, Ainut«, wirkte Saken Dasch auf die Plophoserin ein. »Ich bin sicher, Miss Riordan wollte nur ihre Besorgnis zum Ausdruck bringen.«

»So ist es«, bestätigte Tipa. Sie hatte ihren Stellvertreter angewiesen, den letzten Satz in die Runde zu werfen.

»Seien Sie bitte so freundlich, uns zu verraten, welche Gruppierung Sie meinen«, bat der Akone mit gekünsteltem Lächeln.

»Daran besteht kein Zweifel! Es geht um den obersten Feuerdiener Gorken Tansith und den Kult der feurigen Wiedergeburt«, warf Tirfin Surget ein. »Oder irre ich mich?«

»Durchaus nicht. Ich halte Tansith für einen gefährlichen Mann. Mit dem Primus inter Mori haben Sie sich eine Laus in den Pelz gesetzt, die Sie so schnell nicht wieder loswerden. Auf Perya leben meines Wissens etwa fünfhundert Seelen. Wie viele davon entfallen auf den Kult?«

»Mit hundertsechsundsiebzig Personen stellt der Kult die größte Bevölkerungsgruppe auf Perya«, gab Dasch bereitwillig preis. »Er zahlt eine immense Summe für das permanente Wohnrecht. Was werfen Sie Gorken Tansith vor?«

»Dass er der zwielichtige Aufseher über eine Horde verdummter Idioten ist.« Tipa Riordan fing einen warnenden Blick des Wesirs auf. Es hieß, der Kult breite seine Macht bereits seit 3102 über Perya und Asther aus und habe Tirfin Surget gekauft. »Ich halte die Machenschaften des Kults für kriminell. Tansith schafft es, Ihnen die USO auf den Hals zu hetzen oder gar den Carsualschen Bund auf den Plan zu rufen. Mir könnte das gleichgültig sein, wären dann nicht auch meine Geschäfte gefährdet.«

»Genug davon«, brummte der Naat. »Sie beschweren sich über unsere Vorbehalte Ihnen gegenüber und erheben schwere Anschuldigungen gegen Habitatsangehörige, mit denen wir bisher keine Probleme hatten.«

»Das kommt noch.«

Ainut Hernason erhob sich. »Ich pflichte Surget bei. Sie versuchen von sich selbst abzulenken, indem Sie einen Nebenkriegsschauplatz eröffnen. Ich denke, wir haben genug gehört. Diese Unterhaltung führt zu nichts. Ich schlage vor, dass Sie uns nun verlassen und Ihren Geschäften nachgehen.«

»Mir werden also keine Beschränkungen auferlegt?« Natürlich nicht. Nicht ohne triftigen Grund. Das würde sich bei anderen Handelspartnern der Kolonie herumsprechen und ein schlechtes Licht werfen.

»Vorläufig nicht. Finden wir heraus, dass Sie etwas gegen Nancanor im Schilde führen, ändert sich das ganz schnell. Sie finden den Weg allein, oder soll ich Neeson Gald rufen, damit er sie führt?«

»Nicht nötig.«

Black Finger erhob sich und drehte sich auf seinen kurzen Säulenbeinen um. Mit schaukelndem Gang bewegte er sich zum Ausgang. Erleichtert verließ die Piratin den Raum. Ihre Befürchtungen, das Triumvirat hege einen begründeten Verdacht gegen sie, hatten sich glücklicherweise nicht bestätigt.

»Die Plophoserin ist nicht gut auf uns zu sprechen. Ich fürchte, sie wird uns noch Ärger bereiten«, sagte Faun Malkovoch.

Tipa Riordan schüttelte den Kopf. »Um sie brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«

»Wie Sie meinen, Ma’am.«

Tipa lächelte still in sich hinein. Der Erste Wesir wusste nicht, dass Ainut Hernason auf der Gehaltsliste seiner Herrin stand. Weder übte Tipa Einfluss auf die Belange Asthers aus, noch hatte sie das vor. Sie schützte nur ihre Geheimoperation auf Nacht. Hernasons Aufgabe bestand darin, mögliche unliebsame Beobachtungen unter den Teppich zu kehren und die Piratin gegebenenfalls mit Informationen zu versorgen. Bisher war dieser Plan aufgegangen. Da die Plophoserin gegen Tipa scheinbar die harte Linie fuhr, hegten Saken Dasch und der Naat keinen Zweifel an ihrer Loyalität. Wozu es bis auf diesen einen speziellen Punkt auch keinen Grund gab.

Die gebückt gehende Frau seufzte. Die Dinge gestalteten sich kompliziert – aber wann taten sie das einmal nicht?

Sie verzichtete darauf, direkt zum Transmitter zu gehen, sondern legte ein paar Umwege ein. Erst als sie sicher war, dass sich weder Neeson Gald noch ein anderer Verfolger an ihre Fersen geheftet hatte, begab sie sich in den abgeschiedenen Schiffsbereich, in dem das Transportgerät in einer längst vergessenen Kammer untergebracht war. Durch bloßen Zufall war der Transmitter nicht zu entdecken. Nachdem sie die von einem Mittelsmann eingerichteten Sicherungen überwunden und die Kammer betreten hatte, vertrauten sie und der Erste Wesir sich dem Gerät an, das für einen Nichteingeweihten nicht anders aussah als jeder beliebige ausgemusterte Kleingutcontainer.

Tipa Riordan lauschte dem Bericht der Wissenschaftler mit zunehmender Besorgnis. Die sogenannte strukturelle Störung des Universums dehnte sich aus und wurde damit zu einer Bedrohung für die unterirdische Forschungsstation.

»Besteht Gefahr für die Kernblase?« So wurde die Station intern bezeichnet.

»Nicht unmittelbar«, antwortete Ganus a That. »Allerdings lässt sich nicht voraussagen, wie lange wir hier unten noch sicher sind.«

»Sie empfehlen, unsere Zelte abzubrechen?«

Der Marsianer schüttelte entschieden den Kopf. »Auf keinen Fall. Ich fordere, dass wir eine Suchmannschaft hinter unseren verschollenen Kollegen herschicken.«

»Sie fordern, ich verstehe.« Tipa Riordan wusste, dass a That im Gegensatz zu seinen Kollegen vor keinem Konflikt mit seiner Chefin zurückscheute. »Anderslautende Meinungen?«

»Die gibt es durchaus«, meldete sich Denzen Hesper zu Wort. »Die Störzone ist zu weit vorgedrungen. Es steht zu befürchten, dass wir weitere Leute verlieren.«

»Diese Gefahr bestand von Anfang an. Sie hat sich vergrößert, lässt sich durch eine umsichtige Vorgehensweise aber relativieren.«

Die Piratin betrachtete den in einer Ecke stehenden GLADIATOR, den Träger des Orakels. Das Innenleben der kleinen Positronik war nur ihr bekannt. Sie hatte eine Kopie des Bewusstseins des uralten lemurischen Wachroboters Calipher hineingeladen, Calipher-SIMs genaugenommen. Der eigenwillige Robot, der stets für eine Überraschung gut war, hatte vor knapp fünfzehn Jahren während der Monolith-Krise von sich reden gemacht. Um Tipa zu ärgern, sprach das Orakel gerne verklausuliert und in Rätseln, hatte aber in der Vergangenheit häufig erstaunlichen Weitblick gezeigt, weshalb Tipa ihm seinen Namen verliehen hatte.

»Du bezeichnest das Eindringen der verschollenen Expedition als nicht umsichtig?«

»Wäre es das gewesen, würden wir diese Diskussion nicht führen.«

Tipa schluckte die Kröte. Sie war die Launen der Minipositronik gewöhnt. Unflätige Phasen wechselten sich mit charmanten oder hochintelligenten Phasen ab. Eine der Marotten des Orakels war die Weigerung, selbst einen Roboter zu steuern. Stattdessen kommandierte es den Trägerroboter, manchmal sogar auf akustischem Weg. Tipa akzeptierte seine Eigenwilligkeiten zähneknirschend, da sie unter keinen Umständen auf seine Fähigkeiten verzichten wollte. Sie fürchtete, das Orakel durch eine Umprogrammierung in seiner Leistungsfähigkeit zu beeinträchtigen. Seit 3113 fungierte es mittlerweile als ihr Statthalter auf Nacht. Als sehr launenhafter Statthalter, wie die Wissenschaftler immer wieder monierten.

»Du sprachst davon, die Gefahr für eine Rettungsmission zu relativieren, Orakel. Auf welche Weise könnte das Geschehen?«

»Indem man mir die Koordination überträgt. Sträflicherweise wurde ich zuvor zu wenig in den Ablauf der Expedition eingebunden.«

Düstere Wolken umflorten die Augen des Marsianers. »Es gab nichts einzubinden. Die bestehenden Gefahren waren bekannt, daher gingen unsere Kollegen mit äußerster Behutsamkeit vor.«

Nicht behutsam genug. »Was ist mit der Sonde geschehen, die Sie zuletzt hineingeschickt haben?«

»Sie ging verloren, wie die anderen«, brummte Hesper. »Ein weiterer Beweis dafür, dass die Kernblase nicht mehr lange sicher ist. Die Störzone schickt sich an, uns zu überrollen.«

»Dramatisieren Sie die Ereignisse nicht, Herr Kollege«, tadelte a That.

»Von Dramatisieren kann keine Rede sein. Die Lage ist dramatisch.«

Tipa Riordan stimmte dem jungen Terraner zu. Die Kernblase umfasste mehrere aus Kunststoff vorproduzierte Kuppeln in der großen Magmakammer, hermetisch gegen die Umgebung abgedichtet und mit einer atembaren Atmosphäre versehen. Die Kammer war eine natürlich entstandene Kaverne auf der planetenabgewandten Seite des Mondes. Vor Jahrhunderten hatten Springer dort eine Bergwerksanlage gegraben, geradewegs durch einen längst erodierten Vulkankegel hindurch. Sie hatten nach »Schneeflocken« geschürft, einer besonderen Hochdruck-Modifikation von Diamanten mit fraktaler Strukturausbildung. Dabei hatten sie einen vierzehn Kilometer tiefen, senkrecht abfallenden Schacht in die frühere Magmakammer getrieben und diese wiederum zu einem vierhundert Meter durchmessenden, kuppelförmigen Hohlraum ausgehöhlt. Von dort führten zahlreiche längst nicht mehr katalogisierte Stollen und Schächte ins Innere des Mondes.

Das Bergwerk war schon vor Jahrhunderten aufgegeben worden und in Vergessenheit geraten. Heute existierte neben der Transmitterverbindung nach Asther ein 120 Meter durchmessender Schacht zwischen Kammer und Mondoberfläche. Er war mit einer ausgeklügelten Luftschleusenanlage versehen, um sperrige Fracht zu transportieren. In der Regel erfolgte das während der häufigen Sonnenstürme und war bislang unentdeckt geblieben. Am Ende des Schachts war eine Korvette als Fluchtraumschiff geparkt. Sollte ein Rückzug nötig werden, hatte Tipa nicht vor, die wertvolle Ausrüstung zurückzulassen.

Im Laufe der Jahre waren physikalische und hyperphysikalische Labors sowie umfangreiche Analysesysteme eingerichtet worden. Das Herzstück der Anlage bildete ein Würfel von achtzig mal achtzig mal achtzig Metern, nämlich jene Hochleistungspositronik, die Tipa von der USO für ihre während der Monolith-Krise geleisteten Dienste erhalten hatte. Noch heute dachte sie mit Vergnügen daran zurück, dass dem Beuteterraner Atlan nichts anderes übrig geblieben war, als der Bezahlung zuzustimmen.

Im Augenblick tendierte das Vergnügen der Piratin allerdings dem Nullpunkt entgegen. Denn als sie die Station hatte einrichten lassen, lag das Zentrum der Störung noch acht Kilometer unterhalb der Magmakammer. Inzwischen war es bis in die Nähe der Forschungsstation vorgedrungen. Vielleicht musste Tipa die Einrichtung früher evakuieren, als ihr lieb war. Vielleicht – diese Vorstellung nagte noch wesentlich stärker – war sie sogar gezwungen, die USO über die Ereignisse zu unterrichten. Durch ihre Kontakte zur United Stars Organisation wusste sie, dass deren hohe Tiere ein Auge auf die Kolonie geworfen hatten. Es war geplant, Nacht in ein paar Jahren als USO-Stützpunkt zu benutzen.

»Aus den Aufzeichnungen geht hervor, wie weit unsere Leute vorgedrungen sind?«

»Ja«, bestätigte Ganus a That zögernd.

»Aber?«

»Die Daten sind unzuverlässig, da die Übertragung, besonders am Ende, nur noch bruchstückhaft zu uns durchkam«, erklärte der Epsaler Ropander Tin. »Offenbar fand eine Wechselwirkung zwischen den Impulsen und den unerklärlichen Phänomenen statt. Hinzu kommt, dass die Umgebung, durch die sich unsere Kollegen bewegten, in Veränderung begriffen war.«

»Die Gegebenheiten können sich jetzt also anders darstellen als noch vor ein paar Stunden oder gar vor zwei Tagen?«

Der Marsianer bestätigte das und verringerte damit Tipa Riordans Hoffnung, eine Spur der Verschollenen zu finden. Sie fragte sich, was mit ihnen geschehen sein mochte. Irgendetwas Unheimliches, ahnte sie. Vom Wesen dieser Bedrohung vermochte sie sich jedoch keine Vorstellung zu machen. Waren die Forscher einem unsichtbaren aber nichtsdestotrotz physisch existierenden Gegner zum Opfer gefallen? Sie spielte mit dem Gedanken, kampferprobte Weltraumsöldner aus der BUTTERFLY anzufordern. Einstweilen entschied sie sich dagegen, behielt sich die Option aber vor. Ein Einsatztrupp stand auf Abruf bereit und konnte in kürzester Zeit vor Ort sein.

»Dieser Widerspruch ist nicht der einzige seiner Art«, sagte der zur Korpulenz neigende Geologe Jasper Kreesh. »Ich erinnere an die Aussagen früherer Forschergruppen. Sie behaupteten, in Höhlen aus Wassereis vorgedrungen zu sein. Auf Nacht dürfte es überhaupt kein Wasser geben.«

»Die Berichte wurden durch Aufnahmen von Sonden bestätigt.«

»Durch Aufnahmen von Sonden, die nicht zurückkehrten. Wir müssen uns also fragen, ob da unten noch mehr ist als nur Eis. Existiert im Zentrum der Störzone vielleicht eine Art von Leben, das so fremdartig ist, dass wir es bisher nicht nachweisen konnten?«

A That verdrehte die Augen. Seine Mimik zeigte unmissverständlich, was er von Kreeshs Theorie hielt. »Im Vakuum im Mondinneren kann nichts überleben.«

»Wie erklären Sie sich dann, dass ein paar unserer Vorgänger sicher waren, eine fremdartige Landschaft gesehen zu haben?«, ereiferte sich der Geologe.

»Gar nicht. Diejenigen, die das behaupteten, gaben weitere wirre Details zu Protokoll. Ihre psychische Verfassung machte eine Behandlung mit Psychopharmaka nötig.«

»Das ist aber nicht alles«, drang Kreesh auf den Marsianer ein. »Wir haben zum Zentrum hin eine Zone wieder zunehmender Stabilität entdeckt.«

Tipa Riordan horchte auf. Diese Information war ihr bisher nicht zugetragen worden. »Darf ich das als gesicherte Tatsache annehmen?«

Der Geologe nickte.

A That schüttelte verständnislos den Kopf. »Ganz sicher nicht. Um einen Beweis darüber zu erlangen, müssen wir eine weitere Expedition auf den Weg bringen.«

»Angenommen, das Zentrum der Störungszone stabilisiert sich tatsächlich wieder«, grübelte die Piratin, »was würde das bedeuten? Dass sie sich nicht ausdehnt, sondern in ihrer Gesamtheit in unsere Richtung wandert?« Sie blickte in ratlose Gesichter. Entweder hatten sich die Wissenschaftler noch nicht mit dieser Frage auseinandergesetzt, oder keiner von ihnen hatte eine halbwegs vertretbare Antwort parat.

A That zuckte mit den Achseln.

»Ich bin geneigt, Ihnen zuzustimmen«, wandte Tipa sich an den Marsianer.

»Wir leiten die Suche in die Wege?«

»Drei Personen, mehr nicht. Dazu ein Kontingent Roboter.«