Atmosphere - Taylor Jenkins Reid - E-Book

Atmosphere E-Book

Taylor Jenkins Reid

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Beschreibung

Bereits vor Erscheinen das Stadtgespräch in New York von der Autorin des Bestsellers Die sieben Männer der Evelyn Hugo und Daisy Jones & The Six  Joan Goodwin sieht zu den Sternen auf, seit sie denken kann. Als Professorin für Astrophysik hat sie ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht, und sie ist glücklich, wenn sie ihrer Nichte abends unter freiem Himmel die Sternbilder erklären kann. 1980 wagt sie den Schritt ihres Lebens: Sie bewirbt sich als eine der ersten Frauen für das Space-Shuttle-Programm der NASA. Mit einer Gruppe aus hoch qualifizierten Piloten, Commanders und Ingenieurinnen beginnt sie die intensive Vorbereitung auf ihren ersten Flug ins All. Während sie ihrem Traum von den Sternen immer näher kommt, geschieht etwas, das Joan nicht erwartet hätte: Sie begegnet der Liebe ihres Lebens. Mit einem Mal stellt sie alles infrage, was sie über ihren Platz im Universum geglaubt hat. »Sie werden diesen packenden Roman verschlingen und den Frauen die Daumen drücken, dass sie nicht nur im Raumfahrtprogramm erfolgreich sind, sondern auch darüber hinauswachsen. Ein perfektes Ende. Ich liebe es.« Kristin Hannah 

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Atmosphere

TAYLOR JENKINS REID ist die internationale Bestsellerautorin von Die sieben Männer der Evelyn Hugo, Daisy Jones & The Six und Carrie Soto is Back. Ihre Romane werden millionenfach gelesen, sind in über zwanzig Sprachen übersetzt und werden verfilmt. Taylor JenkinsReid lebt mit ihrer Familie in Los Angeles.

Im Sommer 1980 beginnt die Astronomin Joan Goodwin ihre Ausbildung zur Astronautin bei der NASA, zusammen mit einer außergewöhnlichen Gruppe von Mitbewerbern: dem Piloten Hank Redmond, der warmherzigen Donna Fitzgerald und Vanessa Ford, der schillernden und geheimnisvollen Luft- und Raumfahrtingenieurin.Während der intensiven Ausbildung knüpft Joan neue Freundschaften und entdeckt vollkommen unerwartet eine Liebe, die alles überstrahlt. Doch dann, im Dezember 1984 auf der Mission STS-LR9, ändert sich mit einem Schlag alles.

Taylor Jenkins Reid

Atmosphere

Roman

Aus dem Englischen

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

© 2025 by Rabbit Reids© der deutschsprachigen Ausgabe: 2025 by Ullstein Buchverlage GmbH, Friedrichstraße 126, 10117 BerlinDie amerikanische Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel Atmosphere. A Love Story bei Ballantine Books, New York.Alle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: zero-media.net, Münchennach einem Cover-Design by Faceout Studio, Tim GreenUmschlagmotiv: © Jeff Cottenden; Getty Images; Shutterstock, Adobe Stock; FinePic®, MünchenFoto der Autorin: © Michael Buckner

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ISBN: 978-3-8437-3602-2

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Liebe Leser

29. Dezember 1984

SIEBEN JAHRE ZUVOR

SOMMER 1980

29. DEZEMBER 1984

HERBST 1980

FRÜHJAHR 1981

JUNI 1981

JULI 1981

29. DEZEMBER 1984

AUGUST 1981

HERBST 1981

WINTER 1982

SOMMER 1982

SOMMER 1983

HERBST 1983

FRÜHLING UND SOMMER 1984

HERBST 1984

DER TAG VOR THANKSGIVING 1984

29. DEZEMBER 1984

DANK

WEITERE LEKTÜRE

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Liebe Leser

Widmung

Für Paul Dye, den dienstältesten Flugdirektor der NASA und Autor von Shuttle, Houston

Paul, ich kann mir vorstellen, wie Sie so manche Crew sicher nach Hause gebracht haben. Ohne Sie würde es dieses Buch nicht geben.

   

Liebe Leser*innen,

letzten Sommer ging ich eines Abends nach draußen, nachdem ich meine Tochter ins Bett gebracht hatte, blickte in den Nachthimmel und sah in der Ferne die Venus.

Sie stand knapp über den Bäumen und leuchtete heller als jeder andere Stern. Meine Tochter und ich hatten schon seit ein paar Tagen versucht, die Venus zu entdecken. Darum schlich ich mich zu ihrem Zimmer, obwohl sie eigentlich schlafen sollte, öffnete die Tür und flüsterte: »Komm nach draußen.«

Als wir im Garten waren, hob ich sie hoch. Sie ist viel zu groß, um noch auf den Arm genommen zu werden, doch wenn sie müde ist, lässt sie es zu. Ich zeigte auf die Venus vor uns.

»Da ist sie!«, sagte sie. »Ich sehe sie.« Und dann hielt ich sie eine Weile in den Armen, während wir ehrfürchtig in den Nachthimmel blickten.

Bevor ich diesen Roman schrieb, konnte ich kaum den Großen Wagen am Himmel erkennen. Aber ich wollte meine Hauptfigur Joan zu einer leidenschaftlichen, begeisterungsfähigen Astronomin machen. Also lud ich eine App herunter, besorgte mir einige Bücher und begann, die Sterne zu studieren. Eigentlich wollte ich nur einen interessanten Hintergrund für eine Liebesgeschichte schaffen, doch ich lernte dabei viel über meinen Platz in der Welt.

Hat man erst mal angefangen, den Nachthimmel zu beobachten, beschäftigt man sich automatisch auch mit Raum und Zeit. Man erfährt zum Beispiel, dass auf der Nordhalbkugel Winter ist, wenn man den Gürtel des Orion sehen kann. Und dass man daran, wie Kassiopeia zum Polarstern steht, ungefähr die Uhrzeit erkennen kann. Doch das Beste, was ich gelernt habe? Im Sommer bilden die Sterne Altair, Deneb und Wega ein Dreieck, das immer nach Süden zeigt. Sollte man sich also mal verirren, braucht man nur diese drei Sterne zu suchen und weiß, in welche Richtung man gehen muss.

Ganz gleich, was mich gerade beschäftigt, wenn meine Tochter und ich nachts draußen sind, vergesse ich meine Sorgen. Teils liegt es daran, dass ich es einfach genieße, Zeit mit meiner Tochter zu verbringen, und Spaß daran habe, etwas Neues zu lernen. Aber ich glaube, ich finde es auch irgendwie beruhigend, dass die Sterne unverrückbar sind.

Keiner von uns kann ihren Lauf ändern. Sie sind so viel größer als wir. Solange wir leben, werden sie so bleiben. Ob wir Erfolg haben oder scheitern, alles richtig oder falsch machen, Menschen lieben oder geliebte Menschen verlieren, das Sommerdreieck wird immer nach Süden zeigen. Und so weiß ich, dass alles irgendwie in Ordnung kommt – so unmöglich das auch manchmal erscheinen mag.

Ich hoffe sehr, dass euch diese Geschichte gefällt. Aber ich hoffe noch mehr, dass Joan Goodwin euch überzeugen kann, heute Abend nach draußen zu gehen, wenn die Sterne am Himmel stehen, und nach oben zu schauen. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass Joan euch davon überzeugen kann, offen für Wunder zu sein.

– Taylor Jenkins Reid

29. Dezember 1984

Weit vor neun Uhr erreicht Joan Goodwin das Johnson Space Center. In Houston ist es bereits stickig und schwül. Auf dem Weg über den Campus zum Mission Control Center spürt sie, wie sich Schweiß an ihrem Haaransatz sammelt, und das ist nur zum Teil der Hitze geschuldet.

Ihr heutiger Job gehört zu ihren Lieblingsaufgaben als Astronautin. Sie ist CAPCOM in der Orion-Flugcrew für STS-LR9, den dritten Flug der Raumfähre Navigator.

CAPCOM – die einzige Person in der Missionskontrolle, die direkt mit den Astronauten im Raumschiff spricht – ist eine von vielen Rollen, die Astronauten übernehmen, wenn sie nicht gerade auf einer Mission sind.

Das muss Joan den Leuten oft erklären, wenn sie ausnahmsweise mal auf eine Party geht. Astronauten trainieren zwar, um ins All zu fliegen. Aber sie helfen auch dabei, Geräte und Experimente zu entwickeln, testen Lebensmittel, bereiten das Raumschiff vor, unterrichten Studierende über die Möglichkeiten der NASA, werben in Washington für die Raumfahrt, sprechen mit der Presse und vieles mehr. Die Liste ist lang.

Astronautin zu sein, bedeutet nicht nur, in den Weltraum zu fliegen. Man ist ein Mitglied des Teams, das die Besatzung nach oben bringt.

Außerdem ist Joan bereits dort oben gewesen. In ihrem Nachttisch zu Hause liegt der exklusive Talisman, nach dem sich jeder Astronaut sehnt: die goldene Anstecknadel. Der Beweis dafür, dass sie zu den wenigen Auserwählten gehört, die diesen Planeten je verlassen haben.

Aus zweihundert Meilen Entfernung hat sie das spektakuläre Blau der sieben Weltmeere gesehen. Himmelblau? Kobalt? Ultramarin? Ihr fällt kein Begriff ein, der das Leuchten angemessen beschreiben würde. Neunundneunzig Komma neun Prozent der Menschen, die jemals gelebt haben, haben dieses Blau nie gesehen. Joan schon.

Aber jetzt ist sie zu Hause, steht mit beiden Beinen auf festem Boden und hat eine Aufgabe zu erfüllen.

Als Joan an diesem Morgen mit einem schwarzen Kaffee in der Hand das Mission Control Center betritt, ist sie entspannt. Sie ist nicht ängstlich, verschreckt oder todunglücklich.

All das wird später kommen.

Joan betritt die Missionskontrolle durch den Kontrollraum. Einen Moment lang beobachtet sie, wie die Crew der letzten Schicht zwei Missionsspezialisten auf ihren Weltraumspaziergang vorbereitet.

Ihr Chef – Flugleiter des Orion-Flugteams, Jack Katowski – ist bereits bei der Bodenkontrolle und lässt sich vom vorherigen Flugleiter einweisen.

Jack – Bürstenhaarschnitt, graue Schläfen – gilt als besonders stoisch, und das in einer Organisation, die ohnehin dafür bekannt ist, besonders stoisch zu sein.

Doch er unterstützt Joan schon lange in ihrer Rolle als CAPCOM, und sie sind ein gutes Team. Darauf ist Joan stolz: Sie ist eine ausgezeichnete Kollegin.

Vor allem in der Besatzung von STS-LR9, die fast ausschließlich aus Astronauten ihres Jahrgangs besteht.

Commander Steve Hagen ist einer ihrer Ausbilder gewesen, aber die übrigen Besatzungsmitglieder – Pilot Hank Redmond und die Missionsspezialisten John Griffin, Lydia Danes und Vanessa Ford – sind mit Joan zusammen ausgebildet worden, mit ihnen hat sie diesen Job erlernt.

Sie sind mehr als nur ihre Freunde; einige von ihnen sind ihre Familie. Und ihre komplizierte Geschichte mit jedem von ihnen macht sie zu genau der CAPCOM, die sie heute brauchen, und zugleich zu der allerletzten Person, die diesen Job machen sollte.

Das Shuttle soll den Arch-6 ins All bringen, einen Erdbeobachtungssatelliten für die U. S. Navy. Gestern jedoch, am zweiten Tag des Fluges, als das Team den Einsatz von Arch-6 vorbereitete, ließen sich die Verriegelungen der Ladebucht nicht lösen.

Heute Morgen wurden Vanessa Ford und John Griffin für einen Weltraumspaziergang vorbereitet, um die Verriegelungen manuell zu öffnen.

Joan stößt zum Team im Flugkontrollzentrum. Sie winkt Ray Stone, dem Arzt, und nickt Greg Ullman zu, auch bekannt als EECOM – Elektrik-, Umwelt- und Verbrauchsmaterialbeauftragter.

Der vorherige CAPCOM, Isaac Williams, weist sie ein und informiert sie über Telemetrie und Zeitplan. Ford und Griff sind in ihren Raumanzügen. In sechs Minuten werden sie mit der vorbereitenden Sauerstoffatmung fertig sein.

Isaac geht, und Joan übernimmt seinen Platz an der Konsole.

Jack steigt in die Kommunikationsschleife mit dem Shuttle ein – ebenso wie Joan, Ray, Greg und der Rest des zwanzigköpfigen Orion-Flugteams. Jeder von ihnen sitzt an einer eigenen Station in der Missionskontrolle und wird von weiteren Personen in anderen Räumen unterstützt.

Ford und Griff beenden die Sauerstoffatmung und betreten die Luftschleuse. Dort warten sie das Ende des Druckabbaus ab, damit sie bereit für den Einsatz im Weltraum sind.

Flug- und Mitteldeck – wo die Astronauten leben und arbeiten – werden unter einem Druck gehalten, der dem auf der Erde entspricht. Die Ladebucht, in der die Satelliten bis zu ihrem Einsatz aufbewahrt werden, jedoch nicht. Sie ist dem Unterdruck des Weltraums ausgesetzt. Würden Ford und Griff sie ohne ihre Raumanzüge betreten, würde sofort der gesamte Sauerstoff aus ihren Lungen und ihrem Blutkreislauf gesaugt. Sie wären innerhalb von fünfzehn Sekunden ohnmächtig und binnen zwei Minuten tot.

Der menschliche Körper, so intelligent er auch ist, hat sich unter den Bedingungen der Erdatmosphäre entwickelt.

Man könnte leicht behaupten, dass der Mensch für den Weltraum schlecht gerüstet sei. Dafür sind wir einfach nicht gemacht. Aber das sieht Joan anders.

Die menschliche Intelligenz und Neugier, unsere Ausdauer und Widerstandskraft, unsere Fähigkeit zu strategischem Denken und zur Zusammenarbeit haben die Menschheit so weit gebracht.

Nach Joans Einschätzung sind wir keineswegs ungeeignet. Wir sind es, die da draußen sein sollten. Nach unserem Kenntnisstand sind wir die einzige intelligente Lebensform unserer Galaxie, die sich des Universums bewusst ist und daran arbeitet, es zu verstehen.

Wir sind so erpicht darauf, unsere Kenntnisse zu erweitern, dass wir herausgefunden haben, wie man mit einer Rakete aus der Atmosphäre fliegt. Ein nervenaufreibendes Unterfangen, das Hasardeure anziehen mag, aber am besten von Leuten wie ihr durchgeführt wird. Von Nerds.

Bei der Weltraumforschung geht Vorbereitung vor Impulsivität, Ruhe vor Kühnheit. In diesem so aufregenden Job geht es schrecklich viel um Routine. Alle Risiken werden sehr sorgfältig bedacht, es gibt keine Schnellschüsse. Und keine Hasardeure.

So sorgt die NASA für die Sicherheit aller. Durch planbare Modelle für jedes erdenkliche Szenario.

Als der Druckabbau in der Luftschleuse abgeschlossen ist, gibt Jack Joan grünes Licht, und sie übernimmt die Kommunikation mit dem Shuttle.

Joan hört deutlich ihr eigenes Atmen, ihren Herzschlag. Nicht etwa weil die Anforderungen der Mission sie nervös machen – noch gibt es keinen rationalen Grund, Angst zu haben –, sondern weil sie jedes Mal aufgeregt ist, wenn sie mit Vanessa Ford spricht.

»Navigator, hier Houston«, meldet sich Joan.

»Houston, wir hören euch«, antwortet Steve Hagen.

Hank Redmond meldet sich mit seinem rauen texanischen Akzent zu Wort: »Guten Morgen, Goodwin.«

»Heute ist ein spannender Tag«, sagt Lydia Danes.

»Allerdings«, antwortet Joan. »Es steht eine Menge auf dem Programm, darum freu ich mich, dass ihr die Freigabe zum Außenbordeinsatz habt, Griff und Ford.«

»Roger«, sagt Ford.

»Roger, Goodwin«, bestätigt Griff. »Schön, deine Stimme zu hören.«

Es sind die letzten fünfundvierzig Minuten davor.

   

Stern

Vanessa Ford trägt seit Stunden biomedizinische Sensoren überall an ihrem Körper. Sie übermitteln ihre Vitalwerte an den Missionsarzt, der jeden ihrer Atemzüge überwacht. Aber schon lange bevor die Elektroden an ihrem Körper angebracht wurden, war Vanessa bewusst, dass es am Boden immer jemanden gibt, der sie überwacht.

Die Missionskontrolle weiß alles, was im Shuttle passiert. Sie kennt jede Temperatur, jede Koordinate, den Status jedes Schalters. Wohin Vanessa sich auch wendet, Houston ist da, hört und spürt alles um sie herum.

Das scheint niemanden in der Crew so sehr zu stören wie sie. Dass jeder ihren Herzschlag sehen kann, dass sie wissen, wie ihr Körper auf jeden Funkspruch von Houston reagiert, gibt ihr das Gefühl, sich nirgendwo verstecken zu können.

»Ich freu mich auch, deine Stimme zu hören, Griff«, sagt Joan. »Das ist ein guter Start in den Tag hier.«

Sie hört Joans Stimme an, dass sie lächelt.

Vanessa streckt die behandschuhten Hände aus und legt sie auf die Luke der Luftschleuse zur Ladebucht. Sie spürt ein Vibrieren in ihrer Brust. Da die Klappen der Ladebucht bereits geöffnet sind, ist die Luke das Letzte, was sie noch vom Weltraum trennt.

Die Luftschleusenklappe hat keine Sensordaten. Sie ist eines der wenigen Objekte im Shuttle, die kein eigenes Signal aussenden. Deshalb muss einer von ihnen Houston mitteilen, dass sie im Begriff sind, sie zu öffnen.

Vanessa sieht zu Griff, sie ist froh, dass er bei ihr ist. Sie mochte ihn von Anfang an. Nicht nur, weil sie beide aus New England kommen.

»Houston, wir öffnen die Luftschleuse«, sagt Griff.

Vanessa beginnt, die Luke zu öffnen. Sie versucht, ihren Herzschlag zu beruhigen. Seit fünf Jahren hat sie auf diesen Moment hingearbeitet, fast ihr ganzes Leben lang davon geträumt.

Vom Weltraum.

Als sie durch die Luke sehen können, atmen Griff und sie beide tief durch.

Sie haben durchs Fenster geschaut, aber nichts hat sie auf den Anblick vorbereitet, der sich ihnen jetzt bietet.

Vanessa ist überwältigt. Abgesehen von den hellen Lichtern des Shuttles ist alles schwarz. Es gibt keinen Horizont, nur die Umrisse der Navigator und dann das Nichts mit den leuchtenden Farben der Erde in der Ferne.

»Wow«, sagt Vanessa. Sie sieht zu Griff, der von dem Anblick genauso gebannt ist.

Sie lässt das Shuttle los, tritt durch die Luke und macht den ersten Schritt ins All. Ihre Beine fühlen sich ruhig an, als sie in die Dunkelheit tappt. Ihre Augen weiten sich angesichts dieser unglaublichen Leere, wie sie sie noch nie erlebt hat.

Sie blickt nach oben, vorbei an den Türen der Ladebucht, und sieht in der Ferne die Erde. Wolken streifen über die Wüsten Nordafrikas. Für einen Moment hält Vanessa inne und blickt auf den Indischen Ozean.

Schon lange liebt sie es, über den Wolken zu schweben. Aber so weit über ihnen zu sein, raubt ihr den Atem.

»Mein Gott«, sagt Griff.

Vanessa dreht sich zu ihm. Beide sind am Shuttle angebunden, jetzt stößt Griff sich ab.

Sie folgt ihm und steuert direkt auf die Ladebucht zu. Die Aussicht ist spektakulär, aber eigentlich ist sie hier, weil sie unbedingt an einer Maschine herumbasteln will, die sich zweihundertachtzehn Meilen über der Erdatmosphäre befindet.

Sie erreichen die Ladung, und jeder nimmt seine Position ein. Es gibt vier Verriegelungen, zwei auf jeder Seite des Satelliten.

»Mach langsam, Ford«, sagt Griff. »Wenn wir den Rekord für den kürzesten Weltraumspaziergang aufstellen, bin ich echt sauer.«

»Da ist nicht viel Zeit rauszuschlagen«, sagt sie. »Wir müssen nur ein paar Klammern lösen. Aber okay.«

Mit einem Steckschlüssel kurbelt Vanessa eine der Verriegelungen auf ihrer Seite auf, dann wendet sie sich der anderen zu. Sobald der zweite Riegel geöffnet ist, wartet sie einen kurzen Moment, bis Griff seinen zweiten ebenfalls gelöst hat.

Als er fertig ist, seufzt er. »Houston, die Riegel sind gelöst, nicht zuletzt dank der herausragend effizienten Vanessa Ford.«

»Verstanden, Navigator. Gute Arbeit«, lobt Joan, und nach einem kurzen Moment fügt sie hinzu: »Navigator, die Anzüge sind noch ein paar Stunden einsatzbereit, es ist also besser, ihr bleibt in der Luftschleuse, falls wir euch noch mal brauchen.«

»Ooooch«, sagt Griff. »Wenn das nicht nett ist.«

»Tja«, sagt Joan, »wir hier unten haben was übrig für euch.«

»Gleichfalls, Houston. Roger. Ford und ich bleiben in der Luftschleuse.«

Sie schweben zurück. Griff lässt Vanessa zuerst einsteigen und folgt ihr. Er geht zur Luke, will sie schließen, hält dann aber inne und sieht Vanessa an. Er hebt die Augenbrauen.

Laut Protokoll muss die Luke geschlossen werden. Aber wenn sie sie offen lassen, können sie die Ausbringung des Satelliten beobachten.

Vanessa möchte Houston nicht anlügen, doch sie muss unwillkürlich lächeln.

Griff lächelt zurück, nimmt die Hand von der Luke. Schließt sie nicht.

»Houston, wir sind wieder in der Luftschleuse«, sagt er.

Beide richten ihre Aufmerksamkeit auf die offene Luke. Sie beobachten, wie die kippbare Plattform in Position gebracht wird, um den Satelliten freizugeben.

»Houston, wir sind zufrieden mit dem Winkel des Satelliten«, kann Vanessa Steve sagen hören.

Sie denkt an die letzte Nacht vor der Mission, als sie in Cape Canaveral in Quarantäne waren. Steve hatte eine Stunde lang mit Helene telefoniert. Hank war genervt gewesen, weil er Donna anrufen wollte. Aber Steve hatte einfach an der Küchentheke gelehnt und mit seiner Frau herumgealbert, Lachfältchen um die strahlend blauen Augen. Vanessa hatte mehr gehört, als sie eigentlich hätte hören sollen. Steve schien es so leichtzufallen, beide Seiten seiner selbst zu sein – der Mann am Boden und der Commander, der er hier oben sein muss. Für sie standen diese beiden Rollen schon immer im Widerspruch. »Sind wir bereit für die Ausbringung?«

»Bestätigt, Navigator«, sagt Joan. »Ihr habt die Freigabe zur Ausbringung.«

Lydia bedient den Greifarm, RMS. Damit wird sie den Satelliten ausladen.

»Roger, Houston«, sagt Lydia. »Vorbereiten zur Ausbringung.«

»Verstanden, Navigator.«

Zwei Sprengschnüre halten den Arch-6 in der Ladebucht fest. Vanessa und Griff beobachten, wie eine planmäßig gezündet wird.

Doch dann explodiert das zweite Kabel mit einem Blitz, wie ihn Vanessa noch nie gesehen hat. Es sieht ganz anders aus als bei ihren Probeläufen. Die Explosionen reißen die Metallbänder um den Satelliten in Stücke. Trümmer fliegen in alle Richtungen.

Vanessa weiß nicht, was passiert ist. Sie sieht nur das Aufblitzen von Metall, dann hört sie ein Grunzen von Griff, als wäre ihm die Luft aus den Lungen gepresst worden.

Sie dreht sich um und sieht einen tiefen Riss unterhalb des Taillenrings in seinem Anzug. Dem Unterdruck ausgesetzt, wird er innerhalb von Sekunden sterben. Er legt seine Hand auf den Anzug, um das Loch zuzuhalten.

»Alles okay«, sagt er zu ihr. Sie wissen beide, dass seine Hand auf dem Anzug ihn vorerst rettet. Aber seine Stimme ist ein raues, leises Flüstern, als ob ihm die Luft ausginge.

Dann ertönt ein Alarm, den Vanessa zwar kennt, aber nicht einordnen kann. Erst als Steve, Hank und Lydia zu schreien beginnen, versteht sie, dass es eine zweite Explosion gegeben hat.

   

Stern

Als der Alarm schrillt, atmet Joan tief durch und versucht, klar zu denken. Dann steht Greg auf, und ihr wird mulmig.

»Flugleitung, hier EECOM. Wir sehen einen negativen dP/dT. Der Druck sinkt rapide.«

Jack: »Wo sind wir?«

Bevor Greg antworten kann, ertönt Hanks Stimme leise, aber scharf durch die Funkverbindung: »Houston, hier Navigator. Wir haben ein Kabinenleck. Wir spüren einen rapiden Druckabfall.«

»Verstanden, Navigator.« Joan muss sich zwingen, ihre Stimme ruhig zu halten. Sie sieht zu Jack.

Jack wendet sich mit hoch konzentrierter Miene zu ihr. »Sag ihnen, dass sie ein Loch haben. Dem Druckabfall nach zu urteilen, könnte es gut einen Zentimeter groß sein. Irgendwo am Heckschott ist die Außenwand beschädigt, höchstwahrscheinlich im Mittel- oder Flugdeck. Sehen sie was?«

Joan übermittelt.

»Negativ, Houston«, sagt Hank. »Wir sehen kein Loch.«

Jack: »Sie sollen alles von den Wänden nehmen, Schränke, Verkleidungen, alles, was sie abnehmen können, um die Haut freizulegen. Sie sollen alles abnehmen!«

»Roger«, erwidert Joan.

Jack fährt fort: »Lass Ford und Griff in der Luftschleuse, aber bring sie so schnell wie möglich auf normalen Luftdruck. Sag Navigator, dass sie Sauerstoff zuführen und Stickstoffsysteme 1 und 2 zur Kabine öffnen müssen, um dem Leck gegenzuhalten, bis wir das Loch gefunden haben!«

Joan informiert die Crew. Klar, prägnant, ruhig. Das ist die NASA. Auf so etwas sind wir vorbereitet.

»Roger«, sagt Hank, und die Crew macht sich an die Arbeit. »Schon dabei.«

Greg: »Flugleitung, hier EECOM. Der Druckabfall bleibt. Der Druck sinkt weiter.«

Joan weiß, dass Hank höchstwahrscheinlich derjenige ist, der Sauerstoff und Stickstoff zuführt, während Steve und Lydia, so schnell sie können, alles von den Wänden reißen – die Kabelschichten, die Schlafsäcke. Alles reißen sie herunter, um das Loch zu finden. Mit jeder Sekunde wächst Joans Schock.

Sie sieht Jack an. Aber Jack sieht zu Greg.

»Es ist nicht im hinteren Teil des Flugdecks!«, meldet Steve.

»Ich ziehe die Schränke vom Mitteldeck ab!«, ruft Lydia.

Greg sieht zu Jack hoch und schüttelt den Kopf.

Jack schlägt mit der Hand auf die Konsole und sieht Sean Gutterson an, der für die mechanischen Systeme zuständig ist. »RMU, was hast du? Was übersehen sie? Ich brauche etwas! Wir haben nur Sekunden!«

Alle sind von ihren Plätzen aufgestanden. Joan kann keinen klaren Gedanken fassen.

Sie hat schon Simulationen erlebt, bei denen der Druck rapide abfiel und sich nicht stabilisieren ließ.

Sie waren erst beendet, wenn das Leck gefunden wurde.

Sonst stirbt die Besatzung.

Das ist die NASA. Auf so etwas sind wir vorbereitet.

   

Stern

Vanessa hat die Luke geschlossen, und die Luftschleuse stellt langsam den normalen Druck her.

Doch als Vanessa zu Griff sieht, bemerkt sie, dass er das Bewusstsein verliert. Sie schiebt ihre Hand unter seine, legt sie auf das Loch in seinem Anzug und drückt auf seinen Unterbauch.

»Griff, Griff«, sagt sie. Keine Antwort. »John Griffin, hörst du mich?«

Als er blinzelt, weiß sie nicht, ob es absichtlich geschieht. »Ich hab es«, sagt sie zu ihm. »Ich hab dich.«

Sie kann nicht sagen, wann genau er ohnmächtig wird. Nur dass seine Hand kurz darauf zur Seite sackt und ihre nun das Einzige ist, was ihn am Leben hält, bis der Kabinendruck in der Luftschleuse wiederhergestellt ist. Sie sucht nach Anzeichen, dass er unter seinem Anzug blutet. Findet aber keine.

Sie kann die aufgeregten Stimmen der anderen Crewmitglieder hören, die versuchen, sich zu koordinieren. Steves Stimme beruhigt sie, aber die von Lydia wird immer schriller.

Ihr wird klar, dass Hank seit mindestens dreißig Sekunden nichts mehr gesagt hat.

Der Moment dehnt sich immer länger aus, und Vanessa bekommt Angst.

Als sie sechs Jahre alt war, sagte ihre Mutter ihr, dass ihr Vater gestorben sei. Vanessa weiß nicht mehr, wie ihre Mutter es formulierte. Sie weiß nur noch, dass ihre Mutter sie zuerst nur anschaute und kein Wort über die Lippen brachte. Es war ein kurzer Moment, nicht länger als eine Sekunde. Aber Vanessa wusste, dass etwas Schlimmes passiert war. Allein wegen des kurzen Moments der Stille, der ihren Worten vorausgegangen war.

An diese Stille denkt Vanessa jetzt.

   

Stern

Ray steht auf. »Flugleitung, hier ist der Arzt. John Griffins Herzfrequenz sinkt.«

Joan hat sich bemüht, ihre Atmung zu beruhigen.

»Hank hat das Bewusstsein verloren«, meldet Lydia über die Schleife. Und dann: »Ich glaube, Steve auch.«

Jack wird blass. Er sieht zu Joan. »Bleib bei Danes.«

»Verstanden, Navigator«, sagt Joan über Funk, wobei ihr jedes Wort schwer über die Lippen geht. »Wir hören dich.«

Jack: »Danes soll sich um das Leck kümmern. Aber sie muss auch sicherstellen, dass das N2 ganz oben ist. Ford soll bei Griff in der Luftschleuse bleiben.«

»Roger«, sagt Joan und schaltet sich wieder ein. »Navigator, hier Houston. Danes, du musst so schnell wie möglich das Leck finden. Wir erkennen, dass N2 einströmt, aber wir sehen keinen Anstieg des Kabinendrucks.«

»Ich glaube, ich …« Lydias Stimme bricht ab.

»Navigator? Navigator, hier Houston, hörst du mich?«, fragt Joan.

Nichts.

»Lydia Danes, hörst du mich?«

Keine Antwort. Das kommt Joan jetzt unausweichlich vor, obwohl sie noch vor einer Sekunde gesagt hätte, dass es fast unmöglich sei. Alle drei in der Kabine zu verlieren, konnte man als Gefahr simulieren, aber sie ist nie davon ausgegangen, dass das wirklich passiert.

Joan beugt sich vor. »Navigator, hier Houston, bitte melden.«

Ray: »Flugleitung, hier Missionsarzt. Angesichts der Geschwindigkeit, mit der der Druck gefallen ist, sind Hagen, Redmond und Danes mit Sicherheit bewusstlos. Aber so lange, wie es schon dauert, glaube ich, dass sie vermutlich tot sind.«

Joan spürt, wie sich die Last dieses Moments in ihrem Stammhirn festsetzt, wie ihr Nacken steif und ihr Kopf schwer wird.

Greg: »Flugleitung, hier EECOM. Der Kabinendruck steigt.«

Jack: »Steigt? Bestätige, dass du ›steigt‹ gesagt hast.«

»Steigt, Sir. Innendruck normalisiert sich.«

»Danes hat das Loch gefunden«, murmelt Jack.

Joan schaltet sich wieder in die Schleife. »Navigator, hier Houston. Könnt ihr bestätigen, dass ihr das Loch gefunden und geflickt habt?«

Ray: »Sie wird nicht antworten.«

»Lydia, melde dich«, sagt Joan wieder.

Nichts.

Nichts.

Nichts.

Und dann die Stimme von Vanessa.

»Houston«, sagt sie. »Ich glaube, ich bin die Einzige.«

SIEBEN JAHRE ZUVOR

Joans jüngere Schwester Barbara hatte eines Morgens angerufen und ihr von einem Werbespot erzählt, den sie am späten Vorabend im Fernsehen gesehen hatte.

»Die haben gesagt: ›Das ist deine NASA.‹«

»Was?«, fragte Joan. Sie stand in der Küche, hatte den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt und schenkte sich einen Becher Kaffee ein. Sie wollte gerade zum Auto gehen. Ihre erste Vorlesung heute an der Rice University war ein Einführungskurs über den Kosmos für Studienanfänger aller Fachrichtungen. Obwohl sie mit einer Analyse der magnetischen Strukturen in der Sonnenkorona promoviert worden war, nutzte sie ihr Fachwissen dazu, Achtzehnjährigen die Definition eines Parsec zu erklären. Aber wie ihr Fachbereichsleiter sagte, als sie vorsichtig um eine andere Aufgabe gebeten hatte: »Irgendjemand muss es ja tun.« Zufällig war dieser Jemand die einzige Frau des Fachbereichs.

»Was meinst du mit ›Das ist deine NASA‹?«

»Das hat sie gesagt, die Frau aus Star Trek. Warte, ich hab es irgendwo aufgeschrieben. Ich hab den Werbespot gesehen, kurz bevor ich Frances ins Bett gebracht hab, aber ich konnte mir noch einen Stift schnappen, bevor er zu Ende war. Hier hab ich’s: ›Das ist deine NASA, eine Weltraumbehörde mit der Mission, die Lebensqualität auf dem Planeten Erde zu verbessern, und zwar jetzt.‹ Es war Nichelle Nichols – so heißt sie! Verrückt, oder? Sie rekrutieren wieder Astronautinnen. Wissenschaftlerinnen. Um ins All zu fliegen. Sie haben ausdrücklich gesagt, sie suchen Frauen.«

Joan drückte den Deckel auf ihren Kaffeebecher. »Sie haben Wissenschaftlerinnen gesagt?«

Mit zwölf hatte Joan einen Zeitungsartikel über FLATs gelesen – First Lady Astronaut Trainees, die am sogenannten Frauen-im-All-Programm teilnahmen. Die Gruppe aus dreizehn Frauen war von William Randolph Lovelace II. persönlich getestet und ausgebildet worden, demselben Arzt, der bei der Auswahl der Astronauten für das Mercury-Programm geholfen hatte. Er hatte es auf eigene Faust getan, außerhalb der NASA, in der Hoffnung, dass die Organisation das Potenzial der Kandidatinnen erkennen würde.

Doch im selben Artikel, in dem Joan zum ersten Mal über das Programm las, erfuhr sie auch von dessen Ende. Die FLATs brauchten die Genehmigung der NASA, um ihre Tests an der Naval School of Aviation Medicine abschließen zu können. Tage vor ihrer geplanten Ankunft wurde ihnen mitgeteilt, dass die NASA den Antrag nicht genehmigen würde.

Eine Anhörung im Kongress, bei der viele der Frauen geschlechtsspezifische Diskriminierung bezeugten, änderte nichts an der Auffassung des NASA-Administrators. John Glenn wurde sogar mit den Worten zitiert, Astronautinnen würden »gegen unsere Gesellschaftsordnung verstoßen«.

Joan hat ihr Leben lang zu den Sternen geblickt, aber sie hat schon lange nicht mehr davon geträumt, in einem Raumanzug zu sein.

»Sie haben eindeutig von ›Wissenschaftlerinnen‹ gesprochen«, sagte Barbara.

Joan stellte den Kaffeebecher ab und nahm den Telefonhörer von ihrer Schulter in die Hand. »Glaubst du wirklich, ich könnte Astronautin werden?«, fragte Joan.

»Du studierst die Sterne. Wen sollten sie sonst nehmen?«

»Ich weiß nicht. Meinst du wirklich, ich sollte mich bewerben?«

Barbara seufzte. »Ach, vergiss es. Du hast mir den ganzen Spaß verdorben«, sagte sie und legte auf.

Als das Freizeichen ertönte, nahm Joan den Hörer vom Ohr, legte ihn langsam auf die Gabel, ließ die Hand einen Moment darauf ruhen und starrte ihn an.

Zwei Wochen später forderte sie das Antragsformular an, erzählte Barbara aber nichts davon.

Als sie es ausfüllte, konnte sie kaum hinsehen. Ich, eine Astronautin. Dennoch ging sie in die Bibliothek, um ihre Unterlagen zu fotokopieren, und steckte dann alles in einen Umschlag – eine Zusammenfassung all dessen, was sie bisher auf der Erde erreicht hatte.

Sie ging damit zur Post und warf den Umschlag ein, ohne sich noch weiter damit zu quälen.

Im Januar, auf dem Weg zu einem weiteren Einführungskurs, sah Joan eine Zeitung in der Einfahrt des Wohnhauses liegen. Sie nahm sie und bemerkte die Schlagzeile unterhalb des Falzes.

»NASA WÄHLT 35 NEUE ASTRONAUTEN-KANDIDATEN AUS, DARUNTER SECHS FRAUEN.«

Joan schluckte schwer, ihre Augen begannen zu brennen. Sie stieg ins Auto, warf die Zeitung auf den Beifahrersitz und starrte siebzehn Minuten lang aufs Lenkrad.

Es war das einzige Mal in ihrer Karriere, dass sie zu spät zum Unterricht kam.

Als Joan ein Jahr später, 1979, den Aufenthaltsraum betrat, hörte sie, wie ihr Fachbereichsleiter Dr. Siskin einem Kollegen gegenüber erwähnte, dass die NASA ein neues Bewerbungsverfahren für Astronauten durchführe und speziell nach Astronomen und Astrophysikern suche.

Sie tat so, als würde sie ihr Mittagessen im Kühlschrank suchen, dachte aber stattdessen über ihre Möglichkeiten nach. Zehn Minuten später saß sie am Schreibtisch und bat schriftlich um ein weiteres Bewerbungsformular.

In dem Jahr wurden einhunderteinundzwanzig Bewerber und Bewerberinnen – in Gruppen von je zwanzig Personen – für einwöchige Vorstellungsgespräche ins Johnson Space Center eingeladen.

Dieses Mal war Joan dabei.

Am ersten Abend checkte sie im Sheraton Kings Inn ein und bezog ihr Zimmer. Sie kam zehn Minuten zu früh zur abendlichen Einführung.

Sie war die dritte Person, die sich setzte. Die beiden anderen waren Männer und sahen aus wie vom Militär. Dann betrat eine weitere Frau den Raum.

Sie hatte braune Locken und hellbraune Augen, die von ihrem olivgrünen Button-up-Hemd betont wurden. Um den Hals trug sie eine zierliche Goldkette.

Sie setzte sich ein paar Plätze entfernt von Joan. Die Frau lächelte nicht und sagte auch nicht »Hallo«. Joan hatte keinen Grund, sich ihr verbunden zu fühlen, außer dass sie jetzt nicht mehr die einzige Frau im Raum war.

Joan beobachtete, wie immer mehr Menschen eintrafen. Bald teilte sie die Leute in ihrem Kopf in Gruppen ein: Wissenschaftler und Soldaten. Steve Hagen würde es später noch simpler ausdrücken: »Unter Astronauten gibt es zwei Typen: Spinner und Soldaten.« Doch die Frau im olivgrünen Hemd konnte Joan an jenem Abend noch nicht einordnen.

Ein Mann vorne im Raum räusperte sich. Er hatte kurz geschnittenes, zur Seite gekämmtes, grau meliertes Haar, auch sein Schnurrbart wurde bereits grau.

»Ich bin Antonio Lima, Flugleiter im Astronautenbüro«, sagte er. »Herzlich willkommen, alle zusammen.«

Joan sah sich um und versuchte, sie mit seinen Augen zu betrachten. Sie mussten alle so grün hinter den Ohren wirken.

»Wenn Sie es heute hierhergeschafft haben, gehören Sie zu den wenigen ausgewählten Bewerbern, von denen wir glauben, dass sie eine Bereicherung für die NASA und für diese Nation sein könnten. Im Laufe der nächsten Woche werden Sie hinsichtlich Ihrer besonderen Fähigkeiten und deren Nutzen für das gesamte Astronautenkorps beurteilt. Unsere Astronautenanwärter – diejenigen von Ihnen, die das Glück haben, für die Ausbildung hier bei der NASA ausgewählt zu werden – müssen körperlich fit, geistig gesund und für die vor ihnen liegende Aufgabe bestens gewappnet sein.«

In diesem Moment schlich sich ein Mann in den Raum und setzte sich auf den Stuhl, der am nächsten zur Tür stand. Joan blickte auf ihre Uhr. Er war zwei Minuten zu spät. Dieser Mann wusste ganz sicher, dass er erledigt war.

»Sie sind hier«, fuhr Antonio fort, »weil die NASA im Begriff ist, ihr bisher größtes und bahnbrechendstes Vorhaben in Angriff zu nehmen: das Space-Shuttle-Programm. Bisher war die Erforschung des Weltraums etwas Außergewöhnliches. Eine Seltenheit. Bald wird sie zur Routine werden.«

Antonio zog ein Tuch von einer Staffelei und zeigte ihnen den Bauplan eines Shuttles. Alle beugten sich vor. Joan war mit dem Konzept eines Raumschiffs vertraut, aber so viele Details über seine Funktionsweise zu erfahren beschleunigte ihren Puls.

»Die Shuttles sind die ersten Raumfahrzeuge in der Geschichte der NASA, die dafür konzipiert sind, wiederverwendet zu werden«, sagte er. »Mit einer Flotte von ihnen können wir immer wieder in eine niedrige Umlaufbahn fliegen. Starts werden monatlich, sogar wöchentlich stattfinden. Wir werden Fracht mitnehmen, um sie im Weltraum zu stationieren. Wir werden Experimente durchführen. Wir glauben daran, dass wir mit den Shuttle-Missionen, die wir heute entwickeln, eine dauerhafte Präsenz im Weltraum aufbauen, einschließlich einer Raumstation und bemannter Flüge zum Mars.«

Antonio schnappte sich den Zeigestab von der Staffelei.

»Das ist der Orbiter«, sagte er und deutete auf den Hauptteil des Shuttles. »Er wird mit einem externen Tank und zwei Feststoffraketen starten, eine auf jeder Seite.« Er entfernte die obere Abbildung, um eine andere, komplexere zu zeigen.

»Sobald das Shuttle gestartet ist, fallen der externe Gastank und die Feststoffraketen ab. Der Orbiter tritt in eine erdnahe Umlaufbahn ein. Was die Besatzung angeht …« Er deutete auf die Nase des Orbiters. »Sie wird das Flugdeck und das Mitteldeck belegen.«

Flug- und Mitteldeck waren im Vergleich zum Rest des Orbiters winzig. Joan bekam langsam ein Gefühl für die Größenverhältnisse und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Sobald das Shuttle in der Umlaufbahn ist, wird es sich mit einer Geschwindigkeit von etwa fünf Meilen pro Sekunde in einer Höhe von etwa zweihundert Meilen bewegen und die Erde innerhalb von neunzig Minuten umkreisen. Nachdem die Astronauten ihre Mission beendet haben, kehren sie zur Erde zurück. Anders als bei früheren Programmen der NASA werden wir keine Wasserlandung durchführen. Stattdessen wird das Shuttle nach dem erfolgreichen Wiedereintritt in die Atmosphäre fliegen – ähnlich wie ein Flugzeug – und mit ausgefahrenem Fahrwerk auf einem unserer Stützpunkte landen.«

Antonio trat einen Schritt zurück und ließ die Worte auf sein Publikum wirken. Dann fuhr er mit seiner Einführung fort:

»Ich hoffe, inzwischen ahnen Sie, dass Sie ein Raumschiff vor sich haben, wie Sie es noch nie gesehen haben. Das Shuttle ist nicht nur eine Maschine. Es sind drei Maschinen in einer. Beim Start ist es eine Rakete. In der Umlaufbahn ist es ein Raumschiff. Bei der Landung ist es ein Flugzeug. So werden wir in die Zukunft der Weltraumforschung eintreten.«

Joan spürte Schmetterlinge im Bauch. Genau wie damals, als ihre Eltern mit ihr nach Joshua Tree gefahren waren und sie das erste Mal das leuchtende Band der Milchstraße gesehen hatte.

»Unsere Missionen hier bei der NASA sind nicht ohne Risiko«, fuhr Antonio fort. »Sie legen Ihr Leben in die Hände Ihrer Flugleiter und Ihrer Astronautenkollegen sowie der Forscher und Ingenieure, die die Erkundung des Weltraums möglich machen. Doch sollten Sie ausgewählt werden, gehören Sie vielleicht zu den wenigen Menschen, die von sich sagen können, dass sie die Erde verlassen haben, und die uns berichten können, wie unser Planet aus der Ferne aussieht. Sie führen uns in die Zukunft. Ich kann Ihnen versichern, dass dies die größte technologische Leistung in der Geschichte der NASA sein wird. Wenn nicht sogar das größte Wagnis in der Geschichte der Menschheit.«

Joan versuchte, sich klarzumachen, dass diese Chance für sie zum Greifen nahe war, doch dabei begegnete ihr Blick dem der Frau mit den Locken ein paar Plätze weiter. Sie sahen sich einen Moment lang in die Augen.

Passiert das hier wirklich?

In jener Woche wurde ihr Herzschlag überwacht, ihr Hör- und Sehvermögen getestet, man nahm ihr Blut ab, und sie wurde umfassend von den Flugärzten untersucht, die ihren Körper auf völlig neue Art herausforderten.

Aber sie war entschlossen, den Prüfern der NASA zu zeigen, dass sie genau das mitbrachte, was sie brauchten: stoische Gefasstheit.

Von Elektroden überwacht, ließ ihr Tempo auf dem Laufband erst nach über acht Kilometern allmählich nach.

In Befragungen wurde sie so in die Zange genommen, dass ihr selbst eine Frage wie »Möchten Sie, dass ich die Heizung herunterdrehe?« mehrdeutig erschien. Ruhig und klar beantwortete sie alles.

Joans Lieblingstest war, als man sie in einen Anzug steckte und anwies, in einen weißen Stoffball von knapp einem Meter Durchmesser zu steigen. Ihre einzige Luftquelle war eine Sauerstoffflasche. Fünfzehn Minuten sollte sie dort drinbleiben. Joan stieg hinein, spürte die stille Einsamkeit in dem Ball und verstand.

Bei diesem Test ging es nicht um Geschicklichkeit. Man wollte sehen, ob sie ausrastete, weil sie die sensorische Deprivation und Enge nicht aushielt. Sie lächelte in sich hinein. Ein Kinderspiel.

Sie schlief ein.

Zwei Monate später klingelte eines Abends das Telefon in ihrer Wohnung. Joan aß gerade chinesisches Essen und zeichnete ein Porträt von Frances, das sie Barbara zum Geburtstag schenken wollte. Sie legte den Bleistift weg und ging ans Telefon.

Es war Antonio. »Sind Sie immer noch daran interessiert, dem Astronautenkorps der NASA beizutreten?«, fragte er.

Joan richtete den Blick an die Decke und festigte ihre Stimme. Sie kam sich vor wie in einer Filmszene, in der einer Frau ein Heiratsantrag gemacht wird. »Ja«, sagte sie. »Auf jeden Fall.«

»Gut, wir freuen uns, Sie an Bord zu haben, Joan. Sechzehn von Ihnen werden sich uns in Gruppe 9 anschließen. Acht Pilotenanwärter und acht Missionsspezialisten wie Sie. Ich weiß nicht, ob Sie Vanessa Ford während Ihrer Zeit hier im JSC kennengelernt haben, aber sie war in der gleichen Interviewgruppe wie Sie. Sie hat es auch geschafft und bereits zugesagt. Sie beide sind die Einzigen aus der Gruppe, die bis ins Finale gekommen sind.«

»Keiner der Männer?«, fragte Joan und konnte nicht fassen, dass ihr das herausgerutscht war.

Doch Antonio lachte. »Nein«, sagte er. »Ich fürchte, sie waren nicht fit genug.«

SOMMER 1980

Nachdem sie erfahren hatte, dass sie ins Astronautenkorps aufgenommen worden war, tat Joan drei Dinge.

Zuerst kündigte sie bei Rice.

An ihrem letzten Tag gab der Fachbereich für Physik und Astronomie eine Abschiedsparty für sie. Neben der Bowleschüssel fragte Dr. Siskin auf eine Art, die Joan ziemlich leicht durchschaubar fand, wie sie das geschafft habe. »Vermutlich Glück«, antwortete Joan und bedauerte es anschließend.

Joan wusste, dass Dr. Siskin und andere Männer wie er sie nie richtig angesehen hatten. Daran war sie gewöhnt. Schließlich war sie nicht Barbara. Sie hatte nie die Aufmerksamkeit eines ganzen Raums auf sich gezogen, weil sie so gut in ihrem Kleid aussah oder weil sie so schlagfertig war. Als Joan jünger war, hatte ihre Mutter zu ihr gesagt, dass sie und ihre Schwester jeweils ihre eigenen Stärken hätten. Barbaras seien laut und Joans leise, aber beide seien sie auf ihre Weise stark. Daraufhin hatte Joan sie umarmt.

Joan wusste, dass man sie leicht übersehen konnte. Sie war mittelgroß, leicht untersetzt und kleidete sich eher schlicht. Ihr hellbraunes Haar reichte ihr bis knapp über die Schultern, doch sie trug es nicht geföhnt wie andere Frauen, sondern band es locker zurück. Manchmal, wenn Joan sich auf Fotos sah, war sie erstaunt, wie hübsch ihr Lächeln war. Die Grübchen ließen ihr Gesicht freundlich und strahlend wirken. Auf der Highschool hatte Adam Hawkins ihr das gesagt. Aber sie erwartete nicht, dass es anderen auffiel.

Sie erwartete auch nicht, dass andere Leute sie fragten, was sie in ihrer Freizeit machte (unter anderem war sie klassisch ausgebildete Pianistin, sie war zwei Marathons gelaufen, und sie las viel und zeichnete Porträts). Wenn Leute die Zeichnungen an ihrer Bürowand sahen, wusste sie, dass sie annahmen, sie habe sie irgendwo gekauft. Wenn jemand die Zeichnungen bewunderte, behielt Joan für sich, dass sie von ihr waren. Es ging ihr nie um das Lob. Jedenfalls hatte sich schon lange niemand mehr so für sie interessiert, dass sie irgendetwas davon erzählt hätte. Und Joan war es angenehm, nicht aufzufallen.

Für die Männer des Fachbereichs, von denen sich viele insgeheim für Siegertypen hielten, war es daher ein ziemlicher Schock, dass diese unscheinbare Frau sie in einem Rennen überholt hatte, von dem sie bislang gar nichts gewusst hatten.

Joan sah sich im Raum um, stellte ihren Drink ab und verließ frühzeitig die eigene Abschiedsparty.

Als Zweites teilte Joan ihrer Familie mit, dass sie angehende Astronautin war.

»Alles nur, weil du gesagt hast, ich solle mich bewerben«, sagte Joan am Telefon zu Barbara.

»Hab ich das?«

»Wegen des Werbespots.«

»Ach ja. Na, gern geschehen.«

Ihre Mutter und ihr Vater flogen aus Pasadena ein. Sie feierten zusammen bei einem Abendessen, im Verlauf dessen Barbara mehrmals erwähnte, dass Joan hoffentlich nicht nach Clear Lake ziehen werde. Schließlich brauche Frances sie hier. Joan erklärte dreimal, es bedeute sehr wohl, dass sie nach Clear Lake ziehen werde. Dort gab es Wohnungen direkt neben dem Johnson Space Center. Clear Lake war nur dreißig Minuten von ihrer jetzigen Wohnung entfernt, und unabhängig davon würde sie nie im Leben auch nur eine Sekunde verpassen, die sie mit Frances verbringen könnte.

Und dann beugte sich Joan zu Frances hinüber und küsste sie auf den Scheitel.

Es gab Dinge, die Joan mit Frances gemacht hatte, als Frances ein Kleinkind gewesen war – sie auf den Kopf stellen, sie auf den Schultern tragen, sie aufs Bett werfen –, für die Frances jetzt zu groß war. Aber Joan würde sie immer auf den Scheitel küssen können. Selbst wenn sie sich dafür eines Tages auf einen Hocker stellen müsste.

Als Joan und Barbara klein waren, hatten sie sich stundenlang Rollenspiele ausgedacht. Joan war immer Ärztin, Krankenschwester oder Lehrerin gewesen. Barbara tat, als sei sie Sängerin, Balletttänzerin oder Eiskunstläuferin. Doch als Jugendliche tat sie nicht mehr bloß so. Sie zog los und suchte Erfahrungen, die Joan so fern waren.

Obwohl sie vier Jahre jünger war, schlich sich Barbara als Erste auf eine Party, sie trank Alkohol und bekam ihren ersten Kuss vor Joan. Was konnte Joan einer Schwester bieten, die so viel weltgewandter war als sie? Wie konnte Barbara zu jemandem aufschauen, der so weit hinter ihr herhinkte?

Einige Jahre später, als Joan am Caltech promovierte und Barbara im zweiten Jahr an der University of Houston studierte, rief Barbara Joan eines Nachts schluchzend an.

Sie war schwanger.

»Du bist die Einzige, die ich anrufen konnte«, sagte Barbara.

Joan konnte kaum glauben, was sie hörte. Nicht, dass Barbara in diese Lage geraten war – Barbara war schon als Teenager schwanger geworden und hatte eine Fehlgeburt erlitten. Es schockierte Joan, dass Barbara sie anrief.

»Was soll ich nur tun?«, fragte Barbara.

Joan telefonierte drei Stunden lang mit ihr. In dem Gespräch erhielt sie einige überraschende Informationen. Nämlich, dass nicht klar war, wer der Vater war, und Barbara sich nicht so weit erniedrigen wollte, es herauszufinden. Dass sie die Sache so lange wie möglich vor ihren Eltern verheimlichen wollte und dass sie schon seit Wochen nicht mehr in die Uni ging.

Joan suchte gerade nach den richtigen Worten, um auf die letzte Information zu reagieren, als Barbaras Mitbewohnerin hereinkam und Barbara schnell auflegte.

Zwei Tage später rief Barbara wieder an, diesmal mit einer klaren Entscheidung.

Sie hatte begriffen, dass die Schwangerschaft etwas Tolles war! Die Antwort auf eine Frage, die sich Barbara schon seit Jahren gestellt hatte. Was sollte sie mit ihrem Leben anfangen?Das! Sie hatte sich für nichts begeistern können, weil sie auf dieses Kind gewartet hatte, das ihrem Leben Struktur verleihen würde.

Joan wusste, dass Barbara nicht das ganze Ausmaß der Aufgabe überblickte. Aber daran konnte sie momentan nichts ändern.

»Glaubst du, ich werde eine gute Mutter sein?«, fragte Barbara Joan.

Joan fiel es schwer, sich Barbara als Mutter vorzustellen, aber es schien ihr richtig, es auf die einfachste Art zu betrachten. »Du warst immer unglaublich gut in allem, was du dir vorgenommen hast, Barb.«

»Danke, Joan. Das bedeutet mir sehr viel.«

Anschließend rief Barbara immer wieder an. Barbara brauchte Geld für eine Wohnung. Sie brauchte Hilfe dabei herauszufinden, ob sie nach ihrem Studienabbruch die Studiengebühren zurückbekam. Barbara brauchte Joan, als sie es schließlich ihren Eltern erzählte. Barbara brauchte Barbara brauchte Barbara brauchte.

Als ihre Eltern sich darüber aufregten, dass Barbara alleinstehend und schwanger war und das College abbrach, bat Barbara Joan, sie zu verteidigen.

Als ihre Mutter anbot, bei der Geburt des Kindes dabei zu sein, bat Barbara stattdessen Joan darum.

Als Frances im Mai geboren wurde, dieses wunderschöne, schlaksige Wesen, war es Joan, die sie zuerst im Arm hielt. Es war Joan, die sie ihrer Mutter reichte, Joan, die Frances’ Geburtsurkunde ausfüllte.

Frances Emerson Goodwin.

Joan schlief monatelang auf dem Sofa in Barbaras neuer Einzimmerwohnung in Houston. Das musste sie. Frances brauchte jemanden, der ihre Vorsorgeuntersuchungen vereinbarte. Frances brauchte jemanden, der sie im Arm wiegte. Frances brauchte jemanden, der sie fütterte, wenn Barbara zu müde war, um aufzuwachen. Frances brauchte Frances brauchte Frances brauchte.

Es fühlte sich für Joan seltsam an, ein Baby zu halten. Sie hatte immer Angst, sie könne es zerbrechen, und dass sie den Kopf nicht genug stützte. In den ersten Monaten litt Frances unter Koliken; manchmal hörte sie einfach nicht auf zu weinen, egal wie lange Joan sie auf dem Arm hielt. Manchmal konnte Joan vor lauter Schreien ihre eigenen Gedanken nicht mehr hören.

Und Joan fragte sich, wie sie in diese Situation hineingeraten war. Sich um ein Baby zu kümmern, war nicht das Leben, das sie sich vorgestellt hatte.

Joans kluger, scharfer Verstand – das Beste an ihr – war vom Schlafmangel benebelt. Manchmal, wenn sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, verließ sie mit Frances die Wohnung, schaute in den Nachthimmel und sprach mit ihr über die Mondphasen. Frances gurrte dann oft. Wahrscheinlich lag es nur an der kühlen Nachtluft, aber Joan vermutete auch, dass Frances anfing, scharf zu sehen. Vielleicht nahm sie sogar Joans Finger wahr, der sich hell vor dem dunklen Himmel abhob. Vielleicht war das ihre Rolle in Frances’ Leben. Vielleicht war das ihre gemeinsame Sprache.

Aber diese Klarheit war nur von kurzer Dauer. Den Rest der Zeit fühlte sich auf Frances aufzupassen an, als würde man durch Schlamm waten.

Und dennoch, sobald Joan die Möglichkeit hatte, tat sie, worum Barbara sie bat, und beantragte eine Versetzung nach Rice, um in der Nähe von Barbara und Frances zu sein.

»Ich verstehe nicht, warum sie dich braucht«, sagte ihre Mutter zu Joan, als sie an der Rice angenommen worden war und ihren Umzug plante. »Warum kann ich das nicht übernehmen? Warum darf ich mich nicht um mein Enkelkind kümmern?«

Joan wusste nicht, wie sie ihrer Mutter sagen sollte, was sie alle schon wussten: Barbara hatte sich Joan ausgesucht, und Barbara bekam immer, was sie wollte.