Attraktion der NS-Bewegung -  - E-Book

Attraktion der NS-Bewegung E-Book

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Beschreibung

Bis heute überschattet Entsetzen über Völkermord und Vernichtungskrieg die Frage nach der Anziehungskraft der NSDAP, die ab 1930 massenhafte Zustimmung bei Wahlen fand. Welche Themen der Ideologie, welche Praxis, welche Erlebnisangebote und Bilder überzeugten? Worin bestand die emotionale Anziehungskraft der NS-Bewegung? Wie bezog sich diese Attraktion auf die Bedürfnisse und Ängste, die nach der Weltkriegsniederlage in den Dauerkrisen der Weimarer Republik entstanden? Der Band beleuchtet die Ursachen der Zustimmung zur NS-Bewegung aus sozial- und kulturgeschichtlicher Sicht. Sozialpsychologische und psychoanalytische Beiträge ergänzen die historischen Perspektiven, um besser zu verstehen, wie sich die geschichtlichen Ereignisse in subjektives Erleben umsetzen und die NS-Angebote attraktiv werden lassen. Die Erosion von gesellschaftlichen Strukturen und Perspektiven verstärkte Bedürfnisse nach einer radikalen Erneuerung, gewaltsamer Expansion und Verfolgung der "Schuldigen". Gleichzeitig beförderten die Krisen auch diametral entgegengesetzte Wünsche nach Sicherheit, Harmonie und exkludierender Ordnung in einer autoritär geführten Volksgemeinschaft. In drei abschließenden Arbeiten weisen die Autoren - bei allen Unterschieden - vergleichbar widersprüchliche Muster im aktuellen Rechtsextremismus nach.

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Gudrun Brockhaus (Hg.)Attraktion der NS-Bewegung

Gudrun Brockhaus (Hg.)Attraktion der NS-Bewegung

Titelabbildung:SA-Mann bei einer »Saalschlacht«,Reproduktion einer Gouache von Felix Albrecht, 1930(Münchner Stadtmuseum)

1. Auflage Juli 2014

Lektorat:

Dr. Carsten Drecoll, Freiburg

Satz und Gestaltung:

Klartext Medienwerkstatt GmbH, Essen

Umschlaggestaltung:

Volker Pecher, Essen

ISBN 978-3-8375-1033-1

eISBN 978-3-8375-1310-3

Alle Rechte vorbehalten

© Klartext Verlag, Essen 2014

www.klartext-verlag.de

Inhalt

Gudrun Brockhaus

Einführung

Attraktion der NS-Bewegung – Eine interdisziplinäre Perspektive

Alexander Meschnig

Die Sendung der Nation. Vom Grabenkrieg zur NS-Bewegung

Sabine Behrenbeck

Wie man Helden macht. Heroische Mythenbildung nach dem Ersten Weltkrieg bis zur Machtergreifung

Gerhard Hirschfeld

Die Attraktion des Ersten Weltkriegs für die Nazi-Bewegung

Thomas Rohkrämer

Die fatale Attraktion des Nationalsozialismus in der Weimarer Republik

Gudrun Brockhaus

»Die Phrase hat Blut getrunken und lebt«

Zur Aktualität früher NS-Analysen

Peter Longerich

Zur Attraktivität der NSDAP als Kern eines rechtsextremen Milieus in der Weimarer Republik

Habbo Knoch

Die »Volksgemeinschaft« der Bilder.

Propaganda und Gesellschaft im frühen Nationalsozialismus

Peter Fritzsche

Die Idee des Volkes und der Aufstieg der Nazis

Michael Wildt

Volksgemeinschaft und Führererwartung in der Weimarer Republik

Falk Stakelbeck

Hitler. Die Attraktivität der Spaltung

Roger Griffin

Der größte Verführer aller Zeiten?

Über die Anziehungskraft des Nazismus

Joachim Schröder

Entstehung, Verbreitung und Transformation des Mythos vom »jüdischen Bolschewismus«

Franka Maubach

»Volksgemeinschaft« als Geschlechtergemeinschaft

Zur Genese einer nationalsozialistischen Beziehungsform

Thomas Mücke

Rechtsextreme Radikalisierung – biografischer Kontext und pädagogische Interventionen

Jan Buschbom

Ordnung und Rebellion

Rechtsextreme Gefühls- und Lebenswelten

Heiner Keupp

Mit Gewalt aus der Ohnmacht

Sozialpsychologische Anmerkungen zum Rechtsradikalismus

 

Literatur

Autorinnen und Autoren

Gudrun Brockhaus

Einführung

Attraktion der NS-Bewegung – Eine interdisziplinäre Perspektive

Der 80. Jahrestag des Beginns der NS-Herrschaft mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 war Anlass für eine Tagung1 über die Aufstiegszeit der Nationalsozialisten. Aus historischen und sozialpsychologischen Perspektiven wurde die subjektive Motivbasis des zunehmenden Erfolgs der NS-Bewegung vor 1933 untersucht.

Worin bestand die Anziehungskraft der Nazi-Bewegung? Warum wählten die Deutschen in wachsender Zahl quer durch die unterschiedlichsten Schichten und Milieus die NSDAP? Was brachte die Menschen zum Bejubeln von Parteiveranstaltungen und Hitlerreden, zu einer emphatischen Bekehrung zu Hitler? Warum waren viele bereit, als Mitglied der SA oder anderer Parteigruppierungen ihr Leben der Arbeit für die NS-Bewegung zu widmen?

Welche Rolle kam dem Antisemitismus, dem Nationalismus zu? Oder waren nicht weltanschauliche Gründe entscheidend, sondern der neue politische Stil oder das Hitler zugeschriebene Charisma? Welche Menschen, welche sozialen Gruppierungen zeigten sich besonders empfänglich und warum? Wie wirkten sich die Weimarer Krisen-Erfahrungen auf die Bereitschaft aus, die NS-Bewegung zu unterstützen?

Eine unübersehbare Flut von historischer Literatur diskutiert – durchaus kontrovers – mögliche Ursachen der Mobilisierungserfolge und benennt eine Vielzahl von Faktoren, die miteinander interagieren und nicht isoliert zu betrachten sind. In diesem Band sollen außerdem noch die historischen Sichtweisen durch – untereinander ebenso heterogene – psychologische Perspektiven ergänzt werden. Diese Komplexität begrenzt die Hoffnung, klare Antworten auf die genannten Fragen zu finden.

Sinn und Legitimität einer Analyse der subjektiven Motivation der NS-Anhänger lassen sich jedoch auch ganz grundsätzlich infrage stellen. Warum soll man sich für die Motive der Anhänger interessieren, warum sich vertiefen in ihre Selbstwahrnehmung, in ihre Motivwelt? Unterstellt nicht die Frage nach der Attraktion, es gebe etwas Positives am Nationalsozialismus?

Die Frage nach den frühen Mobilisierungserfolgen lässt sich nicht stellen, ohne zu sehen, was aus der Nazi-Bewegung wurde. Der Gedanke an die Millionen in Vernichtungskrieg und Holocaust Ermordeten legt sich über die Suche nach Erklärungen für die Hinwendung so vieler Menschen zum Nationalsozialismus und erschwert oder verunmöglicht ein Sich-Hineinversetzen in den Horizont der zeitgenössischen Anhängerschaft. Die moralische Aufladung des Themas lässt kaum eine ›unschuldige‹ Neugier zu.

Dennoch gilt es anzuerkennen, dass die Nationalsozialisten den Menschen offenbar etwas zu bieten hatten. Etwas, was sie in anderen Parteien nicht fanden, was ihrer Bedürfnislage entsprach. Es kann nicht mit dem Verweis auf ›das Böse‹, den eliminatorischen Antisemitismus oder destruktiven Narzissmus der Deutschen oder ähnlich schlichte Motivationsmodelle wegerklärt werden.

Aus einer historischen Perspektive, für die nur die Praxis der NS-Bewegung zählt, erscheint die Untersuchung der Motive irrelevant. Wichtig für den Aufstieg der Nationalsozialisten sei die zunehmende kollektive Gewalt gegen Juden gewesen, welche die Transformation der deutschen Gesellschaft vorangetrieben habe (»Antisemitismus der Tat«).2 Die Motive zur Beteiligung an den Gewaltaktionen konnten unterschiedlich sein, »Habgier, Neid, Missgunst mögen die Handelnden ebenso befeuert haben wie explizite Judenfeindschaft«, so Michael Wildt. »Doch […] die gewalttätige Praxis hob die möglichen Motivdifferenzen zwischen den Beteiligten in der kollektiven Aktion auf.«3 (Vgl. Wildts Beitrag in diesem Band.)

Andere Historiker bezweifeln, ob der Aufstieg der NSDAP wirklich Resultat einer zunehmenden Attraktion der NS-Bewegung ist. Erklärt sich der Sprung in der Wähler-Zustimmung 1930–1932 nicht zureichend durch die »Sogkraft jenes immensen politischen Vakuums, das der Niedergang der liberalen und konservativen Honoratiorenparteien hinterlassen hatte«?4 Nach dieser Auffassung erübrigt sich die Annahme einer besonderen Anziehungskraft der NS-Bewegung: Sie blieb einfach als die einzige Partei übrig, der ein Wandel der als unerträglich wahrgenommenen Gegenwart zugetraut wurde, wie Peter Fritzsche meint: »Das System schien derart kaputt, seine Verteidiger in solcher Unordnung und die Braunhemden so kraftvoll und gut organisiert, dass viele Menschen, ob sie Sympathisanten waren oder nicht, die Machtergreifung der Nazis einfach als selbstverständlich betrachteten. Ende 1932 waren die Nazis die einzige akzeptable Partei für nichtmarxistische und nichtkatholische Wähler.«5

Die Relevanz und Legitimität der Fragen nach der soziopsychischen Anziehungskraft müssen sich also erst noch erweisen.

Historische Distanz und Nähe

Erschwert wird die Analyse auch durch die Distanz zu der Weimarer Zeit. Vieles ist uns sehr fern gerückt und nicht unmittelbar nachvollziehbar. Die kulturelle, alltagsweltliche Distanz wirkt sich auch auf wissenschaftliche Bemühungen aus, auf die Fragen, die wir stellen, auf den Umgang mit Texten und Bildern aus der Zeit.

Was fanden die Menschen an extremem Nationalismus, sakralem Pathos, Militarismus, Kriegsverherrlichung, Antisemitismus, Antikommunismus, rassistischer Blutmythologie, Gewaltverherrlichung, Welteroberungsfantasien, apokalyptischen Szenarien von Weltuntergang und -erneuerung? Warum fanden sie die Vorstellung einer deutschen Volksgemeinschaft attraktiv und wie erklären sich Führersehnsucht und Hitlerkult?

Viele dieser Themen der frühen NS-Bewegung sind uns fremd geworden.

Militarismus, die Bejahung von Krieg, die Akzeptanz von politischer Gewalt sind nicht mehr kulturelle Selbstverständlichkeiten wie in der Weimarer Gesellschaft. Der Afghanistan-Krieg blieb hartnäckig tabuisiert, geräuschlos wurde die Wehrpflicht abgeschafft, politische Absichtserklärungen zu neuer militärischer Präsenz Deutschlands in der Welt werden mit Indifferenz zur Kenntnis genommen, militärische Rituale und Gebräuche wurden zu marginalisiertem Insider-Wissen. Wer mit jungen Leuten Triumph des Willens ansieht, trifft auf Bewunderung für die ästhetisierende Inszenierung, Licht- und Schnittdramaturgie und Massenchoreografie, mit der Riefenstahl den Hitlerkult in Szene setzt und den Enthusiasmus und die Vitalität der Anhängerschaft ebenso spürbar macht wie die Sakralisierung und das Erhabenheitspathos.6 Aber die letzten 20 Minuten dieses Films, in denen uniformierte Kolonnen an Hitler und seinen Satrapen vorbeimarschieren, lösen nur noch gähnende Langeweile aus.7

Ebenso herrscht ungläubiges Staunen gegenüber der Fahnensymbolik: Die Fahne ist mehr als der Tod? Das Berühren der ›Blutfahne‹ verleiht höhere Weihen?

Woher kam die Angst vor einer Revolution? Dieser enorm starke Affekt gegen Marxisten und Sozialisten hatte keine Grundlage in der Realität der deutschen Novemberrevolution, »die Gefahr einer bolschewistischen Machtübernahme (hat) niemals wirklich bestanden«8 und doch setzte die Angst davor die tiefe politische Spaltung in Gang, welche die politische Landschaft der Weimarer Republik in erster Linie charakterisierte. Die Kommunistenfurcht blieb nach dem Zweiten Weltkrieg virulent und wurde genutzt, die Verbrechensbilanz des Nationalsozialismus zu relativieren. Heute hingegen tritt dieses Motiv der Zustimmung zu den Nationalsozialisten im Vergleich zur Betonung des Antisemitismus ganz in den Hintergrund.

Warum waren mit Demokratie und Parlamentarismus so starke Gefühle von Hass verbunden und woher kommt die Sehnsucht, sich einem Führer unterzuordnen, noch dazu einer degoutanten, lächerlichen Figur wie Hitler? Wie kann man die Heroisierung, den Kult des gereckten Kinns und der grobschlächtigen Physiognomie ernst nehmen, die unser mit einem Stuhl bewaffneter SA-Mann auf dem Titelbild zeigt?

Fremd und fern ist uns auch das Ausmaß (nicht der Vorgang an sich) der Identifikation mit einem ideologisch überhöhten Kollektiv geworden, ebenso das so weitgehende Eindringen des Nationalismus in die Alltagskultur.9

Auch die NS-spezifische Variante des Antisemitismus wirkt heute kaum verständlich: die Feind-Konstruktion einer jüdischen Weltverschwörung, die hinter dem Kommunismus wie dem westlichen Kapitalismus steht, die kümmerliche rassistische »Begründung«, die behauptete Notwendigkeit, mit unerbittlicher Gewalt gegen eine schwache Minorität, auch gegen Frauen, Kinder, Alte und Schwache vorzugehen, muten wahnhaft an, man kann sich gar nicht vorstellen, dass ein Mensch, der halbwegs bei Sinnen ist, das glaubt.

Ebenso in die Ferne gerückt ist die intensive Politisierung der Menschen: Politik und politischer Streit als existenzielles, leidenschaftlich diskutiertes Thema gibt es nur noch selten. Politische Utopien haben sich verbraucht, die Ausstrahlungskraft eines Versprechens, Deutschlands nationalsozialistisches Erwachen würde einen radikalen Neuanfang, eine Wiedergeburt bewirken, ist verblasst.10 Der damals so neu und aufregend wirkende sexualisierende und aggressive Politikstil der Nazis, der alle Sinne ansprach, ist heute Allgemeingut geworden. Erst recht vertraut und extrem gesteigert gegenüber der NS-Zeit ist die intensive Nutzung der Medien, einer Bild- und Körpersprache, in der die politischen Inhalte radikal reduziert, vereinfacht und dramatisiert werden (vgl. dazu Knoch in diesem Band). Personalisierung und Ausrichtung auf Führerfiguren kennzeichnen auch den politischen Stil in heutigen Demokratien. Die Emotionalisierung von Politik, die im Rückblick auf die NS-Propagandatechniken skandalisiert wird, ist heute selbstverständliche Normalität.11

Fern und exotisch wirkt das Bild der Golden Twenties, der Weimarer Zeit als Epoche eines kühnen Aufbruchs in die Moderne, gekennzeichnet durch eine überbordende Fülle von alltagskulturellen, sozialpolitischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Entwicklungen. Unverbunden steht für die öffentliche Wahrnehmung dieses Weimar neben dem Weimar der Aufstiegszeit des Nationalsozialismus. Und ebenso wenig können wir uns hineinversetzen in die existenzielle Bedrohung, die Inflation und Arbeitslosigkeit mit sich brachten.

Die Zeit vor 80 bis 90 Jahren wirkt also wie eine historisch weit zurückliegende Epoche. Fremd und fern scheint sie und doch merkwürdig vertraut. Denn auch die Weimarer Zeit ist wie die Gegenwart von gesellschaftlichen und normativen Umwälzungen geprägt, dem Zwang zur Bearbeitung eines Systemwechsels, ökonomischer Krise, hoher Arbeitslosigkeit, prekären Beschäftigungsverhältnissen und Erosion von Struktur, lebensweltlichem Halt und Verankerung in traditionellen Deutungsschemata. Es ist eine Welt, die Gefühle von Verunsicherung, Ohnmacht, Kontrollverlust, Kränkungen nahelegt, die sich alle in eine Sehnsucht übersetzen können, diese bedrückende Welt gewaltsam wegzufegen, Schuldige für die eigene Misere zu suchen und zu bestrafen, die Gegenwart durch eine neue, eindeutige, den eigenen Status unhinterfragbar sichernde Welt des Rassismus und Nationalismus zu ersetzen. Ob diese Analogien Substanz haben, ob sie geeignet sind, uns die Anziehungskraft des gewalttätigen Neonazismus wie auch des zunehmenden »Extremismus der Mitte«12 verständlicher zu machen – diesen Fragen nähern sich die drei Schlussbeiträge über die Attraktion des Neonazismus heute (Mücke, Buschbom, Keupp).

Leitfragen und Gemeinsamkeiten der Beiträge

Die Fragen nach den Motiven einer Zuwendung zu den Nationalsozialisten zielen nicht auf eine Erklärung der Machtübernahme der Nationalsozialisten ab, die in sozioökonomischen Entwicklungen und dem Zusammenbruch des staatlichen Gewaltmonopols wurzelt. Aber die massenhafte Zustimmung der deutschen Bevölkerung vor allem in den Jahren zwischen 1930 und 1932 macht einen wichtigen Teil des Ursachenbündels für den Erfolg der Nationalsozialisten 1933 aus. Die Hoffnung, von der Popularität der NS-Bewegung zu profitieren, stellte ein Hauptmotiv der Rechtskonservativen dar, Hitler eine Regierungsbeteiligung anzubieten.

1970 mahnte Martin Broszat, die Untersuchung der Motive für die massenhafte Unterstützung des Nationalsozialismus vor wie nach 1933 stünde immer noch aus:

»Angesichts der Massenbasis, die der Nationalsozialismus schon vor der Übernahme staatlicher Macht besonders bei den Mittelschichten der deutschen Gesellschaft erlangte, stellt sich nicht nur die Frage nach der ideologischen Disponiertheit dieser Schichten für den Nationalsozialismus oder nach der manipulatorischen Kraft nationalsozialistischer Propaganda. Ebenso wichtig ist die Frage nach der realen sozialen Motivation des Nationalsozialismus.«13

Betonung der Eigeninitiative

Obwohl die Relevanz dieses Themas so früh gesehen wurde, sind die Fragen nach den Motiven, den Einstellungen, dem Erleben, der aktiven Mitbeteiligung und Selbstmobilisierung der »Normalbevölkerung« erst in letzter Zeit wieder stärker in den Blick gerückt.14 2013 gibt Rohkrämer eine luzide Überblicksdarstellung zur Frage nach der Attraktion der NS-Bewegung (dazu auch sein Beitrag in diesem Band) und des NS-Regimes.15 Trotz aller Kontroversen hatte es Gemeinsamkeiten in den Zugangsweisen der NS-Geschichtsforschung gegeben: Alle fokussierten auf das Handeln und die Propagandaabsichten der Parteiführung und des NS-Staates. Aber nur die selbstinitiative Aktivität der Bevölkerung kann verständlich machen, wie gut das NS-Regime bis zum Schluss funktionierte. Niemals hätte es allein mit passiver Unterwerfung überleben können, gleichviel ob durch Zwang und Terror, Bestechung oder propagandistische Manipulation erzeugt.

Seit der bahnbrechenden Untersuchung Christopher Brownings mit dem programmatischen Titel »ganz normale Männer« standen die Mitwisserschaft und Mitbeteiligung an den NS-Verbrechen und an der Judenvernichtung im Fokus vieler weiterer Untersuchungen.16 Der Prozess der Radikalisierung und die Durchführung der Vernichtungsaktionen wurden von Ian Kershaw mit dem verbreiteten Wunsch »dem Führer entgegen(zu)arbeiten« zusammengebracht.17 In den letzten Jahren hat die NS-Forschung die Zentrierung auf Hitler überwunden und sich der Herstellung der NS-Herrschaft im praktischen Handeln der Menschen zugewandt.

Begriffe wie »Zustimmungsdiktatur« oder »Mitmach-Gesellschaft« verdeutlichen diese Akzentverschiebung auf die Eigeninitiative der VolksgenossInnen. In den verschiedensten gesellschaftlichen Feldern konnte die starke und wachsende Bereitschaft zur Mitarbeit an dem NS-Projekt aufgezeigt werden – von der Arisierung über die Geburtshilfe zur Besatzungsherrschaft und zu den enormen Anstrengungen zur Aufrechterhaltung der Kriegsgesellschaft in den letzten Monaten des Regimes. Unter dem Stichwort der Volksgemeinschaft als soziale Praxis werden diese Prozesse der Nationalsozialisierung untersucht.18

Die Forschungen der letzten Jahre sammeln sich um die mobilisierende und integrierende Kraft des Volksgemeinschafts-Versprechens.19 Volksgemeinschaft verhieß für die arischen VolksgenossInnen Zugehörigkeit, Aufhebung von Entfremdung, Gleichheit und Abbau sozialer Schranken, implizierte gleichzeitig die aktive Exklusion aller »Gemeinschaftsfremden«. Michael Wildt spricht von einer »Drehung der Perspektive« weg von der Steuerung durch die NS-Führung und hin auf das Alltagshandeln.20

Die Frage nach der initiativ gesuchten und freiwilligen Hinwendung zu den Nationalsozialisten stellt sich erst recht für die Aufstiegsphase der NSDAP, in der die Partei noch nicht über die Möglichkeiten verfügt, die Loyalität der VolksgenossInnen durch eine Vielfalt von Herrschaftsmechanismen zu verstärken.

Bei aller Unterschiedlichkeit vereint diese Perspektive auch alle AutorInnen der folgenden Texte. Der Blick auf die Anhängerschaft, die sozialen Praktiken und Interaktionen, in denen sich der Aufstieg der NS-Bewegung vollzog, führt zur Auflösung von starren, oft dichotomen Stereotypen über den Nationalsozialismus. Die Perspektive der aktiven Mitbeteiligung verändert etwa die Vorstellungen einer rigiden Geschlechterpolarität und -hierarchie – Franka Maubach beschreibt die Konzipierung einer geschlechterübergreifenden Volksgemeinschaft. Die frühere Sicht auf die Führer-Gefolgschaftsbeziehung als totale Unterwerfung wird ebenfalls fragwürdig – Michael Wildt betont die Bedeutung der Führersehnsucht und die Vorstellung des Führers als Sprachrohr und Medium der Volksgemeinschaft. Falk Stakelbeck und Gudrun Brockhaus beschreiben, wie das Angebot, psychische Regression zu idealisieren, in der Interaktion von Führer und Anhängerschaft hergestellt wird.

Historische und psychologische Perspektiven – Zur Bedeutung subjektiven Erlebens

Die Sozialhistoriker betonten die Wichtigkeit der sozioökonomischen und der politischen Strukturbedingungen. Die Folgen des Krieges und der Wirtschaftskrisen, der sozialen, konfessionellen und politischen Spaltungen der Weimarer Zeit sind in ihrer Bedeutung für den Aufstieg der NS-Bewegung gar nicht zu überschätzen. Aber die Fakten sprechen nicht für sich. Zum Beispiel ist zwar der zeitliche Zusammenhang zwischen der Weltwirtschaftskrise und dem sprunghaften Anwachsen der Wählerstimmen für die NSDAP evident. Aber wie setzt sich die Weltwirtschaftskrise in subjektive Motive um, die Nazi-Bewegung zu unterstützen? Wie führt der Weg von der ökonomischen Krise zu politischen Einstellungen und zu einer Unterstützung der Nazis und nicht der Kommunisten? Kommt überhaupt der Ökonomie eine wesentliche Rolle zu, sind nicht politische Geschehnisse wie die Novemberrevolution 1918 viel relevanter für den Aufstieg der Nazis?

Gegen den sozialhistorischen Zugang mit seiner Betonung von Fakten und Strukturen stellten die Kulturhistoriker den Primat des Wortes, der Ideenwelt, der Ideologie und der Symbole. Für die Wirksamkeit weltanschaulicher Konstrukte finden sich in der Aufstiegszeit des Nazismus zahlreiche Belege, sei es die Konstruktion des Juden im antisemitischen Stereotyp, seien es die Verheißungen der heilen Welt der Volksgemeinschaft oder der Stärke der wiedergeborenen Nation.

Aber die Ideologie lässt sich nicht aus den gesellschaftlichen Kontexten herauslösen, wenn etwa über den Nationalismus oder den Antisemitismus gesprochen wird, als seien sie das Movens der Geschichte und nicht selber Verarbeitungen gesellschaftlicher Erfahrungen. Zudem klären auch die Kulturhistoriker nicht die subjektive Aneignung von Ideologien: Wie bilden sich kollektive Muster von Wahrnehmung? Warum können Antisemitismus, Ultranationalismus, Militarismus wichtig für die Menschen werden, was lässt sie überzeugend wirken?

Der »praxeologische« Blick auf die »sozialen und kulturellen Praktiken« und die »Hervorbringung des Denkens im Handeln« hat ein stärkeres Interesse für die Selbstdeutungen der Akteure mit sich gebracht, so Reichardt.21 Aber die Faszinationskraft der NS-Bewegung ist nicht mit Denken, mit »Mentalitäten«, mit kognitiven Konzepten allein erklärbar.22 Die Analyse muss die Ebene der subjektiven Wahrnehmung und des emotional bestimmten Erlebens einbeziehen.23 Sieht man den Menschen nur von rationalen Motiven bestimmt, so missversteht und unterschätzt man die emotionale Macht der Attraktion.

Schon die Titel mehrerer Beiträge in diesem Band nehmen diese Ebene mit Begriffen wie Erlebniswelten, Gefühlswelten, Erlebnisangebote, Mythenbildung auf. Sie implizieren die These, dass die Anziehungskraft der NS-Bewegung zumindest auch in der Aneignung emotional wirkungsmächtiger Selbst- und Kollektiv-Bilder bestand.

Untersuchungen zu den Motiven der NS-Attraktion vor 1933

In zeitgenössischen Berichten von NS-Anhängern über ihren Weg in die Partei spielen die Kerngehalte der NS-Ideologie – radikaler Antisemitismus und kriegerische Expansionspolitik – nur eine kleine Rolle.24 Auch die heutigen historischen Analysen der Motivbasis für die Unterstützung der NS-Bewegung vor 1933 unterstützen diese Einschätzung: »Beide Ziele, Vernichtungsantisemitismus und Ostexpansion waren, so dominant sie auch später wurden, für die Massenmobilisierung bis 1933 unwichtig und ungeeignet.« Für den Erfolg der NS-Bewegung lässt sich nach Wehler eigentlich die gesamte »Programmatik der NSDAP als geradezu zweitrangig« einstufen.25

Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt die Untersuchung von fast 600 autobiografischen Berichten früher NS-Anhänger. Der amerikanische Soziologe Theodore Abel hatte 1934 einen Preis ausgelobt für die beste Antwort auf die Frage: »Warum bin ich Nationalsozialist geworden?«26 Sicher wollten die ›Alten Kämpfer‹ in ihren Antworten ihre Treue und Loyalität zum Nationalsozialismus unter Beweis stellen. Abel war überrascht, dass ihr opferbereiter und enthusiastischer Einsatz für die Bewegung durchaus nicht mit weltanschaulicher Treue zur NS-Ideologie einherging. »Viele beschreiben ganz offen ihre mangelnde Übereinstimmung mit einer bestimmten Politik, z. B. mit dem Antisemitismus.«27

Dennoch treten bei den Berichten sehr klar die von vielen ›Alten Kämpfern‹ geteilten Motive der Attraktion der Nazi-Bewegung heraus:28

Das mit Abstand meistgenannte Motiv (31,7 %) ist die Sehnsucht nach der Volksgemeinschaft. Dieser starke Wunsch nach Einigkeit und Harmonie antwortet auf die von politischen und sozialen Spaltungen geprägte Nachkriegs-Situation. In 22,5 % der Berichte erscheint als Hauptmotiv der extreme Nationalismus und die Vision der Wiederherstellung nationaler Größe, die nur mit einer Zerstörung der alten Ordnung und dem Kampf gegen alle Feinde des Volkes erreicht werden könne. Für 18,1 % ist Hitler der zentrale Grund für ihren Parteibeitritt.

Fast identisch formuliert Wehler in seiner zusammenfassenden Darstellung 80 Jahre später die Ursachen der Anziehungskraft der Nazi-Bewegung:

»–  Der charismatische Volkstribun an der Spitze einer nationalistischen Sammlungsbewegung,

–   der klassenübergreifende Charakter einer autoritären, jungen, populistischen Volkspartei,

–   die vage, aber dynamisch wirkende Alternative der Krisenbekämpfung.«29

Nur mit dem Nationalismus ist hier ein klassisch-ideologisches Motiv genannt. Dominant sind soziopsychische Motive: die Sehnsucht nach einem charismatischen autoritären Führer, der doch gleichzeitig dem Volk eine Stimme verleiht, die Hoffnung auf eine Überwindung von Spaltungen in einer Volksgemeinschaft, die Wünsche nach Dynamik, Jugendlichkeit und nach einem unverbrauchten alternativen Lebensentwurf.

Aggressive Dynamik

Mit diesem dritten Motiv benennt Wehler direkt den subjektiven Eindruck (»dynamisch wirkend«) als Motor der Attraktion – den neuen, auf Tempo, aggressiver Präsenz und Gewalt basierenden ästhetisierenden Politikstil der Nazis. Alexander Meschnig wird die Suche nach extensiver Dynamik, die die »Bewegung« charakterisiert, mit den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs zusammenbringen (in diesem Band).

Auch bei den ›Alten Kämpfern‹ galt die Begeisterung dem Miterleben der Massensituationen, Hitlerreden, Aufmärsche, der militärischen Ordnung und eruptiven Gewalt, der Bilder und Gesten: »Ihre militärische, angriffslustige Art gefiel vielen […] Viele andere waren beeindruckt von dem aggressiven Stil, mit dem die nationalsozialistische Bewegung ihr Ziel verfolgte, von dem furchtlosen Umgang mit ihren Gegnern, der Politik, keine Kompromisse mit anderen Parteien zu schließen«,30 sagt Abel über die frühen NS-Anhänger. Die Attraktion des aggressiven Auftretens war aber nicht auf die NS-Überzeugten beschränkt, sie wirkte auch auf das große Publikum: »Schon aus den frühen Anfängen der NSDAP ist bezeugt, dass Hitler-Reden als eine Art Volksvergnügen genossen wurden, dem die Begeisterungswilligen schon vorher wie einer sportlichen Sensation entgegenfieberten. Hier war ›etwas los‹, hier wurde schonungslos ›abgerechnet‹.«31 »Bei den Nazis hatte man den Eindruck rücksichtsloser Tatkraft«, »[…] alles verbreitete den Eindruck von Dynamik und Bewegung«, »eine gewaltige Wirkung« – so äußern sich zeitgenössische Beobachter.32

Die Erregung, die Leidenschaftlichkeit des Hasses teilten sich bei den Hitler-Reden nicht vorrangig über die Worte mit, sondern konnten miterlebt, am eigenen Körper gespürt und in der Interaktion Hitlers mit dem Publikum selber miterschaffen werden.

Noch stärker ist die Bedeutung der NS-Bewegung als (Er)Lebensraum bei den organisierten Parteimitgliedern. Vor allem für die Angehörigen der SA ist die permanente Aktion sinnstiftend (vgl. Longerich in diesem Band). »Gerade in ihrer Aufstiegsphase charakterisierte die SA-Bewegungen ihr gewaltbestimmter Stil, sie symbolisierten durch ihre Kampfbünde Vitalität, Intransigenz, Jugendkult, Militarismus, Kameradschaft, Disziplin, Virilität und schließlich auch praktische physische Gewalt. Gewalttätige Aktionen waren der eigentliche Sinn und das Ziel der faschistischen Kampfbünde.«33 Die nationalsozialistische Weltanschauung ermöglichte, Gewalt gegen Kommunisten oder Juden als nationale Aufgabe zu legitimieren.

Ordnung und Autoritarismus

Ebenso attraktiv wie die Erlaubnis zum Gewaltexzess, zur Entgrenzung in Massenerlebnissen, zur Hingabe an Größenvorstellungen und Schwelgen in Rachefantasien ist das NS-Versprechen auf Halt, Geborgenheit, Ordnung, Harmonie und Sicherheit.

Für viele in der SA oder SS Organisierten wird die SA zur Heimat, die Bindung an den Gruppen-Führer und die Kameraden wird zum wichtigsten und oft einzigen Halt. Reichardt spricht von der »Kommunion der Kameraderie«.34 Oft genug griff allerdings die Gewalt auch in den Binnenraum der SA über und zerstörte den sicheren Raum.

Das bedrohliche Potenzial von Entgrenzung und Auflösung sollte eingefangen werden mit autoritären Ordnungsmodellen, mit militärischer Disziplin, Uniform, Drill, der Formung der Menschenmassen zu Marschkolonnen,35 mit rigiden Regulierungen von Zugehörigkeit und Exklusion in der völkischen Gemeinschaft, auch mit restaurativen Elementen, die alte Hierarchien wiederherzustellen versprachen.

Wie groß das Bedürfnis nach Sicherheit ist, zeigt sich in der Macht der Führersehnsucht, die den Hitler-Kult überhaupt erst ermöglicht (vgl. Michael Wildt in diesem Band).

Die Bereitschaft zur fraglosen Unterwerfung unter den Führer ersetzt die abstrakten undurchschaubaren Wirrnisse der Machtstrukturen in modernen Gesellschaften (die »vaterlose Gesellschaft«)36 durch die persönliche Beziehung zu einer patriarchalen Autorität. Die Führerbindung entlastet von Entscheidungszwang, reduziert Komplexität und erspart die Mühen der Individuierung, die dem Individuum in der Moderne aufgegeben ist – die Attraktion des Angebots, diesem Zwang entfliehen und Schutz suchen zu können in der Führerbindung, stellt Erich Fromm in den Mittelpunkt seiner NS-Analyse »Die Furcht vor der Freiheit«.37

Der Gehorsam bindet Angst, erlaubt die Partizipation an der Macht und das schuldgefühlsfreie Ausleben von Hass und Aggression gegen die vom Führer freigegebenen Volksfeinde – diese Dynamik beschrieben die Studien zur autoritären Persönlichkeit, die das Institut für Sozialforschung zu Beginn der Dreißigerjahre durchgeführt und in den Vierzigerjahren im Exil in den USA fortgesetzt hatte, um die Empfänglichkeit für die Botschaften des Faschismus auch dort zu analysieren.38

Dieser Blick war von der damaligen Ausrichtung der Psychoanalyse auf das ödipale Drama und die Bedeutung der patriarchalen Ordnung für die Gesellschaft geprägt. Er erhellte den dynamischen Zusammenhang von autoritärer Unterwürfigkeit und Aggression und machte deutlich, dass der Ordnungsaspekt des Nationalsozialismus nicht ohne Hass und Gewalt gegen Minoritäten zu haben ist. Die Auftrennung dieser Seiten wollte nach 1945 der Rückblick auf das Regime, der die »guten Seiten« für sich retten wollte.39

Harmonie und Symbiose

Autoritäre Unterwerfung und Aggression in den Mittelpunkt zu rücken, kann aber auch den Blick verengen, die restaurativen, hierarchischen, unterdrückenden Elemente des Nationalsozialismus zu sehr betonen und übersehen, wie wichtig die populistischen Versprechen von Partizipation und sozialer Gerechtigkeit waren.

Das Konzept des Autoritarismus kann nur unzureichend erklären, was die Anziehungskraft Hitlers ausmachte. Sicher ist das Angebot von Schutz, Entlastung und Teilhabe an der Macht des omnipotenten Führers wichtig, bezahlt durch Unterwerfung und absoluten Gehorsam. Daneben steht aber ein Führungskonzept, in dem Zwang und Gewalt nicht existent sind. Sie sind unnötig, weil es keine Differenzen zwischen Führung und Geführten gibt, nur die Symbiose von Volk und Führer. Der Führer »ist die sichtbare Gemeinschaft«,40 er ist die Stimme des Volkes, drückt seine Wünsche und Bedürfnisse besser und klarer aus, als es der Einzelne könnte. Dieses symbiotische Konzept von Führung und Gefolgschaft, von Einssein in der Volksgemeinschaft verführt durch sein regressives Angebot, Interessengegensätze, Machtunterschiede und Gewalt zu verleugnen und zu behaupten, alles sei versöhnt.

Die Fiktion einer symbiotischen Harmonie, die Leugnung von Differenz und Herrschaft: Die Macht dieses Wunsches zeigt sich darin, dass das attraktivste NS-Angebot das Versprechen auf Zugehörigkeit, Aufgehobensein, Kameradschaft in der Volksgemeinschaft darstellt. So sehr sich auch das Destruktive, die Vernichtungspraktiken als zentrales Charakteristikum des Nationalsozialismus vordrängen: In den Selbstdeutungen der Nazi-Anhängerschaft überwiegt die Attraktion der Verheißung von Harmonie in einer geeinten nationalen Gemeinschaft.41 Die Frage nach der Wirksamkeit »positiver« Angebote stellt Griffin in seinem Beitrag in den Mittelpunkt.

Der Widerspruch des Nationalsozialismus

Gleichzeitig und untrennbar verbunden mit dem Verlangen nach Sicherheit und Ordnung stehen die Wünsche nach einem radikalen Neubeginn. Keinesfalls soll die autoritäre Ordnung des Kaiserreiches restauriert werden.

Die NSDAP – und das verschafft ihr den entscheidenden Vorsprung vor den reaktionären nationalistischen Parteien – nimmt die plebiszitären, sozialistischen, revolutionären Impulse in der Weimarer Gesellschaft auf (vgl. dazu Fritzsche in diesem Band). Sie verspricht Mitsprache, soziale Gerechtigkeit, Abbau von Privilegien durch Geburt und Stand, Nutzung von Technik, Wissenschaft, Massenmedien auf dem modernsten Stand, einen Führer, der aus dem Volk kommt, seine Sprache spricht und die Verkrustungen in der Gesellschaft aufbrechen wird. »Ihre besondere Dynamik entwickelte sich vielmehr gerade in dem revoltehaften Abstreifen traditioneller Bindungen.«42

Die Nazis zeigen eine revolutionäre Geste und bedienen gleichzeitig die enormen Ängste vor revolutionären Veränderungen, die immer stärker mit Terror, Chaos, blutiger Willkür gleichgesetzt und antisemitisch und antikommunistisch aufgeladen wurden, wie Joachim Schröder in seinem Beitrag beschreibt.

Die Diagnose, dass dieser Widerspruch den Kern der NS-Attraktion ausmacht, stellen alle frühen Analytiker des NS-Erfolges wie Ernst Bloch, Wilhelm Reich, Erich Fromm und andere.43 Unter dem Titel »Der Widerspruch des Nationalsozialismus« konstatiert Wilhelm Reich 1934 »daß die Massen zu Hitler liefen, weil sie eine Umwälzung wünschen, jedoch gleichzeitig Angst vor der Revolution hatten«.44

Die logische Unvereinbarkeit und die Unmöglichkeit einer Umsetzung dieser widersprüchlichen Ziele sind den Nazis von zeitgenössischen Kritikern immer wieder entgegengehalten worden, sie desavouierten in der damaligen Sicht die NS-Bewegung. Diese wohlfeile Kritik übersah, dass viele Menschen von diesen so widersprüchlichen Bedürfnissen nach Sicherheit und nach radikalem Wandel durchdrungen waren. Sie wollten zurückhaben, was sie durch die sprunghafte Modernisierung, durch Krieg und Krisen verloren sahen: ökonomische und soziale Stabilität, Halt in Tradition, patriarchale Ordnungsprinzipien in Beruf, Familie, im öffentlichen Leben, religiöse und normative Absicherung von gesellschaftlichen Hierarchien. Gleichzeitig schien die Enge, Repression, Starre, soziale Ungerechtigkeit dieser alten Ordnung unerträglich, die Wünsche nach Ausbruch wuchsen umso mehr als die restaurativen Modelle durch die Politik der reaktionären Parteien desavouiert wurden – Wünsche nach Revolte, Mobilität, Aktivismus, militanter Abkehr von Alltag, Kompromiss, Langeweile und die Rückkehr kriegerischer Werte und Ästhetik (vgl. die Beiträge von Meschnig, Behrenbeck und Hirschfeld in diesem Band, die sich mit dem Fortleben des Krieges in der NS-Ideologie befassen). Deshalb, so Martin Broszat, begründet das NS-Versprechen auf Erfüllung dieser widersprüchlichen Wünsche den Massenerfolg der Nationalsozialisten: »Sowohl vor 1933 wie später gründete die Massenbasis des Nationalsozialismus […] auf den gleichzeitigen, logisch und politisch zwar widersprüchlichen, aber real nebeneinander existierenden elementaren Protektions- und Mobilisationsbedürfnissen gerade im Mittelstand, für die der Nationalsozialismus mit seiner Mischung von Aufstiegs-, Wiedergesundungs- und Erneuerungsparolen instinktsicher zugleich eine sozial-konservative Legitimation und dynamisierende Evokation lieferte.«45

Viele weitere Widersprüchlichkeiten sind offenkundig: Kleinheits- und Größenfantasien, Harmoniesucht und Gewaltbereitschaft, rationale Sozialtechnologie und Entgrenzung von Gewalt, Emotionalisierung und »Vernunftantisemitismus«, dynamische Expansion und rigide Ordnungsschemata, Opferidentifikation und Täteridentität, Restauration und Auflösung der Geschlechterhierarchie, Modernität und Traditionalität, Event-Orientierung und Ewigkeitsversprechen, preußisch-christlicher Moralkodex und Amoralität des Herrenmenschen, kleinbürgerliche Idylle und erhabener Schauder, Sexualabwehr und Sexualisierung, Unterwerfung und Eigeninitiative, Gleichschaltung und Initiative, Wille zum Aufbau und zu totaler Vernichtung.

Oft wurde versucht, diese Paradoxien des Nationalsozialismus in Doppel-Begriffen einzufangen: stählerne Romantik, revolutionäre Reaktion, reaktionäre Modernisierung, Kitsch und Tod, Schauder und Idylle. Auch Beiträge in diesem Band thematisieren die Widersprüchlichkeit des Nazismus bereits im Titel: Gewalt und Ohnmacht (Keupp), Ordnung und Rebellion (Buschbom).

In der Wirklichkeit neigten die Menschen – auch abhängig von ihrer sozialen Verortung, ihrer Geschlechts-, Religions- oder Generationszugehörigkeit, ihrer Lebensgeschichte – oft einer Seite stärker zu. Statt auf einem einzigen – notwendig sehr stark generalisierten – Motivbündel zu beharren, könnte die Untersuchung unterschiedlicher »Syndrome« präzisere Auskünfte über Motivzusammenhänge und deren Verursachung geben. In diese Richtung war bereits Adorno 1950 in seiner idealtypischen Beschreibung unterschiedlicher »Typen und Syndrome« der Affinität zum Faschismus gegangen.46 Die Faschismus-Affinen unterscheiden sich darin, wie groß die psychische Bedeutung des faschistischen Angebots für sie ist – sie ist gering bei dem »Konventionalisten«, sehr hoch bei dem Anhänger mit »Autoritärem Syndrom«. Sie differieren darin, welches Motiv die Attraktion des NS-Angebotes vor allem ausmacht: z. B. die Rebellion47 oder die paranoide Konstruktion von Feinden. Als den Typus der Zukunft sieht Adorno den »manipulativen Typus« in seiner Verführbarkeit durch unbegrenzte Handlungsmacht.48

Die Behauptung, die NS-Bewegung könne mit ihrer Vision der nationalen Erneuerung alle unterschiedlichen Bedürfnisse versöhnen, war natürlich auch eine bewusste propagandistische Irreführung, um möglichst viele Menschen mit heterogenen Interessenlagen ansprechen zu können. Aber die Fiktion, man müsse sich nicht für einen Lebensentwurf und dessen Begrenzungen entscheiden, prägt den Nationalsozialismus zutiefst.

Die Paradoxien der NS-Weltanschauung und -Praxis sind vermutlich auch verantwortlich für viele Forschungskontroversen, weil sich leicht für jede Position Belege finden lassen und weil das Forschungsideal auf Widerspruchsfreiheit und Eindeutigkeit ausgelegt ist. Deshalb ist es gerade zum Verständnis der Attraktion des logisch Unvereinbaren nützlich, die psychoanalytische Perspektive heranzuziehen.

Sie beschreibt den Konflikt zwischen antagonistischen Bedürfnissen als grundlegende psychologische Tatsache.

Besonders hilfreich zum Verständnis der zentralen Gegensätzlichkeiten der NS-Ideologie ist das Konzept der Spaltung. Die Entwicklungspsychologie und die klinische Erfahrung zeigen, dass der Mechanismus der Aufspaltung der emotionalen Welt in unverbunden nebeneinander stehende antagonistische Anteile ein Versuch ist, sich vor existenziellen Ängsten zu schützen. Spaltungsmechanismen entstehen aus der Unfähigkeit, Ambivalenz in Beziehungen zu ertragen, »einem geliebten Menschen gegenüber auch Haß und Schuld zu empfinden«.49 Deshalb werden die positiven und negativen Gefühle voneinander getrennt, auf verschiedene Personen aufgeteilt, oder Idealisierung und totale Entwertung lösen einander abrupt ab, auch sich selbst gegenüber. Spaltungsmechanismen sind Teil jeder kindlichen Entwicklung, ihr Überdauern im Erwachsenenalter kennzeichnet schwere psychische Störungen. Aber in Zeiten tief greifender Krisen greifen wir alle auf solche Mechanismen zur Abwehr von Angst, Scham, Ohnmacht zurück, um unser Selbstbild zu retten: Schwarz-Weiß-Denken, Freund-Feind-Aufspaltung der Welt, Selbst-Idealisierung, Verachtung von Schwäche und Selbsterschaffung als unbesiegbare Helden, Unfähigkeit zum Ertragen von Fremdheit, paranoide Konstruktion von Feinden. Wir verlieren die guten Seiten von entwerteten Personen, erleben uns als Opfer von Verfolgung und Hass, denken nur noch an Rache und begrenzen unsere Loyalität auf eine immer enger definierte Gruppe von Gleichgesinnten. »In bestimmten regressiven Situationen, die man durch die Trias Scham-Wut, Demütigung und verbliebene Ressourcen sowie eine pathologische Führungssituation charakterisieren kann, sind wir leider alle genug »Krieger«, um das Potential für Mord und Totschlag prinzipiell handlungsrelevant werden zu lassen«,50 bemerkt Rainer Krause über die Vergeblichkeit, die Anfälligkeit für destruktive politische Bewegungen auf pathologische Persönlichkeiten einzuschränken.

Die private Gefühlswelt kann durch eine politische Bewegung wie die nationalsozialistische ideologisiert und organisiert werden. Die ideologischen Konstrukte müssen eine Entsprechung in der inneren Welt haben, nur das macht sie glaubhaft.

Der Nationalsozialismus – wie jede fundamentalistische oder terroristische Bewegung – übersetzt mit seinem manichäischen Weltbild den Spaltungsmechanismus in eine politische Sprache. Die Attraktion von Spaltung ist auch der zentrale Punkt in Stakelbecks Überlegungen zur Anziehungskraft Hitlers, auch Griffin beschreibt ihre Bedeutung.

Nicht nur Psychologen, auch viele Historiker haben diese Interpretation zum Verständnis der Attraktion des Nationalsozialismus benutzt und die Anfälligkeit für die nationalsozialistischen Größenfantasien und Feindkonstruktionen in Krisenerfahrungen der Weimarer Zeit verortet. Erich Fromm hatte das Gefühl der Ohnmacht als das Signum der Weimarer Zeit beschrieben,51 Joachim Fest bezeichnet es als »Die große Angst«.52 Viele verweisen auf weit verbreitete Gefühle von Demütigung und Beschämung, die erst den propagandistischen Erfolg von Propagandakonstrukten wie »Im Felde unbesiegt«, der Dolchstoßlegende oder des »Schandvertrages« von Versailles verständlich machen.

Die NS-Bewegung machte ein Angebot, solche Erfahrungen von Ohnmacht, Beschämung, Demütigung, Angst als Schicksal der Nation zu überhöhen. Sie erlaubte, sich als Opfer böser Machenschaften zu sehen, die persönliche Niederlage und Schwäche zu verleugnen. Das Konstrukt des jüdischen Bolschewismus und der Volksgemeinschaft ermöglichte, die Feinde aus dem Inneren der Person und der Gesellschaft als »Gemeinschaftsfremde« hinauszukatapultieren, die Projektion konnte Hass fließen und ohne Schuldgefühle ausleben lassen. Die Größe und Stärke der einigen deutschen Nation, die einen Anspruch auf Reparation, auf Erweiterung des Lebensraumes und Beherrschung der Minderwertigen hatte, war eine kompensierende Größenfantasie, ebenso wie die rassistische Aufteilung der Welt in Höher- und Minderwertige. Die Rechtfertigung von Gewalt erlaubte im Hier und Jetzt Erlebnisse von Bemächtigung und narzisstischem Triumph.

Die aus der Psychologie des Einzelnen bekannten Mechanismen, unerträgliche Gefühle durch Verleugnung, Projektion, Verkehrung ins Gegenteil, Identifikation, Rationalisierung und Spaltung wegzuschieben, dienen auch zum Verständnis kollektiver Prozesse. Insbesondere erleichtern sie, die widersprüchlichen Motive in der Attraktion der NS-Bewegung zu erhellen.

Die Sprachlosigkeit zwischen den Disziplinen

Die Übersetzung des ideologischen Angebotes in kollektive Abwehrprozesse lässt viele Fragen offen. Der hohe Verallgemeinerungsgrad, die fehlende historische Kontextualisierung, die Schmalheit der Quellenbasis dieser psychologischen Thesen stellen für die meisten Historiker eine Provokation dar. Selbst wenn Historiker die Bedeutung emotionaler Motive für den Aufstieg der NS-Bewegung sehen, schrecken sie dennoch vor den unlösbar erscheinenden methodischen Problemen zurück. Die Deutungen subjektiver Motivlagen können durch Kontextualisierung mehr oder weniger plausibel gemacht werden, aber sie bleiben immer prekär.

Hinzu kommt die Schwierigkeit im Umgang mit Quellen. Viele zitierte Quellen stammen nicht von Zeitgenossen. Sie enthalten durch die historisch unterschiedlichen Interessenlagen bedingte Verzerrungen – z. B. die Neigung zu Überhöhungen der Kampfzeit in den NS-zeitgenössischen Dokumenten, Nivellierungstendenzen in den nach 1945 entstandenen Dokumenten. Zeitgenössische Quellen geben nur selten Aufschluss über die subjektiven Motivlagen. Tagebücher waren eher nicht die Sache der meist dem Wort, der Selbst-Reflexion abgeneigten NS-Anhängerschaft,53 sie haben überdies das Problem, die für den Schreiber selbstverständliche aktuelle gesellschaftliche und politische Situation selten zu thematisieren und private Themen überzubetonen.

Auch Quellen, die uns über die subjektive Seite Auskunft geben, sind keine zuverlässigen Lieferanten der »wirklichen« Motive der NS-Attraktion: Gefühle wie Angst, Schwäche, Ohnmacht, Enttäuschungswut können nicht zugegeben werden, auch nicht vor sich selbst. Viele der folgenden Arbeiten beschäftigen sich schon aus diesem Grund doch wieder vorwiegend mit der »Angebotsseite« und dabei vor allem mit dem Wort, mit Propagandamaterial der NSDAP, mit Schriften und Reden von Hitler und Vergleichbarem.

Nicht nur die Autoren, die während der Nazi-Zeit glorifizierend auf ihre ›Alte-Kämpfer‹-Zeit zurückblicken, stehen in der Gefahr eines verzerrenden Umgangs mit den Quellen. Im Rückblick auf unterschiedliche Deutungen der Attraktion der NS-Bewegung wird deutlich, wie stark die Fragen und der selektive Umgang mit den Quellen von zeitgeistigen Moden oder politischen Positionen geprägt sind – etwa der von den sozialistischen Positionen und dem bildungsbürgerlichen Duktus gleichermaßen geprägte Diskurs über die Faschismusanfälligkeit der »Kleinbürger« bei Bloch, Fromm, Reich, Adorno, Geiger.54 Bei Mitscherlichs Analyse der Verliebtheit in den Führer als massenpsychologisches Phänomen ist der zeittypische Gestus der Angst und Überheblichkeit gegenüber der ›Masse‹ deutlich.55 Der politische Zeitgeist der Nachkriegszeit spiegelt sich in den totalitarismustheoretischen NS-Analysen (und in ihrem Wiederaufleben nach 1989). Aber neben diese Infragestellungen der Forscher-Objektivität tritt bei dem NS-Thema die Schwierigkeit, mit Verantwortung und Schuld gegenüber der Verbrechensgeschichte des Nationalsozialismus umgehen zu müssen. Als Ausweg vor der Nähe zu dieser Geschichte können Dämonisierung oder Nivellierung der NS-Attraktion dienen.

Zu diesem Band

Ein Auswahlkriterium war, Themen oder Perspektiven hervorzuheben, die in der gängigen Betrachtung der Ursachen des NS-Erfolges wenig hervortreten. Ebenso wichtig war die Suche nach AutorInnen aus der Geschichtswissenschaft, Kulturwissenschaft, der Psychoanalyse und Sozialpsychologie, die offen sind für interdisziplinäres Denken.

Die AutorInnen betonen die historischen Verbindungslinien, insbesondere zu den dramatischen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, und verfolgen ihre Nachwirkungen bis in den Kern der NS-Programmatik und -Praxis hinein (Meschnig, Behrenbeck, Hirschfeld). Rohkrämer fasst die aktuelle Forschungsdiskussion zum Thema Attraktion der NS-Bewegung zusammen und bezieht sich dabei sehr stark auf die zeitgenössischen »Erlebnisberichte« der Abel Collection. Brockhaus untersucht die frühen sozialpsychologischen Analysen des aufsteigenden Nationalsozialismus. Diese Analysen von Bloch, Fromm und Adorno enthalten prägnante und zugleich empathische Beobachtungen über die NS-Anhängerschaft, an die die heutige Sozialpsychologie anknüpfen kann.

Eine alltags- und praxisnahe Beschreibung des nationalsozialistischen Milieus vor Ort und der Szenarien von Hitlerreden öffnet den Blick dafür, wie wichtig der Rahmen für die Erlebniswelten sind, in denen die NS-Propaganda Resonanz finden kann (Longerich). Auf der anderen Seite spielen aber auch kollektive Selbstbilder eine zentrale Rolle. Knoch untersucht die Rolle der Bildpolitik für die Konstruktion der »Volksgemeinschaft« und beschreibt den Wandel der Motive im Übergang zur Regimezeit. Mehrere weitere Beiträge stellen in ihren Analysen der Attraktion der NS-Bewegung die Relevanz der Harmonie, Einigkeit und Ganzheit fingierenden Vorstellungen von »Volk« und »Volksgemeinschaft« heraus. So nimmt die nationalsozialistische Variante der Idee des »Volkes« von vielen geteilte Gefühle von Leid und Bedrohtsein auf, politisiert und konzentriert sie auf einen Feind und nutzt dabei auf populistische Weise die Stilformen der Demokratie (Fritzsche). Michael Wildt bringt die Sehnsüchte nach Volksgemeinschaft mit der Führersehnsucht zusammen und diskutiert das so entstehende nationalsozialistische Führungskonzept.56 Falk Stakelbeck beschreibt die innerseelische Spaltungsdynamik bei Hitler als zentrales Motiv seiner Attraktion für die Anhänger.

Griffin diskutiert das plötzliche Hochschnellen der NS-Attraktion nach 1930 und nutzt neben historischen auch (sozial)psychologische, literarische, philosophische und ritualwissenschaftliche Überlegungen zum Umgang mit Krisen, um die Empfänglichkeit für Versprechungen eines radikalen Neubeginns verständlich zu machen.

Die Rede von Männerbünden und Männerkameradschaft, die Suche nach speziell weiblichen Motiven der Hinwendung zum Nationalsozialismus isoliert die Geschlechterperspektiven voneinander. Die Volksgemeinschaft wird jedoch gerade als geschlechterübergreifendes Konstrukt attraktiv (Maubach).

Wie gelang es, die unterschiedlichen Feindbilder zu einem einzigen zu verschmelzen und die virulenten Vorurteile durch die Verklammerung von Antisemitismus und Antikommunismus zu bündeln? (Schröder)

Die drei Beiträge zum Rechtsextremismus heute nehmen das Motiv der Kompensation von Ohnmachtserfahrungen wieder auf. Mücke beschreibt Erfahrungen aus einem pädagogischen Projekt zur Gewaltprävention. Buschbom geht unter Rückgriff auf Canetti und Cassirer von den massenpsychologischen Effekten rechtsradikaler Flash Mobs aus. Keupp knüpft seinen sozialpsychologischen Überblick zur Motivforschung an die frühen Analysen der Anziehungskraft des Nationalsozialismus an.

Ich danke allen AutorInnen, dass sie sich auf dieses Projekt eingelassen haben.

1 Vielen Dank an die Evangelische Akademie Tutzing und die Tagungsleiterin Dr. Ulrike Haerendel: Attraktion der Nazi-Bewegung, 13.–15. Februar 2013. Die ReferentInnen der Tagung waren Sabine Behrenbeck, Gudrun Brockhaus, Jan Buschbom, Peter Fritzsche, Roger Griffin, Gerhard Hirschfeld, Heiner Keupp, Peter Longerich, Franka Maubach, Thomas Mücke und Falk Stakelbeck. Ihre Beiträge sind für den vorliegenden Band ergänzt durch Texte von Habbo Knoch, Alexander Meschnig, Thomas Rohkrämer, Joachim Schröder und Michael Wildt.

2 Michael Wildt: Geschichte des Nationalsozialismus, Göttingen 2008, S. 20 ff. »Im Handeln, in der Praxis bewies sich der nationalsozialistische Antisemitismus …«, S. 21.

3 Michael Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919–1939, Hamburg 2007, S. 373.

4 Detlev J. Peukert: Die Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1987, S. 236.

5 Peter Fritzsche: Wie aus Deutschen Nazis wurden, München 2002 (2. Auflage), S. 212.

6 Leni Riefenstahl: Triumph des Willens, Deutschland 1935. Der Film »dokumentiert« den Reichsparteitag der NSDAP 1934. Dazu immer noch überzeugend Susan Sontag: Faszinierender Faschismus, in dies.: Im Zeichen des Saturn. Essays, München u. a. 2003, S. 97–125.

7 Dass das für NS-Zeitgenossen ganz anders war, zeigte sich, als eine Studentin ihre hochbetagte Mutter mitbrachte, die ohne jeden Zweifel die Uniformen identifizieren konnte und sich an Image und Prestige der unterschiedlichen militärischen Formationen mit viel Gefühl erinnerte.

8 Wildt, Selbstermächtigung, S. 37 Fn.

9 George L. Mosse: Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegungen von den Befreiungskriegen bis zum Dritten Reich, Frankfurt a. M./New York 1993. Zur Psychologie der kollektiven Identität Vamik Volkan: Blindes Vertrauen. Großgruppen und ihre Führer in Zeiten der Krise und des Terrors, Gießen 2005.

10 Sven Reichardt hat mit vergleichbaren Verweisen auf die historischen Unterschiede von Zwischenkriegszeit und Gegenwart von 2013 die Gefahren eines erneuten Erfolges von nazistischen Organisationen verneint: Sven Reichardt: Triumph der Tat, in Zeit-Geschichte, Heft 3 (2013), S. 15–19.

11 Paula Diehl: Populismus und Massenmedien, in APuZ 5/6 (2012).

12 So die These von Oliver Decker/ Elmar Brähler/ Johannes Kiess: Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012, Berlin, Bonn 2012. Die Autoren nehmen den von Seymour Lipset in den 1950er Jahren geprägten Begriff wieder auf. Zur Kritik vgl. Uwe Backes/ Eckhard Jesse: Extremismus der Mitte? – Kritik an einem modischen Schlagwort, in Uwe Backes/Eckhard Jesse: Vergleichende Extremismusforschung, Baden-Baden 2005, S. 157–169.

13 Martin Broszat: Soziale Motivation und Führer-Bindung des Nationalsozialismus, in Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 18 (1970), S. 392–409, hier S. 393.

14 Exemplarisch Wildt, Selbstermächtigung.

15 Thomas Rohkrämer: Die fatale Attraktion des Nationalsozialismus. Über die Popularität eines Unrechtsregimes, Paderborn 2013.

16 Christopher Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizei-Bataillon 101 und die »Endlösung« in Polen, Reinbek bei Hamburg 1993. Von den zahlreichen Untersuchungen zu Mitwisserschaft seien nur genannt: Peter Longerich: »Davon haben wir nichts gewusst!« Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945, München 2006; Frank Bajohr/Dieter Pohl: Massenmord und schlechtes Gewissen. Die deutsche Bevölkerung, die NS-Führung und der Holocaust, München 2006.

17 Vgl. Ian Kershaw: »Dem Führer entgegenarbeiten«, in ders.: Hitler, Bd. 2: 1889–1936, Stuttgart 1998, S. 663–744.

18 »Volksgemeinschaft – Ausgrenzungsgemeinschaft. Die Radikalisierung Deutschlands ab 1933«, Bundeszentrale für politische Bildung in Kooperation mit der Universität Flensburg und der Humboldt-Universität zu Berlin, 27.–29.1.2013. Vortrag Michael Wildt: https://www.bpb.de/veranstaltungen/dokumentation/154002/volksgemeinschaft-als-ergebnissozialer-praxis (7.4.2014).

19 »Eine der bemerkenswertesten Erfolge nationalsozialistischer Sozial- und Gesellschaftspolitik bestand in der Verbreitung des Gefühls sozialer Gleichheit.« Norbert Frei: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München 2005, S. 114. Zur Diskussion des Volksgemeinschafts-Konzepts vgl. Detlev Schmiechen-Ackermann (Hg.): ›Volksgemeinschaft‹: Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im ›Dritten Reich‹? Paderborn 2012.

20 Sein Interesse richtet sich hier auf die antisemitischen Gewaltaktionen von Partei-, SAoder HJ-Gruppen, »auf das Herstellen der Volksgemeinschaft durch Gewalt«. Wildt: Selbstermächtigung, S. 17.

21 Sven Reichardt: Neue Wege der vergleichenden Faschismusforschung, in Mittelweg 36, 1 (2007), S. 9–25, hier S. 12. Sven Reichardt versucht eine Klassifizierung der historiografischen Zugänge zur Faschismusforschung, den »praxeologischen« Zugang sieht er als Lösung der Begrenzungen sozial- oder kulturgeschichtlicher Zugänge. Die Gegenposition der Irrelevanz der Motive vertritt M. Wildt, s. o.

22 Die Bedeutung, die Gefühlen und Gefühlskonflikten zugemessen wird, ist ein wichtiger Punkt, in denen sich der hier vertretene, von der Psychoanalyse beeinflusste sozialpsychologische Zugang von dem Harald Welzers unterscheidet. Welzer beschreibt die prägende Kraft des sozialen und situativen Referenzrahmens für die Radikalisierung der NS-Täter, vgl. Harald Welzer: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt a. M. 2005.

23 Damit soll nicht der Dichotomisierung von Kognition und Gefühl das Wort geredet werden, die allerdings in der Geschichtswissenschaft und der Kognitionspsychologie überlebt. Emotionen verleihen kognitiven Inhalten erst Relevanz und Bedeutsamkeit. Trotzdem bleibt die Dominanz der Emotion vor der Kognition im nationalsozialistischen Politik-Verständnis hervorzuheben.

24 »Im großen und ganzen wurden die Deutschen ›zum Antisemitismus hingezogen, weil sie zum Nazismus hingezogen wurden, nicht umgekehrt‹.« Fritzsche: Nazis, S. 169 zitiert die Frankfurter Zeitung Nr. 86 vom 1. 2. 1933.

25 Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4. Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München 2008, S. 580 und 576.

26 Theodore Abel: Why Hitler Came into Power. An Answer Based on the Original Life Stories of Six Hundred of His Followers, New York 1938. Thomas Rohkrämer stützt sich in seinem Beitrag in diesem Band sehr stark auf die Abel Collection, die leider nie veröffentlichte Sammlung der Berichte.

27 Abel: Why Hitler came into power, S. 8 (Übersetzung G. B.). Wildt: Selbstermächtigung, Fn. S. 99, glaubt im Gegensatz dazu an die entscheidende Rolle des Antisemitismus »für die Binnenintegration der nationalsozialistischen Bewegung selbst«.

28 Die Berichte sind später statistisch ausgewertet worden durch Peter H. Merkl: The Making of a Storm Trooper, Princeton 1980; ders.: Political Violence under the Swastika, Princeton 1975, daher die vorliegenden Prozentzahlen, vgl. auch Rohkrämer in diesem Band.

29 Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte Bd. 4, S. 576.

30 Abel: Why Hitler Came into Power, S. 176 (Übers. G. B.).

31 Martin Broszat: Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, München 1969, S. 41.

32 Fritzsche: Nazis, S. 204 zitiert diese drei Aussagen.

33 Sven Reichardt: Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002, S. 719.

34 Ebd., S. 714. Thomas Kühne hat die enorme Bedeutung der idealisierten Männer-Kameradschaft als motivierende Kraft überzeugend herausgearbeitet. Thomas Kühne: Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006.

35 Dieser doppelte Prozess der Stimulierung von Entgrenzung und Rausch der Gewalt und der äußeren Grenzziehung durch Formierung der Körper steht im Mittelpunkt der Analyse faschistischer Attraktionen bei Klaus Theweleit: Männerphantasien Bde. 1 und 2, Frankfurt a. M. 1977/78.

36 Diesen Ausdruck findet Paul Federn 1919, um den Zusammenbruch der patriarchalen Ordnung zu beschreiben. Paul Federn: Zur Psychologie der Revolution. Die vaterlose Gesellschaft, Leipzig 1919.

37 Erich Fromm: Escape from Freedom, New York 1941.

38 Institut für Sozialforschung (Hg.): Studien über Autorität und Familie. Forschungsbericht des Instituts für Sozialforschung, Paris 1936. Theodor W. Adorno et al.: The Authoritarian Personality, New York 1950.

39 Weil der eigene Hass sich nicht gegen den Führer und die idealisierte Eigengruppe richten kann, »muß der Autoritäre seine Aggression aus innerer Notwendigkeit gegen die Fremdgruppe richten«. Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter (urspr. 1950), Frankfurt a. M. 1973, S. 52.

40 Franz Janka: Die Braune Gesellschaft. Ein Volk wird formatiert, Stuttgart 1997, S. 349.

41 Der Bezug auf die Zukunft ebenso wie die Möglichkeit zu einer radikalen Verneinung der Gegenwart sind wesentliche Motive in der Aufstiegsphase, die nach dem Sieg fragwürdig wurden. Die NSDAP musste positiver werden, konnte die Verheißungen nicht in eine unabsehbare Zukunft vertagen. Broszat: Soziale Motivation, sieht in dem Scheitern am Positiven eine zentrale Ursache der Radikalisierung hin zum Holocaust.

42 Peukert: Die Weimarer Republik, S. 228.

43 Sven Reichardt: Faschismusforschung, S. 18 weist das Verdienst an dieser Beschreibung der fundamentalen Widersprüchlichkeit des Faschismus Ernst Nolte zu, der den Begriff »revolutionäre Reaktion« prägte. Dass er explizit das Kernstück der frühen sozialpsychologischen Faschismus-Analysen ausmacht, ist offenbar unbekannt. Zu den Ursachen dieses Vergessens und warum es sich lohnt, diese zeitgenössischen Beobachtungen wiederzuentdecken, vgl. Brockhaus in diesem Band.

44 Wilhelm Reich: Der Widerspruch des Nationalsozialismus, in Helmut Dahmer (Hg.): Analytische Sozialpsychologie, Bd. 1, Frankfurt 1980, S. 243–256, hier S. 244. Reich formuliert in der Sprache seiner enttäuschten Hoffnung auf eine sozialistische Revolution.

45 Martin Broszat: Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus, in ders.: Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, München 1988, S. 276.

46 Theodor W. Adorno: Syndrome der Vorteilsvollen, in ders.: Studien, S. 314–333.

47 Als Beispiel für diesen Typus nennt Adorno Röhm, der die Bedeutsamkeit des Rebellions-Motivs schon durch den Titel seiner Autobiografie klar macht: Ernst Röhm: Die Geschichte eines Hochverräters, München 1928.

48 Dieses Motiv der Verführungskraft durch die Öffnung von Handlungsräumen hat Michael Wildt ins Zentrum seiner Untersuchung über das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes gestellt. Er sieht in der Eröffnung von Planungs- und Handlungsmacht für das RSHA-Führungskorps eine »ungeheure mephistophelische Öffnung des Möglichkeitsraumes«. Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 26.

49 Heinz Müller-Pozzi: Psychoanalytisches Denken, Bern, Stuttgart, Toronto 1991, S. 185, dort auch eine genauere Beschreibung von Spaltungsmechanismen und Borderline-Störungen.

50 Rainer Krause: Affektpsychologische Überlegungen zur menschlichen Destruktivität, in Psyche 55, 9/10 (2001), S. 934–960, hier S. 956.

51 Erich Fromm: Zum Gefühl der Ohnmacht, in Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. VI, Paris 1937, S. 95–118.

52 Zwischenbetrachtung: Die große Angst, in Joachim C. Fest: Hitler. Eine Biographie, Frankfurt a. M., Berlin 1987, S. 129–151.

53 In den letzten Jahren finden sich zunehmend Tagebuchveröffentlichungen und deren Reflexion, selten jedoch zur Zeit vor 1933. Eine Ausnahme stellt dar: Peter Fritzsche: The turbulent world of Franz Göll. An Ordinary Berliner Writes the Twentieth Century, Cambridge 2011. Vgl. Fritzsche in diesem Band.

54 Theodor Geiger: Panik im Mittelstand, in Die Arbeit. Zeitschrift für Gewerkschaftspolitik und Wirtschaftskunde 10 (1930).

55 Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967.

56 Der Beitrag ist ein gekürzter und leicht bearbeiteter Wiederabdruck von Michael Wildt: Volksgemeinschaft und Führererwartung in der Weimarer Republik, in Ute Daniel et al. (Hg.): Politische Kultur und Medienwirklichkeiten in den 1920er Jahren, München 2010, S. 181–204.

Alexander Meschnig

Die Sendung der Nation

Vom Grabenkrieg zur NS-Bewegung

Stellungskrieg

Im September 1914 scheitert der deutsche Angriffsplan 50 Kilometer vor Paris an der Marne. Die vom feindlichen Widerstand überraschten Armeen ziehen sich nach furchtbaren Verlusten an das Flüsschen Aisne zurück. Von diesem Moment an beginnt, zunächst von den Generalstäben beider Seiten noch uneingestanden, der für die westliche Front des Ersten Weltkriegs so typische Verlauf, der die Bilder dieses Krieges bis heute bestimmt: von Kratern und Granattrichtern übersäte Landschaften, Erdfontänen, Gasschwaden, Grabensysteme, Stacheldraht und Schlamm. Aufseiten der Soldaten und der militärischen Führung: frontale Massenangriffe mit Tausenden von Toten, von Granatsplittern zerstörte Körper, endloses Warten in dreckigen Unterständen, vollkommene Ungewissheit der einzelnen Einheiten über den Gesamtverlauf der Schlachten.

Das über die Jahre immer besser ausgebaute Graben- und Verteidigungssystem ließ alle Offensiven an der Westfront mit blutigen Verlusten scheitern. Abermillionen von Granaten und Tausende von Geschützen, an die Front geschafft in der Hoffnung, den Gegner durch die Anhäufung von Material schier erdrücken zu können, sollten die verfahrene Lage ändern. Der englische Historiker Eric Hobsbawm beschreibt die aus dem Abnutzungskrieg entstehenden Verhältnisse in seinem Buch Das Zeitalter der Extreme in eindringlichen Worten:

»Millionen von Männern lagen sich hinter Sandsäcken verbarrikadiert in Schützengräben gegenüber, in denen sie wie Ratten und zusammen mit Ratten und Läusen hausen mussten. Von Zeit zu Zeit versuchten ihre Generäle aus diesen Gräben auszubrechen. Tage, ja sogar Wochen unaufhörlichen Artilleriefeuers sollten den Feind zermürben und unter die Erde treiben. Im geeigneten Augenblick kletterten dann Wellen von Soldaten aus den Schützengräben, die üblicherweise unter Stacheldraht und Netzen verborgen waren, ins Niemandsland hinaus, in ein Chaos aus verschlammten Granattrichtern, zersplitterten Baumstümpfen, Morast und liegen gelassenen Leichen, um schließlich in das gegnerische Maschinengewehrfeuer zu laufen und niedergemäht zu werden.«1

Die klassische Kriegskunst war mit der Aufbietung immer noch größerer Material- und Soldatenmassen an ihr Ende gelangt. Wilhelm Ritter von Schramm, Offizier und Militärhistoriker, hat in der von Ernst Jünger 1930 herausgegebenen Anthologie Krieg und Krieger die Veränderungen der Kriegführung aus der Sicht des einfachen Soldaten eindringlich beschrieben:

»Der Krieg war nicht mehr eine erhöhte, zusammengefaßte Form des männlichen Lebens, wie wir ihn alle geträumt, er war eine fürchterliche Maschine, eine Mechanik der blinden Zermalmung, die von einem Heer simpler Angestellter, auch von gewieften Mechanikern in Gang erhalten war […] Was Krieg hieß, wurde in Wirklichkeit nur der Leerlauf der Kriegsmechanik, das Toben der Artillerie vom schwersten Kaliber, der Tanks, Minen und Flieger gegen die wehrlose Infanterie.«2

1914 war man – nicht nur auf deutscher Seite – in der Hoffnung auf eine schnelle militärische Entscheidung in den Krieg gezogen. Niemand dachte daran, einen langen und zermürbenden Verschleißkrieg zu führen, eher sah man eine Wiederholung der Ereignisse von 1870/71 als wahrscheinlich an. Kein Verantwortlicher, ob Politiker oder Militär, wusste, was ein Länder umspannender Krieg im Industriezeitalter bedeutete; die wenigen kritischen Stimmen wurden gemeinhin ignoriert. Die führenden Offiziere waren, mit einzelnen Ausnahmen, noch ganz den alten Traditionen verhaftet und erst die zunehmend sichtbaren Realitäten des Krieges führten zu einem langsamen Umdenken, das aber zu spät kam, um noch Wirkungen zu zeitigen:

»Wie die Megaschlachten an der Somme und bei Verdun zeigten, war das militärische Denken auf beiden Seiten zu nationalen Aderlässen gigantischen Ausmaßes bereit, solange es sie als Völkerschlachten, das heißt als soldatisch militärische Veranstaltung, verstehen konnte. Einen Schritt weiterzugehen und die Schlacht als die wechselseitige ›Konsumtion‹ der von den beteiligten Volkswirtschaften produzierten Material- und Menschenströme zu sehen, fehlte sowohl dem militärischen wie dem politischen Denken der Weltkriegsmächte das Abstraktionsvermögen. Um im oben erwähnten Bild des ›Feuers‹ zu bleiben: Die Kunst der Strategie, die ja allein auf der Bewegung basiert, kam im industrialisierten Sperrfeuer des Weltkriegs zum Stillstand.«3

Als die verzweifelten Versuche, die Länge des Krieges zu begrenzen, die Freisetzung aller nationalen Energien notwendig machte, konnten sich diejenigen Stimmen vermehrt Gehör verschaffen, die schon längere Zeit vom totalen Staat, totaler Politik und totaler Kriegführung träumten.

»Eine solche Idee wurde nicht über Nacht geboren. Viele der Aktivitäten der pangermanischen Bewegung, des Flottenvereins, der Kolonialgesellschaften und anderer radikaler nationalistischer Organisationen der Vorkriegszeit waren von dem Ziel getragen, die deutsche Gesellschaft durch militärische Prinzipien und Tugenden zu revitalisieren. Und interessanterweise war ein gut Teil dieser populären Form des Militarismus nicht auf die Junker unter den Militärs zurückzuführen, sondern auf die Vertreter neuer Gesellschaftsschichten, auf Männer wie Ludendorff und Bauer sowie auf die Beamten- und Angestelltenelemente – die sogenannte neue Mittelklasse – in den neuen nationalistischen Vereinigungen. Der totale Krieg war kein Ideal aristokratischer Junker, sondern ein Ideal des neuen Deutschland.«4

Basierend auf seinen Kriegserlebnissen als Frontoffizier hat Ernst Jünger in einem 1930 erschienenen Aufsatz zur »Totalen Mobilmachung« das Prinzip einer solchen Bewegung beschrieben: jegliche individuelle Äußerung, das gesamte gesellschaftliche Leben, Krieg und Frieden, alles wird zum partiellen Ausdruck einer Totalität des Krieges und der Arbeit, die sich selbst als Krieg (Produktionsschlacht) versteht. Nichts soll mehr existieren, das nicht zugleich produktiv machen und Kräfte für die kommende große Auseinandersetzung bereitstellen kann. Die »technische Seite der totalen Mobilmachung«, so Jünger, »ist indessen nicht die entscheidende. Ihre Voraussetzung liegt vielmehr, wie die Voraussetzung jeder Technik, tiefer: wir wollen sie hier als die Bereitschaft zur Mobilmachung bezeichnen.«5 Was dem Krieg von 1914–1918 also auf deutscher Seite gefehlt hatte, war ein Glaube oder eine innere Bereitschaft für die totale Mobilisierung. Diese war in Deutschland nicht vorhanden und so musste der Krieg verloren werden. Adolf Hitler hatte zu dem Zeitpunkt, als Jünger diese Zeilen schrieb, bereits die Bewegung gegründet, die in der Tat die ganze Welt – und nicht nur Deutschland – mobilisieren sollte. Die frühesten Mitglieder der NSDAP, der SA und SS stammten, wie Hitler selbst, meist aus der »verlorenen Generation« des Materialkrieges und der Freikorps, unfähig sich nach Kriegsschluss in die zivile Ordnung zu integrieren.

Kriegserlebnis

Der Nationalsozialismus ist nicht notwendig aus dem Krieg der Jahre 1914–1918 als politische Bewegung hervorgegangen. Geschichte – und das zeigt der Nationalsozialismus deutlich – ist immer auch kontingent. Die kaiserliche Politik und Kriegführung, schließlich die Niederlage und der Versailler Vertrag – alle diese Elemente waren zwar entscheidend, sind aber für sich genommen nicht alleiniger Auslöser für den Aufstieg Hitlers und der NSDAP. Die Wurzeln des Nationalsozialismus sind wesentlich älter und reichen weit in das 19. Jahrhundert zurück. Imperialismus und Rassismus, sowie die gegen den Marxismus gerichtete Doktrin eines national-revolutionären Sozialismus der reinen Volksgemeinschaft sind Produkte des 19. Jahrhunderts.

Der wichtigste Bezugspunkt und die entscheidende Komponente für den Sieg des Nationalsozialismus über alle anderen politischen Kräfte Anfang der 1930er Jahre waren aber, trotz aller notwendigen Relativierungen, der Krieg und die mit ihm verbundene Niederlage.6 Die Enttäuschung über den verlorenen Krieg war die emotional stärkste und zeitlich nächste Empfindung eines großen Teils der deutschen Gesellschaft. Für den Nationalsozialismus war das Kriegserlebnis der zentrale Ausgangspunkt für die Gründung der Bewegung und die Politisierung seiner Führer. »Der Nationalsozialismus war«, so der Historiker Karl Dietrich Bracher in seinem Standardwerk Die Deutsche Diktatur, »wie Hitler ein Produkt des Ersten Weltkrieges.«7 Ähnlich der Kulturwissenschaftler Wolfgang Schivelbusch: »Für den Faschismus und den Nationalsozialismus war das Kriegserlebnis der alles bestimmende Schöpfungsakt.«8

Der Erste Weltkrieg und die Niederlage Deutschlands symbolisierten für die »Männer der Front« und für einen Teil der bürgerlichen Jugend, die die Kriegserfahrung nicht mehr machten, aber die politische Militanz sozusagen »erbten«, im Wesentlichen den endgültigen Bankrott und den Tod der liberalen Idee.9 Die Jüngeren versuchten, das fehlende Fronterlebnis und die Erfahrung der Niederlage durch einen umso entschiedeneren Nationalismus, gepaart mit einer militanten Haltung, zu kompensieren. Sie warteten ungeduldig darauf, sich auch »bewähren« zu können, in Abgrenzung gegen eine bürgerliche Welt, die sie im Zerfall erlebten:

»Zukunft hieß für die Kriegsjugendgeneration, die bis dahin nur Instabilität, Diskontinuität und Zusammenbruch erlebt hatte, vor allem radikale Kritik am bürgerlichen Mummenschanz, an den hohlen Versprechungen liberaler Politiker, hieß Misstrauen in die Steuerungsmedien bürgerlicher Gesellschaft, wie parlamentarische Demokratie, Gewaltenteilung und durch Gesetz verbürgtes Recht. Zukunft konnte in den Augen dieser Generation nur ein Gegenmodell zum Bestehenden, eine neue, radikal andere Ordnung sein, die ›wahre‹ Gemeinschaft stiftete und dem einzelnen einen verläßlichen (im Original) Sinn seiner selbst gab.«10

Der Krieg, und nur er allein, hatte im Fegefeuer der Front das Neue, Ersehnte hervorgebracht: Eine Gemeinschaft jenseits aller Klassenschranken und kleinlichen (Partei-)interessen. Der nationale oder preußische Sozialismus (Oswald Spengler) sah im Gegensatz zum Marxismus im Arbeiter nicht länger eine soziale Kategorie oder eine politische Klasse. Der Begriff des Arbeiters wurde vielmehr zum »Ehrentitel aller Schaffenden«. Der Sozialismus wurde sozusagen entproletarisiert. Krieg und Arbeit, Arbeiter und Krieger folgen in dieser Lesart einer Logik der inneren und äußeren Mobilmachung. Im Mittelpunkt der Suche nach einem »dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Bolschewismus stand nach 1918 ohne Zweifel der vorangegangene Krieg. Seine Erfahrung bildete das Raster für die NS-Bewegung und ihre politische Dynamik:

»Vom Kriegserlebnis leiteten sich die Formen der politischen Bewegung ab. Führerprinzip, Uniformierung, Sturmtrupps, der Kampf als Zentralbegriff anstelle der politischen Auseinandersetzung, die Rede von den vielfältigen Aufbau-Schlachten. Die Machtergreifung wurde als der siegreiche Abschluss des langen Marsches von der Front zurück in die Heimat interpretiert; als die Rückbewegung der Nation und ihre Befreiung von der Herrschaft des Liberalismus; als die Vertreibung der Händler durch die Krieger; als die Wiederherstellung jener nationalen Einheit, die im August 1914 […] in Deutschland so inbrünstig erlebt worden war. Nach der Machtergreifung wirkte der Kriegsmythos fort in der Umwandlung des liberalparlamentarischen Staates in den nach militärischem Vorbild organisierten Führerstaat.«11

Nach 1918 entstand ein Sinnvakuum, das diejenigen auf längere Sicht positiv zu füllen vermochten, die die Kriegserfahrung in die Zukunft projizierten. Zwar gab es am Ende der Weimarer Republik noch große Kundgebungen und Demonstrationen gegen Krieg und Kriegspropaganda, politisch verloren die besonnenen Kräfte in Deutschland aber, insbesondere mit der Verschlechterung der ökonomischen Lage ab 1929, immer mehr an Einfluss. Ihr Nachteil war, dass sie keine positive Sinndeutung anbieten konnten und in der Verneinung blieben, die psychisch niemals dieselbe Stärke haben kann wie ein »positives Bekenntnis«.12 Zudem versuchten die demokratischen Kräfte, die Massen mit rationalen Argumenten zu überzeugen, was die nationalsozialistische Propaganda von vornherein als wirkungslos ablehnte.

Kapitulation, Revolution, Versailler Vertrag, Weimarer Republik, Demokratie – alle diese Erscheinungen waren für die aufkommende NS-Bewegung nichts als Betrug an der gemeinsam ausgefochtenen Sache. Der Krieg als Erziehungsinstrument und die Aufgabe der Front, die Heimat zu erobern, sie aus dem Zustand der Ahnungslosigkeit zu befreien, sind die wiederkehrenden Themen, aus denen eine starke Sehnsucht nach der Überwindung der verhassten Friedensordnung spricht. Als Rekurs dienen immer wieder der August 1914 und die Gemeinschaft der Gräben:

»Wir wollen zum Erlebnis zurück. Wir suchen aus dem Geschehen, das hinter uns liegt, den Sinn, den es nicht mehr zu geben scheint. Wir suchen ihn in der Zukunft. Wir stellen die Frage an das Schicksal und wollen die Antwort. […] Aber der Betrug wird erst enden, wenn wir zu dem großen Erlebnis der mit Blut bezahlten Schicksalsgemeinschaft zurückfinden, als die wir den Krieg begannen.«13

Die lauthals propagierte Volksgemeinschaft und die Dynamik der Bewegung können als ein Effekt des Materialkrieges und seiner Massierung technischer Vernichtungsmittel gelesen werden, die einen »rasenden Stillstand« erzeugte. Der Wunsch nach Bewegung in der Dauerpassivität der Stellung, das endlose Warten auf den Befehl zum Angriff, die Zerrissenheit der eigenen Lage, erzeugten psychische Artefakte, die in der Nachkriegszeit virulent bleiben und auf eine Aufgabe, einen Befehl warten:

»Könnte es sein«, so Wolfgang Schivelbusch in seiner Kultur der Niederlage, »dass die Sehnsucht nach Bewegung bei der Verarbeitung des nationalen Niederlagentraumas das zentrale Moment ist?«14 Wird der vergebliche Versuch, sich aus den Gräben und Trichtern zu befreien, das Trauma der Niederlage und des militärischen Stillstandes, zum psychischen Ausgangspunkt eines gewalttätigen und unbändigen Willens nach Bewegung?

Die Bewegung