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Heilung geschieht immer von innen heraus. Die wirkungsvollsten Heilkräfte sind Mitgefühl und Liebe. Das Buch bietet eine Anleitung, wie Mitgefühl und Liebe gezielt zur Selbstheilung genutzt werden können: Auch damit habe ich Mitgefühl mit mir und liebe mich. Es geht darum, verletzte und kranke Anteile wieder zu verbinden und sie in meine ganze - gleich heile - Person zu integrieren. Dazu wende ich mich mir zusätzlich konkret gestisch-körperlich durch die Berührung von Akupunkturpunkten zu. Auf diese Weise stelle ich auch körperlich und energetisch Kontakt zwischen mir und meinen leidenden Seiten her. Dadurch werden Blockaden gelöst, die stets mit Verletzungen, Kränkungen und Stress einhergehen. Mit dieser Selbstbehandlung leite ich nicht nur einen sofort spürbaren Heilungsprozess ein, sondern kultiviere damit gleichzeitig Mitgefühl sowie (Selbst-)Liebe und weite sie zu meinem und aller Wohl immer mehr aus. Besonders während des Jugendalters mit seinen speziellen Entwicklungsaufgaben ist es wichtig, dass die Jugendlichen mit Hilfe der in diesem Buch vorgestellten Techniken und Annahmeformulierungen Selbsthilfeinstrumente an die Hand bekommen. Mit diesen können sie selbstbestimmt und selbstwirksam ihre Empfindungen und Symptome gestalten, statt sie nur zu erleiden. Das führt zu einer zunehmenden Befreiung ihres Selbstbewusstseins und Selbstwerterlebens.
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Seitenzahl: 415
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Dipl.-Päd. Regina Eble, geboren 1988, Studium der Erziehungswissenschaften. Anschließend Ausbildung am Ausbildungsinstitut für Kinder-und Jugendlichenpsychotherapie der Uniklinik Köln. Approbation als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin mit verhaltenstherapeutischem Schwerpunkt. Zusätzlich Fortbildung und Zertifizierung am Milton Erikson Institut Heidelberg in Advanced Energy Psychology/EDxTM durch Fred Gallo. Sie arbeitet als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in eigener Praxis.
Dr. med. Günter Eble, geb. 1947, Vater von fünf Kindern, ist Internist, Arzt für Psychosomatik, Psychotherapie und Palliativmedizin. Zunächst als Therapeut tiefenpsychologisch und analytisch ausgerichtet, liegt sein Schwerpunkt nun mehr auf hypnosystemischen und energiepsychologischen Therapieansätzen.
Ziel ist es, sich in allen Lebenssituationen und mit allen damit verbundenen Gefühlen mitfühlend und liebevoll anzunehmen und auf diese Weise zu heilen.
Um was es geht
Vorbemerkung und Prämisse
Was im Leben und im Verlauf dieses Kurses zu erreichen ist
Wer ich überhaupt bin – Menschenbild, Wert und Schuld
Ich bin, was ich erlebe
Wie Differenzierung und Gleichheit zeitgleich vorstellbar sind
Der dem Selbstverständnis des Menschen innewohnende Schuldkomplex
Selbstwahrnehmung
Probleme der Selbstwahrnehmung
Zweck meiner Aktivierung unangenehmer Ich-Zustände
Das Wichtigste: die Selbstannahme – ich sage Ja zu mir
Was Selbstannahme bedeutet
Was ich mit der Selbstannahme annehme
Notwendigkeit der Selbstannahme und ihre Entwicklung
Wohin die Selbstannahme letztlich führt
Liebe ist die heilsamste Form der Selbstannahme und des Ja- Sagens
Selbstannahme mit meiner Freiheit
Was mit Selbstwert(gefühl) gemeint ist
Ursprung des Selbstwertgefühls – Sich spiegeln im Glanz des Auges der Mutter
Selbstwert bei Schmerz, Leid und Schuld
Selbstwert und Mitgefühl mit Leidvollem
Regulation meines Selbstwertgefühls zwischen abhängiger Liebe und Selbstbestimmung
Bedingungen der Selbstwertregulation in Kindheit und Jugend
Werte und Wertschätzung
Was Werte sind und wovon sie abhängen
Werte im Zusammenspiel von Eltern oder Autoritäten und dem kreativen Kind
Wie ich bestimme, was gerade jetzt wertvoll für mich ist
Auswirkungen meines Wertschätzens
Wie ich Wertschätzung für mich durch andere erhalte
Wertschätzung kann ich durch und für alles Mögliche erreichen
Wert und Schuld sind zwei Seiten der gleichen Medaille
Der Wert-Schuld-(Sünde-)Reue-Buße-Sühne-Versöhnung-Wert-Komplex
Warum und wozu Gleichrangigkeit notwendig ist
Mit Mitgefühl und Liebe zur Selbstheilung
Warum und wozu die Berührung heilsam ist
Biologische, affektive, geistige, energetische und soziale Seinsweisen des Menschen
Mein »Säuger-«, mein Gemeinschaftshirn und meine Teilpersönlichkeiten
Problem – Symptom – Lösung
Wie ich jedes Problem konstruiere und der damit verbundene innere Kampf
Problemkonstruktion durch Schuld und Schuldgefühle
Das Problem als Folge der Mutterbindung und meiner Erwartungen
Problem, Belastung, Schmerz, Leid als Trennungsfolge – wie real sind sie?
Das Problem – Konflikt, Leid und Schmerz – als Folge des Nicht-im-Jetzt-Seins
Im-Jetzt-Sein ist Gegenwärtigkeit
Wichtige Grundannahmen zur heilsamen Lebensbewältigung
Belohnung und Krankheit – zwei Helfer auf meinem Heilsweg
Gleiche Faktoren können das Belohnungssystem
aktivieren oder stören
Liebe ist der Ursprung der Sehnsucht und der Ursprung des Leids
Wie ich mir mein Leben als unwert und als Verlust arrangiere
Der Glaube an Gewinn und Erfüllung – mein ganzes Leben als Wertschöpfung
Der Schmerz, das Kreuz und ihr Sinn
Mit meiner mitfühlenden Trauer finde ich Trost in Leid und Not
Nein als Ausschluss und als Ausdruck eines Opfererlebens
Was loszulassen und aufzuheben ist
Geben erfüllt
Liebevolles Zudenken oder Gebet
Heilwirkung der Dankbarkeit
Quelle der Dankbarkeit
Meine Probleme mit der Dankbarkeit
Besonderheit des Dankbarseins im Jugendalter
Ich kann grundsätzlich für alles auch dankbar sein
Wie ich meine Dankbarkeit empfinden und leben kann
Meine Dankbarkeit als Maß der Anerkennung, wer ich bin und was ich habe
Selbstannahme zu Dankbarkeit und Opfer
Grundlagen der Energetischen Psychotherapie
Das Meridian- und Akupunktursystem
Stimulation von Akupunkturpunkten
Was Skalieren bedeutet
Wozu das Skalieren wichtig ist
Wozu die Energiebalance dient
Grundannahmen in der Energetischen Psychotherapie
Tief sitzende Glaubenssätze, Kern- oder Kontrollüberzeugungen als Lebensregeln
Wozu diese Kern- bzw. Kontrollüberzeugungen dienen
Auswirkungen problematischer Lebensregeln aus Kernüberzeugungen
Innere Einsprüche
Psychologische Umkehrung
Behandlung negativer Kernüberzeugungen, Festigung positiver Kernüberzeugungen
Häufige Kern-/Kontrollüberzeugungen zu Ärger und Wut
Kern-/Kontrollüberzeugungen zu Distanzierung, Ablehnung und Verachtung
Kern-/Kontrollüberzeugungen zu Gefälligkeit, Eifersucht, Habgier und Machtgier
Kern-/Kontrollüberzeugungen zu Reizbarkeit, Allergie, Angst, Pessimismus u. a
.
Kern-/Kontrollüberzeugungen zu Schuld und schlechtem Gewissen
Kern-/Kontrollüberzeugungen zu Stolz, Trotz und Kritik
Mögliche Kriterien für innere Einsprüche und psychologische Umkehrung
Kriterienbezogene Selbstannahmeformulierungen
Weitere allgemeine Selbstannahmesätze zu möglichen inneren Einsprüchen
Bei Schwierigkeiten, eine Behandlung überhaupt anzuwenden
Annahmeformulierungen zu Wertschätzung und Selbstwertgefühl
Positive Kernüberzeugungen pflegen
Selbstheilung durch Befreiung meiner gewohnten Fühl- und Denkmuster
Schritte zur Veränderung gewohnter Fühl- und Denkweisen
Behandlung zu vier zentralen Kern-/Kontrollüberzeugungen
Umgang mit Fremdem und Unangenehmem von außen
Behandlung von Allergien, Phobien und persönlichen Empfindlichkeiten
Kinder- und Jugendlichen-Spezifisches
Schulangst bei Jugendlichen
Leistungs- und Versagensängste
Essstörungen
Depressionen
Spezifische Phobien
Probleme der Konzentrations- bzw. Aufmerksamkeitssteuerung sowie der Selbstorganisation – AD(H)S
Jugendliche und Medien
Anhang
Behandlungsprotokolle der Energiepsychologie
Die kürzeste Behandlungsformel – immer anwendbar
NAEM (n. Gallo) – Vorgehen bei dem NAEM-Behandlungsprotokoll
Alpha-Theta-Atmung
Stressabbau durch die Vagus-Atmung
Erweitertes Behandlungsprotokoll
Sofortige Stressentlastung in Krisensituationen
Bauchatmung
Beidhändiges Stirnhalten
Stirn-Hinterkopf-Halten
Schläfenklopfen
Versöhnungsangebot an mich und dich und die Welt
Literatur
Alles entsteht aus der Liebe. Doch beginnend mit der ersten Trennungserfahrung der Geburt mache ich mein ganzes Leben lang immer wieder schmerzliche körperlich-seelische Erfahrungen. Diese Schmerzen und die damit verbundene Not lösen neuronal reflexhaft Wut und Aggression aus. Mitfühlende, liebevolle Zuwendung lindert die Not, stillt den Schmerz und löst so auch die Wut auf. Diese Lebenserfahrung ist in jedem Menschen in unterschiedlichem Maß abgespeichert.
Im Rahmen der Sozialisation kommt die Erfahrung hinzu, dass die mitfühlende und liebevolle Zuwendung von bestimmten Bedingungen abhängig ist: Wenn ich elterlichen Werten gerecht werde, erhalte ich liebevolle Zuwendung; andernfalls erhalte ich sie weniger oder gar nicht oder es wird mir sogar zusätzlich Schmerz als Strafe zugefügt. Wenn ich dann im Reflex mit Wut und Aggression reagiere, werde ich wieder elterlichen Werten nicht gerecht, da die Eltern lieber ein braves Kind haben. Ich erfahre meist für meine Wutreaktion Ablehnung und meine Isolation wird noch schmerzlicher. Aus dieser Erfahrung heraus lerne ich, mir quasi die Schuld dafür zu geben, wenn ich leide bzw. Schmerz empfinde, und verbuche ihn als Strafe für meine Schuld und meinen Minderwert.
Ich erlerne einen sich wechselseitig bedingenden Komplex von Schmerz bzw. Leid, Wut, Isolation, Schuld und Strafe und speichere diesen zusammenhängenden Komplex neuronal als Faktum ab. Je nachdem, wie ich die Bestrafung durch die Eltern erlebt habe, konnte ich mich danach wieder mit ihnen versöhnt fühlen, wenn ich meine Wut über den zugefügten Schmerz zurücknahm und das Verhalten der Eltern und meinen Schmerz aufgrund meiner Schlechtigkeit bzw. meiner Schuld für gerecht erklärte – gleichsam: Ja, ich habe das genau so verdient. Dieser Komplex bleibt lebenslang ein, mal mehr, mal weniger, aktiver Teil meines Erlebens sowie meines Selbst- und Weltverständnisses; wobei ich Schmerz bzw. Leid mit Wut, die ich teils oder ganz gegen mich richte, mit Schuld und mit Strafe verbinde.
Um mich aus diesem letztlich ungerechten, unangemessenen Komplex zu befreien, ist es notwendig, dass ich meine Wut auch gegen vermeintliche oder tatsächliche autoritäre Verursacher, wie z. B. Eltern, Lehrer und Autoritäten, zulasse und mir diese Gefühle – nicht Handlungen – erlaube. Erst dadurch lerne ich, meine fixierte Liebe von geliebten Autoritäten und damit einhergehend von ihren vorgegebenen Werten zu befreien und auch andere Menschen mit anderen Werten zu lieben.
Besonders im Kindheits- und Jugendalter gilt es, die Notwendigkeit dieser berechtigten Wutgefühle anzuerkennen. Je weiter und werteunabhängiger ich mit allen mitfühlen und meine Liebe zulassen und fließen lassen kann, desto mehr lebe ich wieder aus bzw. in meiner ersten kindlichen Erfahrung, als ich eben noch nicht mit bestimmten Werten identifiziert war: Leid, Schmerz und Wut werden durch Mitgefühl und Liebe gestillt, und ich bin, so wie ich bin, bedingungslos wertvoll. Um diesen Entwicklungsprozess, nämlich den Schmerz-Not-Wut-Schuld-Strafe-Komplex und die damit einhergehende Kampfstrategie immer mehr durch die Einbindung in Mitgefühl und Liebe aufzuheben, geht es konkret in diesem Kurs.
Mitgefühl mit sich selbst unter allen Umständen, Selbstliebe und Selbstberührung sind die Heilmittel hierzu.
Wenn ich meinen Mitmenschen nicht schon aus Nächstenliebe liebe, sollte ich das zumindest aus Selbstliebe tun!
Wir gehen davon aus, dass alle Formen von Leid und Leidgefühlen – zu unserem Leidwesen – zum Leben dazugehören. Das Leid entsteht aus der Trennung und dem Verlust von im Leben Wertvollem und Liebgewonnenem. Die Trennung ergibt sich aus dem Urgrund allen Seins, nämlich aus der Liebe, die sich mit-teilen will und in dieser Mit-Teilung immer neue vergängliche Lebensformen entstehen lässt.
Unter Liebe verstehen wir die Kraft, die sich ständig ausdehnt, sich mitteilt, sich selbst in allem – gleichmachend – wiedererkennt und damit vereint.
Was als Trennung erlebt wird, ist also lediglich ein fragmentierter Aspekt der sich mitteilenden Liebe. Dieser Aspekt ist, wie jeder Aspekt, insoweit fragmentiert, als er perspektivisch etwas aus dem Gesamtzusammenhang herausnimmt.
Der Mann teilt sich in der Vereinigung der Frau, natürlich unter anderem, mittels seiner Spermien mit, durch die in ihr eine neue Lebensform entsteht, in der sie und der Mann gleich aufgehoben sind. Mutter und Fetus bilden zunächst eine Einheit, die durch die Geburt schmerzhaft getrennt wird. Kinder verlassen die Eltern, um sich anderen Menschen (z. B. Freunden, Partnern, Ordensgemeinschaft) mitzuteilen und ihrerseits wieder gemeinsam in Kindern aufzugehen.
Der schmerzhafte und leidvolle Anteil der Liebe in ihrer Mitteilungsfunktion ist die eben damit verbundene Teilung, die als Trennung und damit als Verlust empfunden werden kann. Gleichzeitig ist aber jede Mitteilung eine Ausweitung und Vereinigung mit etwas anderem. Und das sind die weiteren Funktionen der Liebe: Ausdehnung und Vereinigung, die Gleichmachung und Einssein impliziert.
In diesem Spannungsfeld zwischen der mitteilungsbedingten Trennungserfahrung und dem damit verbundenen schmerzhaften Verlusterleben einerseits sowie der Ausweitung und der gleichmachenden Vereinigung andererseits spielt sich unser ganzes Leben mit seinem großen Spektrum unterschiedlicher Gefühle ab. Alle menschlichen Gefühle, einschließlich Hass, Neid, Missgunst, Gier, Ekel und andere als negativ bezeichnete Gefühle, wollen darüber informieren, wo und wie ich mich in dem genannten Spannungsfeld aus Trennungserfahrung und Vereinigung gerade aufhalte und worauf ich mit meiner Aufmerksamkeit gerade bezogen bin: Fokussierung des Trennenden bzw. des Verlusts im weitesten Sinn werden mir durch meine unangenehmen Gefühle signalisiert, und diese teils quälenden Gefühle wollen mir bewusst machen, dass ich etwas brauche; was das auch immer sein mag. Liegt dagegen der Fokus auf Erfüllung und Vereinigung, wird das mit angenehmen Gefühlen quittiert.
Jedes Gefühl ist also zumindest ein hilfreicher und wertvoller Informant.
Je besser es mir gelingt, mich mit dieser Einstellung und auf diese Weise auch mit meinen quälenden Gefühlen anzunehmen und wertzuschätzen, desto weniger spalte bzw. trenne ich mich in eine unangenehme »wertlose« Teilpersönlichkeit und eine angenehme »wertvolle« – nämlich wie ich lieber sein möchte – auf.
Mittels meiner Selbstannahme verbinde ich diese Teile wieder und versöhne mich mit mir. Das kann ich bewusst und gezielt dadurch umsetzen, dass ich jede unangenehme Wahrnehmung, seien es quälende Gedanken, schmerzliche Gefühle oder auch meine körperlichen Missempfindungen oder störenden Sinneswahrnehmungen, als Signal verstehe, das mich daran erinnert, zumindest zu denken: Auch damit habe ich Mitgefühl mit mir und liebe mich.
Die gleichzeitige Berührung besonderer Punkte meiner Haut verstärkt die heilsame Wirkung. Je häufiger ich mich auf diese Weise behandle, desto mehr vernetze ich Mitgefühl und Liebe auch neuronal, weite diese Liebe immer mehr aus, besänftige meine Not, fühle mich dadurch selbst in schmerzlichen Lebenssituationen zunehmend geborgen und bin so letztlich im zeitlosen Liebes-Urgrund meines Seins aufgehoben.
Jeder Mensch hat seinen Ursprung in der Liebe. Liebe bedeutet die größtmögliche Lebenserfüllung. In der Liebe ist alles vollkommen und heil. Liebe ist daher letztendlich auch das höchste Ziel. In der Liebe erfahre ich meinen und aller höchsten, göttlichen Wert.
Jeder Mensch kommt als vollkommenes Wesen auf die Welt. Etwaige Missbildungen oder Entwicklungsstörungen beeinträchtigen nicht diese vollkommene Würde des Menschseins. Jeder Mensch ist, so wie er ist, ganz heil und mit allem ausgestattet, was er braucht: mit einer bedingungslosen Liebesfähigkeit; unabhängig von seinen jeweiligen Lebensumständen, seinen Eigenschaften, Fähigkeiten, Attributen und von seiner jeweiligen Lebenserwartung.
Jeder Mensch trifft jedoch auf eine Umwelt, in der, abhängig von der jeweiligen Kultur, bestimmte Werte bzw. Unwerte bezüglich der Eigenschaften, der Fähigkeiten und der Attribute gelten. An diesen Werten und Unwerten werden der Säugling und später das Kind zunehmend gemessen. Es macht dabei die Erfahrung, dass die Intensität von Mitgefühl, Wertschätzung und Liebe einerseits und Ablehnung und Ausschluss andererseits von der Erfüllung bzw. Nichterfüllung bestimmter Werte abhängen. In seiner unbegrenzten Liebesfähigkeit identifiziert es sich selbst dann mit diesen Werten, wenn das mit Schmerz, Leid, Not, Kränkung und Angst einhergeht. Es gerät damit immer wieder in Konflikte zwischen aktuellen Missempfindungen und seinem Bedürfnis, sich einerseits jetzt gut fühlen zu wollen und andererseits der Erfüllung sozial vorgegebener Werte oder auch der Verfolgung längerfristiger Ziele; beispielsweise sich mit seinem versagenden bzw. kränkenden Vater wertschätzend verbunden zu fühlen oder auch eine Ausbildung abzuschließen. Diese schmerzlichen, mit Angst, Stress, Ärger und Schuldgefühlen einhergehenden und häufig krankmachenden Konflikte wiederholen sich in unterschiedlichen Intensitäten, Belastungen, Erscheinungsformen und Konstellationen das ganze Leben lang.
Immer wieder stehe ich vor der Frage, ob ich mich jetzt sofort bequem wohlfühle und dafür später Nachteile in Kauf nehme oder ob ich jetzt Unangenehmes und Anstrengendes auf mich nehme und dafür später einen Gewinn habe. Diese Konflikte sind unvermeidlich und stets neu zu bewältigen.
Ziel dieses Buches ist es, zu einer zunehmend autonomen Nutzung der wirksamsten Lebens- und Heilkräfte – Mitgefühl, Liebe und Berührung – anzuregen. Dabei ist Liebe das höchste Mitgefühl und gleichzeitig das am tiefsten berührende Gefühl. Die Qualität meines Menschseins wird durch das Maß meines Mitgefühls und meiner Liebe bestimmt. Je mehr ich mich dadurch bestimmen lasse, desto mehr bin ich als Mensch heil bzw. gesund; unabhängig von irgendwelchen Behinderungen, Einschränkungen, Mängeln oder Organerkrankungen.
Schmerzliche Störungen und Irritationen im Erleben und Verhalten gehen immer mit Störungen des Mitgefühls und der Liebe durch Symptome der Angst, Not, Wut, Hass, Depression und/oder mit körperlichen Ausdruckskrankheiten dieser Störungen einher.
Doch gerade im Jugendalter sind Wut und Hassgefühle auf die Eltern bzw. auf Autoritäten auch notwendig, ganz besonders für eine gelingende Autonomieentwicklung und ebenfalls im Interesse einer Befreiung bzw. Liberalisierung des Mitgefühls und der Liebe von systemimmanenten und (vor-)bestimmten Bedingungen.
Gefühle und Verhalten sind immer adaptiv und nicht primär gut oder böse.
Es geht demnach darum, immer mehr zu einem fühlenden Verständnis für alles zu kommen, was mit einem – und besonders was mit mir – gerade ist, was ich gerade jetzt bei dem anderen und bei mir erlebe; selbst das aggressive Selbst- und Fremdverletzende.
Verständnis schließt eine mögliche Verurteilung oder Strafverfolgung bei kriminellen Handlungen keinesfalls aus. Doch das ist eine andere Ebene, um die es hier nicht geht.
Ein fühlendes Verständnis für was und wen auch immer ist nur durch Mitgefühl zu erreichen.
Jeder kommt als uneingeschränkt liebesfähiges und mitfühlendes Wesen auf die Welt. Je mehr diese Kräfte zur Entfaltung kommen, desto klarer und weiter wird das fühlende Verständnis für alles, was mit mir und mit der Welt ist. Je klarer und weiter das fühlende Verständnis wird, desto bedingungsloser können Mitgefühl und Liebe zugelassen werden und wirken – zu meinem Wohl und zum Wohl der ganzen Welt.
»Und ihr werdet die Wahrheit erkennen,
und die Wahrheit wird euch frei machen.«
Johannes 8,32
Im Folgenden soll ein Bild bzw. ein Modell des Menschen unter Berücksichtigung seines Wertempfindens und der Funktion der Schuld bezüglich dieses Wertempfindens beschrieben werden. Dabei geht es einmal um das Individuum selbst; um das, was das Individuum ausmacht und welche Prozesse in ihm ablaufen. Darüber hinaus werden das damit zusammenhängende Zwischenmenschliche und die Beziehung zu seiner Umwelt skizziert.
In diesem Menschenbild ist der Wert des Menschen von Geburt an eigentümlich und unverlierbar, wie es auch im Grundgesetz heißt: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Daher soll die Anerkennung dieses unverlierbaren Werts des Menschen in der Beschreibung des Menschenbilds als eine implizite Selbstverständlichkeit vorangestellt werden.
So hat bereits das Ungeborene in den meisten Fällen einen unschätzbaren Wert für die Eltern und Großeltern, obwohl es als konkrete Person noch gar nicht in Erscheinung getreten ist.
Wenn ein Mensch gerade geboren ist, ist er sich seines Wertes vermutlich noch nicht bewusst. Erst im Austausch mit der Mutter und anderen Bezugspersonen wird allmählich ein Wertempfinden im Wechsel von angenehm und unangenehm bzw. von Freude und Leid entwickelt. Gleichzeitig wird eine Unterscheidung von Gut und Schlecht bzw. von Gerechtfertigtsein und Schuldhaftigkeit als Anteile der menschlichen Person und ihres Erlebens entwickelt.
Das dem »Ich« des Menschen zugrunde gelegte monistische Menschenbild, das sich damit von dem, unseres Erachtens, unterkomplexen dualistischen Leib-Seele-Modell unterscheidet, soll so skizziert werden:
Der Mensch erscheint in einer geistigen, einer affektiv-emotionalen, einer körperlich-materiellen und in einer energetischen – elektromagnetischen – Art und Weise.
Darüber hinaus kann noch eine spirituelle Erscheinungsform beobachtet werden, die aber für viele Menschen nicht dieselbe Evidenz wie die vier zuvor genannten hat. Zunächst soll die geistige Erscheinung beschrieben werden. Zu dieser geistigen Seite oder geistigen Dimension gehören alle inneren Bilder, Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen, Pläne und Phantasien. Alles Erlernte – Sprache, Rechnen – ist ebenso wie religiöse, politische oder weltanschauliche Ideen, Überzeugungen, soziale Regeln, Symbole und die damit zusammenhängenden Werte im geistigen, gedanklichen Raum abgebildet.
Eine weitere Erscheinungsform des Menschen ist seine gefühlsmäßig-affektive und emotionale Seite mit Gefühlen von Angst, Eifersucht, Hass, Niedergeschlagenheit, Trauer, Ärger, Dankbarkeit, Neid, Missgunst, Scham, Überraschung, Neugier, Wut und Liebe. Diese Gefühle haben ebenfalls elektromagnetische, neuronale Äquivalente, die mit der jeweiligen Bedürfnislage – z. B. Hunger – und dem damit verbundenen spezifischen Wertempfinden: »Jetzt ist Nahrung vorrangig das Wertvollste«, verwoben sind.
Eine dritte Erscheinungsform ist die körperliche mit allen stofflichen Phänomenen wie den Organen sowie den Organfunktionen Lunge und Atmung, Herz und Kreislauf, Muskulatur und Spannung, Immunsystem, Hormonregulation, Verdauung usw.
In der vierten Erscheinungsform, die energetische oder elektromagnetische, ist ebenfalls das ganze Leben in jeder Situation in spezifischer Weise einbezogen. Zu jedem Gefühl, jedem Gedanken, jeder Vorstellung und jeder Aktion gehören spezifische elektromagnetische Phänomene bzw. Muster. Wenn ich »Tisch« sage oder denke, spielt sich in meinem Gehirn elektromagnetisch etwas anderes ab – andere Aktionsmuster –, als wenn ich »Kamel« oder »Mörder« sage.
Doch was immer ich auch in meinem Gehirn über elektromagnetische Aktivitäten vollziehe, indem ich fühle, denke, träume, bewusst oder unbewusst registriere, es erfolgt immer gleichzeitig eine körperliche (z. B. Sauerstoff und Glucoseverbrauch), gefühlsmäßige und geistige Beteiligung. D. h., dass ich mich immer nur als ganzer Mensch mit allen vier Erscheinungsformen gleichzeitig verhalten kann.
Einen Unterschied erzeuge ich mit meiner Aufmerksamkeitsfokussierung. Einmal schaue ich die eine Seite an, mal blicke ich auf die andere Seite.
Als Beispiel: Sich gegenübersitzend sieht man nur die Vorderseite des anderen; man weiß aber, dass die Rückseite genauso da ist. Wenn man beispielsweise den Kopf beugt oder sonst eine Bewegung macht, dann sieht man vielleicht nur den vorderen Teil, aber hinten geschieht genau das Gleiche, auch wenn man das gerade nicht sieht. Der Geist (Wille), die Gefühle (z. B. kinästhetische) und meine Energie sind ebenso gleichzeitig aktiviert.
Wenn jemand den Raum verlässt, sehe ich die Hinterseite. Dabei sind seine Vorderseite ebenso wie sein Geist, seine Gefühle und seine Energie genauso da, nur nehme ich sie in dem Augenblick als solche nicht wahr.
So etwa kann ich mir das entsprechend mit den vier Seiten des hier gemeinten Menschenmodells vorstellen.
Mit meiner bewussten Aufmerksamkeit ist die gleichzeitige Wahrnehmung aller Erscheinungsformen eines Menschen nicht möglich. Darum kommt es mir so vor, als seien diese verschiedenen Erscheinungsformen etwas Getrenntes. In Wirklichkeit handelt es sich aber nur um Eins – um eine Einheit.
Diese Gleichzeitigkeit der Wahrnehmung allerdings kann unser Zentralnervensystem, das analysiert – trennt – und wieder zusammensetzt, im Alltagserleben bewusst nicht leisten bzw. denken.
Diese grundsätzliche Einheit des ganzen Individuums impliziert gleichzeitig, dass eine Veränderung einer Erscheinungsform des Menschen – z. B. körperlich durch Berührung – im im gleichen Augenblick mit elektromagnetischen, gefühlsmäßigen und geistigen Veränderungen einhergeht.
Dieser Zusammenhang soll zusätzlich aus einer weiteren Perspektive betrachtet werden: Wenn man miteinander spricht, werden Schallphänomene ausgetauscht. Schwingende Luftmoleküle sind etwas Mechanisches, das durch die Atemluft aus der Lunge und mittels der physischen Sprachwerkzeuge erzeugt wird. Diese Schallphänomene werden dann neuronal in elektromagnetische Muster umgewandelt. Geistig werden diese Muster zu Schallsymbolen für bestimmte Begriffe, für Bilder und für bestimmte Vorstellungen. Bei dem Wort »Täter« z. B. haben wir als Deutsche durch dieses Schallsymbol annähernd ähnliche Vorstellungen in unserem Bewusstsein. Das ist etwas mit der Muttersprache Erlerntes, das wir in unseren neuronalen Netzwerken abgespeichert haben. Hier wird deutlich, dass körperlich-materielle (schwingendes Trommelfell), elektromagnetische und geistig-psychische Phänomene immer gleichzeitig ablaufen. Das beim Schallsymbol »Täter« mitschwingende Gefühl wird vielleicht eine aversive Mischung von Angst und Aggression sein.
Dagegen ist bei dem Wort »Sonnenaufgang« das Schallmuster ein anderes als das bei »Täter«. Das Trommelfell schwingt anders, die elektromagnetischen Äquivalente im Gehirn sind andere, die geistige Vorstellung eines Sonnenaufgangs ist eine andere als die eines Täters. Das assoziierte Gefühl ist bei Sonnenaufgang froher als bei Täter und die Muskulatur ist entspannter.
Man ist also mit der Vorstellung eines Sonnenaufgangs körperlich, elektromagnetisch, geistig und gefühlsmäßig ein anderer Mensch als mit der Vorstellung eines Täters.
Diesen Zusammenhang nutze ich in der Selbstbehandlung durch die Berührungsakupunktur: Ich verändere vorsätzlich und gezielt etwas am Körper, indem ich ihn berühre und damit auch gleichzeitig das elektrische Energiefeld, die geistige Vorstellung und die Gefühlstönung verändere.
Ich denke oder spreche einen ausgewählten Satz und verändere damit gleichzeitig meine Vorstellung, mein dazugehöriges elektromagnetisches Feld, meine muskuläre Aktivierung, meine Atmung usw. und meine Gefühlslage.
Ich kann mich so bewusst und gezielt in der von mir gewünschten Richtung entwickeln und diese Entwicklung multifokal mittels der Berührungsakupunktur unterstützen.
Ich bin damit zumindest perspektivisch die von mir gewünschte Person und gleichzeitig derjenige, der sich auf dem Entwicklungsweg dorthin ständig verändert.
Und ich bin gleichzeitig, als eine stets gleichbleibende Konstante, mein Beobachter und mein Steuermann. Je mehr ich mir diese Seiten bewusst mache, desto freier bin ich.
Ich bin zeitgleich ein Mich-ständig-Verändernder und ein Ständig-Gleicher.
Ich bin der, der mich mit »Auch damit habe ich Mitgefühl mit mir und liebe mich« stets in der Geborgenheit aufheben kann.
Da alles Erleben eine Leistung meines Bewusstseins und meines Geistes ist, gibt es für mich keinen Unterschied zwischen dem, was objektiv außen geschieht – was ich wahrnehme –, und dem, was in mir geschieht. Was in mir geschieht, ist mein subjektives Erleben dieses äußeren Geschehens. Wenn also das äußere Geschehen etwas ist, das ich ablehne, wie beispielsweise Krieg, Verbrechen, Krankheit und Tod, lehne ich immer gleichzeitig mich als den Schöpfer – Macher – und Gestalter dieses meines Erlebens ab. Oder, anders ausgedrückt: Ich übernehme nicht die Verantwortung für meinen Bewusstseinsinhalt – z. B. das Verbrechen – und erkläre diesen zu etwas Objektivem, was es ja in einer konkreten Form auch ist.
Ich erlebe aber nie das Objektive an sich, sondern immer, was ich subjektiv daraus mache. Und das ist stets eine Seite von mir; wem ich das auch immer zuschreiben mag. Mit dem Erleben eines unangenehmen Ereignisses lehne ich also eine Seite von mir selbst ab.
Meist ist mir dies jedoch nicht bewusst, da meine bewusste Aufmerksamkeit nach außen auf das Geschehen um mich herum gerichtet scheint, während die zeitgleich nach innen auf die subjektiven Umstände meines Erlebens ausgerichtete Wahrnehmung im Dunkeln liegt.
Dennoch ist es gerade das – mein von mir selbst gestaltetes inneres Erleben des äußeren Geschehens –, was ich in Wirklichkeit mache und gleichzeitig erleide, die Macher-Opfer- Dualität.
Das kann ich mir am Beispiel des Krieges deutlich machen. Den Krieg der Machthaber im Sudan mit millionenfachem Mord, Vergewaltigung und Vertreibung erlebe ich als etwas Schreckliches. Die Vorstellung eines Krieges gegen eben diese Machthaber und ihre Beduinenmilizen kann ich vielleicht mit einem erleichterten Gefühl empfinden.
Was ich erlebe oder erleide, ist also allein das Ergebnis meiner Aufmerksamkeitsausrichtung und meiner Bedeutungsgebung, etwas von mir Gemachtes bei seiner gleichzeitigen – auch abweichenden – objektiven Realität.
Da in meinem Opfererleben des schrecklichen äußeren Geschehens mir meine gestalterische, meine gerade diese Vorstellung bildende Seite – obwohl sie tatsächlich aktiv ist und wirkt – nicht bewusst ist, fühle ich mich hilflos, ausgeliefert und damit minderwertig. Sobald ich genau diesen Zusammenhang erkenne und anerkenne, kann ich etwas ändern und habe dadurch sogar schon etwas in mir geändert.
Ich habe in mir eine mich selbst beobachtende Seite aktiviert, die sowohl die passive, leidende, als auch die aktive, selbstgestalterische Seite gleichzeitig wahrnimmt und beobachtet. Mit dieser wahrnehmenden Seite nehme ich sowohl meinen Schöpfer- bzw. Macher- bzw. Täteranteil als auch meinen passiven bzw. Opferanteil als gleichwertig und gleichrangig an. Erreiche ich diese gleich wertschätzende Haltung für beide Seiten, stelle ich den ausgeglichenen, harmonischen Zustand in mir selbst her. Dieser gleichmütige – nicht identisch mit gleichgültig im Sinne von Desinteresse – Zustand ist die Voraussetzung dafür, dass ich auch die Außen- oder Umwelt als gleichwertig, harmonisch und heil ansehen kann. Es ist für mich so lange kein Unterschied in dem, was ich als außen geschehend wahrnehme, und in meinem inneren Erleben erkennbar, solange ich nicht diese meine Macher-Erleider- bzw. meine Täter-Opfer-Dualität aus einer mich selbst beobachtenden Position heraus anerkenne. Anders formuliert: Erst wenn ich erkenne, dass ich mit meinem Bewusstsein sowohl Gestalter als auch Erleider meiner Bewusstseinsinhalte bin, erkenne ich, dass ich in Wirklichkeit in meiner inneren Welt und erst in zweiter Linie in einer davon abweichenden äußeren Welt lebe.
Ich allein habe die Möglichkeit, für mich den Himmel oder die Hölle zu wählen – unabhängig von der objektiven Welt. Aus meiner Beobachtungsposition heraus kann ich erkennen, dass Himmel und Hölle das Gleiche sind, nur aus verschiedenen Perspektiven: einmal aus der Perspektive der Erfüllung und einmal aus der Perspektive des Mangels. In der Schau des Beobachter-Ichs wird beides eins.
Diese Gleichzeitigkeit und Gleichrangigkeit ist für mich beim Essen oder auch in der Sexualität besonders gut spürbar. Beim Essen erlebe ich mich sowohl aktiv als die Person, die sich aktiv etwas einverleibt, als auch die Person, der etwas – das Essen – einverleibt wird.
Exakt das gleiche Muster erlebe ich in der Sexualität, auch unabhängig vom Geschlechtsakt. Sowohl als Mann als auch als Frau bin ich aktiv – Macher*in – und passiv – Opfer.
Als Mann dringe ich aktiv ein und werde passiv aufgenommen und umschlossen.
Als Frau nehme ich aktiv auf und umschließe, gleichzeitig werde ich passiv penetriert. Vielleicht auch wegen dieser Gleichzeitigkeit und der damit verbundenen gefühlsmäßigen Dichte von aktiv und passiv, Täter und Opfer, sind sowohl Nahrungsaufnahme als auch Sexualität für jeden Menschen ein so wichtiges und lustvoll zu erfüllendes Bedürfnis.
In der sexuellen Begegnung erlebe ich die Opfer-Täter-Dualität zusätzlich im Partner widergespiegelt und dadurch verstärkt. Darin kann vielleicht ein Grund gesehen werden, dass in der sexuellen Begegnung von den meisten Menschen die größtmögliche Lust erlebt werden kann. Im Tantra wird die Sexualität gezielt genutzt, um zur höchstmöglichen Selbsterfahrung und Selbstbewusstheit zu kommen.
Ich kann dabei zu einer Bewusstheit kommen, in der ich mich selbst in all meiner grenzenlosen Liebe und gleichzeitig unterschiedslos in einem transpersonalen, ozeanischen Bewusstsein erlebe. In diesem Zustand erlebe ich, dass es kein Innen und Außen, sondern nur Eins gibt.
Ich erscheine als Mensch in allen vier Erscheinungsformen – materiell-stofflich, affektiv-gefühlsmäßig, geistig, elektromagnetisch – ständig anders und bin zeitgleich ein Ganzes, eine Einheit, eine Monade bei Leibniz oder ein Holon bei Koestler und Wilber.
Das gilt entsprechend für alle und für jeden Menschen. Ich und wir sind gleichzeitig viele und Eins – Ich, ein Paar, eine Familie, eine Gemeinde, ein Volk, eine Völkergemeinschaft, eine Natur usw.
Als Person bin ich ein Holon, das zusammengesetzt ist aus Milliarden kleinerer Holon, der Zellen. Ich bin als Person ein Ganzes, das gleichzeitig Teil eines umfassenderen Ganzen, der Familie, der Menschheit, des Kosmos ist.
So wie jede meiner Körperzellen ein verkleinertes Abbild meiner selbst ist, alle Informationen über mich enthält und somit ein Holon ist, so bin ich als Person ein Abbild der gesamten Menschheit. Ich bilde in mir mit allen meinen Teilpersönlichkeiten alle Facetten des Menschseins und der Menschheit ab. Schon allein durch meine Milliarden von Vorfahren im Verlauf der Millionen Jahre der Menschheitsgeschichte, die in ihren (Aus-)Wirkungen in mir aufgehoben sind. Sie alle sind ein Teil von mir. Alle und alles, die Gesamtheit ihrer Welterfahrung sind in mir abgebildet. Und ich bin dann ebenfalls in allem abgebildet. Die gesamte Welt ist in mir und ich bin in der gesamten Welt.
Alles Erleben ist immer Beziehung und Begegnung mit meiner Innen- und Außenwelt.
In jeder Begegnung, sei sie real oder imaginativ, scheint sowohl etwas von meiner inneren wahrnehmenden Person – der Teil meiner beobachtenden Persönlichkeit – als auch von dem wahrgenommenen Objekt, das ebenfalls eine Teilpersönlichkeit von mir und gleichzeitig etwas anderes ist, in mir auf.
Dieses wahrgenommene Objekt ist eine Verschmelzung von den energetischen (optisch, akustisch) Einwirkungen realer Objekte auf mich einerseits, mit meinen spezifischen Verarbeitungsmodalitäten – beispielsweise Vorerfahrungen, momentane Stimmung u. a. – in diesem Moment andererseits. Heinz von Foerster nennt diesen Prozess auch Wahrgebung.
Die Art und Weise, wie ich wahrnehme und wahrgebe – Bedeutung gebe –, spiegelt eine weitere Seite von mir wider, durch die ich wertvolle Informationen über meinen sogenannten Charakter erhalten kann, ob ich z. B. eher offen oder eher defensiv, eher wertschätzend oder eher abschätzig bin. Charakter lässt sich auch als die eigentümliche Art der bevorzugten Wahrnehmungs- und Wahrgebungsmuster aufgrund meiner Vorprägungen definieren.
Eine weitere Seite in mir lässt das aufscheinen, was zwischen mir und dem wahrgenommenen Objekt bzw. der anderen Person wirkt, gewissermaßen das gemeinsame Interferenzfeld.
Ich kann mich nur in Beziehung erleben, in Beziehung zu Objekten, in Beziehung zu meinen Bedürfnissen und in Beziehung zu anderen Menschen (Tieren) und deren Bedürfnissen.
Die Art und Weise, wie ich diese Beziehungen gestalte – mehr oder weniger achtungsvoll – ist entscheidend für meine Lebensqualität, meine Gesundheit und ebenso in gewisser Weise für das Wohlergehen meiner Umgebung, da ich gleichzeitig auch ein integraler Teil von ihr bin. Die wirksamste Beziehungsgestaltung im Sinne der Bedürfniserfüllung gelingt mir durch (Selbst-)Akzeptanz, (Selbst-)Mitgefühl und (Selbst-)Liebe. Dafür Optimierungsmöglichkeiten aufzuzeigen, ist das erklärte Ziel dieses Buches.
Ich bin als ganze Person in mehrfacher Hinsicht ein integraler Teil meiner Umgebung, da ich vom Stadium der Eizelle an ständig Nährstoffe, Sauerstoff und Energie (Wärme) von außen aufnehme und für mich verarbeite. Ebenso gebe ich Stoffwechselprodukte nach außen ab.
Gleichzeitig stehe ich mittels der verinnerlichten Auswirkungen meiner Vorfahren auf mich und mittels meiner unmittelbar eigenen Wirkungen nach außen im Austausch mit meiner Umgebung. Damit bin ich in ständig wechselnder Aktualität ein mit meiner Vergangenheit und mit meiner konkreten Umgebung Verbundener. Diese Verbundenheit hat durch mich ebenfalls momentan bestimmte äquivalente körperliche, geistige, affektive und energetische Erscheinungsformen.
Im Stadium der befruchteten Eizelle ist die Annahme einer affektiven und geistigen Erscheinungsform sicher recht spekulativ. Doch in irgendeiner Form müssen ja auch diese Erscheinungsweisen in dieser Eizelle z. B. epigenetisch aufgehoben sein, da sie sonst nicht in Erscheinung treten könnten.
Die Gesamtheit meiner Person umfasst wie ein Kosmos die unendlich vielen Erfahrungen von mir selbst in der Beziehung zu mir, in meinen Beziehungen zur Umwelt und die Erfahrungen, die ich in direkter oder indirekter (z. B. durch Medien) Anschauung bzw. Beobachtung der Umwelt gewonnen habe. Diese Erfahrungen sind letztlich alle Ergebnisse von Austauschprozessen und Informationen, die in mir, außerhalb von mir und zwischen mir und dem Außen stattfinden. In diesen Austauschprozessen geht es um die Aufrechterhaltung von Gleichgewicht und Ungleichgewicht, um die Balance von Zufuhr und Abfuhr sowie um Erfüllung und Mangel. Diesen Austauschprozessen bzw. dem damit verbundenen In-Beziehung-Sein messe ich jeweils einen Wert bei, der, je nachdem, ob es angenehm oder unangenehm ist, mal größer und mal kleiner ausfällt. Am angenehmsten sind mein Mich-miteinander-in-Gemeinschaft-Fühlen, Freude und Liebe. Diese Gefühle und die damit verbundenen Erfahrungen werden als wertvolle Ich-Zustände bzw. erfüllte Teilpersönlichkeiten in mir abgespeichert. Abweichungen davon erlebe ich als Mangel.
Diesen Mangel erlebe ich besonders auf einer menschlich-sozialen Ebene als Schuld, da etwas Wertvolles nicht erfüllt wurde und ich gemessen daran einen Minderwert in und bei mir feststelle.
Man spricht in der Medizin z. B. auch von Sauerstoffschuld, wenn Sauerstoffmangel im Blut herrscht.
Damit ich als Person leben kann, müssen diese Austauschprozesse in meinen Beziehungen zwischen mir und meiner Umgebung bedürfnisgerecht ablaufen. Dabei können ökotrophe Bedürfnisse wie Atmung, Nahrung, Ruhe, Wärme, Bewegung, Geborgenheit, die mich als Individuum unmittelbar am Leben halten, und prosoziale Bedürfnisse wie Kontakt, Gemeinschaft, Mitgefühl, Fürsorge, Zugehörigkeit u. v. a. grob unterschieden werden. Alle diese Bedürfnisse stellen für mich gleichzeitig wichtige Werte dar. Ohne ein Mindestmaß an Erfüllung dieser Bedürfnisse kann ich nicht überleben. Um eine bedrohliche Nichterfüllung ökotropher Bedürfnisse bzw. einen Mangel an Bedürfnisbefriedigung wahrzunehmen, benötige ich bestimmte Signale wie Luftnot, Durst, Heiß-Kalt-Empfindungen, Hunger, Müdigkeit oder Erschöpfung. Die Nichtbeachtung dieser leibnahen Signale kostet mich im Extremfall das Leben. Wenn prosoziale Bedürfnisse wie Mitgefühl, Gemeinschaft, Treue, Fürsorge, Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe u. a. unerfüllt sind, können Gefühle der Angst, der Wut, der Schuld, des schlechten Gewissens und weitere ausgelöst werden, die auf die Notwendigkeit der Erfüllung dieser Bedürfnisse aufmerksam machen wollen. Wenn mir diese prosozialen Bedürfnisse nicht erfüllt werden und ich Mitgefühl, Solidarität, Gerechtigkeit usw. vermisse, geht das mit Schmerz, Angst, Not und in der Reaktion darauf mit Wut, Hass und Aggression einher. Das Empfinden dieser Bedürfnisse bzw. Werte, ihre Erfüllung, verbunden mit Mich-wertvoll-Fühlen, und ihr Mangel, verbunden mit Schuldgefühlen, sind als Komplexe oder als Ego-States oder als Teilpersönlichkeiten in mir körperlich-neuronal, energetisch, affektiv und geistig bzw. kognitiv repräsentiert. Wenn auch die genannten Bedürfnisse und Werte mehr oder weniger ineinanderfließen, so bleibt vielleicht dennoch die Vorstellung hilfreich, dass jedes Bedürfnis einen eigenen Teilpersönlichkeitskomplex bildet, der gleichzeitig körperlich, affektiv, geistig und energetisch mit wechselnder Intensität in Erscheinung tritt.
Das Schuldgefühl vermittelt bzw. informiert nun auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig: Ich habe z. B. das Bedürfnis, die Wahrheit zu sagen, da Wahrheit ein Wert ist. Wenn ich aber gelogen habe, dann vermittelt mir mein Schuldgefühl, dass es in dem Teilpersönlichkeitskomplex »Wahrheit« zu einer Ist-Soll-Diskrepanz gekommen ist, weswegen ich mich nun schlecht und minderwertig fühle. Das Schuldgefühl entspricht hier der Spannung zwischen den Polen des Wertes Wahrheit und des Minderwertes Unwahrheit. Das Schuldgefühl vermittelt ebenso bei Bedürfniskonflikten zwischen zwei oder mehr verschiedenen Teilpersönlichkeitskomplexen. Das Schuldgefühl bzw. die Schuldempfindung kann entweder als eine konkrete bedrückende Erinnerung an etwas Unerledigtes oder Falsches, das mir weiter anhaftet, erlebt werden. Oder ich habe eine unangenehme diffuse Ahnung, dass irgendetwas mit mir nicht in Ordnung war bzw. ist.
So kann z. B. ein Teilpersönlichkeitskomplex für die Treue zu elterlichen Werten eintreten und die Fortführung des Familienbetriebs fordern, während ein anderer einer Berufung als katholischer Geistlicher folgen möchte und ein dritter für eine Einheirat in die Landwirtschaft der Schwiegereltern eintritt. Wie immer ich mich entscheide, die unerfüllten Bedürfnisse bzw. Werte bleiben mit Schuld affiziert. Da aber nun jeder dieser Teilpersönlichkeitskomplexe, die ich mittels meiner Aufmerksamkeitsfokussierung mit meiner aktuellen Lebensenergie aufgeladen habe, körperlich, gefühlsmäßig, energetisch und geistig in Erscheinung tritt, bildet sich der damit verbundene Schuldkonflikt eben überall dort auch ab. Weil nun jeder Teilpersönlichkeitskomplex mich in eine andere Richtung lenken will und an mir als Gesamtperson zu ziehen scheint, spüre ich körperlich vielleicht Spannungen bis hin zu Schmerzen, Druck, Verkrampfungen, Herzklopfen, Zittern, Globusgefühl im Hals, Übelkeit, Durchfall und andere unangenehme Symptome. Emotional bzw. affektiv bin ich bedrückt und ängstlich gestimmt, was mehr oder weniger spürbar mit einem Gefühl von Minderwertigkeit einhergeht.
Meine Gedanken sind negativ, quälend, und sie kreisen meist um das Problemthema. Mein Energieniveau ist niedrig und ich fühle mich kraftlos.
Solange ich das nur für eine lästige Krankheit halte und die Symptome mit Medikamenten bekämpfen will, werde ich keine Lösung finden.
Erst wenn ich unschuldig die »Schuld« für meine Verfassung übernehme und die Schuld für die jeweilige Nichterfüllung der beschriebenen Bedürfnisse anerkenne, gebe ich den unerfüllten Werten (z. B. keine Betriebsübernahme bei den Eltern und kein Priestertum) damit ihre Wertschätzung zurück.
Die Schuldempfindung wirkt genau wie die Wertschätzung als Medium und Kraftfeld, das mich als konkrete Person in mir selbst – mit meinen jeweiligen Bedürfnissen – und in meiner aktuellen (Um-)Welt zusammenhält. In dem beschriebenen Beispiel hält die Schuldempfindung die Verbindung zu den nicht erfüllten Werten »Fortsetzung der Familientradition« bzw. »Priestertum«, sodass sie als Teilpersönlichkeiten in meiner Gesamtperson repräsentiert und aufgehoben bleiben.
Je mehr ich mich jedoch in meinem Ist-Soll-Konflikt auflade – »Du musst allen gerecht werden; du darfst nicht schuldig sein« –, um ihn dadurch irgendwie zu lösen, umso erdrückter, ängstlicher und minderwertiger fühle ich mich.
Kämpfe ich dagegen an, dass ich diesen Konflikt überhaupt habe, lade ich ihn ebenfalls noch mehr auf, da ich ihm so noch mehr Aufmerksamkeit und dadurch mehr Energie zuführe.
Ein Teilpersönlichkeitskomplex, den ich stets unabhängig vom jeweiligen Thema eines Ist-Soll-Konflikts mehr oder weniger mitaktiviere, ist der Lösung-durch-Kampf-Komplex, der etwas lösen bzw. Unangenehmes entfernen möchte, indem er dagegen ankämpft. Dem liegt die tief sitzende Überzeugung zugrunde, dass ich umso eher bzw. sicherer zum gewünschten Ziel komme, je stärker ich gegen das Unangenehme bzw. das Ungewünschte ankämpfe.
Ein anderer, entwicklungsgeschichtlich früherer und damit auch ein abhängigerer bzw. unreiferer Teilpersönlichkeitskomplex ist, dass ich mir die Zustimmung bzw. die Erlaubnis bzw. die Absolution einer »höheren Autorität« – Vater, Mutter, Experte, Führer – einhole.
Das geschieht zunächst wie selbstverständlich, wenn ich unreflektiert genauso fühle, denke und handle, wie das die Eltern in vergleichbaren Situationen tun.
Ich kann mich dabei tatsächlich bei den Autoritäten vergewissern, dass meine Meinung, meine Haltung oder mein Verhalten in ihrem Sinne ist. Ich rufe meine inneren Stellvertreter bzw. Repräsentanzen dieser Autoritäten in mir auf und frage mich/sie, wie sie etwas bewerten.
Diesen Teilpersönlichkeitskomplex, den jeder als Teil seiner Persönlichkeit in sich trägt, kann als der »Lösung-durch-Zustimmung-der-Autorität-Komplex« bezeichnet werden. Eine andere Bezeichnung wäre »Rechtfertigung-durch-Autorität-Komplex« oder »Erlaubnis-Komplex«.
Dieser Teilpersönlichkeitskomplex ist mehr oder weniger ständig in mir wirksam. Ich bin zumindest auf einer vorbewussten Ebene andauernd mit der Abgleichung beschäftigt, ob ich sozial in Ordnung bin, in Ordnung war oder in Ordnung sein werde. Wenn ich in eine bestimmte soziale Situation komme – Vortrag, Einladung, Schulveranstaltung, Meeting –, suche ich nach einem dieser Situation angemessenen Verhalten bzw. meiner passenden Rolle, wobei ich gleichsam intuitiv den gerade jetzt in dieser Situation angemessenen und erlaubten Verhaltensweisen gerecht werden möchte. Je unvertrauter mir die jeweilige Situation ist, desto angespannter, steifer und unsicherer bin ich, da ich in Unkenntnis der geltenden Regeln bzw. des angesagten Commitments nicht weiß, was von mir erwartet wird – darf ich meine Jacke ausziehen oder nicht; darf ich klatschen oder nicht; darf ich aufstehen oder muss ich sitzen bleiben? Usw. Die hier maßgebliche Autorität ist dabei anonym bzw. die Gruppe oder die soziale Situation selbst, der gegenüber ich es recht machen will. In meiner Not greife ich dann auf das zurück, was mir meine primären Autoritäten (Eltern) für solche Situationen an Verhaltensweisen vorgegeben haben. Zu diesem Teilpersönlichkeitskomplex gehört also auch der Ich-Zustand, der ständig fragt, was ich tun soll, was ich vielleicht falsch gemacht habe oder was ich in Zukunft anders machen müsste oder wie ich besser die Wertschätzung einer wie auch immer gearteten Autorität, ihre Zustimmung und ihre Erlaubnis erhalten könnte. Dadurch spanne ich in mir ständig die Zeit zwischen Vergangenheit – Was haben die Autoritäten vorgegeben? – und der Zukunft – Was soll ich in der kommenden Situation tun? – auf und erlebe mich so kaum im Jetzt. Ich gerate zusätzlich in Konflikte, wenn in mir die Repräsentanzen konkurrierender Autoritäten hochgefahren und aufgeladen werden, die mir gegensätzliche Vorgaben machen – z. B. die Repräsentanzen der Eltern einerseits und denen des Chefs andererseits.
Ebenso verunsichere ich mich besonders dann, wenn die zukünftige Situation, auf die ich mich angemessen einstellen will, um das Richtige zu tun, kaum abzuschätzen ist. Das ist dann auch auf allen Ebenen, geistig-gedanklich, gefühlsmäßig, körperlich und energetisch mit einem hohen Aufwand und mit Anspannung verbunden. Der Glaube an eine absolute Autorität, der ich mich ganz unterwerfe und die mir dafür Rechtfertigung, Absolution und Erlaubnis gibt, reduziert diesen Aufwand erheblich. Ich quäle mich dann nicht mehr so mit meiner Schuld. Hierin sind auch die Psychodynamik und das Verhalten in heiligen Kriegen vom Altertum über Kreuzzüge bis zum Dschihad begründet.
Grundsätzlich ist es in Ordnung, die Zustimmung, Erlaubnis oder die Absolution der Autorität(en) haben zu wollen. Freiheit jedoch bedeutet, seine Entscheidungen (notfalls) auch ohne Erlaubnis zu treffen. Doch um diese Freiheit zu leben, ist es notwendig, dass ich mich im Sinne der autoritären Ordnung auch schuldig mache. Die Freiheit ist ebenso wie die Schuld – z. B. sich dafür zu entscheiden, autoritären Vorgaben nicht zu folgen – eine inhärente Seite bzw. ein Persönlichkeitsanteil des Menschseins und damit auch des Menschenbilds. In der Freiheit, sich auch für die Unfreiheit – beispielsweise autoritären Vorgaben unter Aufgabe des eigenen Willens zu folgen – zu entscheiden, sind die Differenzen ebenso aufgehoben wie all die verschiedenen Teilpersönlichkeiten, die ich von Augenblick zu Augenblick bin. In meinem inneren Beobachter aller dieser Erscheinungen sind diese aufgehoben und geborgen.
Ich komme durch Unterschiedsbildung und Differenzierung zu meinem Bewusstsein von mir und der Welt. Im Vergleich erkenne ich neben den Unterschieden auch wieder die Gleichheit. Mit der mitfühlenden Annahme der Unterschiede mache ich mich selbst den Unterschieden und die Unterschiede mir gleich. Das geschieht mit der Geburt in der Beziehung zur Mutter und in geringerer Intensität in der Beziehung zu meiner übrigen Umgebung. In meiner Not erlebe ich mich getrennt, was eine Differenz zur Mutter impliziert.
In ihrer mitfühlenden Zuwendung, im gemeinsamen »Dazwischen« – oder energetisch ausgedrückt in der Interferenz des Kind-Mutter-Resonanzfelds – bin ich mit ihr eins und gleich.
In meinem differenzierenden Nein zur Mutter bzw. zu ihrer aktuellen Wertvorstellung und ihrem Willen erfahre ich erstmals meine Selbstbestimmung und meine Freiheit. Damit schaffe ich zwar eine Differenz zur Mutter, mache mich aber gleichzeitig mit meiner mir innewohnenden selbstbestimmenden Seite einig bzw. gleich. Je besser es der Mutter gelingt, auch mit dieser meiner freiheitsliebenden Seite mit-zufühlen und sich dadurch ihrerseits damit gleichzumachen, desto mehr bestärkt sie mich in meiner Erfahrung, dass divergierende und differenzierende Selbstbestimmung mit Einigkeit bzw. Gleichheit zusammengehen.
Je mitfühlender die Beziehung ist, desto vertrauensvoller kann das Mitgefühl sogar unter kontroversen – selbst unter Wut und Hass – Bedingungen wieder in den Gleichklang der Einheit führen.
Im Kindes- und Jugendalter sind Aggression, Wut und Hass noch notwendig, um sich von der Mutter, den Eltern und den Autoritäten differenzieren zu können. Je sicherer ich in meiner Selbstbestimmung werde, desto weniger muss ich Wut, Aggression und Hass einsetzen, um mich zu behaupten. Ich kann ihnen – Eltern, Autoritäten – in Liebe fremdgehen und bleibe ihnen damit in dieser Liebe gleich.
Ich komme unschuldig zur Welt, übernehme immer wieder die Schuld der Eltern, wo sie mir, meinen Bedürfnissen, meinen Werten bzw. Werten, mit denen ich identifiziert bin, nicht gerecht geworden sind oder nicht gerecht werden.
Dieses Versagen schreibe ich dann aus Liebe zu den Eltern und im Interesse meiner vertrauensvollen Beziehung zu ihnen der vermeintlichen Minderwertigkeit meiner Person zu. In einem erkenne ich das Versagen der Eltern ebenso mit einer anderen Seite von mir als die Schuld meiner Eltern, unterdrücke diese Seite aber.
Je bereitwilliger die Eltern ihre Schuld mir gegenüber anerkennen und so mit meinem durch sie bedingten Leid mitfühlen, desto versöhnter und liebevoller sind wir miteinander verbunden. Solange ich unmöglich als beschränkter Mensch allen Werten gerecht werden kann, benötige ich Schuld und Schuldempfinden in ihrer Funktion als Substitut der jeweils nicht erfüllten Werte, als notwendigen Teil(-persönlichkeitskomplex) meines Ichs und meines Menschseins.
In dieser komplexen Gemengelage, in der mein Selbsterleben ständig wechselt, in der ich mich mal gut und mal schlecht, mal gerecht und mal schuldig, mal wertvoll und mal wertlos fühle, brauche ich eine Beobachterfunktion in mir, die mich in allem wiedererkennt. Nur in ihr kann ich Halt finden. Diese Beobachterfunktion ist die annehmende Selbstwahrnehmung und Selbstliebe.
Ich komme auf die Welt mit dem impliziten Ziel, zu leben und mich dabei wohlzufühlen. Wenn es mir an etwas mangelt – Nahrung, Ruhe, Mitgefühl, Geborgenheit usw. – und ich mich in Not fühle, löst das in mir, wie in jedem Säugetier, Wut und Aggression aus.
Diese Wut und Aggression ist zunächst unspezifisch »gegen alles« und damit auch gegen die nächste Person, meist die Mutter, gerichtet.
Besonders Eltern von Schreikindern wissen, wie heftig diese Wut sein kann.
Ich mache jedoch die Erfahrung, dass mir – meistens – die Mutter diesen Mangel ausgleicht und im weiteren Sinn stillt. Damit komme ich auch immer wieder in eine harmonische, wohlige Beziehung zur Mutter, in der ich mich mit ihr und in mir gebogen fühle; jedenfalls so lange, bis die nächste Not wieder Wut und Aggression auslöst. In diesen sich ständig wiederholenden gleichen und ähnlichen Erfahrungen lerne ich, dass ich mich dann am wohlsten fühle, wenn sich auch die Mutter in ihrer Beziehung zu mir wohlfühlt. Die Mutter fühlt sich aber eher unwohl, wenn ich wütend und aggressiv – »böse« – bin; dagegen wohl, wenn ich mich wohlfühle und »lieb« bin. Ich lerne, dass Wut und Aggression mir in Beziehungen auch schaden können und ich sie besser vermeide oder unterdrücke. Eine Seite in mir lernt, meine Wut, meinen Hass und meine Aggression als etwas Schädliches oder Böses zu verurteilen, wobei ich in aller Regel von der Mutter und meinem sozialen Umfeld auch bestätigt werde. Die wegen meiner Wut und meiner Aggression verurteilte Seite fühlt sich nun schuldig und minderwertig. Um mich also uneingeschränkt wohlzufühlen bzw. Freude zu haben, ist dazu eine konfliktfreie unschuldige Beziehung zur Mutter unverzichtbar. Ich beobachte dazu intensiv die Reaktionen der Mutter auf mich und mein Verhalten. Ich stelle mich dann so auf sie ein, dass sie mir möglichst gut meine Bedürfnisse erfüllt. Wenn sie mir etwas schuldig bleibt und ich mich deswegen schlecht fühle, unterdrücke ich die reflektorisch in meinem limbischen Kortex ausgelöste Aggression und Wutreaktion – mein evolutionäres Säugetiererbe. Ich gebe mir stattdessen die Schuld dafür, dass es mir schlecht geht. Ich verallgemeinere das nun und weite das »Schlecht« auf meine ganze Person aus, dass ich mich im Ganzen als Person schlecht und minderwertig fühle. Ich erkläre mich – im Extrem – dann so, dass ich gewissermaßen durch mein verdorbenes Sosein oder durch mein böses oder gar teuflisches Verhalten all das verursacht habe.
In gewisser Weise ist eine Grundannahme dabei auch insoweit zutreffend, als ich der Urheber meiner Gefühle und meiner Vorstellungen bin. Um in dieser Weise aber beständig wirksam sein zu können, brauchen diese energetische Zufuhr, d. h. Bestätigung von außen. Diese Bestätigung kann durch explizite Äußerungen wichtiger Bezugspersonen kommen: Du bist auch wirklich ein verdorbener Versager. Oder ich bekomme dies implizit durch Missbrauch und Vernachlässigung mitgeteilt. Beide Strategien werden sowohl in kirchlichen Verkündigungen – die fürchterliche Sündigkeit des Menschen – als auch praktisch im Missbrauch und in körperlicher Gewaltanwendung eingesetzt. Mit diesen Strategien soll die Machthierarchie behauptet werden. Problematisch ist dabei die kausale Verknüpfung: Weil ich schlecht und minderwertig bin, behandelt die Mutter mich schlecht; meine Schuld ist die Ursache ihres verletzenden Verhaltens und gleichsam meine Bestrafung dafür. Dieser Zusammenhang zwischen Leid bzw. Not, der eigenen Minderwertigkeit und Schuld sowie der dadurch verursachten Bestrafung durch die sonst lebensspendende Mutter (oder auch projiziert auf eine Gottheit) ist als ein Teilpersönlichkeitskomplex neuronal in mir verwoben und wirksam. Gleichzeitig ist dieser Not-Schuld-(Minderwertigkeit-)Strafe-Komplex Teil des kulturellen Erbes seit Adam und Eva. Je stärker dieser Komplex durch besondere Not, Traumen oder schwere Vernachlässigung in mir aufgeladen und dabei neuronal vernetzt wurde, desto weniger glaube ich, dass ich überhaupt verdient habe, froh zu sein. Häufig bedeutet das, dass ich mich schuldig fühle, wenn es mir gut geht, bzw. ich mich freue, weil ich mit meiner Freude etwas – nach dem Urteil der strengen Autorität – unverdient und unerlaubt in Anspruch nehme.
Das wirkt sich dann oft so aus, dass ich als Jugendlicher und selbst noch als Erwachsener nur in Distanz zu Mutter oder Vater, z. B. im Urlaub, ungestört froh sein kann.
Es ist wirklich – im Sinne von Wirkung – meine kindliche Schuld, die ich unschuldig für die Versagung oder die Vernachlässigung durch die Mutter übernehme, um ihr damit gerecht zu werden. Die Mutter bleibt dadurch in meiner Vorstellung »gerecht« und gut, obwohl sie mich leiden lässt. Ich komme erst aus dieser von mir erklärten Schuldverstrickung heraus, wenn ich das so als meine Beurteilung annehme, gleichzeitig der Mutter – auch unter Mithilfe meiner Wut auf sie – ihren Anteil an ihrer Verantwortung für meine Entbehrungen überlasse und dabei mitfühlend mein durch sie verursachtes Leid würdige.
Wie schwer es fällt, der Mutter oder auch dem Vater ihre Verantwortung für mein durch sie zugefügtes Leid zuzuweisen, kann ich an meinen Scham- und Schuldgefühlen ablesen, die in mir aufsteigen, wenn ich beispielsweise mit anderen darüber spreche, wie ich gedemütigt und geschlagen wurde und mich bei dieser Preisgabe wie ein ungerechter Verräter fühle.
Da es aber auch in mir eine Seite gibt, die beispielsweise die Demütigungen durch die Mutter oder den Missbrauch durch den Vater für ungerecht hält, schulde ich es mir selbst, diese gequälte Seite als berechtigt anzuerkennen, die Eltern dafür anzuklagen und ihr Schuldeingeständnis einzufordern. Das Schuldeingeständnis der Eltern wäre auch die nachträgliche mitfühlende Anerkennung meines Wertes, den sie im Umgang mit mir verletzt haben bzw. wo sie mir nicht gerecht geworden sind. Der Teilpersönlichkeitskomplex, der diese Erfahrungen miteinander verbindet, kann als Leid-Schuld-Schuldeingeständnis-Versöhnungs-Komplex bezeichnet werden. Da das Eingeständnis ihrer Schuld für mich Genugtuung bedeutet, könnte man diesen Komplex auch den Leid-Schuld-Genugtuung-Versöhnungs-Komplex oder Gerechtigkeits-Komplex nennen. Das Schuldeingeständnis beinhaltet zumindest ein gewisses Mitgefühl des Täters – z. B. von Mutter oder Vater.
Auch wenn sie mir das nicht geben wollen oder nicht mehr geben können, kann ich zu einer Versöhnung mit mir und mit ihnen kommen, indem ich die Verantwortung für ihren Teil des Geschehenen bzw. Versäumten bei ihnen lasse und mir mein Mitgefühl für das Ungesühnte der Eltern gebe. An dieser Stelle wirkt mein Mitgefühl für das Ungesühnte, das ja eine Schuldzuweisung einschließt, als Sühne. Das wäre dann ein Leid-Schuld-Mitgefühl-Versöhnungs-Komplex. Schuldempfinden und Schuldanerkennung wirken hier als verbindende Kraft zwischen den Generationen und sind so ein wertvoller Teil meines Menschseins.