Auden Hill University – How Far We Fall - Julia Pauss - E-Book

Auden Hill University – How Far We Fall E-Book

Julia Pauss

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Beschreibung

Eine elitäre Universität, ein mysteriöser Orden und ein Rivale mit einem düsteren Geheimnis. Fesselnde Enemies-to-Lovers-Romance für Fans von Sarah Sprinz, Nikola Hotel & Mona Kasten  »Ich sehe, woher dein Irrtum stammt, aber ich und du ...« Er deutet zuerst auf seine Brust, dann auf meine. Neben seinem feingewebten Sweater wird mir der leicht kratzige Stoff meines Polyestergemischs deutlicher bewusst, als mir lieb ist. Für die Dauer eines Herzschlags hält er meinen Blick, dann zucken seine Mundwinkel. »Wir sind nicht ebenbürtig.«  Alles erscheint perfekt: Zwischen goldroten Bäumen und den letzten warmen Sonnenstrahlen des Jahres betritt Ivy ihr neues Zuhause – die Auden Hill University. Als sie jedoch vom Tod der letzten Stipendiatin hört, deren Platz Ivy nun einnimmt, beginnt sie Nachforschungen anzustellen. Dabei erfährt sie von den Spannungen im Machtgefüge der Universität und gerät immer tiefer in ein Netz aus Mysterien und Intrigen, in dessen Zentrum ein geheimer Orden die Fäden zieht. Wäre das nicht schon genug, scheint Ivy dem elitären Reed ein Dorn im Auge zu sein. Er verkörpert all das, was Ivy nicht ausstehen kann, doch als sie beginnt, den tragischen Todesfall aufzudecken, stellt sich heraus, dass auch Reed ein dunkles Geheimnis mit sich trägt. Und bald steht mehr als nur ihre eigene Zukunft auf dem Spiel …  »Humorvolle, romantische und vor allem spannende Szenen wechseln sich konstant ab. Ich war völlig versunken und gefesselt, habe jedes Kapitel mit Hochspannung verfolgt und bin immer wieder überrascht worden. Diese Geschichte ist ausnahmslos exzellent, stimmig, rund und hat mehr als nur mickrige fünf Sterne verdient.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Das Buch vermittelt direkt richtige Dark Academie Vibes, was ich total liebe! Das Cover ist bereits ein absoluter Hingucker. Die Atmosphäre ist sehr dicht und hat mich begeistert.« ((jenneyreads auf vorablesen.de)) »Beim Lesen  hatte ich direkt ein Gefühl, als wäre ich in einer herbstlichen Harry Potter Filmkulisse oder in die Netflix Serie "Wednesday" eingetaucht.« ((fraupuetz auf vorablesen.de))

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Redaktionsbüro Diana Napolitano, Augsburg

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Julia Pauss

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Freepik.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Triggerwarnung

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

Danksagung

Triggerwarnung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Dieses Buch enthält Themen, die triggernd wirken können. Eine Auflistung, die jedoch den Inhalt des Buches spoilern kann, befindet sich am Ende des Textes.

Wir wünschen ein bestmögliches Leseerlebnis.

Für Astrid

Kapitel 1

Im warmen Licht der Septembersonne leuchten die Backsteinmauern wie Kupfer. Dicke Ranken aus tiefgrünem Efeu winden sich um das jahrhundertealte Mauerwerk und ich kann nicht glauben, dass ich hier bin. Es gibt Leute, die dafür töten würden, auf diese Schule zu gehen. Nun, vielleicht nicht unbedingt töten, aber zumindest ein Verbrechen begehen, da bin ich mir sicher.

Es ist noch früh am Morgen und die frische Herbstluft fährt durch meine Haare. Ich starte einen hoffnungslosen Versuch, eine widerspenstige braune Strähne hinter mein Ohr zu klemmen und richte den Blick dann wieder auf den Schulsprecher Oliver Rhodes, der ein paar Meter vor mir auf der Treppe des Campusgebäudes steht.

»Die Auden Hill University zählt zu den fünf besten Ivy-League-Universitäten Nordamerikas«, erklärt er und der Stolz in seiner Stimme ist nicht zu überhören.

Rhodes ist ein großgewachsener Mann mit athletischem Körperbau und kurzen, mittelblonden Haaren. Mit seiner modischen, dunklen Brille und seinem weißen Hemd sieht er zugegeben ziemlich gut aus, ein bisschen wie ein Schauspieler oder ein Model, das vor dem historischen Gebäude für die Uniwebseite posiert. Trotzdem erinnert mich etwas an ihm an einen Gockelhahn.

»Ich nehme an, Sie sind sich bewusst, dass es eine außergewöhnliche Ehre und ein einzigartiges Privileg ist, für dieses Programm ausgewählt zu werden«, fährt er fort und meine Mundwinkel zucken.

Natürlich wissen wir das. Als ich meinen Brief vor einem halben Jahr bekommen habe, musste ich ihn dreimal hintereinander lesen. So ganz begreife ich es immer noch nicht.

Ivy Donovan,

Es freut uns, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Sie für das Ruth-Matthewson-Stipendium an der Auden HillUniversity akzeptiert wurden.

Ein Satz, der meine Welt verändert hat. Ein Satz, der sich noch immer anhört, als hätte ich ihn mir in meinen wildesten Träumen ausgemalt. Aber ich stehe hier, in Fleisch und Blut. Ich spüre den rauen Kies unter den Schuhsohlen meiner Chelsea-Boots, höre die Finken in den Ahornbäumen zwitschern und fühle die kühlen Schatten der Universitätsgebäude auf meiner Haut. Die meisten Leute aus meiner Familie haben nicht einmal einen Hochschulabschluss und ich … ich darf an einer der einflussreichsten Universitäten Nordamerikas zu studieren.

Ich lasse die Hand unauffällig an meinem Bein hinabsinken. Als ich vor ein paar Stunden aufgebrochen bin, habe ich mich für einen kurzen karierten Rock, einen dunkelblauen Sweater und eine schwarze Strumpfhose entschieden. Im Gegensatz zu den meisten anderen Studierenden kann ich mir keinen Kleiderschrank voller Designerklamotten leisten, aber ich brauche auch keine überteuerten Markennamen, um zu wissen, was mir steht. Wahrscheinlich würde ich selbst dann noch meine Strümpfe flicken und mit Coupons an der Supermarktkasse bezahlen, wenn ich alles Geld der Welt auf meinem Konto hätte. Manche Dinge sitzen einfach tief und ich habe noch nie einen Penny ausgegeben, den ich vorher nicht dreimal umgedreht habe. Ich presse die Fingerspitzen gegen den Stoff meiner Strumpfhose und kneife sanft in meine Haut. Ein stechender, wenn auch nicht unangenehmer Schmerz kribbelt durch meine Nerven.

Echt.

Definitiv echt.

Ich bin tatsächlich hier.

Mein Name ist Ivy Donovan und heute ist mein erster Tag als Studentin der Auden Hill University.

An der Spitze der kleinen Gruppe fährt Rhodes mit seinem Vortrag fort und schlägt dabei den Weg zum nächsten Gebäude ein. Sofort setzen wir uns in Bewegung und folgen ihm wie eine artige Herde aus jungen Schäfchen. Brav in einer Reihe, mit unseren iPads und Informationsbroschüren fest in den Händen. Sie sind unsere Bibeln und wenn die Auden Hill University eine Kirche ist, dann ist das Wissen unser Gott.

Ich weiß, dass ein Universitätsabschluss allein für die meisten Leute kein Garant für eine sichere Zukunft ist, aber für Alumni der Auden Hill sieht die Sache anders aus. Die Leute, die vor mir hier studiert haben, sind heute Nobelpreisträger und Pulitzer-Gewinner. Sie sitzen im Senat, revolutionieren die Welt oder ziehen im Hintergrund die Schnüre. Der Name Auden Hill ist ein Schlüssel und in ein paar Jahren wird er auch mir alle Türen der Welt öffnen. Nun, zumindest wenn alles nach Plan läuft. Damit es eines Tages soweit kommen kann, muss ich zuerst lernen, mich auf dem weitläufigen Campusgelände zu orientieren.

Ich bin in Pittsburgh im Bundesstaat Pennsylvania aufgewachsen und dort zur Schule gegangen. Damals ist mir die Anlage der Highschool bereits riesig vorgekommen, aber im Vergleich dazu ist die Auden Hill University eine kleine Stadt. Sie liegt im Norden des Bundesstaats Vermont, zwischen dicht bewaldeten Bergen und smaragdgrünen Seen. Wortwörtlich. Im Westen wird das Campusgelände von einer Felswand gesäumt, die in einen dichten Buchenwald übergeht und, Oliver Rhodes zu Folge, regelmäßig von dem Kletterverein der Universität benutzt wird. Südlich der Universitätsgebäude liegt Lake Solace, ein ovaler, von Klippen gesäumter See, auf dem bereits jetzt die ersten Ruderboote zu sehen sind. In der Mitte befindet sich eine kleine Insel, auf der Ahornbäume und Weißfichten wuchern, und am Ufer tummeln sich Enten und sogar der eine oder andere Schwan. Die Landschaft ist die perfekte Kulisse für die Siedlung aus neogotischen Universitätsbauten, die das Erscheinungsbild des Campusgeländes dominieren. Die meisten Gebäude bestehen aus roten Ziegeln und haben schmuckvolle Fenster, spitze Giebel und Türmchen, als wäre die Anlage selbst ein riesiges, efeubewachsenes Museum. Es ist gleichzeitig romantisch und ehrfurchtgebietend und die ältesten Häuser stehen, laut Rhodes, bereits seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hier. Allerdings befinden sich hinter den historischen Haupthäusern auch einige neuere Bauten, die hauptsächlich als Studentenunterkünfte oder Sporthallen dienen.

»Im neunzehnten Jahrhundert wurde Lake Solace als Wasserreservoir benutzt und diente in erster Linie agrikulturellen Zwecken«, erklärt Rhodes, während wir uns über den mit Kies gestreuten Uferweg in die Richtung des Hauptgebäudes bewegen. »Inzwischen benutzt ihn unsere Rudermannschaft zum Training. Schwimmen ist gestattet, solange man sich nicht von Algen und Schlamm abschrecken lässt.«

»Oder von dem Fluch«, wispert ein Junge neben mir seinem Kumpel zu.

»Der Fluch?« Ein Mädchen lehnt sich zu ihnen. Sie hat kühlstichige schwarzbraune Haut und trägt ihre voluminösen Locken in zwei auffälligen Space Buns. Dazu hat sie schwarze Doc Martens mit einer Netzstrumpfhose und einem schwarzen Kleid mit langen Ärmeln kombiniert. Ihre Augen sind mit einem dicken, geschwungenen Eyeliner geschminkt, der denselben kohlschwarzen Ton wie ihr Lippenstift hat. Sie sieht cool aus. Unheimlich cool. »Sag mir bitte, dass das nicht dein Ernst ist.«

Der Junge grinst und sieht über die Schulter zurück. »Pass lieber auf, sonst bist du die Nächste, die das Phantom holt. Hab gehört, dass es im See lebt und sich am liebsten junge Frauen schnappt.«

»Arschloch«, murmelt das Mädchen und ich kann ihr nicht widersprechen. Unauffällig trete ich an ihre Seite.

»Hab ich das gerade richtig verstanden?«

Sie kneift die Augen zusammen und sieht zu mir. »Als Anspielung auf Delilah Blake?«

Delilah Blake.

Einen Moment lang hängt der Name über uns, als wäre er ein schlechtes Omen. Dann schüttle ich den Kopf und sehe erneut zum See. »Das finde ich furchtbar.«

Im Sonnenlicht macht Lake Solace seinem Namen alle Ehre und es ist schwer vorstellbar, dass sich vor zwei Jahren eine Studentin in diesem idyllischen Gewässer das Leben genommen hat. Nicht nur eine Studentin – eine Stipendiatin. Ich war eine Junior in der Highschool, als der Fall durch die Medien gegangen ist. Es war der Anstoß für eine Diskussion darüber, ob die Ansprüche an die Ivy-League-Stipendiaten zu hoch seien – und der Todesstoß für viele hoffnungsvolle Highschool-Absolventen, die sich einen Platz in dem renommierten Ruth-Matthewson-Stipendium an der Auden Hill erhofft hatten. Für ganze zwei Jahre nach Delilah Blakes Tod war das Programm für neue Anwärter geschlossen und auch ich hatte die Hoffnung fast aufgegeben. Vielleicht fühlt es sich deshalb so unwirklich an, hier zu sein. Nach einer gründlichen Reform hat das Ruth-Matthewson-Stipendium seine Pforten wieder eröffnet und ich zähle zu den Auserwählten.

Meine Kommilitonin seufzt leise. »So sind die Leute eben. Es ist leichter, sich über etwas lustig zu machen, als die Probleme anderer Menschen ernst zu nehmen.«

Ihre Worte hallen in mir wider und ich drehe mich noch einmal zum See zurück, dessen Ufer hinter einer dicken Hecke aus Brombeerbüschen verschwindet. Rhodes hält währenddessen vor einem hohen Gebäude mit weißen Fensterläden und deutet zum Eingang. »Dort hinten geht es zum Food Court und hier befindet sich die Studienabteilung. Ich würde euch raten, euch hier zu exmatrikulieren, falls ihr dem Druck irgendwann doch nicht standhalten könnt. Ihr benötigt dazu bloß eine Unterschrift eures Stipendienbetreuers.«

Meine Fingernägel bohren sich in meine Handfläche.

»Denkst du, er hat seine fiesen kleinen Seitenhiebe heute Morgen vor dem Spiegel einstudiert?«

Überrascht sehe ich zu meiner neuen Bekanntschaft mit den Space Buns und lächle vorsichtig zurück. »Garantiert. Er scheint sehr stolz darauf zu sein.«

Sie grinst, lehnt sich zu mir und reicht mir die Hand. »Ich bin übrigens Georgia, aber meine Freunde nennen mich Gigi. Ich studiere Multimedia Arts.« Ihre Nägel sind lang und dunkel lackiert und meine Finger kommen mir im Vergleich wie kleine Stummel vor. Ich hab es nie geschafft, mir die Nägel länger als ein paar Millimeter wachsen zu lassen, vor allem da ich manchmal anfange, darauf herumzubeißen, wenn mein Stresslevel steigt.

Gigi hat einen robusten Händedruck und ich erwidere ihn ein wenig zaghafter, als mir lieb ist. »Ivy«, antworte ich ihr mit gesenktem Tonfall. »Ivy Donovan. Journalismus.«

Gigi grinst, aber bevor sie etwas sagen kann, ertönt Oliver Rhodes Stimme erneut. »Gibt es da hinten etwas zu besprechen, das ihr mit der Gruppe teilen wollt?«

Sofort schießt mir das Blut in die Wangen, aber Gigi grinst bloß. »Nein, vielen Dank«, erwiderte sie. »Ich habe nur gerade festgestellt, wie glücklich wir uns über diesen warmen Empfang an der Universität schätzen können.«

Rhodes kneift die Augen zusammen. Er scheint zu überlegen, ob es ihm den Ärger wert ist, sich mit uns einzulassen, entscheidet sich aber schließlich dagegen, fährt herum und stellt uns ein weiteres Gebäude vor, in dem sich das Sprachlabor befindet.

Gigi zwinkert in meine Richtung und ich grinse zurück.

***

Die Führung dauert fast eine Stunde und als wir fertig sind, bleiben uns nur dreißig Minuten, bis wir uns in Hörsaal 0.01 einfinden müssen – gerade genug Zeit für ein schnelles Mittagessen. Auf dem Campus gibt es eine Menge an verschiedenen Restaurants, kleinen Cafés und sogar richtige Läden, in denen man einkaufen kann. Als ich zur Besichtigung mit meiner Mutter hier war, habe ich mir dort ein Sweatshirt mit dem Auden-Hill-Logo gekauft. Damals hat es sich wie ein Trostpreis angefühlt, als wäre ich ein Kind, das sich ewig die Nase am Schaufenster platt drücken muss, während seine Freunde im Süßwarenladen sind und sich die Taschen vollstopfen. Aber nun bin ich hier – und meine eigenen Taschen sind bis zum Rand mit Leckereien gefüllt, metaphorisch gesprochen.

Tatsächlich habe ich ein vernünftiges Sandwich mit Hummus, Tomate und Käse in der Hand, das ich mir vor der Abfahrt im Zimmer der Jugendherberge geschmiert habe. Wenn man schon mal ein Frühstücksbuffet zur Verfügung hat, muss man das auch ausnutzen. Außerdem habe ich bereits vermutet, dass der Campus am ersten Tag des Semesters völlig überlaufen sein würde und so wie es aussieht, hatte ich recht.

Überall stehen Wagen – nicht nur gewöhnliche Autos, sondern regelrechte Lieferwagen, mit denen Speditionen das Gepäck der Studierenden in die Schlafsäle karren. In den anderen Universitäten, die ich mir angesehen habe, hatten die Zimmer in den Studentenheimen allesamt ein wenig bedrückend gewirkt. An der Auden Hill hingegen gibt es statt blaugräulichen Teppichen mit undefinierbarem Modergeruch hohe Wände und polierte Parkettböden. Nun, zumindest für die meisten Studierenden. Der Großteil der Leute hier sind die Sprösslinge der großen amerikanischen Dynastien; Politiker, Unternehmer, Investoren und der eine oder andere Prominente, den man von der großen Leinwand kennt. Da die Gelder der Eltern geradewegs in die Taschen der Universität wandern, muss man ja schließlich sichergehen, dass die feinen Söhne und Töchter sich nicht mit Bettwanzen und Mikrowellenfraß abgeben müssen.

Was mich angeht, sieht die Sache ein wenig anders aus. Wir Ruth-Matthewson-Stipendiaten sind in Matthewson House untergebracht, einem unscheinbareren Gebäude, das ein wenig abseits der geschichtsträchtigen Bauten steht. Matthewson House hat bereits einige Jahre auf dem Buckel, aber ich kann mich nicht beschweren. Wenn ich ehrlich bin, würde ich auch in einer Abstellkammer schlafen, wenn es bedeuten würde, dass ich umsonst hier studieren darf.

Dem Trubel kann ich allerdings nicht viel abgewinnen. Mein Kopf dröhnt noch immer und irgendwie hat Oliver Rhodes’ Gelaber einen bitteren Geschmack in meinem Mund hinterlassen. Schulsprecher hin oder her, er scheint keinen Hehl daraus zu machen, dass er auf uns hinabsieht, nur weil wir Stipendiaten sind. Eigentlich sollte mich das nicht weiter verwundern – wir sind die Außenseiter und auch wenn wir unseren Platz hier mit harter Arbeit verdient haben, scheint es, als müssten wir uns erst beweisen, ehe wir an der Universität akzeptiert werden. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass wir noch zu den Freshmen beziehungsweise Froshs gehören – so nennt man die Studierenden im ersten Jahrgang, die unerfahrenen Frischlinge der akademischen Welt.

Das Laub knistert unter meinen Stiefeln und ich beschließe, mich nicht zu lange mit diesen Gedanken aufzuhalten. Es hilft nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, was andere von einem halten – das habe ich schon in meiner Kindheit auf die harte Tour gelernt. Als ich auf die Highschool gekommen bin, haben sich die coolen Kids über mich lustig gemacht, weil ich mir keine modischen Klamotten leisten konnte, aber als ich im vergangenen Frühling als Valedictorian von der Schule gegangen bin, wollten sie mich mit Krokodilstränen in den Augen zum Abschied umarmen.

Die US-amerikanische Bürgerrechtlerin Maya Angelou hat einst geschrieben, dass es weise sei, den Menschen zu glauben, wenn sie einem ihr wahres Gesicht zeigen und ich habe gelernt, dass man sich einigen Ärger ersparen kann, indem man diesen Vorsatz berücksichtigt. Ich halte nichts von Leuten, die mich nur mögen, wenn sie einen Nutzen darin sehen. Ich habe mich nie verbogen, um anderen zu gefallen und ich werde hier ganz bestimmt nicht damit anfangen. Außerdem brauche ich dringend ein bisschen Ruhe, um mich für den Nachmittag vorzubereiten. Curriculum-Reform hin oder her, das Programm an der Auden Hill ist gnadenlos und ich habe in ein paar Foren im Internet gelesen, dass man sofort zurückfällt, wenn man nicht von Anfang an voll dabei ist.

Glücklicherweise gibt es am Unigelände aber genug Natur, um ein bisschen durchzuatmen. Es ist keine bewusste Entscheidung, doch auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen finde ich mich schließlich am Seeufer wieder. Trotz seiner traurigen Geschichte scheint Lake Solace eine beinahe magnetische Anziehung auf mich auszuüben. Ich habe Wasser schon als Kind gemocht und in dieser überwältigenden neuen Welt ist das leise Plätschern der Wellen am Ufer wie eine Wohltat für mein Gehirn. Ich fühle mich wie ein Glückskind, als ich eine freie Sitzbank mit Sicht auf das Ufer entdecke, doch noch bevor ich mich setzen kann, fällt mein Blick auf ein blaues Etwas auf der Bank. Es ist ein Buch – ein taubenblauer Ledereinband mit goldener Prägung. Robert Frost: Naturgedichte steht in goldenen Lettern auf dem Cover geschrieben. Mein Herz macht einen kleinen Sprung: Frost ist mein Lieblingsdichter und ich habe selten so eine hübsche Ausgabe gesehen. Es sieht nicht aus wie ein Schulbuch, sondern eher wie etwas, das man mit sehr viel Geld für eine Sammlung kauft. Die Art von Buch, die sich Leute ins Regal stellen, wenn sie ihre Gäste beeindrucken wollen. Etwas, das ich nur zu gern in meinem Schrank hätte. Rasch nehme ich einen Bissen von meinem Sandwich und greife nach dem Buch. Das Leder ist alt und abgegriffen; es fühlt sich ein bisschen speckig an, aber ich kann nicht leugnen, dass es gut in meiner Hand liegt. Ich war mein ganzes Leben lang der Annahme, dass mir Luxus egal sei, doch ich kann nicht leugnen, dass diesem Gegenstand ein Zauber innewohnt. Vorsichtig schlage ich die Seiten auf, achtsam, keine Hummusflecken darauf zu hinterlassen. Das Papier ist dick zwischen meinen Fingern und die gebrochene Druckschrift sieht edel aus. Andächtig streiche ich über die Seite.

»Nimmst du dir immer Dinge, die dir nicht gehören?«

Ich reiße den Kopf so schnell nach oben, dass ein Muskel in meinem Nacken knackst. Im selben Moment schiebt sich eine dunkle Gestalt vor die Sonne. Er ist mindestens ein Meter neunzig groß, aber vielleicht kommt er mir nur so riesig vor, weil ich sitze. Irritiert klappe ich das Buch zu. »Wie bitte?«

»Du hast mich schon verstanden«, erwidert der Fremde. »Oder habe ich mich undeutlich ausgedrückt?«

Ich kneife die Augen zusammen. Er hat messerscharfe Wangenknochen und stechend jadegrüne Augen. Seine Haare sind so dunkelbraun, dass sie im ersten Moment fast schwarz aussehen und seinem Teint nach zu schließen, verbringt er nicht viel Zeit unter freiem Himmel. Alles in allem ist er das totale Gegenteil der Jocks, die ich aus meiner alten Schule kenne. Er sieht viel eher aus, als würde seine Familie mindestens ein Boot besitzen. Und Landhäuser. Viele Landhäuser. Kann allerdings nicht behaupten, dass mich das beeindruckt. Noch bevor ich an die Universität gekommen bin, habe ich vor mir selbst ein Versprechen abgelegt: Hände weg von gut aussehenden reichen Typen. Denn ein Blick reicht aus, um zu wissen, dass Kerle wie er nur Ärger für Mädchen wie mich bedeuten.

»Sorry. Ist das deins?« Ich reiche ihm das Buch und er zieht es mir aus den Fingern, als hätte ich es durch meine bloße Gegenwart beschmutzt. »Gern geschehen«, schnaube ich, doch entweder ist er nicht in der Lage, Sarkasmus zu verstehen, oder es interessiert ihn schlicht und ergreifend nicht, was ich zu sagen habe. Eine Flamme züngelt in meiner Brust. »Wenn du nicht willst, dass Leute deine Bücher anfassen, solltest du sie nicht einfach so herumliegen lassen, nur ein gut gemeinter Rat für die Zukunft.«

Seine dunklen Brauen zucken. »Wie bitte?«

Herausfordernd sehe ich ihn an. »Du hast mich schon verstanden.«

Sein Blick ist kühl, aber beherrscht. »Da du offenbar eine Frosh bist, werde ich noch einmal Nachsicht mit dir haben, aber vielleicht solltest du es dir lieber aufschreiben, denn ich sage dir das nur einmal. Wenn du hier einen freien Platz siehst, auf dem etwas liegt – ein Buch, ein Block oder ein Rucksack, – dann rate mal, was das bedeutet.«

Ein Herzschlag verstreicht und ich realisiere, dass er ernsthaft eine Antwort erwartet. Was zur Hölle ist eigentlich sein Problem? Ich verschränke die Arme vor der Brust und funkle ihm entgegen. »Was bedeutet es denn?«

»Es bedeutet, dass du dich an einem Ort befindest, an dem du nichts zu suchen hast.«

Ich sehe ihn an und warte darauf, dass er seine geschwungenen Lippen zu einem Grinsen verzieht, denn ich bin mir sicher, dass er diesen Mist nicht ernst gemeint haben kann. Hat er aber. Und beobachtet mich weiterhin mit Argusaugen.

Ich presse die Lippen zusammen. »Ich sehe nicht, dass dein Name auf der Bank steht, und soweit ich weiß, hab ich genauso viel Recht darauf, hier zu sein, wie du.«

Er lacht, aber es ist ein kaltes, gehässiges Geräusch. »Denkst du das …?«, erwidert er schließlich kühl. »Dann bekommst du jetzt deine erste Lektion an der Auden Hill umsonst: Denken ist nicht wissen.« Er beugt sich hinab und kneift die Augen zusammen. Einen Moment lang denke ich, er will meinen Namen von der rot-weißen Ansteckplakette an meinem Sweater lesen, die wir alle vor der Einweisung bekommen haben. Doch er stößt nur ein Schnauben aus und lehnt sich wieder zurück. »War ja klar.«

Für ihn ist es das vielleicht, aber ich habe keinen blassen Schimmer, wovon dieser Kerl spricht. »Was?«, brumme ich und sehe auf die Plakette hinab. Für den Bruchteil eines Herzschlags befürchte ich, dass ich mich selbst mit Hummus bekleckert habe, aber mein Sweater und das Namensschild sind noch immer makellos.

»Ruth-Matthewson-Stipendium, was?« Er spricht die Worte aus, als würden sie nach Essig schmecken, doch seine Lippen verziehen sich langsam zu einem unterkühlten Schmunzeln. »Na dann.«

»Na dann?« Ich erhebe mich, nicht weil ich ihm die verfluchte Bank freiräumen will, sondern weil es mir nicht gefällt, wie er mich überragt, als wäre seine Körpergröße bloß ein weiterer Beweis für seine Überlegenheit. Auch im Stehen ist er deutlich größer als ich und ich verlagere mein Gewicht auf die Zehenspitzen, damit ich besser in seine Augen sehen kann. Es ist eine seltene Farbe, irgendwo zwischen grau und grün, wie ein See am Morgen nach einer Sturmnacht. »Hast du irgendein Problem mit mir?«

»Mit einer Matthewson?« Er rollt mit den Augen. Irgendetwas scheint ihn sehr zu amüsieren und ich kann nicht behaupten, dass mir das gefällt. »Ich sehe, woher dein Irrtum stammt, aber du und ich …« Er deutet zuerst auf meine Brust, dann auf seine. Neben seinem fein gewebten Sweater wird mir der leicht kratzige Stoff meines Polyestergemischs deutlicher bewusst, als mir lieb ist. Für die Dauer eines Herzschlags hält er meinen Blick, dann zucken seine Mundwinkel. »Wir sind nicht ebenbürtig.«

Ein Frösteln jagt über meine Wirbelsäule hinab in meine Glieder und endet in meinen Fingerspitzen. Meine Vernunft kämpft mit meinen Sinnen, denn während meine Ohren sich sicher sind, dass ich ihn richtig verstanden habe, kann mein Verstand nicht konzeptionieren, dass ein Mensch so etwas zu einer Fremden sagt, und das ohne jegliche Provokation.

»Das hoffe ich«, zische ich und schnappe meinen Rucksack. »Viel Spaß mit deiner morschen Bank, ich hoffe, dich trifft der Schlag darauf.« Gut, der letzte Teil war vielleicht ein bisschen fieser als nötig gewesen, aber er hat es nicht anders verdient. Ich werfe mir den Rucksack über die Schultern und stapfe über den schmalen Uferpfad zurück zu den Haupthäusern. So viel zu meiner Mittagspause. Obwohl mir der Appetit vergangen ist, verschlinge ich die Reste meines Sandwichs, aber der Hummus schmeckt nur noch nach nasser Pappe. Was für ein Glück, dass diese Universität um die fünfzehntausend Studierende hat. Wenn ich mich von seiner dämlichen Bank fernhalte, muss ich diesen Arsch also nie wiedersehen.

Kapitel 2

Als wir aus den Einführungsveranstaltungen entlassen werden, steht die Sonne bereits tief am Horizont. Obwohl es bloß der erste Tag in einer Woche voller Freshman-Aktivitäten war, raucht mein Kopf schon jetzt. Der Unterricht hat noch nicht einmal begonnen, aber während ich meine akademischen Herausforderungen schon mein ganzes Leben lang mit Bravour gemeistert habe, sieht es mit meinen sozialen Challenges ein bisschen anders aus. Selbst beim Abendessen in der Mensa konnte ich meinen neugierigen Kommilitonen nicht entkommen und wenn ich im Laufe des Abends noch einmal drei Funfacts über mich erzählen soll, werde ich vermutlich leider schreien.

Glücklicherweise bin ich die Erste in meinem Schlafsaal in Matthewson House. Zweiter Stock, Zimmer Nummer 028. Es stehen zwei Betten in dem ordentlichen, aber etwas unpersönlichen Raum, doch meine Mitbewohnerin ist noch nicht eingetroffen. Erleichtert werfe ich meinen Rucksack vor das Bett, das an der rechten Seite unter dem Fenster steht, und lasse mich auf die weiß-blau gestreiften Laken fallen. Normalerweise ist es üblich, dass die Studierenden ihre Bettbezüge selbst mitbringen, aber einer der Vorteile des Ruth-Matthewson-Stipendiums ist, dass uns voll bezugsfähige Zimmer zur Verfügung stehen. Wahrscheinlich sehen manche Leute wie dieser blasierte Mistkerl am See deshalb auf uns hinab, aber wenn es bedeutet, dass ich keine Taschen voller Kissen und Bettdecken auf den Campus schleppen muss, soll mir das recht sein.

Außerdem ist das Zimmer wirklich nicht übel. Fast doppelt so groß wie mein altes Kinderzimmer, in dem ich zu Hause in Pennsylvania gewohnt habe. Die Einrichtung ist allerdings bei Weitem nicht so elegant wie der Rest der Uni. In Matthewson House gibt es Ikea-Möbel statt Antiquitäten, aber wer auch immer für die Ausstattung verantwortlich war, hat sich dennoch Mühe gegeben. Wir alle haben je ein Bett, einen Schreibtisch und einen Schrank. An den Wänden hängen gerahmte Fotos der geschichtsträchtigen Hauptgebäude und zwischen meinem und dem anderen Bett steht ein niedriges Regal, in dem ich und meine Mitbewohnerin unsere Bücher und Ordner verstauen können. Bis jetzt ist zwar alles noch ziemlich leer und unpersönlich, aber ich zweifle nicht daran, dass wir die Fächer in den nächsten Monaten mit Leben füllen werden.

Ich fange auch direkt damit an. Besonders viele Habseligkeiten habe ich nicht mitgebracht, denn ich habe versucht, mich an die Gewichtsbegrenzungen meines Billigfliegers zu halten. Trotzdem habe ich mir ein paar Erinnerungen aus meinem Zuhause mitgenommen: ein Foto von mir und meiner Mom, meinen Teddybären, den ich schon seit meiner Kindheit besitze, und einen kleinen Porzellanelefanten, den ich von meiner Tante Harper bekommen habe. Ich hätte gern eine Pflanze, um das Zimmer ein wenig lebendiger zu machen, aber die Monstera, die daheim auf meinem Bücherregal steht, konnte mich natürlich nicht auf den Campus begleiten. Da man sich in den Läden hier aber so gut wie alles kaufen kann, werde ich vermutlich fündig werden. Oder ich gehe einfach nach draußen und pflücke ein paar Blumen von den Hecken. Das habe ich zu Hause auch immer gemacht. Als ich ein kleines Mädchen war, habe ich mit meiner Mom im Herbst oft bunte Blätter von den Bäumen gesammelt. Vielleicht finde ich draußen ein paar besonders hübsche Exemplare und kann sie in meinen Schulbüchern pressen, damit ich irgendwann ein Andenken an meine Studienzeit habe. Aber bevor ich an Dekorationen denken kann, sollte ich lieber erst mal sauber machen. Obwohl das Zimmer eigentlich ordentlich wirkt, kitzelt es bereits nach wenigen Minuten in meiner Nase und nach einer genaueren Inspektion kann ich auf den meisten Oberflächen eine feine Staubschicht entdecken. Ich will nicht, dass meine Mitbewohnerin mich von Anfang an für penibel hält, aber meine Hausstauballergie wird mir das Leben schwer machen, wenn ich nicht darauf achte, das Zimmer sauber zu halten.

In einer kleinen Kammer im Flur finde ich einen etwas in die Jahre gekommenen Swiffer und ein paar Staubtücher. Ich schleppe meinen Fund zurück ins Zimmer und mache mich an die Arbeit. Manchmal kann es lästig sein, immer alles staubfrei zu halten, aber irgendwie beruhigt es mich auch, Ordnung zu schaffen. Als würde ich den Raum Stück für Stück kennenlernen und ihn zu meinem Zuhause machen. Ich packe meinen Laptop aus, mache Musik an und arbeite mich durch den Raum vor. Auf dem Schreibtisch platziere ich meine Blöcke und Stifte in einem hübschen, kupfernen Stifthalter und stelle den Elefanten meiner Tante auf. Im Bad verstaue ich meine Zahnbürste und meine Kosmetiktasche in dem Medizinschrank über dem Spülbecken. Dann kehre ich ins Zimmer zurück, wische um das Bett und platziere gerade das Foto von Tante Harper, meiner Mom und mir auf den Beistelltisch, als die dumpfe Vibration meines Handys erklingt. Ich ziehe es aus der Seitentasche meines Rucksacks und werfe einen Blick auf das Display. Home. Ein kurzer Stich bohrt sich durch meine Brust und ich atme tief ein, ehe ich den Anruf entgegennehme. »Hey, Mom.«

»Ivy!« Die vertraute Stimme meiner Mutter dringt aus dem Hörer und mit einem Mal trifft mich das Heimweh wie ein Schlag in die Magengrube. Ich bin noch nie so lange von zu Hause weg gewesen. Ein beengendes Gefühl kriecht meine Kehle hinauf und ich zwinge mich, es abzuschütteln. »Bist du gut angekommen?«, fragt meine Mom am anderen Ende der Leitung. »Wie gefällt dir der Campus? Ist es so, wie du es dir vorgestellt hast?«

Die Fragen überrollen mich wie eine Welle und als würde mir das Putzen dabei helfen, einen klaren Kopf zu bekommen, greife ich mit der freien Hand nach meinem Swiffer und mache mich über den Schrank her. »Ja, ich war pünktlich in der Früh hier und habe meine Sachen an meiner Unterkunft abgegeben. Dann hatten wir erst einmal eine Einführung und jetzt bin ich in meinem Zimmer.« Ich fahre mit dem Staublappen über die leeren Regalböden. »Es ist schön. Wirklich schön.« Das ist keine Lüge. Das Universitätsgelände ist prächtig und ich fühle mich, als wäre ich in einem Film gelandet – oder durch die Zeit zurückgereist. Doch wie eine Rose hat auch die Auden Hill University Dornen – ich konnte sie in Oliver Rhodes Seitenhieben hören, in den Bemerkungen der Jungs über Delilah Blake und das Phantom im See. Einen Moment lang überlege ich, ob ich meiner Mutter davon erzählen soll, aber entscheide mich schließlich dagegen. Vielleicht will ich nicht, dass sie sich um mich sorgt. Vielleicht will ich nicht, dass sie denkt, ich wäre am falschen Ort gelandet. Ich weiß, dass sie Opfer gebracht hat, damit ich hier studieren kann. Stipendium oder nicht, es ist nicht einfach für eine alleinerziehende Mutter, eine Tochter zu fördern, die von den besten Universitäten der Welt träumt. »Es ist toll. Das Zimmer ist wirklich groß und schön.«

»Das freut mich.« In ihrer Stimme liegt eine Mischung aus Erleichterung und Sehnsucht, aus Aufregung und Wehmut. »Hast du deine Mitbewohnerin schon kennengelernt?«

»Nein, ich habe …« Als würde mir mein Bewusstsein einen gemeinen Scherz spielen, taucht ausgerechnet sein arrogantes Gesicht vor meinem inneren Auge auf.

Wir sind nicht ebenbürtig.

Ich schüttle die Erinnerung ab, wie eine Katze, die den Morgentau aus ihrem Fell beutelt. Wahrscheinlich würde es ihm gefallen, zu wissen, dass er mir unter die Haut gegangen ist, aber diese Befriedigung werde ich ihm nicht gönnen. »Ich habe heute Morgen bei der Campusführung ein paar Stipendiaten kennengelernt, aber ich weiß noch nicht, wie viel ich mit ihnen zu tun haben werde.« Ich lasse von dem inzwischen staubfreien Schrank ab und wende mich dem Schreibtisch zu. »Aber ich habe ein Mädchen getroffen, das mir sehr sympathisch war. Ihr Name ist Gigi.«

»Oh wie schön! Du musst mir unbedingt schreiben, wenn du deine Mitbewohnerin kennengelernt hast. Und hattest du schon Zeit, dich bei der Studentenzeitung vorzustellen?«

In meiner Highschool habe ich mir als Redakteurin in unserer Schülerzeitschrift Extra Credits verdient. Es ist seltsam, etwas zurückzulassen, das so lange Teil meines Lebens war und ich hoffe, dass ich am Campus die Gelegenheit bekomme, wieder Artikel zu schreiben. »Nein, hatte noch gar keine Zeit dazu. Aber ich habe schon recherchiert und ich werde versuchen, im Laufe der Woche bei dem Tribune vorzusprechen, so heißt die Zeitung hier.«

»Ich drücke dir die Daumen, Schatz. Wenn du ihnen deine Referenzen zeigst, werden sie dir bestimmt eine Chance geben.«

Ich weiß den Optimismus meiner Mutter zu schätzen, aber während ich an meiner Highschool tatsächlich etwas Besonderes war, ist die Auden Hill University voll mit hochbegabten, intelligenten Menschen. Hier muss ich ein wenig mehr als Talent mitbringen, um aus der Menge hervorzustechen. »Das hoffe ich.« Mir fallen die Bilderrahmen ins Auge und ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um die oberen Kanten sauber zu wischen. Hier ist der Staub ganz besonders dick. Wahrscheinlich hat dort seit Jahren niemand mehr geputzt. Deshalb bevorzuge ich Poster.

»Mom, glaubst du, ich darf hier meine eigenen Poster aufhängen?«

»Ich denke, wenn du Klebestreifen benutzt, sollte das in Ordnung sein, aber frag lieber vorher deinen RA.« Die RAs – Resident Advisors – sind ältere Studierende, die für die Koordination der Studierenden und das Zusammenleben in den Unterkünften zuständig sind.

»Gute Idee. Wenn ich grünes Licht kriege, könntest du mir das Poster von Florence and the Machine schicken? Es hängt an meiner Tü…«

Alles passiert so schnell, dass ich nicht einmal richtig verstehe, was ich falsch gemacht habe. Gerade war ich noch dabei, die Kanten des schwarzen Bilderrahmens zu putzen und im nächsten Moment rutscht das gerahmte Foto einer Ruder-Regatta vom Nagel. Ich lasse den Swiffer fallen und versuche, das Bild zu erwischen, aber es ist zu spät. Das Glas gleitet durch meine Finger und zerspringt auf dem Parkett. Perplex starre ich auf das Scherbenmeer.

»O mein Gott, Schatz, was war denn das? Hast du dir wehgetan?«

Mein Magen zieht sich zusammen und ich starre auf die Scherben. »Nein …« stammle ich. »Nein, es ist nicht …«

Scheiße.

Doch nicht direkt am ersten Tag. »Mir ist nur etwas runtergefallen.«

»Alles in Ordnung?« Meine Mom klingt besorgt.

»Klar.« Ich überspiele das mulmige Gefühl. »Aber ich muss das schnell wegmachen. Ich melde mich später wieder, okay?«

»Natürlich, Liebes. Viel Glück mit der Zeitung! Ich hab dich lieb.«

»Danke, Mom. Hab dich auch lieb.« Auch nachdem sie aufgelegt hat, hallt ihre Stimme noch einen Moment lang in meinem Kopf wider. Ich lege das Handy auf den Schreibtisch und zwinge mich, tief Luft zu holen.

Es ist nur ein Bild. Nur ein verdammtes Bild. Komm mal wieder runter, Ivy. Wahrscheinlich hat der Rahmen fünf Dollar gekostet und im Keller steht eine ganze Kiste davon.

Die Gedanken wehen durch mein Bewusstsein, während ich mich im Zimmer umsehe. Ich finde keinen Besen, aber immerhin habe ich meinen Swiffer und einen Papierkorb. Die Splitter knirschen unter meinen Sohlen, als ich diesen unter dem Schreibtisch hervorziehe. Zum Glück habe ich meine Stiefel noch nicht ausgezogen. Ich kippe den Eimer waagrecht auf den Boden, halte ihn mit einer Hand fest und versuche, die Scherben in die Öffnung zu kehren. Niemand wird mich wegen eines verdammten Bilderrahmens hinauswerfen, objektiv ist mir das bewusst, aber ein Teil von mir … ein Teil von mir fühlt sich, als könnte ich direkt wieder meine Koffer packen.

Beruhig dich wieder.

Nachdem das Schlimmste beseitigt ist, greife ich nach dem Foto. Blätter rutschen durch meine Finger und sofort zieht sich mein Herz zusammen. Erst auf dem zweiten Blick erkenne ich, dass ich die Aufnahme nicht beschädigt habe. Aber es scheint mehr als ein Foto zu sein. Viel eher ein schmaler Stapel mit … nein, keine Bilder … Briefe. Mit einem Schlag sind die Scherben vergessen und ich falte das Papier auseinander.

Liebste Eurydike, …

Ich starre auf die Zeilen. Es ist eine makellose Handschrift mit ineinanderfließenden, geschwungenen Lettern, jeder davon exakt in der gleichen Höhe und im gleichen Winkel. Schreibschrift wird in Nordamerika nur selten genutzt und abgesehen von computergenerierten Fonts habe ich selten zuvor ein so faszinierendes Schriftbild gesehen.

Aus dem Gang ertönen Schritte. Hastig packe ich das Foto, die Überreste des Rahmens und die Briefe und stecke sie kurzerhand in die unterste Schublade meines Nachtkästchens. Dann eile ich zurück zum Papierkorb, schnappe ihn und schiebe ihn unter den Schreibtisch zurück. In der Sekunde, in der ich mich aufrichte, öffnet sich die Tür.

»Ich glaubs ja nicht. Ivy League!«

Rasch schiebe ich den Papierkorb mit dem Fuß ein Stück weiter nach hinten und sehe verdutzt auf. Ich kenne diese Stimme. »Gigi?«

»Du bist meine Mitbewohnerin? Wie genial ist das denn?« Offenbar hat Gigi nicht vor, das Angebot von Matthewson House in Anspruch zu nehmen, denn sie schleppt nicht nur einen riesigen Koffer, sondern auch eine übergroße Tasche mit sich, aus der ein flauschiges Kissen herausguckt. Außerdem trägt sie einen massiven Rucksack, so wie man ihn zum Hiken verwendet, und eine Kameratasche, die sie um den Hals geschlungen hat. Ich eile zu Tür und nehme ihr die Bettwäsche ab. Aus den Augenwinkeln spähe ich zu dem Platz, an dem das Bild der Rudermannschaft hängen sollte. Glücklicherweise sieht man keinen Abdruck. Zwar scheint mir Gigi nicht unbedingt die Art von Mensch zu sein, die an einem fehlenden Bilderrahmen Anstoß nehmen würde, aber ich möchte nicht, dass ihr erster – oder zweiter – Eindruck von mir der einer Deko-demolierenden Mitbewohnerin ist.

»Das ist ja …«, stammle ich ein wenig perplex und sehe dann auf. »Warte, wie hast du mich genannt?«

Gigi grinst breit und sieht sich im Zimmer um. Sie entdeckt meine Sachen auf dem Bett und zerrt ihren Koffer daraufhin zu dem freien Schlafplatz. »Ivy League«, wiederholt sie den Spitznamen stolz. »Hab ich mir ausgedacht. Ich meine, dein Name ist Ivy und du bist auf einer Ivy League Uni, verstehst du? Also Ivy League. Gefällts dir?«

Überrumpelt muss ich grinsen. »Ja.« Ich versuche, die Gedanken an die seltsamen Briefe in meinem Nachtkästchen zu verdrängen. Ich stelle ihr Bettzeug an ihrem Bettende ab. »Finde ich gut. Ich hatte noch nie einen Spitznamen, mein Name lässt sich nicht besonders gut abkürzen. Aber sags besser nicht zu laut vor den anderen.«

Gigi hebt ihre scharf gezupften Brauen. Einen Moment lang kann ich nicht anders, als sie anzustarren und ihre Make-up-Künste zu bewundern. Ihr Lidschatten ist perfekt geblendet und ihr Eyeliner so präzise, als hätte man ihn mit dem Lineal gezogen. Bislang habe ich eigentlich angenommen, dass es so etwas nur auf bearbeiteten Bildern auf Instagram gibt. »Wieso?«, reißt sie mich aus meiner Trance.

»Ach, nichts.«

Gigi gibt sich mit meiner Antwort nicht zufrieden. »Nein, schieß los. Hat jemand was zu dir gesagt?«

Ich kehre zu meinem eigenen Bett zurück und lasse mich darauf fallen. Man sollte annehmen, dass die Bezüge in solchen Einrichtungen gammelig stinken und voller Bettwanzen sind, aber mir schlägt ein angenehmer Geruch von frisch gewaschener Baumwolle mit einem Hauch Lavendel-Weichspüler entgegen. »Na ja, ich nehme an, du hast schon bemerkt, wie diese Leute hier teilweise sein können, oder?«

»Ach, meinst du Blondie von der Einführung?« Sie schnaubt. »Lass dir doch von dem nichts einreden.«

Ich schüttle den Kopf. »Nein. Ich meine … ja, der auch. Aber ich habe in der Mittagspause einen unverzeihlichen Fauxpas begangen und mich auf eine Bank gesetzt, ohne zu wissen, dass so ein blasierter Gockel diese offenbar schon für sich beansprucht hatte.«

Gigi nickt mit gespieltem Ernst. »Das ist wirklich tragisch. Wie konntest du nur?«

»Nicht wahr?« Ich seufze und strecke die Arme über den Kopf. »Er war richtig garstig. Hat gesagt, wir wären einander nicht ebenbürtig oder so einen Mist. Und zwar direkt, nachdem er das hier gesehen hat.« Ich tippe auf meine Namensplakette. Eigentlich kann ich das verdammte Ding auch langsam abnehmen. Unglücklicherweise hat der Pin ein kleines Loch in meinem Sweater hinterlassen. Ich reibe mit dem Daumen und dem Zeigefinger darüber, in der Hoffnung, dass die Fasern sich wieder schließen.

»Oooh«, seufzt Gigi. »Verstehe. Einer von der Sorte.«

Ich drehe mich zu ihr. »Ist dir auch so einer begegnet?«

Sie schüttelt den Kopf. »Noch nicht, aber ich glaube, das liegt daran, dass wir heute unter uns waren. Hab schon mehrere Horrorgeschichten darüber gehört, dass einige Leute hier nicht wirklich … na ja, nicht wirklich scharf auf diese Stipendiums-Sache sind.«

Das verwundert mich weniger. »Wegen Delilah Blake?«

Gigi zuckt mit den Schultern. »Vermutlich auch. Aber ich glaube, das war einfach nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Ich meine, irgendwie hat es sie doch in ihren Vorurteilen bestätigt, nicht wahr? Ein Mädchen ohne Rang und Namen, das trotzdem für dieses Stipendium ausgewählt wurde. So was erinnert diese Snobs doch nur daran, dass sie es nie durch Leistung allein durch diese Tore schaffen würden. Und nun heißt es eben, sie hätte es nicht gepackt. Sie wäre nicht wie sie gewesen. Sie hätte nicht hierhergehört. Darum denken sie sich so einen Unsinn wie diese Geschichte mit dem Phantom aus.«

Ich verziehe das Gesicht. »Glauben die wirklich, dass in dem See ein Geist wohnt?«

Gigi zuckt mit den Schultern. »Das wage ich zu bezweifeln. Aber wenn Journalismus dein Ding ist, dann weißt du doch bestimmt selbst, wie schnell sich solche Sachen selbstständig machen.«

Ich nicke. »Das ist doch furchtbar. An meiner Highschool hätte mich so was nicht gewundert, aber das hier ist die Auden Hill. Ich dachte, hier herrscht ein anderer Ton.«

Gigi schnaubt. »Offiziell vielleicht. Aber was denkst du, was Leute wie dieser Rhodes über Delilah sagen, wenn sie unter sich sind?«

»Ich nehme an, sie sind wütend, dass sie der Universität negative Presse gebracht hat?«

»Ja. Und dass man Leute wie uns gar nicht erst reinlassen sollte, falls es wieder passiert. Dieser Kommentar über die Exmatrikulation? Echt zum Kotzen. Dabei hat der seinen Studienplatz ja auch nur, weil sein Daddy im Energiebusiness ist. Einer von denen, die Ölpipelines quer durchs Land legen. Hab ich zumindest gehört.«

»Hmm.« Ich sehe zu ihr. »Aber ich meine … Geld allein ist auch nicht genug, oder? Immerhin ist das die Auden Hill.« Es ist mir selbst bewusst, wie ich diese Worte ausspreche. Auden Hill. Als wäre diese Institution ein Heiligtum. Ich befürchte, dass Gigi mich für realitätsfern hält, aber wenn dem so ist, dann lässt sie sich nichts anmerken. »Ich meine bloß … Hier kann man sich keinen Abschluss erkaufen.«

»Stimmt schon«, räumt sie mit einem Schulterzucken ein. »Den Abschluss nicht, aber den Zugang auf jeden Fall. Ich meine, die Leute hier haben was drauf, aber es ist trotzdem viel leichter für sie gewesen, als es für uns je sein wird. Die meisten Familien gehen seit Generationen auf die Auden Hill. Die besuchen die besten Schulen, bekommen Tutoren und werden ihr ganzes Leben lang darauf abgerichtet, eines Tages hier den Abschluss zu machen und ihren Familiennamen in die Welt hinauszutragen. Unsereins? Ich weiß ja nicht, wie das bei dir ist, aber meine Eltern waren ganz bestimmt nicht so.«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, nicht direkt.« Obwohl meine Mutter alles für meine Ausbildung tun würde, könnte sie mich niemals auf die Art unterstützen, wie es die Eltern dieser Leute tun. Natürlich würde ich das auch nie verlangen. Im Gegenteil, ich fühle mich manchmal sogar schuldig wegen all dem, das sie für mich getan hat. Ich schüttle den Kopf und Gigi grinst.

»Siehst du? Er hatte eben doch recht.« Ihre Augen leuchten. »Ihr seid einander nicht ebenbürtig. Deshalb hat er solche Angst vor dir. Er weiß, dass du besser bist. Er weiß, dass du etwas aus eigener Kraft geschafft hast, das er nie schaffen könnte.« Sie zuckt mit den Schultern. »Lass ihn reden. Er kann dich hier nicht vertreiben. Du gehörst genauso hierher wie er. Vielleicht sogar mehr.«

Ich lasse ihre Worte in meinem Kopf nachhallen und muss schmunzeln. Das Glück war bei der Wahl meiner Mitbewohnerin wirklich auf meiner Seite. Vielleicht sollte ich ihr von dem Bild erzählen, aber wahrscheinlich reicht es für den Anfang aus, dass ich ihr vom Vorfall am See berichtet habe, und im Endeffekt ist das viel wichtiger als ein zerbrochener Fotorahmen. Wenn meine Erfahrung mit dem Kerl auch nur im Geringsten repräsentativ für den Großteil der Studentenschaft an der Auden Hill war, dann müssen Gigi und ich in den kommenden Monaten zusammenhalten.

»Hey, sag mal«, wechselt Gigi das Thema. »Bist du bei Professor Bishop? Ich hab nämlich gesehen, dass der schon vor der ersten Stunde eine Aufgabe online gestellt hat und …«

Ich krame meinen Stundenplan hervor und vergleiche meine Unterlagen mit Gigis. Die Gespräche mit ihr sind angenehm und das beklemmende Gefühl in meiner Kehle schwindet nach und nach. Als der Abend zu Ende geht, habe ich die Briefe unter meinem Bett beinahe vergessen.

Kapitel 3

Die Frosh Week sind die anstrengendsten fünf Tage meines Lebens – und das, obwohl ich einen makellosen GPA von 4.0 hatte und bei den SATs die perfekte Punkteanzahl von 1600 um bloß fünfzig mickrige Pünktchen verpasst habe. Ich weiß, wie man lernt: Angefangen von Karteikarten bis hin zur Pomodoro-Technik habe ich alles getestet. Ich verstehe, wie man Vokabeln auswendig lernt, Problemstellungen in Angriff nimmt und Bücher annotiert.

In meiner ersten Uniwoche ist nichts davon gefragt. Im Gegenteil, ich habe kaum Zeit, über irgendetwas nachzudenken, geschweige denn, mir die Briefe in meinem Nachtkästchen genauer anzusehen. Unsere Stipendienberater jagen uns Neulinge gnadenlos über den Campus und Tag für Tag zeigt mein Handy schon vor dem Mittagessen zehntausend Schritte an. Jetzt, wo ich auf die Unterschiede zwischen uns und den restlichen Studierenden achte, bemerke ich die unterschwelligen Bemerkungen und die unausgesprochenen Warnungen, die in den Vorstellungsreden mitschwingen. Wir sind nicht wie sie und für uns gelten andere Regeln. Oder wohl eher: Für uns gelten Regeln, Punkt. Wir haben keine Eltern, die unsere Köpfe aus der Schlinge ziehen können. Wir haben keine Familiennamen, die uns schützen. Wir repräsentieren das Ruth-Matthewson-Stipendium und nachdem sich die Organisation bereits einen Fehltritt geleistet hat, gibt es keine zweiten Chancen für Stipendiaten, die gegen die Regeln verstoßen.

»Wenn ich mir noch einen Vortrag über akademische Integrität anhören muss, bekomme ich einen Schreikrampf.« Gigi streckt die Arme über den Kopf und gähnt demonstrativ, während wir über das Gelände der Auden Hill Societies Fair wandern. Die Messe findet auf dem Footballplatz statt und besteht aus unzähligen kleinen Tischen und Ständen, an denen sich die Clubs und Vereinigungen der Universität vorstellen. Davon gibt es jede Menge: K-Pop Dance, Bogenschießen, Pen and Paper Rollenspiele und sogar eine Vereinigung für Netflix-Serienfans. Ich war mir nicht einmal bewusst, wie viele Hobbys man haben kann. Allerdings steht in allen Leitlinien, dass eine Anmeldung in Clubs wärmstens empfohlen wird. Ich habe mich bereits für den Feminist Bookclub eingetragen, während sich Gigi bei den Horrorfilmfans angemeldet hat.

»Was hältst du von Backen?«, fragt meine Mitbewohnerin und deutet auf einen Stand, an dem Mini-Cupcakes verkostet werden. »Die sehen nach meinem Geschmack aus.«

»Ich weiß nicht. Ich bin wirklich nicht die beste Bäckerin.«

Gigi lacht. »Wieso das? Backen ist easy. Man muss doch nur den Anweisungen folgen.«

»Genau das ist mein Problem.« Ich grinse, aber lasse mich zu dem Stand ziehen, an dem es wunderbar nach Schokolade und Zimt duftet. »Ich muss jedes Mal improvisieren. Manchmal klappt es auch, aber meistens kommt dabei nur ungenießbarer Matsch raus.«

Offenbar hat die blonde Studentin mit der Backclub-Schürze uns gehört, denn sie kommt direkt auf uns zugesteuert. »Oh, keine Sorge! Man muss nicht backen können, um bei uns mitzumachen. Egal ob Anfänger oder Profi, bei uns ist jeder willkommen. Carrot-Cake-Cupcake?« Sie hält uns die kleinen, mit winzigen Fondant-Karotten verzierten Küchlein unter die Nase und Gigi und ich nehmen dankend an.

»Siehst du?«, raunt Gigi mir zu. »Das ist eindeutig der beste Club. Wo gibt es sonst Süßigkeiten umsonst?«

Ich beiße in den Cupcake und muss mir sofort ein bisschen Frosting von der Nase wischen. Der Teig ist saftig, voll mit leckeren Nüssen und fein geraspelten Karottenstücken. »Ich glaube, du hast recht«, flüstere ich ihr zu, als mir ein anderer Stand ins Auge fällt. »Kannst du mich auch anmelden? Ich bin gleich wieder da.«