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Eine junge Frau mit einer dunklen Vergangenheit. Ein Anwalt auf der Suche nach der Wahrheit und ein Cold-Case vor der traumhaften Kulisse Alaskas Eigentlich sollte es nur ein One-Night-Stand sein, doch als der junge Anwalt Finn Callahan in die geheimnisvolle Kleinstadt Echo Cove kommt, um seine Schwester bei ihrem Kampf gegen die Wilderei in Alaska zu unterstützen, trifft er ausgerechnet auf die Frau, die ihm in einer heißen Nacht den Kopf verdreht hat. Allerdings handelt es sich dabei um niemand anderen als die unnahbare Keira Hale, deren Schwester Ada vor zehn Jahren ermordet wurde. Keira will zunächst nichts von Finn wissen, doch als seine Arbeit im Wildtierschutzgebiet ein neues Licht auf Adas Fall wirft, müssen die beiden widerwillig zusammenarbeiten. Gemeinsam begibt sich das ungleiche Paar auf die Suche nach der Wahrheit und kommt sich dabei immer näher. Die Lösung scheint zum Greifen nah, doch gerade, als sich Keira, Finn, Brynn und Archer in falscher Sicherheit wiegen, schlägt der Täter erneut zu – und dieses Mal hat er Keira im Visier.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2025
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Redaktion: Michaela Retetzki
Korrektur: Manfred Sommer
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Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt
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Cover & Impressum
Widmung
Triggerwarnung
Playlist
1 Keira
THE LONELIEST
2 Finn
WELCOME TO THE NORTH
3 Keira
A CRUEL TWIST OF FATE
4 Keira
BAD DECISIONS
5 Finn
NOTHING LASTS FOREVER
6 Finn
BURIED IN THE PAST
7 Keira
SCARS
8 Keira
SHADOWS RISE
9 Keira
YOU’RE ON YOUR OWN
10 Keira
DEAL WITH THE DEVIL
11 Keira
RUNNING UP THAT HILL
12 Keira
CRACKS
13 Finn
LAY YOUR WEAPONS DOWN
14 Keira
ECHOES OF THE PAST
15 Finn
WHAT HURTS THE MOST
16 Keira
PARTNERS IN CRIME
17 Keira
COVER YOUR TRACKS
18 Keira
IN THE WOODS SOMEWHERE
19 Finn
ALL IS FAIR IN LOVE AND MARIO KART
20 Keira
GROWING SIDEWAYS
21 Keira
BETTER WITH YOU
22 Finn
HUNTER AND PREY
23 Keira
SHOOT TO KILL
24 Finn
HERE WITH ME
25 Keira
IN THE MORNING LIGHT
26 Keira
ECHO COVE SURVIVORS CLUB
27 Keira
THE MONSTER IN THE WOODS
28 Keira
WHISPERS IN THE NIGHT
29 Finn
TAKE AIM
30 Keira
A SPARK TO THE FLAME
31 Keira
FOR YOUR LOVE
32 Finn
DANCING IN THE DARK
33 Keira
WHEN THE PARTY’S OVER
34 Finn
AFTERSHOCKS
35 Keira
IN ANOTHER LIFE
36 Keira
SMILE FOR THE CAMERA
37 Keira
THE END OF THE ROAD
38 Keira
OPEN TIES
39 Finn
BREAKING AND ENTERING
40 Keira
NO REST FOR THE WICKED
41 Keira
CASTLES CRUMBLE
42 Keira
LETTING GO
43 Keira
NEW HORIZONS
44 Finn
NEW WORLD ORDER
45 Keira
FAREWELLS
46 Finn
WRONG TURN
47 Keira
THE DEVIL’S LAIR
48 Finn
BREAKING POINT
49 Keira
BLOOD SPORT
50 Finn
CALAMITY
51 Keira
THE BLOOD ON YOUR HANDS
52 Keira
FLICKERING LIGHTS
53 Keira
THE LAST ECHO
Epilog
Keira
SOMEWHERE I BELONG
EIN JAHR SPÄTER
Nachwort
Danksagung
Content Note
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für alle, die sich selbst wählen.
Liebe Lesende,
Dieses Buch beinhaltet Themen, die potenziell triggernd wirken können. Auf der letzten Seite findet ihr daher eine Auflistung, die jedoch erhebliche Spoiler für das gesamte Buch enthält. Ob ihr diese Warnung lesen möchtet, ist euch überlassen.
Wir wünschen euch ein bestmögliches Leseerlebnis und viel Spaß mit Kodiak Echoes: Trust Me!
Julia und das Everlove-Team
THE LONELIEST – Måneskin
bad decisions – Bad Omens
exile (feat. Bon Iver) – Taylor Swift
Growing Sideways – Noah Kahan
Something in the Orange – Zach Bryan
Distraction – Sleep Token
Sprained Ankle – Julien Baker
The Prophecy – Taylor Swift
The Night I Drove Alone – Citizen
Rivers and Roads – The Head And The Heart
Dancing In The Dark – Bruce Springsteen
Can’t Help Falling In Love – Kina Grannis
Sparklers – Rocky Votolato
Sextape – Deftones
FOR YOUR LOVE – Måneskin
When The Party’s Over – Sleep Token
Landfill – Daughter
Runaway – Aurora
Somewhere I Belong – Linkin Park
Ich kenne jetzt die Wahrheit, und ich wünschte, ich hätte sie nie erfahren. Liam hat sich noch immer nicht gemeldet, und ich habe ein schreckliches Gefühl. Vielleicht ist es eine furchtbare Idee, aber ich kann nicht länger warten.
Ich brauche Antworten.
Und ich werde sie mir holen.
Tagebucheintrag, Ada Hale, 25. August 2014
Solang er mich berührt, muss ich nicht denken.
Seine Finger in meinen Haaren. Seine Lippen auf meiner Haut.
Die rhythmische Bewegung seiner Hüfte, mit der er mich immer wieder nach oben stößt.
Meine Haare fallen wie ein goldener Vorhang in mein Gesicht und hüllen meine Welt in einen Schleier.
Es ist perfekt.
Ich will nicht denken, ich will nicht fühlen, ich will mich nicht erinnern.
Will mich nie mehr erinnern, aber die Gedanken kehren trotzdem immer wieder zurück.
Sie schmecken wie Schwefel, fühlen sich an wie das kalte Meerwasser in einer frischen Wunde.
Ich habe zehn Jahre gebraucht, um mich an das konstante Dröhnen in meiner Brust zu gewöhnen, um den Schmerz in mir zu zerstückeln und fein säuberlich in ordentliche Schubladen zu verstauen.
Und dann kommt Archer Flint mit seiner kleinen Freundin, und gemeinsam reißen sie alle Narben wieder auf.
Nehmen mir alles, was mich bei Verstand gehalten hat; meine Wut, meinen Ärger, mein Verständnis von Schuld und Gerechtigkeit.
Ich habe es geliebt, Liam Flint zu hassen. Es hat mich am Leben gehalten. Es war alles, woran ich mich festhalten konnte, die einzige Konstante in meinem Schmerz.
Jetzt darf ich nicht einmal mehr das.
Ich darf nicht mehr wütend sein.
Und anstelle von Antworten und Erklärungen sind in meiner Brust nur noch mehr Fragen, Fragen, Fragen, Fragen – egal wohin ich blicke, egal woran ich denke.
Archer hat seine Antwort.
Seinen Frieden.
In mir tobt der Krieg.
Und alles, was ich tun kann, um die Schreie in meinem Kopf für ein paar Stunden zum Schweigen zu bringen, ist, sie mit Alkohol und Sex zu betäuben.
Morgen werde ich dafür bezahlen.
Morgen wird alles viel schlimmer sein, aber das ist mir egal. Es ist der Preis, den ich für ein paar Stunden Ruhe bezahle.
Fordernd grabe ich die Fingernägel in seine Brust, bewege die Hüfte nach vorn und presse mich um ihn herum zusammen.
Er stöhnt.
Ich weiß nicht einmal, wie er heißt.
Will es auch gar nicht wissen.
Deshalb komme ich nach Kodiak. Ich will niemanden, der in meiner Nachbarschaft lebt und meine ganze Familiengeschichte kennt. Ich will einmal nicht Keira Hale sein, wenn auch nur für ein paar Stunden.
Es ist einfach.
Unkompliziert.
Ein paar Drinks in einer Bar, dann zusammen in sein Zimmer in einem Flughafenhotel.
Mehr will ich nicht.
Mehr brauche ich nicht.
»Verdammt …« Für sein hübsches Gesicht ist seine Stimme überraschend rau und tief. Er ist ein attraktiver Mann. Groß, schlank, aber mit fein definierten Muskeln und teuren Klamotten. Solche Typen trifft man hier selten an; Designeranzug statt Flanellhemd, Lederschuhe statt Arbeitsstiefel, glatt rasierte Wangen statt Dreitagebart. Die Art von Mann, die Hautpflegeprodukte im Bad stehen hat und statt einem Jeep einen Mercedes fährt.
Er gehört nicht hierher, und er wird nicht lange bleiben.
Doch für heute Nacht? Für heute Nacht ist er perfekt.
Ich lasse mich von seinen kräftigen Händen nach unten ziehen und streiche über seine Schultern, während er die Arme um meine Mitte schlingt und immer fester in mich stößt. Er weiß genau, was er tut – vermutlich ist das auch für ihn nicht das erste Mal, dass ein Treffen in einer Flughafenbar zu mehr führt.
Seine Bewegungen sind geübt; nicht zu fest und nicht zu sanft, er trifft genau die Punkte, die mich zum Schreien bringen.
»Ja …«, knurrt er mit rauer Stimme in mein Ohr, während er die Finger gierig in meine Pobacken gräbt und mich fester auf seinen Schwanz drückt. Ich kann alles von ihm in mir spüren. »Genau so.«
»Ich …« Meine Fingernägel graben sich tief in seine Haut und hinterlassen dünne rote Striemen wie Krallenspuren auf seiner Brust.
»Ich weiß«, keucht er.
Ich versuche mich aufzurichten, doch sein Rhythmus wird immer schneller, und ich sinke auf ihn hinab, reduziert zu einem stöhnenden, keuchenden Etwas in seinen Armen.
»Komm für mich«, wispert er in mein Ohr.
Im echten Leben lasse ich mir von Männern nichts sagen. Aber das hier? Das ist nicht das echte Leben. Das ist eine Fantasie. Ein Traum, der schon in ein paar Stunden in Vergessenheit geraten wird.
Also erlaube ich es.
Ich erlaube es auch, dass er in meine Haare fährt und meinen Hals küsst.
Hals ist in Ordnung. Ich habe es ihm gesagt. Kinn aufwärts ist tabu. Ich will keine romantischen Küsse auf den Mund, auf die Nasenspitze, auf die Wangen, auf die Stirn.
Aber das … das ist okay. Es ist nicht einmal ein richtiger Kuss; keine Liebe oder Zuneigung, nur Hunger.
Ich drücke mich als Antwort fester auf ihn hinab, fahre grob in seine dunkelbraunen Haare und lasse mich von ihm ficken.
Einen anderen Ausdruck kenne ich dafür nicht.
»Scheiße«, wispere ich atemlos, und seine Bewegungen werden immer schneller. Ich ziehe mich fester um ihn zusammen, bis sein Keuchen zu einem kehligen Stöhnen anschwillt.
»Jetzt«, raunt er an meinem Hals und stößt gegen meinen G-Punkt.
Der Orgasmus überkommt mich wie eine Welle: Meine Glieder zucken, und meine Muskeln spannen sich um ihn zusammen. Im selben Moment geht ein Schauer durch seine Brust, und ich spüre, wie auch er in mir in das Kondom kommt.
Schwer atmend presse ich mich ein letztes Mal an ihn und warte, bis die pulsierenden Bewegungen nachgelassen haben und das Beben aus meiner Mitte weicht.
Eine Weile verharren wir einfach so. Vielleicht, weil wir beide wissen, dass es mit der nächsten Bewegung vorbei ist.
Das sind unsere letzten Momente. Unsere Körper verschwitzt, unsere Herzen rasend, er in mir.
Die Muskeln in seinen Armen ziehen sich zusammen, als er die Hände hebt. Es ist eine langsame, vorsichtige Bewegung, doch ich merke sofort, was er vorhat.
O nein. Ich werde jetzt ganz bestimmt nicht mit ihm kuscheln.
»Danke.« Entschieden drücke ich ihn von mir.
Er stößt ein einen leicht gequälten Protestlaut aus, doch das ist sein Problem.
Das war der Deal.
Nur Sex.
Mehr nicht.
»Ich muss gehen.« Ich rutsche von ihm, kämme mir mit den Fingern durch die blonden Haare und suche den Boden nach meiner Unterwäsche ab. Ich finde den String am Bettpfosten, den BH auf dem Teppich und das Kleid über der Lehne des Stuhls, der vor dem kleinen Schreibtisch steht.
Auf dem Bett seufzt mein Liebhaber leise, und während ich mir das schwarze Sommerkleid über den Kopf ziehe, streift er das Kondom mit einer gekonnten Bewegung ab.
Ich sehe ein letztes Mal zu ihm zurück. Er ist wirklich ein schöner Mann. Aber ich stehe zu meiner Entscheidung. Wir werden uns nie wiedersehen.
»Wirklich?« Er richtet sich auf und wirft das verknotete Kondom in den Mülleimer neben dem Bett.
»Hab ich dir doch gesagt.« Ich finde meine Handtasche auf der Ablage vor dem Spiegel neben der Tür des kleinen, schlicht eingerichteten Hotelzimmers. In der vorderen Tasche ist eine Reisepackung mit Einweg-Make-up-Tüchern, von denen ich eines hervorziehe, in den Spiegel sehe und die verschmierten Reste Mascara und Lippenstift von meinem Gesicht wische, bis man mir nicht mehr ansieht, dass ich gerade noch mit einem fremden Mann geschlafen und ihm davor den Blowjob seines Lebens gegeben habe.
Noch immer splitternackt beobachtet er mich. »Sicher? Ich meine … Du musst nicht. Wenn du willst, kannst du gern hier schlafen und …«
Ich drehe mich zu ihm. Gott, nicht der Welpenblick. Dagegen hilft nur eins. »Nein.«
»Ähm …« Er richtet sich nun auf. »Soll ich dich noch irgendwo hinfahren? Oder dir ein Taxi rufen?«
»Nein, ich fahre selbst.«
Vielleicht ist es nicht ganz fair, ihn einfach so abblitzen zu lassen, aber es ist nichts, was wir nicht ausgemacht hätten. Ich habe ihm gesagt, dass ich nur Sex will, und es war für ihn in Ordnung.
Er hat mir doch zuvor selbst versichert, dass er kein Typ für Beziehungen und Herzschmerz ist. Ich bin mir sicher, dass das der einzige Grund ist, warum er gerade solche Anstalten macht: Er weiß, dass es keine echte Gefahr gibt, dass aus uns jemals mehr werden könnte.
Das ist in Ordnung; von mir aus kann er mir gern hinterherheulen und sich vormachen, dass es definitiv mit uns geklappt hätte, hätte ich ihm doch nur eine Chance gegeben.
Tief in uns wissen wir beide, dass es eine Lüge ist.
Menschen lieben es, sich etwas vorzumachen. Es ist so viel charmanter als die Wahrheit, und ich selbst bin da keine Ausnahme.
»Oh.« Er hat inzwischen seine Boxershorts gefunden und angezogen. Ich sehe ein letztes Mal zu ihm zurück, wie er ein wenig verloren auf der Bettkante sitzt und mir zusieht.
»Mach’s gut.« Ich ziehe meinen beerenfarbenen Lippenstift im Spiegel nach, verstaue ihn dann in meiner Tasche und ziehe den Reißverschluss zu.
»Du auch.« Er zögert. »Und … danke.«
Ich verstehe nicht, warum Männer immer wieder das Verlangen verspüren, sich nach bedeutungslosem Sex bedanken zu müssen.
Glaube mir, ich habe das mehr gebraucht als du.
Ich schlucke die Antwort hinunter. Vielleicht, weil ich nicht unnötig gemein sein will, vielleicht, weil ich keinen Bock habe, ihm Futter für Spekulationen oder – noch schlimmer – Mitleid zu geben.
»Bye.«
Die Tür fällt hinter mir ins Schloss.
In ein paar Wochen werde ich mich nicht mehr an ihn erinnern.
Willkommen in Echo Cove
Einwohner: 620
Je länger ich über das Schild nachdenke, umso sicherer bin ich mir, dass es sich dabei um eine Warnung handelt.
Willkommen in Echo Cove
Letzte Chance, umzukehren
Als Brynn mir eröffnet hat, dass sie wirklich in diesem Kaff am Arsch der verdammten Welt in Alaska bleiben will, dachte ich, sie würde mich verarschen.
Um fair zu sein: Ziemlich viel von dem, was Brynn mir in letzter Zeit erzählt hat, klingt nach Verarsche.
Ein Teil von mir ist noch immer überzeugt, dass jeden Moment Konfettikanonen gezündet werden und ein Kamerateam aus einem Versteck hervorspringt, sobald ich das Auto stoppe.
Ich würde es ihr zutrauen.
Allerdings müsste meine Schwester für den Prank ziemlich tief in die Tasche gegriffen haben, um sämtliche Nachrichtenportale einzuweihen.
Oh, und die Polizei.
Doch was ist die Alternative? Dass Brynn die Wahrheit gesagt, einen Menschenhandelsring aufgedeckt und gleichzeitig einen zehn Jahre alten Mordfall gelöst hat?
Da lässt man sie einmal allein.
»Eine halbe Meile auf der Main Road geradeaus und dann zur Shore Road links abbiegen«, meldet sich die mechanische Stimme der GPS-App.
»Jaja.« Brynn hat Echo Cove immer als Kleinstadt oder liebevoll Städtchen bezeichnet, aber ich kann ihr nicht ganz recht geben.
Eine Stadt hat Infrastruktur.
Leben.
Kultur.
Irgendwas.
Das hier? Das ist maximal eine Ansammlung von Fischerhütten.
Zugegeben, sie sind hübsch, auf die Art wie Fotos auf Instagram, Bildschirmhintergründe, Postkarten und Kühlschrankmagneten: Reihen von bunten Häuschen mit flachen Dächern vor einem blauen Himmel mit ein paar vereinzelten Schäfchenwolken, die sich am Horizont über dem Meer verdichten.
Brynn hat mir erzählt, dass die Sonne im Sommer hier nie untergeht, es jedoch dafür im Winter nur wenige Stunden Licht gibt.
Wer sucht sich freiwillig aus, an so einem Ort zu leben?
Oh, und Finn?
Die Stimme meiner Schwester hallt in meinen Ohren wider.
Mach dich auf was gefasst. Die Leute hier sind ein bisschen … anders.
Darauf würde ich wetten. Wahrscheinlich kann man nicht an so einem Ort wohnen, ohne irgendwie eigenartig zu werden. Wer freiwillig in Echo Cove lebt, hat vermutlich keine anderen Optionen.
Na, dann passe ich ja perfekt hierher.
»Bitte jetzt abbiegen«, mahnt die Frauenstimme aus dem Handy.
Ich gehorche ihr und lenke den Mietwagen in die Straße, die auf einem baufälligen weiß-schwarz gestrichenen Schild als Shore Road bezeichnet wird. Besonders kreativ mit den Straßennamen sind sie auf jeden Fall nicht, die guten Echo Cover … Echo Covianer … wie auch immer man die Einwohner von Echo Cove nennt.
»Ziel in achthundertzwanzig Fuß erreicht.«
Die Straße vor mir sieht aus wie aus einer Fernsehserie – aber ich bin mir nicht sicher, ob es Gilmore Girls oder True Detective ist.
Brynn hat mir so viele Fotos von ihrem neuen Haus geschickt, dass ich es sofort erkenne – das zweistöckige, rot gestrichene Gebäude ist eindeutig das schönste in der Straße. Vor der Einfahrt steht ein großer schwarzer Truck, der Archer gehören muss. Meine Schwester hat mich vor dem Hund gewarnt, also sehe ich mich gewissenhaft um, ehe ich neben dem Wagen parke.
Ich habe den Motor kaum abgestellt, als auch schon die Haustür aufgerissen wird und ein brünetter Wirbelwind herausstürmt.
Es gelingt mir gerade so, aus dem Mietwagen zu steigen, ehe Brynn mich in eine so heftige Umarmung zieht, dass wir beide fast das Gleichgewicht verlieren.
Ich muss mich mit der Hand am Metallrahmen der Autotür festhalten, um nicht zurück auf den Sitz zu fallen. »Hey, hey, hey.«
»Finn!« Sie weicht zurück und strahlt mich an. Ich bin mir nicht sicher, was ich erwartet habe – aber irgendwie nicht, dass sie so verdammt glücklich wirkt.
»Hey.« Ich grinse schief und wuschle ihr durch die Haare, was sie mit einem sanften Boxhieb gegen meinen Arm quittiert. »Alaska tut dir gut, was?«
Brynns Augen leuchten auf. »Ich weiß nicht, ob es an Alaska liegt oder …«
Noch ehe sie den Satz beenden kann, erscheint ein großer dunkelhaariger Mann auf der Veranda. Ich wusste bereits, dass sich meine Schwester einen Holzfällertyp geangelt hat – sie wird nicht müde, das zu betonen –, doch mir war nicht klar, wie ernst Archer Flint diese Lumberjack-Ästhetik nimmt. Mit seinem karierten Flanellhemd, den schweren Arbeitsboots und der langen Cargo-Hose fehlt gerade noch, dass er sich eine Axt schnappt und dann anfängt, hier und jetzt Holzscheite zu hacken.
»Das ist Archer«, erklärt Brynn überflüssigerweise und zupft mit skeptischer Miene an meinem Designerhemd. Ich bin wirklich nicht für Am-Arsch-der-Welt, Alaska, gekleidet.
»Los. Sag Hallo. Er ist ein bisschen zurückhaltend, wenn es um Fremde geht.«
Ich lasse meine Koffer vorerst im Wagen zurück, schiebe den Autoschlüssel in meine Hosentasche und schlendere über den Gartenweg auf das Haus und dessen Besitzer zu.
Entgegen Brynns Warnung kommt mir ihr Freund mit langen Schritten entgegen. »Archer«, erklärt er, reicht mir die Hand – und zerquetscht mir fast die Finger.
Grinsend erwidere ich die Geste, wenn auch nicht ganz so fest. »Finnegan. Aber du kannst einfach Finn sagen. Wir sind ja jetzt quasi Familie.«
Bei dem Wort »Familie« sieht Archer rasch zu Brynn, und ihm steigt Blut in die Wangen. Verdammt, meine Schwester hat den Hünen wirklich um den Finger gewickelt.
»Finn.« Archer nickt schließlich. »Komm rein. Um dein Gepäck kümmern wir uns später.« Er zögert. »Oh und … Brynn hat dich gewarnt, nehme ich an?«
Es gibt einige Dinge, vor denen mich Brynn gewarnt hat, wenn es um Echo Cove geht. Glücklicherweise kommt sie mir zuvor, ehe ich in die Verlegenheit komme, zu antworten.
»Koda ist ein bisschen stürmisch.« Schmunzelnd öffnet sie die Tür, und im selben Moment schießt ein Geschoss aus weiß-grauem Fell nach draußen, springt mich an und stößt mich fast von den Füßen.
»Koda«, brummt Archer, greift unter all dem Flausch nach dem Halsband und zieht seinen riesigen Hund zurück.
»Hm.« Brynn verschränkt die Arme. »Das müssen wir besser in Griff bekommen, wenn wir öfter Gäste hierher einladen.«
Das scheint ein wunder Punkt zwischen ihnen zu sein, denn Archer verzieht das Gesicht. »Oder wir bleiben einfach unter uns.«
Sie ignoriert ihn und wendet sich an mich. »Koda ist wirklich harmlos. Also, solang man lieb ist. Er ist klüger, als man denkt, weißt du? Er versteht genau, wem man vertrauen darf.«
»Schon gut. Ich mag Hunde.« Obwohl Koda mich nicht verstehen kann, kippen seine Ohren nach vorn, und seine lange rosarote Zunge rollt mit einem begeisterten Hecheln aus seinem Maul.
»Rein mit dir, Junge«, befielt Archer, bugsiert den Hund sanft durch die Tür, und Brynn und ich folgen ihm.
»Also, wie war das? Ihr wollt Gäste einladen?«
»Sie möchte das«, brummt Archer.
»Wir möchten das«, entgegnet Brynn und hakt sich bei ihrem Freund unter. »Es wäre schön. Das Haus ist so groß, und der Garten wäre perfekt für Grillfeste …«
»Aber ich will keine Menschen hier haben«, brummelt Archer. »Eigentlich will ich das Gegenteil davon.«
»Und dafür bin ich hier.«
Archer nickt ernst. »Danke, dass du mir mit dem Projekt helfen willst.«
»Klar. Kein Problem.« Es klingt, als würde ich ihm einen Gefallen tun, doch als Brynn mir von Archers Plan, das Wildtierschutzgebiet ausweiten zu lassen, erzählt hat, war es wie ein kleiner Hoffnungsschimmer am Horizont. Vielleicht brauchen sie mich – aber ich brauche sie noch mehr.
Brynn schüttelt den Kopf. »Du bist in erster Linie unser Gast. Komm, ich zeig dir gleich alles. Wir haben dir ein Gästezimmer freigeräumt. Weißt du, dass das hier früher mal ein Bed and Breakfast war?«
»Hast du nur knapp einhundertmal erwähnt.«
Sie zeigt mir die Zunge und sprintet ein paar Stufen hinauf. »Ich habe ja auch schon vorgeschlagen, hier ein Airbnb aufzumachen …«
»Nur über meine Leiche«, unterbricht sie Archer schmunzelnd.
Verstehe, das ist also ihr Ding: Sie neckt ihn, und er ist der Brummbär, der sich das Grinsen nicht verkneifen kann.
Ich sehe zwischen den beiden hin und her. »Wir wollen weniger, nicht mehr Menschen hier, stimmt’s?«
»Genau. Und ich …« Archer wird durch das Geräusch der Türklingel unterbrochen.
»Wenn man vom Teufel spricht.« Er seufzt und lässt die großen Schultern sinken. »Ich kümmere mich darum. Vermutlich ist es Keira, sie wollte mir noch die Seilwinde zurückbringen, die sich ihre Eltern ausgeborgt haben.«
Als er sich abgewandt hat, beugt sich Brynn über das Treppengeländer verschwörerisch zu mir. »Keira ist Adas Schwester. Du weißt schon.«
Da ist eine schwache Erinnerung. »Deine Kollegin, die dich nicht leiden kann?«
»Ex-Kollegin, ich arbeite nicht mehr im Café. Aber ja, die, die Archers Bruder für den Tod ihrer Schwester verantwortlich gemacht hat. Seit klar ist, dass Liam nichts damit zu tun hatte, ist es ein bisschen komisch zwischen uns.«
Das kann ich mir vorstellen. »Kann nicht einfach für sie sein.«
»Ja. Das und … Na ja. Keira ist grundsätzlich kein einfacher Mensch. Sie nimmt alles persönlich.«
Es verwundert mich nicht. Trauer ist ein unberechenbares Biest, und nur weil die Hülle eine Tragödie überlebt, kommt das Herz nicht immer unbeschadet davon. Manche Wunden sind zu tief, um zu heilen. Manche Kriegsbeile können nie begraben werden, nicht weil es keine Lösung gibt, sondern weil es keine Lösung geben soll.
Brynn legt den Kopf schief. »Ich hoffe, sie macht uns das Leben nicht unnötig schwer. Du bist extra den ganzen Weg nach Alaska gekommen, ich will nicht, dass du hier Ärger hast.« Sie lehnt sich an das hölzerne Geländer. »Danke noch mal. Es bedeutet mir wirklich viel. Ich weiß, dass du mit deinem Job alle Hände voll zu tun hast, künftiger Juniorpartner.«
O nein, diese Büchse der Pandora will ich jetzt wirklich nicht öffnen.
»Schon gut.« Ich winke ab. »Denkst du, ich lasse dich hier allein, nach allem, was passiert ist?« Der Themenwechsel kommt mir gelegen, aber meine Sorge ist echt. »Bist du okay? Ich kann noch immer nicht fassen, was Conway gemacht hat. Und die Sache mit Charlotte … Fuck.«
Ein kleiner Schatten tanzt über Brynns Gesicht, dann schüttelt sie ihn ab. »Es ist in Ordnung. Im Großen und Ganzen zumindest. Manche Sachen sind nicht leicht zu verarbeiten, aber ich mache Therapie übers Internet, und das Wichtigste ist: Conway sitzt im Gefängnis, dort, wo er hingehört.« Ihr leicht verschmitztes Lächeln kehrt zurück. »Und Charlotte hat zwölf Monate Bewährung und Sozialstunden bekommen. Kannst du dir das vorstellen?«
Das kann ich tatsächlich nicht. »Da lässt man dich einmal allein …« Ich strecke die Arme über den Kopf und dehne mich. »Weißt du, was? Ich hole erst mal meine Koffer, dann kannst du mir das Zimmer zeigen, und dann will ich eine Sightseeingtour durch Echo Cove. Und dabei erzählst du mir noch mal in Ruhe, was passiert ist. Deal?«
»Deal. Ich helfe dir.« Brynn springt die Treppenstufen hinab und überholt mich auf dem Weg zur Haustür, die Archer mit seiner breiten Statur ausfüllt, während er sich leise mit der Person auf der Veranda unterhält.
»Gibt es hier eigentlich auch so was wie einen Laden? Einen Walmart oder so? Habe ziemlich leicht gepackt und könnte noch ein paar Sachen gebrauchen …«
Brynns Pferdeschwanz schwingt beim Gehen hin und her. »Es gibt den Trading Post, so heißt der Gemischtwarenladen, und ein paar kleinere Geschäfte, allerdings nicht so, wie wir es kennen. Zum Einkaufen müssen wir entweder nach Kodiak fahren oder wir bestellen, aber die Boten kommen nicht immer bis hierher. Es kann sein, dass wir es dann trotzdem in der Packstation in Kodiak abholen müssen und … Hi, Keira!« Mit einem freundlichen Lächeln schiebt sich meine Schwester an ihrem Freund vorbei.
Archer tritt zur Seite, gibt den Blick auf die junge Frau frei – und meine Welt kippt aus den Angeln.
Es gibt keinen Ort, an dem ich weniger gern sein möchte als das Flint-Haus.
»Kannst du es nicht machen?« Seufzend lehne ich mich gegen das Lenkrad meines geparkten Wagens und drehe mich zu meinem Handy, das in der Gegensprechanlage meines Ford fixiert ist.
»Babe, du musst nicht mit ihm reden«, ertönt Willows Stimme aus dem Lautsprecher des Telefons. »Zumindest nicht mehr als ›Hallo, hier ist deine Seilwinde, bye‹.«
Ich schlaube.
»Okay, gut, das ›Bye‹ kannst du dir sparen, wenn es wirklich so schlimm ist. Das sind also nur fünf Worte. Du hältst das aus.«
Meine beste Freundin hat mehr Vertrauen in mich als ich selbst. Archer ist für mich ein rotes Tuch, und ich bin der Stier, dem Schaum aus dem Maul tropft. Dass meine Eltern ausgerechnet von ihm eine Seilwinde ausborgen mussten, um einen gestürzten Baum von ihrem Grundstück zu entfernen, werde ich ihnen nie verzeihen – vor allem, da ich das verdammte Ding jetzt zurückbringen soll.
Sie wissen ganz genau, dass ich ihnen nie einen Wunsch abschlagen kann – und mir ist klar, dass das hier kein Zufall ist. Seit Liams Unschuld bewiesen ist, sind meine Eltern auf dem großen Wir-verzeihen-Archer-Flint-Trip, weil sie ihr schlechtes Gewissen plagt.
Und jetzt soll ich diejenige sein, die den Olivenzweig in Form einer Seilwinde überbringt? Eher würde ich den ganzen verdammten Baum in Grund und Boden abfackeln.
»Babe.« Wieder Willow. »Du könntest schon längst zurück sein. Los, geh zur Tür, gib ihm das verdammte Ding, und dann hat es sich erledigt.«
Um meinen Missmut über die Situation zu unterstreichen, schnaube ich noch einmal laut. Willow muss nicht wissen, wie viel Kraft es mich kostet, meinen Mut zusammenzukratzen. Ich will wieder, dass es wie früher ist. Dass ich Archer hassen darf. Damals war alles leichter.
»Na gut.«
»Perfekt!« Willow applaudiert. »Ich bin so stolz auf dich.«
»Übertreiben wir’s mal nicht. Also … bis gleich.«
»Ich glaube an dich!«
Ich rolle mit den Augen, muss jedoch schmunzeln, als ich den Anruf beende, aussteige und die Seilwinde aus dem Kofferraum hieve.
Ich kenne die Gefahren des Flint-Hauses, und ein Teil von mir bereitet sich darauf vor, jeden Moment von Archers furchtbar unerzogenem Hund Koda über den Haufen gewalzt zu werden, als ich das Grundstück betrete. Zu meiner Überraschung stürzt sich jedoch kein haariges Monster auf mich, und ich kann den Weg zur Haustür unbeschadet entlanglaufen.
Meine Hoffnung, Archer könnte vielleicht nicht zu Hause sein, wird durch den schwarzen Truck vor dem Haus zunichte gemacht. Daneben steht ein zweiter, ein dunkelblauer Wagen, den ich hier noch nie gesehen habe. Aber vielleicht hat Archer Besuch – das wäre gut, denn dann wäre er auf jeden Fall kurz angebunden. Oder Brynn hat sich endlich ein Auto zugelegt, nachdem sie ihren Subaru in den Graben gefahren hat.
Ich atme tief ein, straffe die Schultern und drücke den Finger auf die Klingel.
Mach nicht auf, mach nicht auf, mach nicht auf.
Er macht auf.
Wunderbar.
Ich war noch nie besonders gut darin, meine wahren Gefühle hinter einem Pokerface zu verbergen, und ich bin mir sicher, dass Archer mir meinen Missmut von der Nasenspitze ablesen kann. Soll er ruhig. Ich habe nichts zu verbergen.
»Hier«, brumme ich und strecke ihm die Seilwinde entgegen. Das Ding wiegt locker zehn Pfund.
»Ah.« Er starrt darauf. »Gut.«
Weder er noch ich riskieren es, dem jeweils anderen in die Augen zu sehen. Als er mir die schwere Seilwinde abnimmt, entkommt mir ein erleichtertes Schnauben. »War’s das?«
Archer nickt. »Wüsste nicht, was es sonst noch geben könnte.«
»Gut.«
»Gut.«
Gerade als ich denke, dass diese unangenehme Begegnung ein Ende nimmt, muss das Schicksal noch einmal nachtreten – denn Brynns unnötig fröhliche Stimme ertönt aus dem Haus.
Da nehme ich doch lieber den Hund.
Wenn ich ehrlich bin, ist Koda der einzige Bewohner dieses Haushalts, mit dem ich freiwillig länger als fünf Minuten verbringen würde.
Und da ist sie auch schon – offenbar plappert sie gerade ihren Besucher voll, als sie sich an Archer vorbeischiebt und mich erkennt.
Immerhin hat sie den Anstand, ein fröhliches Lächeln zu faken.
Aber wir müssen uns nichts vormachen. Ich weiß, dass diese Frau mich nicht leiden kann. Seit unserem unangenehmen Gespräch nach Ladenschluss haben wir nicht mehr Worte als absolut nötig miteinander gewechselt – und wenn es nach mir geht, kann es auch für immer so bleiben.
Demonstrativ erwidere ich ihre Begrüßung mit einer knappen Geste und will mich gerade zum Gehen abwenden, als Archer zur Seite tritt.
Ich erstarre.
Blut rauscht in meinen Adern, und für die Dauer eines kurzen, lächerlichen Augenblicks befürchte ich, dass ich mitten in eine Folge Versteckte Kamera gelaufen bin.
Die Sadisten-Edition.
Denn was ich sehe, kann nicht die Realität sein. Ich weigere mich, diese Möglichkeit überhaupt erst in Betracht zu ziehen.
Neben Brynn steht der Mann, den ich vor nicht einmal zwölf Stunden geritten habe – und er starrt mich an, als wäre ich ein Geist.
Ich schlucke schwer, und heißes Blut schießt mir in den Kopf.
Scheiße, scheiße, scheiße.
Mein Körper kennt nur zwei Reaktionen: Flucht oder Kampf. Und gerade möchte er die Beine in die Hand nehmen.
»Finn, das ist Keira Hale, wir haben gemeinsam im Honeycomb gearbeitet.«
Heißer Atem prasselt aus meiner Lunge.
Sag es, du Bitch. Sie ist die Schwester des toten Mädchens.
Brynn tut allerdings nichts dergleichen, sondern deutet einmal zwischen ihm und mir hin und her.
Seine hellen Augen sind noch immer starr auf mich gerichtet.
»Keira, das ist Finnegan, mein Bruder.«
Finnegan.
Mein Bruder.
Ich weiß nicht, ob ich lachen oder heulen soll.
Vermutlich beides.
Ich habe mit Brynn Callahans Bruder geschlafen.
Kalter Schweiß steigt mir auf die Stirn.
Ich will die Zeit zurückdrehen.
Nein, ich muss die Zeit zurückdrehen. Ich kann das nicht akzeptieren. Ich grabe die Fingernägel fest in meine Handflächen.
Fuck.
Wortwörtlich.
»Keira. Freut mich.« Finnegans rauchige Stimme reißt mich aus den Gedanken.
Gott, diese Stimme.
Ich verfluche mich dafür, dass mein Name aus seinem Mund ausreicht, um einen Schauer durch meine Glieder zu jagen. Verfluche ihn dafür, dass er so lächerlich attraktiv sein muss.
Es hat nichts zu bedeuten.
Es ist nur eine Erinnerung an gestern Nacht, eine körperliche Reaktion, die nichts zu bedeuten hat.
Es wird nie wieder passieren.
Es darf nie wieder passieren.
Ich atme schwer ein, als dieses Arschloch die Dreistigkeit besitzt, mir die Hand zu reichen, mit der er mir in der Nacht zuvor die Unterwäsche vom Leib gerissen hat.
Ich ignoriere die Geste.
Hätte ich die Seilwinde doch einfach vor die Tür gelegt und wäre gegangen.
Kann mir doch egal sein, wenn die Bären darüber herfallen – ehrlich gesagt, wäre es mir ganz recht, würden sie über mich herfallen, denn gerade steht es drei zu eins, und ich würde alles tun, um dieser Situation zu entkommen.
Ein bitterer Geschmack steigt in meinen Mund.
Hat er ihr von letzter Nacht erzählt?
Ich schüttle den Gedanken ab. Nein, bestimmt nicht, niemand erzählt seiner Schwester von einem One-Night-Stand.
Nicht, solang ich ihm keinen Anlass dazu gebe.
Schluckend überwinde ich mich und strecke die Hand aus.
Mit den Fingerspitzen streift er über meine inzwischen eiskalte Haut, und ich würde am liebsten sofort davonlaufen, doch sein Blick ist vielsagend auf mich gerichtet. Verdammt, kann er sich nicht benehmen? Wenn er so guckt, wird es bald ganz Echo Cove wissen.
Rasch ziehe ich die Hand wieder zurück.
Sein Mundwinkel zuckt. »Hat mich gefreut, Keira. Wir sehen uns dann bestimmt bald öfter.«
Ich kann förmlich spüren, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht und nur eine kribbelnde Kälte zurücklässt. »Was … was meinst du?«
»Oh.« Brynn kommt ihm zuvor. »Hab ich gar nicht erwähnt, oder? Finn ist Anwalt. Er wird ein paar Wochen bei uns bleiben und uns dabei helfen, das Schutzgebiet zu erweitern.« Sie sieht zwischen uns hin und her, als würde sie etwas übersehen. »Kennt ihr euch?«
»Nein«, schieße ich hervor, ehe Finn etwas sagen kann. »Und das möchte ich auch nicht!«
Ich lasse mir keine Zeit, meine holprige Antwort zu bereuen, mache stattdessen auf dem Absatz kehrt und stolziere über den Pfad zurück zu meinem Ford, während die Blicke der Callahans auf meinem Rücken brennen.
Heute war ein anstrengender Tag. Das Pflegepraktikum im Krankenhaus in Kodiak macht zwar Spaß, aber die langen Autofahrten kosten mich den letzten Nerv. Nachts bin ich meistens so erschöpft, dass ich völlig k. o. ins Bett falle.
Ich wünschte, ich könnte mir eine Wohnung in Kodiak leisten, allerdings bekomme ich zwölf Dollar die Stunde, und da ist das einfach nicht drin.
Na ja, ich darf mich nicht beschweren, immerhin ist das Praktikum bezahlt. Ich frage mich trotzdem, wie das alles weitergehen soll. Vor ein paar Tagen hat mir eine Kollegin in der Klinik von einem Stipendienprogramm für eine Ausbildung zur Registered Nurse in Juneau erzählt. Einerseits würde ich mich dort gern bewerben, andererseits bedeutet das auch, dass ich Echo Cove verlassen muss, und das ist ein heikles Thema. Als ich Liam darauf angesprochen habe, hat er nicht besonders positiv reagiert. In letzter Zeit liegen seine Nerven oft blank. Ich glaube, er hat Angst, mich zu verlieren, auch wenn ich ihm sage, dass es keinen Unterschied macht, wo wir wohnen.
Es ist schwierig. Er will das Bed and Breakfast nicht verkaufen, weil es alles ist, was ihm und Archer von ihrer Familie geblieben ist, aber wir wissen beide, dass ich nicht hierbleiben kann, wenn ich meine Ausbildung machen möchte.
Ich wünschte, es gäbe eine Lösung.
Tagebucheintrag, Ada Hale, 7. Juni 2014
Willow starrt mich an, als hätte ich ihr gerade verkündet, dass ich …
Nun, ich habe ihr gerade verkündet, dass ich mit Brynns Bruder geschlafen habe, und ehrlich gesagt ist ihr Gesichtsausdruck angebracht.
Rasch wende ich mich ab und nestle an der Schleife meiner Schürze herum.
Sie ist jetzt rostbraun, nicht mehr honiggelb.
Nach dem ganzen Conway-Spektakel hat Jameson Lewis, der Besitzer des The Jolly Herring, des einzigen Restaurants in Echo Cove, das ehemalige Honeycomb aufgekauft, ihm einen neuen Anstrich verpasst und es in das Bearclaw unbenannt.
Es fühlt sich falsch an, aber ich bin trotzdem dankbar, dass ich meinen Job behalten konnte. Die Tatsache, dass Willow und ich jahrelang für Liams Mörder gearbeitet haben, haben wir beide trotzdem noch nicht ganz überwunden, doch andere Optionen haben wir in Echo Cove im Moment nicht.
Es macht mich wütend, dass Leute wie Brynn einfach gehen können. Ihrem alten Leben den Rücken kehren und irgendwo neu anfangen. Ich habe dieses Privileg nicht. Wie ein Anker, der ein Schiff im Hafen hält, hält mich Echo Cove fest; ich gehöre hierher, gehe Tag für Tag zur Arbeit, bin eine gute Freundin, eine gute Tochter, eine gute Nachbarin, immer gut, aber nie gut genug.
»Wie gesagt«, murmle ich schließlich fast tonlos. »Es war ein … Versehen.«
Ich drehe mich um und bereue es sofort, denn Willow hat die Augen skeptisch zusammengekniffen. »Wie kann man aus Versehen mit jemandem schlafen?«
»Der Teil war nicht das Versehen.« Eine verräterische Wärme steigt in meine Ohren. »Ich wusste natürlich nicht, dass er ihr Bruder ist.«
Meine beste Freundin gibt sich große Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen, jedoch gelingt es ihr nicht ganz. Kein Wunder – sie versucht schon die ganze Zeit, zwischen Brynn und mir zu »vermitteln«, wie sie es selbst bezeichnet. Doch die Sache ist die: Es ist mir scheißegal, was Brynn damals gesagt hat. Ich kann sie einfach nicht leiden, habe keine Lust, ihre Freundin zu werden, und keine Kraft, es zu verbergen. Es ist nicht meine Schuld, dass sich Willow gelegentlich langweilt und nach Abwechslung auf unserer Insel sucht.
Lange wird das Problem ohnehin nicht bestehen – denn Brynn wird nicht in Echo Cove bleiben, da bin ich mir sicher.
Beinahe könnte einem Archer ja leidtun. Er ist bis über beide Ohren in diese Frau verknallt, aber sie gehört nicht hierher. Es wird nicht mehr lange dauern, da ist der Kleinstadt-Charme verflogen und sie sieht, wie trostlos das Leben in Alaska wirklich sein kann. Dann wird sie ihre Sachen packen und ein großes, gebrochenes Herz zurücklassen.
Das geht mich allerdings nichts an, denn ich werde nicht so naiv sein.
Ich lasse mir das Herz nicht brechen.
Schon gar nicht von einem Callahan.
»Es ist auch egal.« Ich zucke mit den Schultern. »War eine einmalige Sache.«
Willow feixt. »Sieht er ihr ähnlich?«
Sie fängt sich einen strafenden Blick ein. »Ich stehe nicht heimlich auf Brynn, falls es das ist, worauf du hinauswillst.«
»Wäre voll okay.«
»Darum geht es nicht.« Ich rolle mit den Augen und schalte die Kaffeemaschine ein. »Und nein, ich finde nicht, dass sie sich besonders ähnlich sehen. Sie sind ja keine Zwillinge. Er ist groß, älter und einfach … na ja. Sie haben dieselbe Haarfarbe, schätze ich, das war’s auch schon. Er hat blaue Augen, ihre sind braun.«
»Ist er hot?«
Meine Antwort ist nur ein Grummeln.
»Bitte? Ich hab dich nicht verstanden.«
»Dir macht das viel zu viel Spaß, Will.« Ich zögere. »Ja, ich schätze, er ist … okay. Sonst hätte ich ja nicht mit ihm geschlafen.«
»Ooh.«
Schnaubend drehe ich mich zu ihr. »Nein. Ooh mich nicht. Zwischen mir und ihm wird nichts mehr laufen.«
»Weiß er das auch?«
Ja, das ist eine gute Frage. »Ich habe es ihm gesagt, doch wenn er mit Brynn verwandt ist, hat er vermutlich Probleme damit, einfache Anweisungen zu verstehen. Dementsprechend …«
»Keira.«
»Was? Ich sag ja nur die Wahrheit.« Ich darf vielleicht nicht mehr auf Archer sauer sein, aber ich lasse es mir nicht nehmen, Brynn zu hassen. »Jedenfalls …« Ich wende mich wieder der Kaffeemaschine zu und wähle für mich selbst einen Cappuccino aus. »Er wird ohnehin nicht lange in der Stadt sein, und wenn es nötig ist, werde ich noch einmal mit ihm sprechen. Und dann mache ich klar, dass diese Sache ein für alle Mal beendet ist.«
***
Meine Chance kommt früher als erwartet. Die Vormittagsschicht ist fast vorbei, als die Glocke über der Eingangstür klingelt – Jameson hat das alte, rostige Ding ausgewechselt, und der Klang ist nun klar, hell und unvertraut – und Finnegan Callahans große, attraktive Gestalt im Türrahmen erscheint.
Ein Blick reicht aus, um zu sehen, dass dieser Mann nicht nach Echo Cove gehört: Er trägt eine schwarze Stoffhose, in die ein weißes Hemd gesteckt ist. Kein Sakko, aber die Ärmel sind hochgekrempelt, und ich kann eine goldene Uhr an seinem Handgelenk erkennen – Designer, keine Frage.
Finn Callahan sieht aus, als hätte er sich bei seinem Segeltrip verfahren. Männer wie er gehören in Vorstandssitzungen oder Gerichtssäle, aber ganz bestimmt nicht nach Kodiak Island.
Als er mich hinter der Theke sieht, zeigt er mir mit einem charmanten Lächeln die weißen Zähne, doch ich ignoriere ihn, wische über die hölzerne Oberfläche und gebe mein Bestes, völlig unbeeindruckt zu wirken, während mein Herz im Kreis springt.
»Hey.«
Ich hasse, wie sehr mich seine warme Stimme einnimmt. Er weiß es genau. Weiß, dass eine Silbe ausreicht, um meine Knie weich werden zu lassen
Ich blicke hoch und sehe ihm bitterböse entgegen.
Finn grinst.
Arschloch.
»Möchtest du etwas kaufen?« Ich presse die Lippen zusammen.
»Nein.«
»Was suchst du dann hier?«
»Dich.«
Ich rolle mit den Augen. »O bitte. Erspare mir das.«
Wieder lacht er. Es ist eine warme, herzliche Geste; sein ganzes Gesicht erhellt sich dabei, und er sieht fast jungenhaft aus. Finn Callahan lacht wie jemand, der sich in seinem ganzen Leben noch nie über irgendetwas Sorgen gemacht hat.
»Ich wollte dir nur sagen, dass du …«
»Shh!« Hastig sehe ich mich um. Es sind nur drei Gäste im Bearclaw; der Fischer Oscar und Peter und Robert, zwei Hafenarbeiter, die gerade Pause machen. Sie sehen mit mildem Interesse zu uns, doch das liegt vermutlich eher daran, dass Finn wirkt, als wäre er einem Hollywoodfilm entsprungen.
»Na gut. Warte.« Mit einem leisen »Nervensäge« auf den Lippen ziehe ich meine Schürze aus, husche um die Theke und schnappe Finn am Arm.
Ich bereue es sofort.
Die Berührung reicht aus, um meinen Körper mit Erinnerungen zu fluten.
Verdammt.
Zum Glück ist Willow gerade in der Küche und bekommt nichts davon mit, denn sie würde mir diesen Zirkus für immer vorhalten.
Es ist nur mein Körper.
Ich will nichts von Finn.
Im Gegenteil; Ich will nicht einmal daran denken, jemals wieder mit ihm zu schlafen – und das werde ich ihm deutlich machen, so deutlich, dass er es sich doppelt und dreifach überlegt, ehe er in meinen Umkreis zurückkehrt.
Ich zerre ihn mit mir vor die Tür, über die Veranda und seitlich auf den kleinen Pfad neben dem weißen Haus, wo uns keiner sehen kann.
»Was?«, fauche ich schließlich und löse mich von ihm.
Finn wirkt noch immer äußerst amüsiert. »Ich wollte dir nur sagen«, wiederholt er mit sanfter, warmer Stimme, »dass du dir keine Sorgen machen musst. Wegen neulich.«
Ich kneife die Augen zusammen. Meint er die Nacht oder das Zusammentreffen bei Archer? Oder beides?
»Ich habe meiner Schwester nichts von uns erzählt, und das werde ich auch in Zukunft nicht«, klärt er mich auf.
Mir fällt ein Stein vom Herzen. »Das will ich auch hoffen. Das zwischen uns war … privat.«
Er nickt mit gespieltem Ernst. »Kann man wohl sagen.«
»Und es war ein Fehler.« Ich stemme die Hände in die Hüften. »Warum hast du mir nicht erzählt, wer du bist?«
Nun hebt er die linke Braue. »Du hast doch gesagt, dass du keine Lebensgeschichten austauschen willst.«
Ich schmolle. Gibt es etwas Schlimmeres, als wenn ein Callahan recht hat?
Sein Blick wird wieder weich. »Wollte das nur klarstellen. Du musst kein schlechtes Gefühl haben oder so. Was in Kodiak geschehen ist, bleibt in Kodiak. Versprochen.«
Muss er jetzt auch noch so lieb und verständnisvoll sein? Es wäre wirklich alles leichter, wäre Finn ein Arsch.
»Gut«, presse ich hervor. »Dann haben wir uns ja nichts mehr zu sagen.«
Seine hellen Augen sind noch immer auf mich gerichtet. »Schade eigentlich.«
»Nein.« Mit einem demonstrativen Stöhnen drücke ich mich an ihm vorbei. »Schlag es dir aus dem Kopf. Kodiak ist nie passiert, und es wird sich nie wiederholen.«
»Was jetzt?«
Irritiert halte ich inne und drehe mich fragend zu ihm.
»Es ist nie passiert oder es wird sich nie wiederholen?«
Ich kann nicht so laut schnauben, wie ich will.
Finn hält meinen Blick einen Atemzug lang, schüttelt dann den Kopf und hebt die Finger zu einem Pfadfinderehrenwort. »Nie wieder. Versprochen. Wir sind zwei Fremde, die sich gerade kennengelernt haben.«
»Und die sich nie wieder treffen werden. Auch nicht unbeabsichtigt.«
»Ist ’ne kleine Stadt.«
»Dann gib dir Mühe, mir aus dem Weg zu gehen.«
Noch ehe er etwas erwidern kann, habe ich ihm den Rücken zugewandt. Ich muss zurück zu meiner Arbeit, ehe Willow auffällt, dass ich gegangen bin – oder sich Oscar heimlich an den Snickerdoodles bedient.
Dass mein Herz so schnell schlägt, hat wirklich nichts zu bedeuten.
Zu behaupten, Echo Cove wäre seltsam, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts.
Holy shit, wieso hat sich Brynn ausgerechnet dieses Örtchen zum Leben ausgesucht, und wie zum Teufel hält sie es hier aus?
Es muss an dieser Sonnenlichtsache liegen. Zwar habe ich inzwischen herausgefunden, dass es hier in fast jedem Gebäude Verdunklungsvorhänge und Rollos gibt, aber trotzdem muss die innere Uhr dieser Leute vollkommen durcheinander sein, und ich fresse einen Besen, wenn das nicht auch Langzeitauswirkungen auf die Psyche hat.
Bei Brynns Erzählungen von Echo Cove hatte ich an eine süße, wenn auch langweilige Kleinstadt gedacht – inzwischen fühle ich mich eher, als wäre ich in einem Horrorfilm gelandet. Alle Menschen hier sehen aus, als hätten sie etwas zu verbergen – und als wären sie bereit, mich um die Ecke zu bringen, um ihr Geheimnis zu schützen.
Bis auf Keira.
Keira würde mich auch ohne Geheimnis am liebsten um die Ecke bringen, das hat sie sehr deutlich gemacht.
Zugegeben, das Gespräch ist nicht so gelaufen, wie ich es mir vorgestellt habe, so ganz nehme ich ihr die Nummer der kratzbürstigen Eisprinzessin jedoch nicht ab.
Klar, wenn ich eine Frau wie sie in einer Bar sehen würde, würde ich immer mit ihr flirten – allerdings war sie diejenige, die in Kodiak unser Gespräch initiiert hat. Sie hat mich angesprochen und dabei ziemlich schnell deutlich gemacht, was sie von mir will. Und ich lasse mir bestimmt nicht einreden, dass unser Sex nicht alles andere als großartig war.
Also keine Ahnung, wem sie etwas vormachen will – und warum sie so versteift darauf ist, dieses Spielchen zu spielen. Diese Scharade, in der wir so tun, als wäre ich eine Landplage, die sie in Echo Cove heimsucht.
Wir könnten auch einfach Spaß haben. Eine gute Zeit zusammen genießen. Oder zumindest Freunde sein.
Keiras hübsches Gesicht flackert noch immer vor meinem inneren Auge, als ich meinen Mietwagen zurück in die Auffahrt von Archers Haus lenke. Er ist mit Koda bei seiner Arbeit im Schutzgebiet, aber Brynn erwartet mich bereits mit vier großen Kartons am Treppenende.
»Warst du einkaufen?« Ich schließe die Tür hinter mir.
»Wünschte, es wäre so.« Sie seufzt und deutet auf die Boxen. »Hilf mir lieber mal, die ins Arbeitszimmer zu bringen.«
Ich nehme die, die am schwersten aussieht, und sehe hinein. Das Zeug ist chaotisch zusammengeworfen und wirkt ziemlich alt, teilweise sogar ein bisschen verstaubt. »Was ist das?«
»Ein paar alte Unterlagen aus Liams Zimmer. Archer hat gesagt, dass wir dort vielleicht Hinweise zu den Wilderen finden könnten, falls Liam Conway bereits auf dem Schirm hatte. Nun, da wir …« Sie sieht über die Schulter zu mir, stoppt vor der Tür zum Arbeitszimmer, das unter der Treppe im Erdgeschoss liegt, und ein Schatten zuckt über ihre Züge. »Na ja. Du weißt schon. Nun, da wir Gewissheit haben, hat er es endlich übers Herz gebracht, es leerzuräumen. Er hat gesagt, es ist Zeit loszulassen. Eine neue Ära. Es war trotzdem sehr schwierig für ihn.«
Ich verziehe die Mundwinkel. Es ist für mich nur schwer nachzuvollziehen, was Archer durchgemacht hat. Allein bei der Vorstellung wird es eng in meiner Brust; am liebsten würde ich den Gedanken wieder fortscheuchen. Ich hasse das hilflose Gefühl, das die Trauer der Tragödie in mir verursacht; ich hasse die Vorstellung, dass so viel Leid, so viel Unrecht geschehen ist, ohne dass man etwas dagegen tun kann.
Dabei sind Brynn und mir Tragödien nicht fremd. Wir haben unseren Vater nie kennengelernt, und unsere Mutter ist gestorben, als wir noch Kleinkinder waren – ich habe keine Erinnerung an sie, zumindest keine, auf die ich mich verlassen kann. Danach haben wir den Großteil unseres Lebens bei unserer Granny verbracht und sie schließlich verloren, als ich Teenager war. Ich weiß noch, wie ich mich damals gefühlt habe, in einem viel zu großen geborgten Anzug vor ihrem Grab.
Liebe ist ein verdammter Scam.
Alles auf der Welt geht vorüber; keine Beziehung hält für die Ewigkeit. Vielleicht sind diejenigen, die sich im Streit trennen und ein gebrochenes Herz davontragen, die Glücklichen; denn sie müssen nie erleben, wie es ist, einen geliebten Menschen zu verlieren.
Und wie kann man diesen Schmerz verhindern? Indem man niemanden an sich heranlässt.
Und das habe ich getan.
Sex ist okay, Spaß ist okay, Freundschaft ist okay; Liebe kann mich am Arsch lecken. Ich habe Brynn – die ich, wie sie mir schon öfter verdeutlicht hat, nicht loswerden kann –, und das reicht. Denn ich kann nicht riskieren, dass mein Herz einmal so gebrochen wird, dass ich es nicht mehr zusammensetzen kann.
»Das ist alles so abgefuckt.« Ich folge Brynn in das Arbeitszimmer, das aussieht, als hätte Archers Granny es eingerichtet. Schwere Regale, altmodische Deko, ganz anders als der Rest des Hauses.
»Kannst du laut sagen.« Brynn stellt ihren Karton ab und reibt sich die Hände an ihrer hellen Jeans sauber. »Ich wünschte, ich könnte ihm den Schmerz nehmen, doch es ist sein Weg. Er muss es verarbeiten, verstehst du?« Sie seufzt. »Er hat sich ziemlich gewehrt, aber ich habe ihn überzeugt, auch einmal in der Woche mit einem Therapeuten zu sprechen. Virtuell natürlich. Am Anfang hielt er es für kompletten Unfug und beharrte darauf, dass er so etwas nicht braucht. Inzwischen beschwert er sich nicht mehr, und ich merke, wie gut es ihm tut.« Sie lächelt sanft. »Erzähl ihm bitte nicht, dass ich das gesagt habe. Ich weiß, ich plappere zu viel, aber es ist so gut, endlich mal wieder einen Freund hierzuhaben.«
Ich mime einen Reißverschluss, der meine Lippen verschließt. »Ich dachte, dass du dich mit dieser Willow gut verstehst?«
Brynn presst die Lippen zusammen. »Willow ist Keiras beste Freundin, und Keira ist nicht begeistert, wenn wir zusammen abhängen. Ich will einerseits keinen Keil zwischen sie bringen, andererseits möchte ich mich auch nicht einfach vertreiben lassen, verstehst du?«
Bin ich einfach nur zwischen die Fronten des Keira-Brynn-Gefechts geraten, oder hat Keira den gesamten Callahans den Krieg erklärt?
»Ergibt Sinn. Keira ist wirklich nicht gut auf dich zu sprechen.«
Am liebsten hätte ich mir auf die Zunge gebissen. Eigentlich bin ich ziemlich gut, was mein Pokerface angeht, doch meine Schwester kennt mich besser als jeder andere Mensch auf Erden.
Glücklicherweise ist Brynn allerdings bereits dazu übergegangen, die Zettel aus dem Karton auszusortieren, und scheint nicht über meine Worte nachzudenken. »Sie hasst mich. Ich bin in ein kleines … na gut, vielleicht eher mittelgroßes Fettnäpfchen getreten, und sie hat es mir nie verziehen. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass mehr dahintersteckt. Archer sagt, sie benutzt ihre Wut als Schutzpanzer. Und mich zu verabscheuen gibt ihr etwas zu tun. Echo Cove kann ziemlich langweilig sein, wenn man kein Projekt hat.«
»Ja, den Eindruck habe ich auch.« Ich schmunzle und beuge mich über den Karton. »Na, dann wollen wir mal den Rest holen und loslegen, oder?«
***
Wir verbringen den Nachmittag damit, die Kartons durchzugehen, und legen die Dokumente in Ordnern ab. Brynn besteht darauf, dass nichts im Mülleimer landet – nur für den Fall –, und ich bringe es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass nichts von all dem wirklich von Bedeutung ist.
Es sind alte Hausaufgaben, Schmierzettel, Zeitschriften und Rechnungen – alles Dinge, die höchstens einen sentimentalen Wert haben. Trotzdem hält mir Brynn immer wieder einen Zettel unter die Nase und fragt mich, ob ich denke, er könne nützlich sein.
Meine Antwort darauf lautet grundsätzlich »Nein«, aber aus Mitleid sage ich ab und zu »Vielleicht«, nur um sie zu unterhalten.
»Ich glaube, ich mache uns heute Loaded Nachos zum Abendessen. Wir haben noch veganes Hühnchen und eingelegte Jalapeños, das wird lecker.«
»Klingt gut.« Ich greife nach einem schmalen dunkelgrünen Notizbuch und schlage es auf einer zufälligen Seite auf. »Brauchst du noch was vom Laden?«
»Nope. Ich könnte Archer höchstens fragen, ob er …« Das Klappern eines Schlüssels im Türschloss unterbricht sie. »Oh, ist wohl zu spät, er ist schon hier. Na ja, ist okay, ich kann improvisieren. Hey, Baby!« Die letzten Worte sind an Archer gerichtet, und ich senke den Blick wieder auf das Büchlein, während sie aus dem Raum stürmt.
Besser, wenn ich ihnen ein bisschen Zeit zusammen lasse. Es ist schon peinlich genug, hier mit ihnen zu wohnen.
Nachdenklich blättere ich durch die Seiten. Liam hatte eine typische Teenager-Handschrift – das, was Englischlehrende als unleserlich beschreiben würden. Aber die Einträge hier sind in einem völlig anderen Stil geschrieben – mit runden, geschwungenen Buchstaben und Herzen als i-Punkte. Irritiert halte ich inne und blättere zurück auf die erste Seite nach dem Einband.
Dieses Buch gehört
Ada Hale