The Truth In Your Lies - Julia Pauss - E-Book

The Truth In Your Lies E-Book

Julia Pauss

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Beschreibung

Fake Dating vom Feinsten! Sie ist die Erbin einer der größten Hoteldynastien Amerikas, er ist ein Kleinkrimineller. Noelle will ihrem Vater ihren neuen Freund vorstellen, Memphis will die Reichen um ihren Schmuck erleichtern. In einer schicksalhaften Nacht auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung prallen ihre Welten aufeinander. Alles, was schiefgehen kann, geht schief – und auf der Tanzfläche landet Noelle in den Armen von Memphis. Schon wenige Stunden später kursieren Fotos der beiden in der Boulevardpresse. Unter dem Druck ihres strengen Vaters behauptet Noelle, Memphis sei ihr neuer Partner. Wie soll sie ihrem Vater erklären, dass sie ihren echten Freund auf der Gala beim Fremdgehen erwischt hat, nur um kurz darauf mit einem Gangster zu tanzen? Doch ihre Notlüge schlägt höhere Wellen als gedacht: Ihr Vater besteht darauf, dass ihr vermeintlicher Freund mit auf den Familiensitz nach Colorado kommt, um ihn auf Herz und Nieren zu prüfen. Noelle bleibt nichts anderes übrig, als Memphis einen Deal vorzuschlagen … The Truth In Your Lies: Gegensätze ziehen sich an - New Adult at it's best: Die aufregende Liebesgeschichte zwischen der reichen Hotelerbin Noelle und dem charmanten Gauner Memphis. - Große Emotionen: Ein mitreißender Roman über Liebe, Selbstfindung und die Kraft, den eigenen Weg zu gehen – für Mädchen ab 16 Jahren. - Voll im Trend: Mit den angesagten Tropes Fake Dating und Opposites attract. - Young Adult mit feministischem Twist: Eine starke Protagonistin auf der Reise zu sich selbst. The Truth In Your Lies entführt seine Leser*innen ab 16 Jahren in eine Welt der ganz großen Gefühle. Neben den beliebten Tropes "Fake Dating" und "Opposites attract" sorgt ein feministischer Twist für Tiefgang: Die Hotelerbin Noelle entwickelt sich von einer Frau, die ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellt, zu einer selbstbewussten Persönlichkeit. Das perfekte Buch für Fans von New-Adult-Romanen!  

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Über dieses Buch

Fake Dating vom Feinsten!

 

Sie ist die Erbin einer der größten Hoteldynastien Amerikas, er ist ein Kleinkrimineller. Noelle will ihrem Vater ihren neuen Freund vorstellen, Memphis will die Reichen um ihren Schmuck erleichtern. In einer schicksalhaften Nacht auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung prallen ihre Welten aufeinander. Alles, was schiefgehen kann, geht schief – und auf der Tanzfläche landet Noelle in den Armen von Memphis. Schon wenige Stunden später kursieren Fotos der beiden in der Boulevardpresse. Unter dem Druck ihres strengen Vaters behauptet Noelle, Memphis sei ihr neuer Partner. Wie soll sie ihrem Vater erklären, dass sie ihren echten Freund auf der Gala beim Fremdgehen erwischt hat, nur um kurz darauf mit einem Gangster zu tanzen? Doch ihre Notlüge schlägt höhere Wellen als gedacht: Ihr Vater besteht darauf, dass ihr vermeintlicher Freund mit auf den Familiensitz nach Colorado kommt, um ihn auf Herz und Nieren zu prüfen. Noelle bleibt nichts anderes übrig, als Memphis einen Deal vorzuschlagen …

 

 

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

wenn du traumatisierende Erfahrungen gemacht hast, können einige Passagen in diesem Buch triggernd wirken. Sollte es dir damit nicht gut gehen, sprich mit einer Person deines Vertrauens. Auch hier kannst du Hilfe finden: www.nummergegenkummer.de

 

Schau gern hinten nach, dort findest du eine Auflistung der potenziell triggernden Themen in diesem Buch. Um Spoiler zu vermeiden, steht der Hinweis hinten im Buch.

 

 

 

Für alle, die lernen müssen, manchmal einfach »Nein« zu sagen.

Teil 1

Kapitel 1

Noelle

 

Es würde perfekt werden. Es musste perfekt werden; immerhin hatte ich den Abend bis ins kleinste Detail geplant. Mit eiskalten Fingern strich ich eine helle Haarsträhne hinter mein Ohr und ließ den Blick über das Foyer schweifen. Einmal im Jahr verwandelte sich das Grand Dunhill Hotel in Manhattan in ein gleißendes Meer aus Lichtern, und jeden November raubte mir der Anblick erneut den Atem. Alles im Foyer war wie in flüssiges Gold getaucht; angefangen von den massiven Säulen aus cremefarbenem italienischem Marmor bis hin zu den spiegelglatten schwarz-weißen Fliesen, die den Schein der Flammen reflektierten.

Die Benefizgala stand für alles, was meine Familie ausmachte: Eleganz, Tradition und guter Geschmack. Schon als Mädchen hatte ich mich jedes Jahr wie eine kleine Prinzessin gefühlt, wenn mein Vater mich durch den Ballsaal geleitet hatte. Vielleicht hatte ich mir deshalb ausgerechnet diesen Tag ausgesucht, um den großen Schritt zu wagen. Immerhin brauchte eine Märchenprinzessin auch einen Prinzen an ihrer Seite.

Es war acht Monate her, seit ich Daniel bei unserer gemeinsamen Abschlussfeier in Yale zum ersten Mal nähergekommen war. Mit seinem englischen Akzent hatte er mir hoffnungslos den Kopf verdreht, so sehr, dass ich bereit war, für ihn ein Risiko einzugehen. Denn sexy Brite hin oder her, ich war eine Dunhill, und für Dunhills galten andere Regeln. Eine reiche Hotelerbin war immerhin ein gefundenes Fressen für die Medien, und solange ich denken konnte, tat mein Vater alles, um unsere Gesichter aus den Klatschspalten herauszuhalten. Der Preis dafür? Mein Leben fand hinter verschlossenen Türen statt. Keine Partys, keine öffentlichen Auftritte, keine Skandale – selbst in Yale hatte ich den Kontakt zu meinen Kommilitonen auf ein Minimum reduziert, auch wenn mir das den Ruf einer zurückgezogenen Einzelgängerin eingebracht hatte. Sogar vor meinem Liebesleben machten die Regeln meines Vaters nicht halt. In den letzten vierundzwanzig Jahren hatte ich vor anderen Leuten nicht einmal Händchen gehalten, geschweige denn, öffentlich einen Mann geküsst.

Bis jetzt.

Heute Abend war es so weit. Meine Eltern waren eingeweiht, und soweit man dies von meinem Vater behaupten konnte, schien sogar er mit der Sache einverstanden zu sein. Ich würde Daniel meiner Familie vorstellen, mit ihm die Tanzfläche eröffnen und dann für Fotos posieren, er in einem edlen grauen Anzug und ich in meinem taubenblauen Eli-Saab-Kleid, das meine Beine wie der Schleier der Eiskönigin umwehte. Wochenlang hatte ich mir diesen Moment immer wieder ausgemalt, und nun würde er endlich zur Realität werden.

Meine Schritte hallten über den Marmorboden des langen Ganges, und ich versuchte, meine aufsteigende Übelkeit zu ignorieren. Bis jetzt war alles nach Plan verlaufen. Tja, zumindest bis auf ein kleines, aber nicht ganz unwichtiges Detail: Von meinem anglosächsischen Märchenprinzen fehlte bislang jede Spur.

»O Dan …«, wisperte ich, zog das Smartphone aus meiner kristallbesetzten Clutch und drückte die Kurzwahltaste, die mit seiner Nummer belegt war.

»Daniel? Hier ist Elle, bitte entschuldige die Störung. Ich wollte dich nur daran erinnern, dass ich im Foyer auf dich warte, ich glaube, die Veranstaltung startet bald. Bitte mach dir keinen Stress, aber denkst du, du könntest vielleicht …«

Das Piepsen der Sprachbox schnitt mir das Wort ab, und meine manikürten Finger verkrampften sich um mein Handy.

Noelle, du kannst andere Menschen nicht kontrollieren, egal, wie sehr du dir das wünschst. Alles, was in deiner Macht liegt, ist die Entscheidung, wie du auf unangenehme Situationen reagierst, erklang die Stimme meiner Therapeutin in meinem Kopf. Doch wie sollte ich auf Daniel reagieren, wenn er nicht hier war?

Verfluchter Mist.

Mein Vater legte allergrößten Wert auf Pünktlichkeit. Wenn mein Freund seinen Segen bekommen wollte, durfte er an unserem großen Tag auf keinen Fall zu spät kommen, das hatte ich ihm hundertmal gesagt. Mindestens. Ja, ich war ihm damit definitiv auf die Nerven gegangen, aber diese Details waren eben wichtig. Er musste doch …

»Noelle. Da bist du ja.« Der autoritäre Bariton meines Vaters riss mich aus meinen Gedanken.

Automatisch korrigierte ich meine Haltung, ließ das Handy in der Clutch verschwinden und drehte mich um. Robert Dunhill trug einen maßgeschneiderten schwarzen Anzug und sah aus wie ein in Rente gegangener James Bond, der seine Zeit inzwischen hauptsächlich auf Golfplätzen verbrachte.

»Daddy.« Ich zwang mich zu einem angestrengten Lächeln.

Mein Vater musterte mich eingehend. Er hatte das unangenehme Talent, die Lügen seiner Kinder zu durchschauen, noch ehe wir diese überhaupt aussprechen konnten.

»Was machst du hier? Ich hoffe doch sehr, dass Mr. Irvine sich nicht verspätet. Wir haben einen strikten Zeitplan.«

Es war kein Geheimnis, von wem ich meinen Hang zur Kontrollsucht geerbt hatte. Manche hielten den Hotelmagnaten Robert Dunhill für den König auf dem Schachbrett, aber sie lagen falsch. Mein Vater war der Spieler, der die Figuren bewegte.

»Verspätet?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Er sollte gleich hier sein. Er … Ich habe ihn nach oben geschickt, damit er seinen Anzug aufbügeln kann. Er möchte keinen schlechten Eindruck erwecken.«

Mein Vater hob seine buschigen Brauen. »Nun, dann hoffen wir mal, dass er nicht zu spät und mit zerknittertem Sakko auftaucht. Ich vertraue auf deinen guten Geschmack, Noelle, und ich würde nur ungern enttäuscht werden.«

Der Knoten in meinem Magen zog sich fester zusammen. »Natürlich, Vater. Ich sehe gleich nach und werde den Anzug selbst inspizieren.«

»Beeil dich. Wir wollen in fünfzehn Minuten beginnen, pünktlich um acht. Immerhin haben wir einen guten Ruf zu verlieren.«

Ich nickte rasch. »Ja, selbstverständlich. Du kannst dich auf mich verlassen.«

*

Klick-Klack.

Klick-Klack.

Meine Schritte hallten durch das Foyer, hektisch wie der Puls in meinen Adern. Mein Vater hatte sich nach unserem Gespräch zurück in den Ballsaal verabschiedet, um seine Gäste zu begrüßen, doch mir blieb nicht viel Zeit. Ich musste Daniel ausfindig machen, und zwar sofort.

»Pardon?« Ich hielt vor der Garderobe. Keine Spur von meinem Freund.

Hinter der Theke hob eine brünette Frau mit perfekt einstudiertem Lächeln den Kopf. »Ms. Dunhill. Wie kann ich Ihnen an diesem schönen Abend behilflich sein?«

Ich atmete scharf ein. »Hat sich ein gewisser Daniel Irvine hier angemeldet? Er ist in etwa einen Meter fünfundachtzig groß, glatt rasiert, hat dunkles Haar und trägt einen grauen Tom Ford. Er sollte eigentlich schon längst da sein.«

»Einen Moment.« Mechanisch senkte die Frau den Blick und ging eine Liste auf seinem Tablet durch. »Irving?«

»Irvine«, korrigierte ich und verkrampfte die Finger um meine Clutch. »Daniel.«

Die Angestellte sah auf und schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Ms. Dunhill. Mr. Irvine ist auf der VIP-Gästeliste verzeichnet, aber er hat sich noch nicht angemeldet, und sein Wagen wurde auch nicht beim Valet-Service verzeichnet. Möchten Sie, dass ich seinen Fahrer kontaktiere?«

Ich würgte die Enttäuschung hinunter und schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank, er fährt seinen eigenen Wagen. Können Sie mich informieren, sobald er eincheckt?«

»Selbstverständlich, Ms. Dunhill. Gibt es noch etwas, das ich für Sie tun kann?«

»Nein, danke …« Ich stoppte. Das konnte doch nicht wahr sein. Ich kannte ihren Namen nicht. Dabei hatte ich die junge Angestellte schon etliche Male gesehen. Meine Kehle zog sich zusammen, und ich schüttelte rasch den Kopf. »Das war alles, vielen Dank.«

Ich tat mein Bestes, mir meine Betretenheit nicht anmerken zu lassen, und wandte mich ab. Natürlich musste ich nicht jeden einzelnen Mitarbeiter im Luxushotel persönlich kennen, doch meinem Vater würde so ein Fauxpas nicht passieren. Robert Dunhill kannte jede Person, die in seinem Betrieb ein- und ausging.

Aber du bist nicht wie er, meldete sich die Stimme in meinem Kopf erneut, doch dieses Mal klang sie nicht wie meine Therapeutin, sondern wie ich selbst. Und deshalb hat er dich noch immer nicht zur Assistant Managerin gemacht.

Vor sechs Wochen hatte ich meinen Vater zum ersten Mal auf die Stelle angesprochen. Mit Ende des Jahres würde die aktuelle Managerin das neue Dunhill Resort in Vermont übernehmen, und ich war mir sicher gewesen, dass ich den Posten nach meinem, zugegeben, makellosen Abschluss der Yale School of Management bekommen würde. Immerhin hatte mein Vater darauf bestanden, dass ich als älteste Tochter in seine Fußstapfen trat, denn auch er hatte das Hotel einst von meinem Großvater geerbt. Bloß hatte Robert Dunhill nun, da es so weit war, seine Meinung offenbar geändert.

Gute Noten allein machen keine gute Assistant Managerin, Noelle.

Es war nicht das erste Mal, dass ich eine Variation dieses Satzes zu hören bekommen hatte. Auf dem Papier war ich schon in der Grundschule die perfekte Schülerin gewesen: ausgezeichnete Noten, perfekte Präsentationen und vorbildhafte Recherche. In Sachen Social Life war ich am Campus allerdings heillos überfordert gewesen, und auch im Hotel war es nicht anders. Ich wusste nie genau, wie ich mit anderen Menschen umgehen sollte, also wählte ich meist die einfachste Methode – und ging ihnen lieber aus dem Weg. Leider war das nicht die beste Art, um Verbindungen zu knüpfen. Ehrlich gesagt grenzte es an ein Wunder, dass Daniel es geschafft hatte, sich irgendwie in mein Herz zu schleichen.

Oh, Daniel.

Ich sah erneut auf mein Handy. Statt einem Lebenszeichen von meinem Freund blinkte mir bloß die Zeitanzeige entgegen.

19:48.

Na wunderbar.

»Elle?« Eine helle Stimme ertönte von der geschwungenen Treppe am Ende des Foyers.

Hastig sperrte ich den Bildschirm. »Sadie! Da bist du ja.«

Meine kleine Schwester war mir wie aus dem Gesicht geschnitten: zierlich, mit großen blauen Augen, rundem Gesicht und kleiner Stupsnase. Bis vor einem halben Jahr war sie genauso hellblond wie ich gewesen, doch zu ihrem sechzehnten Geburtstag hatte sie sich ihre schulterlangen Haare dunkelbraun gefärbt. Eigentlich hätte es schwarz sein sollen, aber das hatte unser Vater nicht zugelassen. Sadie steckte laut ihm gerade in ihrer rebellischen Phase, ein Lebensabschnitt, den jeder Teenager früher oder später durchlebte.

Nun ja. Fast jeder. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals besonders aufmüpfig gewesen zu sein. Eigentlich fiel mir nur ein wilder Moment in meinem Leben ein: Damals hatte ich meine Liebe zur Ölmalerei entdeckt und meine Eltern um Erlaubnis gebeten, einen Sommer in einer Akademie für bildende Künste in Italien verbringen zu dürfen. Sie hatten Nein gesagt, und damit war die Sache erledigt gewesen.

»Ich hab dich schon gesucht!« Aufgeregt eilte meine Schwester in ihrem pfirsichfarbenen Ballkleid die Wendeltreppe hinunter. »Wollte dich warnen. Dad will mit dir reden.«

Ich versteifte mich. »Er hat mich schon gefunden. Hast du Daniel irgendwo gesehen?« Sadie war die einzige Person, die ich von Anfang an in meine Beziehung eingeweiht hatte, und vielleicht hatte ich meiner Schwester manchmal ein bisschen zu viel erzählt.

Dementsprechend verzog sie sofort das Gesicht. »Ist er schon wieder zu spät?«

Na wunderbar. Genau das wollte ich gerade am wenigsten hören. Ja, Daniel war nicht perfekt, doch wie meine Therapeutin gerne betonte, war es absurd, solche Ansprüche zu stellen. »Er ist … Vielleicht ist ihm etwas zugestoßen? Oh, Sadie, ich mache mir wirklich Sorgen …«

»Aber sein Wagen steht doch hinten?«, unterbrach mich meine Schwester irritiert.

Ich blinzelte. »Wie?«

Sadie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich hab mich ja vorhin bei Elodie fertig gemacht, und ihr Chauffeur hat uns hergefahren, weißt du? Wir haben ihn gebeten, noch einen kleinen Umweg zu machen, weil ich eine Riesenlust auf Pommes hatte, also hab ich ihn so lange genervt, bis er mit uns durch den Drive-in gefahren ist. Jedenfalls: Wir sind hintenrum, und ich bin mir ziemlich sicher, dass dort Daniels Auto steht. Du weißt schon, dieser hässliche orangefarbene McLaren. Dachte mir, dass er ihn vielleicht lieber dort parkt, anstatt dem Valet die Schlüssel zu geben.« Sie legte die Stirn in Falten. »Obwohl, irgendwie ergibt das keinen Sinn. Na ja, ich kenne mich damit ja nicht aus, also …«

»Wann war das?«, verlangte ich zu wissen, bevor Sadie sich in einer erneuten Ausschweifung verlieren konnte. Der Sekundenzeiger der großen Uhr, die an der Wand des Hotels hing, schien zu rasen. Hatte jemand eine zu starke Batterie eingelegt?

»Ähm, gerade eben?«

Mein Herz geriet kurzzeitig aus dem Takt. »Danke, du bist ein Schatz!« Ich raffte die seidig-glatten Bahnen meines Kleids, ließ meine Schwester zurück und steuerte auf den schmalen, mit dunkelrotem Teppich ausgekleideten Flur zwischen Büros und Fitnesscenter zu, der zu den Privatparkplätzen führte.

Hinter meiner Stirn kündigte ein heißes Kribbeln eine kommende Kopfschmerzattacke an. Ich hatte mich um alles gekümmert, jedes kleinste Detail. Alles, was Daniel machen musste, war, pünktlich hier aufzukreuzen. War das zu viel verlangt? Ich wusste, dass er es nicht leicht mit mir hatte, wusste, dass ich nicht immer einfach war, das hatte er bereits mehr als einmal betont. Aber ich gab mir Mühe, und alles, was ich von ihm erwartet hatte, war …

Ich riss die Tür zum Parkplatz auf, und ein eisiger Windzug schlug mir entgegen. Panik brodelte in meiner Brust, obwohl ich nicht einmal genau wusste, weshalb. Sicherheitshalber hob ich den Saum meines Kleides an und eilte über den schwarzen Asphalt. In der Dunkelheit waren die Luxuswagen nur als Schemen zu erkennen, die wie schlafende Kreaturen in den Schatten lagen und auf die Rückkehr ihrer Meister warteten. Einzig ein paar einsame gusseiserne Laternen spendeten schwaches Licht – gerade genug, um die Farben der Autos zu erkennen.

Was, wenn er eine Überraschung geplant hat?

Ich schluckte schwer. Es gab kaum etwas, das ich weniger ausstehen konnte als Überraschungen – und Daniel wusste das.

Was, wenn er dir einen Antrag machen will?

Ein Stich bohrte sich durch mein Innerstes. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn. Es wäre natürlich … wunderbar, im Prinzip, aber er konnte das doch nicht einfach ohne Absprache machen. So eine spontane Aktion würde meine Jahresplanung ganz fürchterlich durcheinanderbringen! Ich musste ihm diese Idee so schnell wie möglich austreiben, bevor die Sache eskalierte.

»Dan!« Erleichterung durchflutete mich, als ich den orangefarbenen McLaren in der Dunkelheit erkannte. Sadie hatte recht. Es war ein grauenhaft hässliches Gefährt, aber es war Daniels ganzer Stolz. Ich beschleunigte meine Schritte. Im Inneren des Wagens schien Licht, und wenn ich die Augen zusammenkniff, konnte ich die Silhouette einer Person hinter dem Lenkrad ausmachen. Was tat er denn bloß so lange? »Dan …!«

Ein kalter Schauer durchfuhr meinen Körper, ließ mein Herz zu Eis erstarren.

Der Saum meines Kleids glitt aus meiner Hand.

Nicht eine Person.

Zwei Personen.

Zwei Körper.

Das Klackern meiner Absätze verhallte. Nein, das … das durfte nicht sein, versuchte mein Herz die Realität abzustreiten, doch es war ein schwacher Einwand. Ein letztes Aufbäumen gegen eine Wahrheit, die meine Augen nicht leugnen konnten. Wie damals, als ich eine Haarnadel in seinem Bad gefunden hatte.

Was, das? Elle, das ist deine, wie soll sie sonst hierhergekommen sein?

Aber ich trug nie schwarze Haarnadeln, weil sie nicht zu meinen hellen Haaren passten.

Ach, dieses Foto meinst du! Keine Ahnung, wer die Frau ist, das war die Sängerin, die an dem Abend aufgetreten ist, wir haben alle Fotos mit ihr gemacht! Seit wann bist du denn so paranoid? Du weißt doch, dass ich nicht auf Brünette stehe.

Aber an dem Abend war gar keine Sängerin im Club gewesen, ich hatte es gegoogelt.

Sorry, Schatz, schaffe es heute Abend nicht mehr. Die Besprechung dauert länger, warte nicht auf mich.

Aber ich hatte vor dem Bürogebäude gestanden, und nirgendwo hatte Licht gebrannt.

Keine Haarnadeln.

Keine Sängerinnen.

Keine Besprechungen.

Kein Heiratsantrag.

Das Gebilde aus Lügen brach wie ein Kartenhaus über mir zusammen.

Das Mädchen auf seinen Schoß bäumte sich auf und schob die Hände unter sein Jackett.

Ich habe ihm den Anzug gekauft, schoss es mir durch den Kopf.

Er muss ihn zur Reinigung bringen.

Im Wagen schienen die beiden Liebenden gegen einen Schalter gestoßen zu sein, denn ein Kegel aus grellem Scheinwerferlicht erhellte die Dunkelheit und nahm mir die Sicht.

Gedämpftes Fluchen.

»Oh, shit! Geh … geh da runter …«

Eine Autotür.

»Elle? Was machst du denn hier? Ich dachte …«

Die Worte rauschten durch mein Bewusstsein, als wäre seine Stimme bloß ein Knistern in der White Noise Machine, die ich zum Einschlafen brauchte.

Immerhin muss ich mir keine Sorgen mehr um einen Antrag machen, meldete sich die Vernunft in meinem Kopf. Offenbar war eiskalte Logik der einzige Teil meines Bewusstseins, der noch immer einsatzfähig war.

Das wäre wirklich sehr ungünstig gewesen.

Kapitel 2

Memphis

 

Man konnte über die Reichen und Schönen sagen, was man wollte, aber eine Sache gefiel mir an ihnen besonders gut: Sie waren wunderbar leichtgläubig. Diese Naivität stieg exponentiell dazu an, wie sehr sie sich in Sicherheit wogen. Sicherheit bedeutete in ihrem Fall, dass sie unter ihresgleichen waren. An schönen, sicheren Orten, an denen das gemeine Fußvolk nicht an ihr schwer erschwindeltes Geld gelangen konnte. Aus dieser Perspektive betrachtet tat ich der Gesellschaft sogar einen Gefallen. Wie ein moderner Robin Hood, sozusagen. Ich nahm von den Reichen, um den Bedürftigen zu geben, und so weiter und so fort. Nun, genau genommen war es eher ein Bedürftiger, nämlich ich selbst. Aber man musste die Sache ja nicht so genau nehmen.

Im Laufe der Jahre hatte ich mehrere Taktiken entwickelt, um meinen, zugegeben, mageren Lohn als Koch in Bronson’s Diner aufzubessern. Kleine Schwindel, Spielbetrug, Identitätsdiebstahl, Online-Betrügereien. Damit kam man gut über die Runden, doch mit der Zeit wurde es langweilig. Und wenn es etwas gab, das ich mehr liebte als leicht verdientes Geld, dann war es eine Herausforderung. Glücklicherweise hatten die Veranstalter der heutigen Gala mir die perfekte Kulisse dafür geliefert.

»Verzeihung?« Mit einem warmen Lächeln trat ich zu einer älteren Dame, die in ihrem dunkelblauen Kleid am Rande des hell erleuchteten Ballsaals stand und an einem halb leeren Glas Champagner nippte.

Sie hob den Kopf, sah mich und ihr säuerlicher Gesichtsausdruck wandelte sich schlagartig in ein mädchenhaftes Lächeln.

Bingo.

Zugegeben, ich konnte es ihr nicht verübeln. Ich hatte mich für den Anlass regelrecht herausgeputzt und meine Tätowierungen unter dem smarten anthrazitfarbenen Anzug versteckt, den ich von der Wäscherei meines Vertrauens geborgt hatte. Meine widerspenstigen kohlschwarzen Haare waren mit einer Portion Gel gezähmt, und sogar mein Kinn hatte ich ausnahmsweise glatt rasiert. Zusammen mit den Grübchen, hohen Wangenknochen und stechend grauen Augen lieferte ich den Leuten einen Anblick, dem nur wenige widerstehen konnten. Das war keine Egomanie, sondern Fakt. Vermutlich.

»Wie kann ich Ihnen behilflich sein, junger Mann?«, flötete die Dame und strich mit den manikürten Fingern über ihre schneeweiße Pelzstola.

»Ich habe leider mein Telefon in meiner Manteltasche vergessen.« Ich seufzte und deutete in Richtung Garderobe. »Könnten Sie mir sagen, wie spät es ist?«

Ihre Augen leuchteten freudig auf. »Diese jungen Leute! Sehen Sie, deshalb trage ich immer eine Uhr bei mir. Man kann ja wirklich nicht ständig ein Telefon mit sich herumschleppen. Es ist im besten Fall unpraktisch und im schlimmsten Fall stillos. Wissen Sie, neulich saß ich in der Oper, und jemand hatte doch tatsächlich vergessen, das Handy auszuschalten.« Mit affektiertem Entsetzen schüttelte sie den Kopf. »Scheußlich. Mit einer schönen klassischen Uhr wäre so etwas nicht passiert. Sie sollten sich wirklich eine zulegen.« Sie tippte auf das Ziffernblatt ihres silbernen Zeitmessers mit Cartier-Logo. »Zehn Minuten vor acht. Gleich geht es los.«

Ich schmunzelte. »Vielen Dank. Und Sie haben völlig recht. Leider bin ich nicht unbedingt ein Uhrenmann.«

»Kein Uhrenmann!« Erneut schüttelte sie den Kopf. »Sie sind doch so ein adretter Kerl!«

»Nun, sehen Sie …« Ich zwinkerte. »Dann hätte ich ja keinen Grund mehr, interessante Damen anzusprechen.«

Blut schoss in ihre gelifteten Wangen. »Ach, Sie sind vielleicht ein Charmeur.« Sie winkte ab, aber das Funkeln in ihren Augen verriet sie. »Wenn ich nicht seit dreißig Jahren verheiratet wäre …«

»Dreißig Jahre?«, wiederholte ich mit einem falschen Hauch von Sehnsucht in der Stimme. »Das ist wirklich beeindruckend. Verraten Sie mir Ihr Geheimnis?«

»Ach was, es ist gar nicht so schwierig, wie die jungen Leute denken. Man braucht einfach nur gute Nerven und eine ordentliche Prise Geduld.« Sie lachte. »Und man darf die Romantik nicht zu kurz kommen lassen. Mein Mann und ich haben gerade erst unsere Perlenhochzeit gefeiert.« Instinktiv legte sie die Hand auf die perlenbesetzte Brosche an ihrem linken Brustbein. »Ein Geschenk zum Hochzeitstag. Ist sie nicht liebreizend? Er hat sie eigens für mich anfertigen lassen, sehen Sie? Hier sind unsere Namen eingraviert, E und W. Steht für Edith und Wesley.« Ein entzücktes Seufzen trat über ihre Lippen.

»Lassen Sie mal sehen.« Ich beugte mich nach vorn und begutachtete das Schmuckstück. Nicht schlecht. Dafür würde mir der Pfandleiher einen schönen Batzen Kohle hinlegen, denn was dem guten Wesley an Geschmack fehlte, hatte er offenbar mit seiner Geldbörse ausgeglichen. »Wirklich sehr hübsch. Da haben Sie sich aber einen Guten geschnappt.« Ich hob den Blick und winkte. Am anderen Ende des protzig geschmückten Saals setzte sich ein bulliger Kellner mit einem Tablett voller Champagnerflöten in Bewegung.

»Allerdings«, erwiderte Edith. »Sind Sie zum ersten Mal auf der Dunhill-Gala?«

Ich lachte leise. »Was hat mich verraten?«

»Nun, erstens habe ich Sie noch nie gesehen. Wesley und ich kommen jedes Jahr hierher. Und außerdem haben Sie diesen Ausdruck im Gesicht.«

»Und welcher wäre das?«

»Der, den jeder hat, der zum ersten Mal auf der Gala ist.« Sie deutete um sich. »Es ist prächtig, nicht wahr? Robert lässt sich wirklich nicht lumpen, wenn es um seine Veranstaltungen geht. Ich schätze, deshalb ist seine Familie auch so erfolgreich. Reichtum, eine blütenweiße Weste und in all den Jahren kein einziger Skandal.«

Ich folgte ihrer Handbewegung mit dem Blick. Natürlich gefiel Edith diese Einrichtung – das Grand Dunhill Hotel sah aus, als wären wir direkt im Vorzimmer des Königs von England gelandet. Oder zumindest so, wie ich es mir vorstellte. Marmor, Gold und roter Samt – reinster Kitsch, so weit das Auge reichte. Schwere Vorhänge zierten eine hohe Fensterwand, und in der Mitte des Saals hing ein gewaltiger Kronleuchter mit echten Kerzen. Welches arme Schwein musste dieses Ding bloß putzen?

»Zumindest keinen Skandal, den man nachweisen kann«, entgegnete ich schließlich amüsiert. Der Keller stoppte neben uns, deutete eine Verbeugung an, und ich nahm zwei Gläser vom Tablett. Eines davon tauschte ich gegen Ediths halb leeres Glas, aus dem anderen nahm ich selbst einen Schluck. Zumindest nicht schlecht, der Fusel.

»Kann ich Ihnen noch etwas anbieten?«, fragte der Mann und senkte den Kopf. »Vielleicht ein Häppchen oder eine Serviette?«

»Nein, vielen Dank«, erwiderte ich, wandte mich ab und stieß prompt mit dem Ellenbogen gegen das Tablett. Ungeschickt stolperte der Hüne einen Schritt nach vorn, versuchte, das Unausweichliche zu vermeiden, aber es war bereits zu spät. Klirrend fiel das erste Kristallglas zur Seite und riss die anderen wie Dominosteine mit sich. Edith kreischte, wich der Flüssigkeit aus und geriet dabei gefährlich ins Schwanken. Noch ehe sie zu Boden stürzen konnte, hatte ich allerdings bereits ihre Hand gepackt.

»Alles in Ordnung?« Besorgt schob ich mich zwischen sie und den Kellner, der Entschuldigungen vor sich hin murmelte und begann, die Scherben aufzusammeln.

»Ach, du liebe Güte, was für ein Trampel!«

»Sehen Sie? Robert Dunhill hat eben doch nicht alles im Griff.« Ich schmunzelte. Während meine rechte Hand noch immer schützend an ihrem Handgelenk lag, zog ich mit der linken mein Einstecktuch aus der Brusttasche und tupfte damit vorsichtig die Schampusflecken von Ediths linker Schulter.

»Sieht aus, als hätte die Brosche ein wenig abgekriegt, aber das haben wir gleich …« Als ich das Schmuckstück berührte, verengten sich Ediths Augen. Rasch setzte ich mein freundlichstes Lächeln auf und löste mich von ihr. »So, alles wieder sauber.« Ich strich meinen Anzug glatt. »Jetzt müssen Sie mich entschuldigen. Ich sollte meine Begleitung finden, ehe die Veranstaltung beginnt.«

»Aber …«, protestierte Edith, doch ich hatte mich bereits abgewandt. Lässig bahnte ich mir meinen Weg durch die Menge, und das warme Lächeln auf meinen Zügen wich einem schiefen Grinsen, als ich die Hand in die Jackettasche gleiten ließ. Die Wärme von Ediths parfümierter Haut haftete noch immer an dem Metall der diamantbesetzten Uhr.

Die erste Regel der Taschenspielerei war einfach: Aufmerksamkeit war wie ein Scheinwerfer auf einer dunklen Bühne. An der Stelle, die durch den Lichtkegel erleuchtet wurde, konnte einem Menschen in den meisten Fällen nichts entgehen. Es wäre also unmöglich gewesen, die Brosche von Ediths Kleid zu stehlen, nachdem ich mich gerade mit ihr darüber unterhalten hatte. Allerdings hatte sie bei aller Aufregung die Uhr an ihrem anderen Arm völlig vergessen. Jener Arm, den ich gehalten hatte, um sie vor ihrem Sturz zu bewahren. Wahrscheinlich bemerkte sie nicht einmal, dass ihr Zeitmesser fehlte, ehe sie nach der Gala nach Hause kam und …

»Hey! Sie da!«

Oder auch nicht.

»Bleiben Sie stehen! Hey! Ich glaube, er hat meine Uhr geklaut!«

Na gut, vielleicht hatte ich Edith ein kleines bisschen unterschätzt. Aber das Glück lag noch immer auf meiner Seite. Ich musste bloß verschwinden – und das war meine Spezialität.

»Sorry, Edith«, murmelte ich grinsend, schob mich an einem bärtigen Kellner vorbei und nahm die Beine in die Hand.

Kapitel 3

Noelle

 

Die Welt fühlte sich an wie gedämpft. Und trotzdem stand ich kerzengerade neben meinem Vater auf der Bühne im Festsaal. Er hatte keine Ahnung, was ich auf dem Parkplatz erlebt hatte. Niemand wusste das, nicht einmal Sadie. Offiziell war Daniel noch immer zu spät, und wenn es nach mir ging, würde das für den Rest seines erbärmlichen Lebens auch so bleiben.

Neben mir räusperte sich mein Vater. »Wir danken Ihnen allen für Ihr zahlreiches Erscheinen. Die jährliche Grand-Dunhill-Benefizgala ist meiner Familie ein ganz besonderes Anliegen. Und es ist mir eine Freude, den Abend gemeinsam mit meiner Tochter Noelle Grace zu eröffnen, die dieses Jahr ihren Abschluss in Yale summa cum laude absolviert hat!«

Ein leicht erzwungener Applaus ertönte im Saal, und sofort kroch brennende Übelkeit meine Speiseröhre hinauf. Verdammter Mist, dabei hatte ich doch extra eine Tablette gegen Sodbrennen genommen. Ich ballte die Hände zusammen und wünschte mir, ich hätte meine Clutch nicht zuvor abgelegt. Ich wollte mich irgendwo festklammern, Halt finden, während meine heile Welt Stück für Stück zusammenbrach.

In meinem Kopf spielte sich dieselbe Szene immer und immer wieder ab, wie ein kaputtes Band, das ich nicht abstellen konnte. Daniels Gesicht, zuerst panisch, dann wütend. Wütend auf mich, weil ich ihn erwischt hatte.

Wieso schnüffelst du mir nach?

Objektiv betrachtet wusste ich, dass ich jedes Recht der Welt gehabt hatte, ihm die Hölle heißzumachen. Ihm zu sagen, dass er sich zum Teufel scheren sollte und seine kleine Geliebte gleich mit ihm. Aber stattdessen war er ausgestiegen und hatte mit mir geschimpft, während seine Affäre mit weit aufgerissenen Augen im Wagen gewartet hatte.

Als wäre es meine Schuld. Als wäre alles gut gewesen, wenn ich nicht so verflucht pedantisch gewesen wäre und wie eine brave Freundin drinnen auf ihn gewartet hätte.

Siehst du, wozu du mich treibst?

Hatte ich ihn dazu getrieben?

War ich zu angespannt, zu ängstlich, zu unspontan, zu steif, um die Beziehung am Laufen zu halten?

Hatte ich ihm nicht gegeben, was er sich erwartet hatte?

Nein!

Das Wort schwirrte durch meine Gedanken wie ein wildes Tier, das dem Zoo entkommen war. Schnell verbannte ich es wieder in mein Unterbewusstsein und richtete meine Aufmerksamkeit auf die gegenwärtige Situation. Nun, zumindest versuchte ich es, aber die Schuldgefühle hatten nach meinem Herzen gegriffen und weigerten sich, es loszulassen. Verdammt noch mal. Ich hatte die Warnzeichen ignoriert und meiner Familie deshalb beinahe einen Skandal beschert. Wie zum Teufel hatte das passieren können? Ich war doch immer so vorsichtig, zumindest hatte ich das gedacht. Und trotzdem hatte ich mich von Daniel blenden lassen. Wie ein naives Kind. Was, wenn nicht Sadie, sondern ein Paparazzo den Wagen entdeckt hätte?

Undenkbar.

Deshalb hatte ich die Situation wie eine echte Dunhill geregelt. Hatte meine Wut und meinen Schmerz geschluckt und Daniel, der mit hochrotem Kopf schreiend und wild gestikulierend vor mir gestanden hatte, höflich erklärt, dass die Pläne sich angesichts der Tatsachen geändert hatten und es besser sei, wenn er nun nach Hause fahre. Dann war ich umgekehrt und wieder zurück ins Haus geeilt.

Kein Geschrei. Keine Tränen.

Mein Make-up-Artist hatte immerhin eine ganze Stunde gebraucht, um mich für das Event zu stylen, und ich konnte das Werk des Mannes nicht einfach so durch meine Emotionen zerstören. Dafür war Zeit, sobald der Abend vorüber war. Bis dahin galt es, still zu stehen und zu atmen.

Nur zu atmen.

Im Prinzip simpel, aber leider schien meine Lunge vergessen zu haben, wie diese Sache mit dem Luftholen funktionierte. Und war mein Kleid schon immer so eng gewesen? Ich zwang mich, mich auf den großen Schwan aus Eis zu konzentrieren, der in der Mitte des Raums stand, doch das Licht der unzähligen Kerzen stach in meinen Augen, und ich musste den Blick sofort wieder abwenden. Der Abend hätte perfekt werden sollen, wunderschön und makellos, so wie die glatt polierten Bodenfliesen und die weißen Rosen, die in üppigen Gestecken die kleinen Stehtische im Saal zierten. Nun kam mir selbst die glanzvoll dekorierte Halle mit ihrer hohen Decke und dem riesigen Kronleuchter blass und farblos vor.

Mein Vater fuhr fort. »Deshalb werden alle Einnahmen des Abends an Marc Lindgren für die Errichtung des neuen Industriemuseums in Manhattan gespendet. Mit diesem Projekt werden nicht nur neue Arbeitsplätze geschaffen, sondern auch die großen Wirtschaftstreibenden dieser Stadt geehrt.«

Erneut erfüllte Applaus den Saal.

Noch vor wenigen Stunden hatte ich mir ausgemalt, wie es wäre, neben Daniel hier zu stehen, während Vater mich als die neue Assistant Managerin des Hotels vorstellte.

Tja. Wie es aussah, hatte ich nicht einmal mit einer Sache richtiggelegen. Ich hatte meinem Vater einmal mehr bewiesen, dass ich nicht imstande war, Situationen zu analysieren und auszuwerten, hatte mich von meinen Emotionen treiben lassen und damit meine Schwäche als potenzielle Führungskraft unter Beweis gestellt.

Die grellen Lichter der Kameras nahmen mir die Sicht.

Keine Tränen.

Keine verdammten Tränen, schon gar nicht auf einem Foto.

Wie automatisch zog ich die Mundwinkel nach oben und präsentierte meine perfekt gebleachten, perlweißen Zähne. Ich wagte es nicht, zu atmen.

Wagte es nicht, Vater anzusehen.

Oder Mutter, die ihren dünnen Arm um mich legte.

Oder Sadie, die neben ihr stand und mich jeden Augenblick nach Daniel fragen würde.

Sadie, die wusste, dass etwas nicht stimmte.

Sadie, die darauf bestehen würde, mich zu trösten.

Die bloße Vorstellung jagte mir einen Schauer über den Rücken. Schon als Kind hatte ich es gehasst, getröstet zu werden, denn es machte alles viel schlimmer. Verflucht. Ich wollte bloß in mein Bett, das Licht ausmachen und die Welt vergessen.

Neben mir stieg mein Vater nach vorn das kleine Treppchen hinab und schüttelte seinen Gästen die Hände. Noch ehe Sadie eine unbequeme Frage stellen konnte, huschte ich ebenfalls von der Bühne und mischte mich unter die Menge.

Freundliche Gesichter.

Gelächter.

Jemand reichte mir die Hand.

Musik ertönte, und mit einem Mal schien sich der Raum um mich herum zu drehen. Hoffentlich macht keiner ein Foto, schoss es mir durch den Kopf.

Dann gaben meine Knie nach.

Schatten schoben sich in mein Sichtfeld, doch anstatt auf dem harten Boden aufzuschlagen, stieß ich gegen einen warmen, breiten Körper.

Daniel?

»Hey. Alles in Ordnung, Prinzessin?«

Starke Arme zogen mich zurück auf die Beine, und ich hob irritiert den Blick. Für den Bruchteil einer Sekunde tat mein verräterisches Herz einen Sprung, doch Größe und Haarfarbe waren alles, was mein gefallener Prinz mit dem Fremden gemein hatte.

Nicht Daniel.

Definitiv nicht Daniel.

Der Mann war groß, mit vollen Lippen, hohen Wangenknochen und kühlen grauen Augen, die mir besorgt entgegensahen. Unter seinem linken Auge prangte eine etwa drei Zentimeter lange, helle Narbe, und aus seinen zurückgekämmten schwarzen Haaren lösten sich bereits die ersten widerspenstigen Strähnen.

Ich atmete scharf ein. »Ja … ja. Vielen Dank … Ich muss wohl das Gleichgewicht verloren haben. Diese Schuhe sind wirklich nicht dafür gemacht, lange in ihnen zu stehen …«

Der Fremde warf einen kurzen Blick über seine Schulter. »Sind sie zum Tanzen gemacht?«

Wie bitte?

Ehe ich etwas erwidern konnte, schnappte sich der Dunkelhaarige meine Hände und zog mich auf die Tanzfläche.

»H-hey!« Mein Magen krampfte sich unsanft zusammen. Das hier war absolut unerhört, und außerdem hatte ich überhaupt keine Lust, zu tanzen. Das schien dem Fremden allerdings leider egal zu sein. Im Saal ertönte Tschaikowskis Schwanenseewalzer, und ich stolperte auf die Tanzfläche, die Knie noch immer weich wie Pudding.

Um uns herum erhellten die Blitzlichter der Fotografen den Saal. Eine falsche Bewegung, ein zu lautes Wort, und mein Foto würde an Orten landen, an denen es nichts zu suchen hatte.

Ich biss die Zähne zusammen, legte eine Hand in die des Fremden, positionierte die andere auf dessen Schulter und fiel in seinen Schritt ein. Seine Haltung war bei Weitem nicht perfekt, aber gerade war das Tanzen alles, was mich auf den Beinen hielt. Immer wieder verschwamm der Raum um mich herum, doch ich sank gegen den Körper des Fremden und ließ mich von der Musik leiten. Sanft gruben sich meine Finger in den dunklen Stoff seines Jacketts, und ein angenehmer, warmer Geruch stieg mir in die Nase. Er roch nicht nach Parfüm, zumindest nach keinem, das ich kannte. Trotzdem war der Duft angenehm, beinahe betörend, warm und würzig, mit einer frischen Note.

Obwohl ich es besser wusste, lehnte ich meinen Kopf an seine Schulter, und für den Bruchteil einer Sekunde erlaubte ich es mir, mich fallen zu lassen und alles auszublenden: mein Leben, Daniel und den verdammten Käfig, in dem jeder Schritt einem Drahtseilakt glich.

Der Dunkelhaarige senkte den Kopf, und unsere Blicke trafen sich. Heißes Blut schoss in meine Wangen. Er war unheimlich attraktiv, aber nicht auf dieselbe klassische Art wie Dan. Alles an ihm schien scharf wie eine frisch polierte Klinge. Herausfordernd. Intensiv. Die Art von Mann, von der ich mich aus gutem Grund schon immer ferngehalten hatte.

Ich öffnete die Lippen, doch noch ehe ich einen Ton aus der Kehle brachte, verhallten die letzten Takte der Melodie.

Seine Mundwinkel zuckten. »Sorry, Prinzessin.« Er löste sich von mir, und sofort zog mich die Kälte zurück in ihre Klauen.

»Warten Sie …!«, keuchte ich, doch es war zu spät. Er grinste, wandte sich um und verschwand wie ein Phantom in der Menge, genauso schnell, wie er gekommen war. Ich blinzelte.

Wie konnte ein so großer Mann sich so einfach unsichtbar machen? Irritiert stellte ich mich auf die Zehenspitzen und suchte den Saal ab. Ich war kurz davor, aufzugeben, als ich seine dunkle Gestalt an der Terrassentür entdeckte.

»Entschuldigung? Darf ich hier mal durch?« Ich bahnte mir meinen Weg durch die Tanzenden, erreichte die Terrasse, noch ehe die schwere Tür zufallen konnte, und folgte ihm in die Nacht. Kühle Luft schlug mir entgegen, und ein dünner Nieselregen benetzte mein Gesicht. Ich kniff die Augen zusammen. An den steinernen Blumentöpfen entdeckte ich einen Schatten.

»Hallo?«

Ich wusste nicht einmal genau, was ich sagen sollte, was ich sagen wollte, aber ich konnte ihn nicht einfach so verschwinden lassen. »Warten Sie, bitte, ich …«

Ich hielt inne. Kein mysteriöser Fremder.

Bloß sein Jackett, das zwischen den Chrysanthemen hing.

Ich griff danach. Die Wärme seines Körpers haftete noch immer an dem Stoff, genauso wie sein angenehmer, warmer Geruch. Ungläubig sah ich über das Geländer hinab. Es war nicht zu hoch, um zu springen und über den Innenhof nach draußen zu fliehen, aber warum in aller Welt würde er das tun, wenn es einen Ausgang gab? Ein Schauer kroch über meinen Nacken, und ich drückte die Jacke fest an meine Brust. Es war beinahe wie in den Schauerromanen, die ich am College gelesen hatte. Als wäre ich gerade einem Geist begegnet – oder meinem persönlichen Schutzengel, der zu mir gekommen war, als ich ihn am meisten gebraucht hatte.

Kapitel 4

Noelle

 

Es war schwer zu sagen, was schlimmer war: die Worte auszusprechen oder mit anzusehen, wie sich Sadies hübsches Gesicht vor Wut verzerrte, als meine Erzählung ein Ende fand. Bedrückende Stille legte sich über mein Schlafzimmer. Die Suite lag in der einundzwanzigsten Etage im obersten Stockwerk des Grand Dunhill, und im Gegensatz zum Rest des Gebäudes war sie nicht in den traditionellen Gold- und Rottönen gehalten. Normalerweise waren diese Räume mein Rückzugsort; die spiegelglatten weißen Marmorböden, die deckenhohen Fenster mit ihren blassgrauen Voile-Vorhängen und die eleganten, minimalistischen Designermöbel halfen mir, zu mir selbst zurückzufinden. Es war der Ort, an dem ich meine Maske ablegen konnte, der Ort, an dem ich Frieden fand.

Eigentlich. Gerade fühlten sich die hohen Räume leer und einsam an.

Ich schloss die Augen. Einen Moment lang waren die gedämpften Straßengeräusche und die schweren Atemzüge meiner Schwester, die neben mir auf der Bettkante saß, alles, was die Stille füllte.

Schließlich ergriff Sadie das Wort. »Oh, Elle.«

Ich hob die Lider und wich automatisch ein Stück zurück, ehe sie auf die Idee kam, mich zu umarmen. Sadie war ein sehr berührungsfreudiger Mensch, und körperliche Nähe stand für sie an erster Stelle, wenn es um Zuneigungsbekundungen ging. Ein weiterer Punkt, in dem wir nicht unterschiedlicher hätten sein können.

»Es ist schon in Ordnung …«, murmelte ich in dem Versuch, mein gebrochenes Herz zu relativieren.

»Nein, ist es nicht.« Sadie starrte mich entsetzt an. Die Gala war bereits vorüber, aber so wie ich trug auch sie noch immer ihr Ballkleid, auch wenn ihr braun gefärbtes Haar inzwischen aus ihrem Dutt gelöst war und wie ein Wasserfall über den Stoff fiel.

»Es ist absolut nicht okay! Das kommt so unerwartet, so was hätte ich mir bei Danny nie gedacht«, fuhr sie fort und legte die Stirn in Denkfalten. »Hattest du eine Ahnung?«

»Nein«, log ich und konnte dieses Mal nicht verhindern, dass Sadie nach meiner Hand griff. Ich zog sie rasch zurück, um stattdessen die Riemen meiner Schuhe zu lösen. »Es ist okay, wirklich. Ich hatte Glück im Unglück. Stell dir vor, ein Paparazzo hätte davon Wind bekommen. Vater wäre vor Wut an die Decke gegangen.«

»Vater?« Sadie blinzelte. »Hier geht es doch nicht um Vater, Elle! Dieses dreckige Schwein hat dich betrogen! Dich! Männer sind einfach nicht zu fassen, als könnte irgendeine kleine Schlampe ihm geben, was du …«

»Sadie, bitte«, unterbrach ich sie mit ernstem Gesichtsausdruck. »Wortwahl. Außerdem ist nicht auszuschließen, dass die Frau genauso ein Opfer der Situation ist, immerhin war die Beziehung nicht öffentlich. Wahrscheinlich wusste sie bis heute selbst nicht, dass er mit uns beiden gespielt hat.«

Sadie stieß einen lang gezogenen Seufzer aus. »Du bist wirklich unfassbar, Noelle. Dein Freund betrügt dich, und du nimmst die andere Frau in Schutz.«

Dein Freund betrügt dich. Die Worte stachen mehr, als ich zugeben wollte, und ich hoffte, dass mein Gesichtsausdruck den Schmerz nicht verriet. »Nun, ich weiß eben nicht, was wirklich passiert ist, und ich will keine Mutmaßungen anstellen. Außerdem ändert es nichts an der Situation, oder? Ich möchte mich nicht noch schlechter fühlen.« Ich schlüpfte aus den High Heels.

»Die meisten Leute fühlen sich besser, wenn sie es mal rauslassen. Ich verrate es auch niemandem, versprochen.« Wie zum Pfadfinderehrenwort hob Sadie die Finger.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, es ist … Ich bin einfach nur enttäuscht. Glücklicherweise waren wir ja kein offizielles Paar, ich muss also kein Statement abgeben. Ich weiß, dass ein paar Gerüchte kursiert sind, aber ich will meine Schmutzwäsche nicht öffentlich waschen.«

»Oh, darüber musst du dir keine Gedanken machen.«

Ich drehte mich zu Sadie. »Was meinst du?«

»Na ja, die interessieren sich doch sowieso nur für den Mystery-Man.«

Augenblicklich stieg mir das Blut ins Gesicht. »Bitte was?«

»Na, du weißt schon? Groß, dunkel und gut aussehend?«

O nein. So viel zum Thema unauffällig. Ich räusperte mich. »Ja, aber … Es war nur ein Tanz.« Mein Herz schlug schneller. Hätte ich sein Sakko nicht gleich nach seinem Abgang sorgsam zusammengelegt und in einem Schuhkarton unter dem Bett verstaut, wäre ich mir nicht einmal sicher, ob der Teil des Abends nicht bloß Einbildung gewesen war. Vielleicht eine Massenhalluzination. Sollte es doch geben.

»Ja, aber das ist denen doch egal. Guck mal.« Sadie zog ihr Smartphone hervor und tippte auf dem Bildschirm herum. Nach einer Weile hielt sie das kleine Gerät hoch, und ich konnte die Schlagzeile der Boulevardzeitung Golden Gazette lesen.

Wer ist der mysteriöse Tänzer?

Unter der Überschrift prangte ein Bild, das mich und den Fremden beim Tanzen zeigte. Der Dunkelhaarige war mit dem Rücken zur Kamera gewandt, und sein Gesicht war kaum zu erkennen. Ein verräterischer Anflug von Enttäuschung flackerte in mir auf. Vielleicht wäre es mit einem besseren Foto einfacher gewesen, mehr über ihn herauszufinden. Nicht, dass es mich überhaupt interessieren würde.

Ich nahm Sadie das Smartphone aus der Hand und vergrößerte das Bild. Leider war ich selbst deutlich zu sehen – die schmalen Arme um ihn geschlungen und den Kopf an seine Schulter gelegt, hatte ich den Blick auf den Fremden gerichtet. Unglücklicherweise wirkten meine tränenverschleierten Augen auf dem Foto allerdings eher, als würde ich meinen Tanzpartner verliebt anhimmeln.

Blut stieg in meine Wangen, und ich wusste, dass es dort unschöne rote Flecken hinterlassen würde. »Ach du meine Güte … Das ist doch … Es war nicht so, wie es aussieht!« Manchmal hasste ich es, wie stark mir meine Gefühle anzusehen waren.

Sadie hob die Hände. »Hey, du musst dich vor mir nicht rechtfertigen. Ehrlich gesagt hat es niemand mehr verdient als du.«

Scham überkam mich wie eine heiße Welle. Ich musste sofort mit Vater sprechen, damit sich seine Anwälte mit der Gazette in Verbindung setzen konnten. Dieses Bild durfte auf keinen Fall in der Welt bleiben. »Ich weiß nicht, wovon du redest. Das Foto hat nichts zu bedeuten, es ist einfach nur ein Bild von mir und einem Gast, der die Gelegenheit ergriffen hat, das ist alles.«

»Na immerhin wird dich jetzt erst mal niemand mit Daniel in Verbindung bringen.«

Seufzend reichte ich ihr das Handy zurück. »Zumindest in der Öffentlichkeit. Aber ich schulde Vater und Mutter noch immer eine Erklärung.« Die Vorstellung von dem bevorstehenden Gespräch jagte mir das kalte Grauen über den Rücken.

»Wegen Colorado?«, fragte Sadie vorsichtig. »Hab mich schon gefragt, wie du es ihnen beibringen willst. Gran wird das bestimmt nicht einfach so akzeptieren …«

Ich fuhr mir über das Gesicht. »Das ist mir bewusst. Aber ich kann die Situation nicht ändern.«

Die Dunhills waren über ganz Nordamerika verteilt, doch trafen sich einmal im Jahr zu Thanksgiving auf dem Landsitz meiner Großmutter in Wolfpine Creek, Colorado. Leider hatte ich bereits angekündigt, dass ich dieses Jahr in Begleitung kommen würde, und wie ich meine Verwandtschaft kannte, würde man mich mit Fragen löchern, wenn ich allein aufkreuzte. Oder noch schlimmer: Man würde mich bemitleiden. Die arme Noelle, die keinen Mann halten konnte.

Ich schauderte. »Vielleicht bleibe ich einfach zu Hause.«

Sadies Augen weiteten sich. »Was? Das ist doch wohl nicht dein Ernst! Du darfst mich nicht allein lassen!«

Ich verzog das Gesicht zu einem angestrengten Lächeln. »War natürlich nur ein Scherz«, log ich, aber Sadie hatte recht. Es war keine akzeptable Option. Vermutlich würde es die Sache nur noch schlimmer machen, nur noch mehr Aufmerksamkeit auf mich ziehen, und das würde Vater mit Sicherheit nicht gefallen.

»Puh!« Sadie fuhr sich durch die Haare. »Erschreck mich doch nicht so.«

»Ich will bloß keine Fragen beantworten, verstehst du? Du weißt, wie sie sein können.«

Sadie legte den Kopf schief. »Und wenn du einfach diesen Hottie mitnimmst?«

Meine Brauen schossen nach oben. »Sehr lustig, Sadie. Wie gesagt, er ist ein Fremder, und ich werde nicht irgendeinen Kerl mitzerren. Ich weiß nicht mal, wer er ist.«

»Langweilig.« Sadie rollte grinsend mit den Augen. »Vielleicht ist er der Hauptgewinn. Ein Prinz aus Europa!«

»Sadie, wenn er ein Adliger wäre, dann würden wir ihn ja wohl kennen.«

»Mann, Elle, kannst du nicht ein einziges Mal mitspielen? Mir zuliebe? Vielleicht ist er ja ein Prinz im Exil, der seine Identität geheim halten muss.«

Ich seufzte und ließ mich auf meine cremeweiße Bettwäsche fallen. »Deine Fantasie kennt wirklich keine Grenzen.« Ich starrte an die Decke, bis sich Sadies Gesicht in mein Blickfeld schob. »Was denkst du denn, wer er ist?«

»Ganz bestimmt kein Prinz. Und es geht mich auch gar nichts an. Ich kenne diesen Mann nicht, und ich habe nicht vor, ihn jemals wiederzusehen.«

*

Erst nachdem ich meiner Schwester nachdrücklich versichert hatte, dass ich wirklich, wirklich niemanden zum Kuscheln brauchte, gab Sadie endlich auf und zog sich in ihr Zimmer zurück. Ich tauschte mein teures Kleid gegen einen weichen Satinpyjama, entfernte mein Make-up und verkroch mich ins Bett. Normalerweise gelang es mir hier, mich zu sammeln und meinen Puls zu beruhigen, doch die Gedanken überschlugen sich in meinem Kopf.

Sadies Idee war absurd, aber vielleicht hatte sie nicht völlig unrecht. Eventuell könnte ich tatsächlich jemanden an Daniels Stelle nach Colorado einladen. Ich griff nach meinem Handy, rollte mich auf den Bauch und scrollte nachdenklich durch meine Kontakte. Die naheliegendste Idee war, einfach eine Freundin zu fragen. Das Problem an der Sache? Es gab niemanden in meinem Leben, der dieses Profil wirklich erfüllte. Natürlich hatte ich Freunde. Kommilitonen, Bekanntschaften, Kontakte. Viele sogar, aber bis auf Sadie gab es niemanden, dem ich richtig vertraute. Niemanden, der mir nahestand. Mit dem ich Sorgen, Ängste und Geheimnisse teilen konnte. Umso schlimmer war es, dass in regelmäßigen Abständen Nachrichten auf meinem Bildschirm aufblitzten.

Hi, Noelle, hab dein Bild in der GG gesehen und …

Hallo, Elle, wie geht’s? Ich hab gerade …

Hi, hier ist Lisa, wir waren gemeinsam im Econ-Kurs …

Ich stöhnte. Das Schicksal wollte mir anscheinend keine Pause gönnen. Seufzend legte ich das Handy auf meinen Nachttisch zurück und starrte für eine Weile an die Decke. Dann erhob ich mich mit einem Ruck, schlüpfte aus dem Bett und zog die Schuhschachtel mit dem Sakko hervor. Ein Max-Mara-Herrenanzug, dem Etikett zufolge, aber er musste aus einer relativ alten Kollektion stammen. An manchen Stellen war die Jacke bereits ein wenig abgetragen.

»Wer bist du?« Nachdenklich strich ich über den Stoff und schob die Hände in die Taschen. Die linke war leer, doch in der rechten stießen meine Fingerspitzen gegen ein zerknülltes Stück Papier. Neugierig zog ich den Zettel hervor. Eine verschmierte, handgeschriebene Rechnung.

Bronson’s Diner.

Unter dem blassen Stempel stand eine Adresse, die ich nicht zuordnen konnte. Ich wusste nicht einmal, warum mich das alles interessierte. Natürlich wollte ich ihn nicht fragen, ob er mich nach Colorado begleitete, denn das war völlig absurd. Aber ich wollte ihn trotzdem noch einmal sprechen. Immerhin schuldete ich ihm sein Jackett – und er mir eine Erklärung. Und vielleicht würde es meinen aufgekratzten Verstand beruhigen, zumindest dieses Mysterium aus der Welt zu schaffen und ein bisschen mehr Klarheit in mein Leben zu bringen.

Fein säuberlich faltete ich das Jackett in die Schachtel zurück und ließ mich wieder aufs Bett sinken.

Alles war besser, als an Daniel zu denken.

Kapitel 5

Noelle

 

»Danke, Joshua, hier können Sie halten.«

Unser Chauffeur warf mir durch den Spiegel einen besorgten Blick zu. »Sind Sie sich sicher, Ms. Dunhill?«

»Ja, vielen Dank!« Ich lächelte selbstbewusst, obwohl ich alles andere als überzeugt war. Bislang war ich noch nie in dieser Gegend gewesen, und wenn ich ehrlich war, hatte ich auch keine Lust, hierzubleiben. Im blassen Licht des Nachmittags wirkte die kleine Seitenstraße im Herzen Brooklyns wie aus einer anderen Welt; abblätternde Farbe an den Fassaden, Baustellen, die seit Jahren nicht fortgeführt worden waren, grob geflickter Straßenbelag und überquellende Mülleimer. Warum in aller Welt hatte der mysteriöse Fremde ausgerechnet hier gestern vor der Gala zu Mittag gegessen?

Es war mir gelungen, die Rechnung zu entziffern: Bacon-Lettuce-Tomato-Sandwich mit Spiegelei, Homestyle-Fries mit Käse und ein Erdbeershake. Allein wenn ich daran dachte, tat mir der Bauch weh. Ich hatte schon als Kind immer wieder Probleme mit der Verdauung gehabt, aber meine Ärzte hatten nie einen richtigen Grund dafür diagnostiziert. Der allgemeine Konsens war jedoch, dass ich einen hochempfindlichen Magen besaß und auf sämtliche Reize wie Alkohol, Fett, rotes Fleisch, Schärfe, Säure, Zucker, Zuckerersatz, Kaltes und sehr Heißes verzichten sollte. Mystery-Man schien diese Probleme allerdings nicht zu kennen.

»Bitte warten Sie hier, ich bin gleich wieder zurück.« Ich griff nach der eleganten Grand-Dunhill-Tragetasche, in der ich das Jackett verstaut hatte, und stieg aus dem Wagen auf die regennasse Straße. Tiefe Schlaglöcher machten den Weg zu Bronson’s zu einem Hindernislauf, und ich musste mir ein kleines Fluchen verkneifen, als meine Raulederstiefel in einer Pfütze versanken. Offenbar hatte Sadie sich geirrt. Hier lebte ganz bestimmt kein exilierter Märchenprinz.

Ich zog ein Taschentuch aus meiner Tasche, legte es um die Hand und öffnete die Tür zu Bronson’s Diner. Über mir klingelte ein rostiges Glöckchen, und ich sah mich unsicher um. Der Raum war schmal: Auf der rechten Seite eine altmodische Theke, auf der linken eine Reihe von Sitzmöglichkeiten, die allesamt leer waren. Es stank nach Frittieröl, und ich rümpfte die Nase.

»Hallo?« Wer kam freiwillig an so einen Ort – noch dazu, um Nahrung zu sich zu nehmen? Dafür musste es einen Grund geben. Vielleicht war mein mysteriöser Schutzengel ja ein Social Worker? Bei dem Gedanken schlug mein Herz ein bisschen schneller.

»Wer’s da?« Die raue Stimme riss mich aus den Gedanken. Ich fuhr herum und entdeckte einen beleibten Mann mit grüner Baseballcap und einer dazu passenden Schürze, der aus einem hinteren Raum kam. Zunächst musterte er mich überrascht, dann zuckte er mit den Schultern. »Was kann ich dir bringen, Liebes?«