Auf dem schönen Auge blind - Victoria Helene Bergemann - E-Book

Auf dem schönen Auge blind E-Book

Victoria Helene Bergemann

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Beschreibung

Victorias Texte kreisen um das Schöne in der Welt – und warum manche es nicht mehr wahrnehmen können oder wollen. Dabei gibt es kaum Schöneres, als zur Begrüßung von seinem Hund abgeknutscht zu werden, nach Wochen des Wein-aus-dem-Tetra-Pak-Trinkens mal wieder eine Flasche Grauburgunder in der Hand zu halten oder nach Monaten der Stagnation endlich einen Meter zu gehen. "Auf dem schönen Auge blind" nennt sie den Zustand, wenn Menschen sich in ihrem Groll vergraben und die Scheuklappen aufsetzen. Begleitet wird sie von ihrer ganz eigenen, mitunter scharfen Ironie, die einen immer wieder unschuldig an der Nase herumführt.

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Auf dem schönen Auge blind

Victoria Helene Bergemann

Erste Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

Copyright 2021 by

Lektora GmbH

Schildern 17–19

33098 Paderborn

Tel.: 05251 6886809

Fax: 05251 6886815

www.lektora.de

Covermotiv: Eva Muggenthaler, www.evamuggenthaler.de

Covermontage: Denise Bretz, Lektora GmbH

Lektorat & Layout Inhalt: Lektora GmbH, Denise Bretz

978-3-95461-211-6

Niemand findet die Beatles blöd

Du sagst, du hättest wieder nichts gesehen und schon gar nichts gehört, wie sollst du denn sehen, was du sagst, wenn du nicht hörst, was du siehst? Und überhaupt hast du nichts von alldem gefühlt. Du sagst gar nichts und denkst nicht mal an was, hast seit Wochen keine Türen oder Ohren geöffnet. Du willst ja schon was werden, aber nicht so, wie du bist. Du kannst das Gute nicht mehr sehen und wo die schönen Dinge sind, sei doch, wie du willst, nur nicht auf dem schönen Auge blind.

Du machst die klassischen Fehler – deine Bettdeckenknöpfe sind oben und du rollst dein Klopapier zur Wand hin ab. Ich kannte mal einen, der war so wie du und der war kacke.

Du findest Montage ganz schlimm und du lachst über Jodel, in denen irgendwer Facebook-Witze geklaut hat. Ich war in einer SchülerVZ-Gruppe, die so hieß wie du. Für Leute wie dich sind diese Brandhinweise auf Fußmatten oder Schlafanzughosen. Du hast als Kind zu tief gepopelt, aber als Erwachsener auch.

Wenn du eine schöne Geschichte hörst, dann stülpt sich vor Ekel und Verkrätzung dein Innerstes nach außen, so muss es Nazis gegangen sein, als sie Kubismus angeguckt haben.

Dein Patronus ist ein Arschloch und dein Vater ist der Ortsvorsitzende einer beliebigen Partei, über die man Witze macht. Nach dir war letztens ein schlimmer Sturm benannt, den die deutsche Bahn nicht vorausgesehen hat. Du bist eine gute Cocktailpartyanekdote. Du findest Jägermeister lecker. Du nimmst an der Kasse die Warentrenner weg und lachst dann. Deine Mutter ist ein Hurensohn und muss immer noch für dich beim Arzt anrufen. Dein Arzt ist ein Hurensohn und muss immer noch für dich bei deiner Mutter anrufen. Die in dem Video mit dem Aal warst du. Du bist gegen Abtreibungen, aber nur weil du Angst hast, dass deine Eltern das im Nachhinein mit dir machen. Du hast nicht mal ne Teilnahmeurkunde bei den Bundesjugendspielen gekriegt und allen war’s egal. Du gehst manchmal in der Öffentlichkeit inlineskaten und findest es nicht peinlich. Du hast dir so einen großen Zwillingskinderwagen gekauft, nur um dann möglichst viele Leute anzumeckern, die dir im Weg stehen. Deine Hobbies sind Fitness und Freunde treffen. Du warst mal wegen zu hoher Kohlenmonoxid-Werte geschlossen. Du beleidigst Otter.

Ich wette, du findest sogar die Beatles blöd. Niemand auf der ganzen Welt findet die Beatles blöd. Alle finden sie ganz okay.

Du bist richtig scheiße und jeder weiß das. Und deswegen findest du alles scheiße.

Gibt es da denn nichts, was du noch schön finden kannst?

Sag mir, ist das nicht schön – wenn es dich in manchen Momenten plötzlich überläuft, dann zitterst du, weil dir so warm wird, dann stehen die Gezeiten still, weil alle Dämme brechen. Dann brennst du. Und dann weißt du sicher, dass diese Momente es sind, für die man lebt.

Also sag mir, ist das nicht schön? Und gibt es eine Brille für dein schönes Auge, denn wenn du nicht mehr brennst, wofür lebst du dann?

Letzte Sätze im Roman. Ein sachliches Kurzgedicht voll mit Emotion. Gute-Nacht-Geschichten-Gute-Nacht-Küsse. Lange arbeiten und endlich ein Ergebnis sehen. Früchte tragen und sie sind gar nicht mal schwer.

Auf dem Weg zum Bäcker das erste Mal nach einem langen Winter die Vögel zwitschern hören, das erste Mal frische Luft einatmen und sie riecht nach Sommer.

Drei Nächte am Krankenbett wachen, das erste Mal wieder aufstehen miterleben. Die Gewissheit des Gesundwerdens.

Wenn Kermit im Musikvideo zu »Beinʼ Green« nachdenklich über den Seerosenteich schaut und plötzlich große Froschtränen über seine grünen Wangen rollen, weil es verdammt noch mal nicht einfach ist, dass diese Wangen grün sind. So traurig, aber irgendwie auch schön.

Wenn Mama wieder nach Hause kommt, obwohl du dachtest, sie wäre für immer weg?

Wochenlange Hitze, nachts nicht mit, aber auch nicht ohne Decke schlafen können, und plötzlich das erste Gewitter.

Der erste Schluck Grauburgunder aus der Flasche nach Wochen des Tetra-Pak-Trinkens.

Versehentlich vor eine Kirche kotzen und ein schlechtes Gewissen haben, aber dann fällt dir auf, dass du ja gar nicht gläubig bist. Ist das nicht schön?

Wenn du an eine Person denkst und daran, dass du dringend wieder mit ihr reden solltest, und in diesem Moment ruft sie an. Wenn du wirklich nicht angerufen werden willst und dann ruft auch keiner an. Ist das nicht schön?

Wenn dein Hund dich zur Begrüßung abknutscht – ein bisschen eklig, aber schön.

Wenn du gedacht hast, die Klassenfahrt wird echt schlimm, aber am Donnerstagabend hast du dann heimlich mit Kjell geknutscht und kein Lehrer hatʼs gemerkt. Wenn du gedacht hast, die Nacht im Club wird schlimm, aber kaum bis du drin, knutschst du schon mit einem Niederländer, der gar nicht so große Zähne hat, wie du zuerst vermutet hast. Wenn du gedacht hast, der Abend mit deinen Pärchenfreunden wird schlimm, aber dann knutscht gar keiner. Auch schön.

Nach Monaten der Stagnation endlich einen Meter gehen. Ist das nicht schön?

Wenn es dich in manchen Momenten plötzlich überläuft, dann zitterst du, weil dir so warm wird, dann stehen die Gezeiten still, weil alle Dämme brechen. Dann brennst du. Und dann weißt du sicher, dass diese Momente es sind, für die man lebt.

Also sag mir, ist das nicht schön? Und gibt es eine Brille für dein schönes Auge, denn wenn du nicht mehr brennst, wofür lebst du dann?

Das ist doch nicht so schwer – du bist bis hierhin gekommen und hast Dinge gelernt, die dir vorher völlig unmöglich erschienen. Du kannst dir deine Schuhe selbst zubinden, und einmal hast du sogar das x gefunden. Sogar Yvonne Catterfeld konnte vor 15 Jahren schon die Wolken weiterschieben. Dann kann das doch nicht so schwer sein.

Also warum kannst du das Schöne nicht sehen? Du kannst passioniertes Vorher-Model werden oder selten gebuchtes Währenddessen-Model. Du kannst mit einem Eisbären, einem Anwalt und einer Person, die nur auf ihre Nationalität beschränkt wird, in eine Bar gehen und dann merken, dass du die Pointe vergessen hast. Du kannst wollklöppeln im Vogelpark und Gold schöpfen auf der Rodelbahn, du kannst Gotthold heißen und religionskritische Dramen schreiben oder Sabine heißen, aber trotzdem ganz verrückt sein. Aber finde irgendwas, wofür du brennst!

Und dann sag mir, ist das nicht schön? Und gibt es eine Brille für dein schönes Auge, denn wenn du nicht mehr brennst, wofür lebst du dann?

Du kannst nicht alles werden, schon gar nicht so einfach glücklich, aber wenn du gar nichts tust, wirst du auch nicht das werden, was du werden kannst.

Denn egal wer, wofür und wogegen wir sind, sei doch, wie du willst, nur nicht auf dem schönen Auge blind.

Feine Destination

Der Text zur Show

Die Leute sind doch krank. So viele Jahre sind ins Land gezogen, seitdem wir wissen, dass man sehr gut leben kann, indem man viele Dinge tut, die einfach klasse sind. Wir wissen, dass der größtmögliche Spaß einen nicht umbringt und dass man nur in prekären Situationen einen Beruf ausüben muss, der wirklich überhaupt nicht den eigenen Interessen entspricht. Trotzdem gibt es immer noch Leute, die Personalmanagerin in Firmen sind, die mit Abflussrohren handeln, oder die Linkshänder*innenmülleimer an Großkund*innen verkaufen, ohne jemals eine*n dieser Kund*innen zu Gesicht zu bekommen. Und dann finden die sich auch noch toll. Was ist da nur los?, fragt man sich. Ein völlig verzerrtes Bild der Realität ist das. Und das hat zu wirklich eigenartigen Verhaltensweisen geführt.

Ein Bespiel.

Ich bin gerade an der Altersgrenze, an der fremde Leute beim Smalltalk immer überlegen, ob sie noch fragen sollen, was ich mal werden will, oder schon, was ich beruflich mache. Ich verstehe das Problem nicht – solange eine Person noch nicht tot ist, kann man sie doch immer noch fragen, was sie mal werden will. Und das ist ja auch die wichtigere Frage.

Bei mir gibt es nur eine einzige Sache, die ich so richtig gerne werden möchte – eine feine Lady. Wie ich dahinkomme, kann ich halt noch nicht genau sagen, aber das ist ja auch nicht so wichtig, das geht schon irgendwie. Ich sag nur eins: Never give up, denn Fakt ist, irgendeine Seite auf Instagram hat gepostet, dass du dein Business starten sollst, auch wenn alle sagen, dass deine Idee einfach nur richtig kacke ist. Und das ist es, was wirklich zählt. Die Idee mit den Linkshänder*innenmülleimern zum Beispiel ist nach wie vor echt kacke, aber sie findet sogar Großkund*innen als Abnehmer*innen.

Mir geht es dennoch eher darum:

Eine feine Lady zu sein, ist wahrscheinlich die beste Sache der Welt, denn es ist keine Tätigkeit, sondern ein Lifestyle. Und wenn man dann in dem Alter ist, in dem man nicht mehr gefragt wird, was man beruflich macht, dann ist man immer noch als feine Lady tätig, während alle anderen schon gar nicht mehr tätig sind. Nein, alle anderen sind dann in dem Alter, in dem sie das Haus nicht mehr verlassen wollen, wenn sie noch keine Kartoffeln geschält haben, und in dem sie wissen, was tagsüber im ZDF läuft (niemand sonst weiß es), und in dem sie nur noch eine Sache am Tag machen und den Rest des Tages wie gelähmt so auf ihrem beigen Sofa sitzen und einfach nicht mehr weiterwissen.

Mein Sofa ist dann nicht beige, mein Sofa ist fein … und eine Chaiselongue. Ich will so fein sein, dass die Leute, wenn ich nach Essen bettle, sagen: »Ja fein!« So fein, ich kriege im Restaurant von Vornherein nur die Feinkarte gereicht. Ich will so fein sein, dass die Leute, wenn ich aus dem Duty-free-Shop komme, denken: »Mann, die trägt aber teures Parfum.« So fein, dass ich durch die Innenstadt laufe, einen McDonaldʼs, noch einen McDonaldʼs, einen Kentucky Fried Chicken und einen Pizza Hut sehe und mich frage, wie man nur in sowas essen kann.

So fein, ein Remix meiner Dankesrede von der Nobelpreis-Verleihung ist der neue Titelsong von Schloss Feinstein.

Fein, fein, fein sind alle meine Kleider und fein, fein, fein ist jeder, den ich mag. Leuten, die ich nicht mag, sage ich dann einfach immer ab, mit der Begründung, dass ich noch ein paar Feinigkeiten erledigen müsse. Ich ruf dich nicht an, ich lad dich nicht ein, ich schick dir kein Fax, da kannst du einfach nicht »fein« sagen.

»Obacht! Haltet eure Männer und Hunde fest!«, rufen die Leute, wenn ich mit meinen zwei Freundinnen um die Ecke komme, »da kommen die drei kleinen Feinchen!« Aber darüber können wir nur lachen. Was sollen wir denn mit Männern? Wir tragen Feinos Sonnenbrillen und Feintanes Poesie in uns. Am Abend sitzen wir im Schatten der Feinenbäume und wenn man die Augen schließt, klingt das Rauschen des Verkehrslärms, als würde jemand immer wieder richtig laut »WOW« flüstern.

Ja, jetzt schau mich nicht so feinselig an, Papst! Krönen kann ich mich selber.

Ich will Staatsfeinin Nr. 1 sein. Sodass auch die Letzte da draußen weiß, wie fein ich bin.

Denn das Feinsein im Allgemeinen ist einfach das beste Gut. Das hat nichts damit zu tun, dass man die Fuffis in den Golfclub wirft und »Bonjour« ruft, und nichts damit, den Champagner in den Whirlpool zu kippen, um beim Sprudeln zuzusehen. Sondern damit Respekt zu bekommen, weil man selbst respektvoll handelt. Das bedeutet, jemanden nicht anzurülpsen, ohne es ihm vorher zu sagen. Das bedeutet, beim Bahnfahren nicht laut rumzuschreien und sich so zu kleiden, dass man sich beim Blick in den Spiegel denkt: »Feine Schnecke!« Das bedeutet, grenzenlose Grenzen der anderen nicht überschreiten und trotzdem seine eigenen Grenzen zu setzen. Das bedeutet, auch einfach mal »Fein« zu sagen, wenn man merkt, es wird einem zu viel. In vielen tausend Jahren der Vergangenheit haben v. a. wir hier in Europa den Begriff »fein« zu etwas Elitärem, etwas Vererbbarem gemacht, fein ist die Kronprinzessin, fein ist es, sich nicht zu waschen, nur zu pudern, und es ist fein, ein großes Schloss ohne Toiletten zu bauen.

Du bist aber nicht sauber, nur weil du sagst, dass du nie selbst putzt. Du bist höchstens putzig, wenn du zugibst, dass du immer selbst saubermachst. Fein hat nichts damit zu tun, wie viel Geld man hat, oder damit, ob dein Uropa in einem beliebigen Krieg mal richtig viele Leute umgebracht hat. Fein ist der, der Feines tut. Und was du willst, das man dir tut, das tut auch jemand anderem gut.

Also handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass alle Leute durch sie fein werden.

Deswegen wünsche ich mir nichts mehr, als mal eine feine Lady zu werden. Und da zu leben, wo alle ganz fein sind. Bringt mich ins Feinland, ins Fein-fein-Gebiet. Das muss das gelobte Land sein. Also ich würde es loben.

Feinzig und allein dort will ich leben und sterben. Also frag mich, was ich mal werden will, und nicht, was ich so beruflich mache, bis ich voller Stolz antworten kann: »Ich bin als feine Lady tätig.«

Und erst dann winke ich mit meinem nobelblassen Arm, an dem auffällig mein Feinschaftsarmband im reinen Glanz meiner Extensions glitzert, aus den superbreiten Doppelfenstern meiner ultraprächtigen Residenz am Fein-Gerne-Kanal all den Feinwohnern meiner megaästhetischen Stadt zu, rufe motivierende Sprüche in die Menge, so wie: »Ja, voll gut!« und »Fein macht ihr das« und »Never give up! Eure Idee ist zwar kacke, aber darum geht es nicht!«, bis ich schlussendlich mein erbsenloses Himmelbett belege wie einen Toast mit Kaviar, den langen roten Teppich entlangschwebe, den der letzte Sonnenuntergang für mich ausgerollt hat, und dann richtig ankomme, wo ich schon immer hinwollte – in der feinen Destination.

Mann, mann, mann, das find ich ja ganz prima, echt toll

Einmal hat eine Frau zu mir gesagt, dass ich niemals glücklich werde, wenn ich nicht aufhöre, mich ständig mit anderen Leuten zu vergleichen; aber sie war ungefähr 30 Jahre älter und viel attraktiver als ich. Was weiß die denn schon?