Auf dem Wasser laufen - Klaus-Dieter John - E-Book

Auf dem Wasser laufen E-Book

John Klaus-Dieter

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Beschreibung

"In diesem Buch steckt meine ganze Sehnsucht nach Gott!", so Klaus-Dieter John. Dieser Satz überrascht. Das vermutet man nicht als Fazit eines "frommen Helden" nach 20 Jahren medizinischem Einsatz im peruanischen Hochland. Oder gerade doch? Es geht um Glaube, Liebe und Hoffnung im Härtetest – und zwar persönlich. Ganz persönlich: für Martina und Klaus-Dieter John als Ehepaar, Ärzte und Anlaufstelle für arme Menschen im 250-Mitarbeiter-Krankenhaus DIOSPI SUYANA (Hospital der Hoffnung). Ungeschminkt erzählt der Arzt Klaus-Dieter John in "Auf dem Wasser laufen" vom Glauben und Zweifeln, von Abenteuern und handfesten Wundern. Atemberaubend und auch zum Staunen: die wahren Geschichten von Hilfe im letzten Moment wie bei Daniel Ticona, dem Aimara-Indianer, von der nur scheinbar schwangeren Alicia, von dem verzweifelten Ex-Präsidenten … und den vielen anderen "Zeichen und Wundern".

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Klaus-Dieter John

Auf dem Wasser laufen

Diospi Suyana – Der Glaube im Härtetest

Ein wichtiger Hinweis in eigener Sache:

Der Autor hat alle Ereignisse, die in diesem Buch beschrieben sind,nach bestem Wissen und Gewissen wiedergegeben.

Die sorgfältigen Recherchen beziehen sich auch auf Zeit-und Ortsangaben. Einige wenige Namen wurden zum Schutz derbeteiligten Personen bzw. des Autors abgekürzt bzw. verändert.

Über Diospi Suyana ebenfalls lieferbar:

Ich habe Gott gesehen. Diospi Suyana – Hospital der Hoffnung.ISBN Hörbuch: 978-3-7655-8717-7ISBN Buch: 978-3-7655-1757-0; ISBN E-Book: 978-3-7655-7053-7

Gott hat uns gesehen. Diospi Suyana – eine Geschichte geht um die WeltISBN Buch: 978-3-7655-0930-8; ISBN E-Book: 978-3-7655-7349-1

Der Doktor mit dem Draht zu Gott. Klaus-Dieter John: Gewagter Einsatzim Land der Inkas, von Janet Benge und Geoff BengeISBN Taschenbuch: 978-3-7655-4289-3

Basiert auf der 4. Auflage 2024

© 2020 Brunnen Verlag GmbH, Gießenwww.brunnen-verlag.de

Lektorat: Peter Butenuth und Team

Umschlagabbildung: Eunice Espinoza

Umschlaggestaltung: Jonathan Maul

Fotos innen: privat

Satz: DTP Brunnen

ISBN Buch 978-3-7655-0746-5

ISBN E-Book 978-3-7655-7575-4

Dieses Buch widme ich all jenen,die an Gott zweifeln und sich fragen,ob Glaube, Hoffnung und Liebe einereale Grundlage haben.

Inhalt

Vorwort

Der Schock am Morgen

Wir kommen von ganz weit weg

Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg

Drama, Blut und Tränen

Die Diospi-Suyana-Schule mit Vorbildcharakter

Junkies, Partyfreaks und Millionäre

Mit der besten Botschaft über die Berge

Die E-Mail aus Sydney

Australien

Eine Familie riskiert alles

Unbekanntes Land Rumänien

Das unsichtbare Projekt

Familie Welch: Absprung ohne Fallschirm

Carabayllo

Endlich auf Sendung

Mächtig in der Bredouille in Poltocsa

Bewegung tut gut. Holt die Rentner von der Couch!

Ein Baden-Württemberger kapituliert im ecuadorianischen Regenwald

Blaues Blut

Rio de Janeiro ohne Samba am Strand

Das Zehnjahresfest im Blick

Der 31. August 2017 – zu viel für unsere Nerven

Nachwehen

Das Missionsfest

Von einer Hiobsbotschaft zur nächsten

Der Bundespräsident lässt grüßen

Yale, Harvard und Clie

Lahme können gehen

Und nun echt – der aller-, allerletzte Einsatz der Klemenz’

Dem Tod entronnen und die letzten Worte auf dem Totenbett

Ein heißes Eisen

Ein Leben am seidenen Faden

Die geplatzte Geburtstagsfeier

Im Vollsuff ohne Führerschein

Diffamierungen, Intrigen und Hass

Die Hochzeitsfeier des Jahres

„Hat Diospi Suyana den Patienten umgebracht?“

Am Rande der Legalität

Eine beispiellose Firmentour und das, was wirklich zählt

Entscheidung zum Aufbruch

Der mysteriöse Flug LA 2061

Diospi Suyana in Zahlen

„Ein Lebenswerk, das Leben rettet“

Kampf gegen Coronaviren und andere widrige Umstände

Hier finden Sie die richtigen Lösungen

Das böse Erwachen aus der Traumwelt

Hat Gott sich versteckt?

Wenn das Boot leckschlägt – ein offenes Wort

Eine persönliche Stellungnahme

Dank

Vorwort

Ein paar Freunde und ich saßen im Café „Deli Huasi“ von Curahuasi und verspeisten gerade einen leckeren Imbiss. Da löste sich aus einer Gruppe von Menschen am Eingang unvermittelt ein Mann, der wie ein Peruaner aussah, und ging schnurstracks auf mich zu. Ich kannte ihn nicht, kam ihm aber wohl vertraut vor. „Doktor John“, sagte er, ohne die üblichen südamerikanischen Gefälligkeiten vorauszuschicken, „falls Sie wieder einmal ein Buch schreiben sollten, wählen Sie als Titel Auf dem Wasser laufen.“

Sprach’s, drehte sich um und verschwand durch die Tür. Sein Tipp war goldrichtig. Sein Vorschlag, kurz und knackig vorgetragen, machte deutlich, dass er die wahre Tragweite unserer Arbeit bei Diospi Suyana verstanden hatte.

Vielleicht haben Sie schon die kleine Anekdote von den drei Geistlichen gehört, die einen Fluss überqueren mussten. „Jesus hat doch gesagt, dass wir auf dem Wasser gehen können“, rief der katholische Amtsbruder, „also dann mal los!“ Vorsichtig tastend schritt er an der Oberfläche auf die andere Seite. Der Applaus seiner Kollegen tönte bis zum jenseitigen Ufer. Nun war der Protestant an der Reihe. Er nahm Anlauf, spurtete los und landete mit einem großen Bauchklatscher im Wasser. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als Schritt für Schritt auf dem Grund weiterzulaufen. Das Wasser reichte ihm bis zur Hüfte. Triefend nass stieg er schließlich aus den kalten Fluten. Als Letzter schulterte der orthodoxe Priester seinen Rucksack und ging schweigend ohne jegliches Gehabe über den Fluss. Für ihn war die Übung offensichtlich eine reine Routine.

Der Protestant wechselte im Gebüsch verschämt die Kleider und seine Kollegen hatten deshalb etwas Zeit für ein kurzes Schwätzchen. Der Katholik kicherte und flüsterte dem orthodoxen Christen ins Ohr: „Wir hätten ihm fairerweise sagen sollen, wo die Steine liegen!“.

Antwortete der Orthodoxe: „Welche Steine?“

Wenn wir im Vertrauen auf Gott Dinge wagen, die nach unserem gesunden Menschenverstand unmöglich sind – also auf dem Wasser laufen –, wird sich zwangsläufig eines der drei beschriebenen Szenarien abspielen. Wir versuchen es mit einem Trick und verkaufen die Steine im Wasser als Gottes übernatürliches Eingreifen. In Wirklichkeit lässt sich das vermeintliche Wunder aber mit harter Arbeit, Beziehungen, psychologischen Kniffen und anderen Faktoren bestens erklären. Vielleicht gehen wir auch einfach baden, weil Gott nicht eingreift. Entweder es gibt ihn gar nicht oder er hält sich aus unseren Belangen lieber heraus. Ein Schnupfen lässt sich noch verkraften, aber wenn die Gewässer mit Haien verseucht sind, wird es lebensgefährlich.

Wie steht es nun um die dritte Variante? Können wir unter Umständen tatsächlich „auf dem Wasser laufen“? Sprich: Kann man um echte Wunder beten? – Viele Jahre meines Lebens war diese Frage für mich von existenzieller Bedeutung. Mir ging es nie um Sensationshascherei. Ich wollte vielmehr wissen, ob die Aussagen der Bibel bezüglich eines ewigen Wesens, allmächtig und persönlich zugleich, in meinem begrenzten Dasein verifiziert werden könnten. Ich war auf der Suche nach Sinn, Liebe und Hoffnung.

Diospi Suyana ist ein umfangreiches Experiment mit Gott, an dem sich seit zwei Jahrzehnten Menschen aus vielen Ländern beteiligt haben. Die folgenden Geschichten aus diesem Erfahrungsschatz sind gewissenhaft recherchiert und exakt dokumentiert. Das abschließende Urteil, ob wir – also Sie und ich – auf dem Wasser laufen können, liegt bei Ihnen.

Klaus-Dieter John

Der Schock am Morgen

„Lassen Sie mich bitte noch kurz ein Telefonat mit meinem Anwalt führen“, sagte der Chef der sozialdemokratischen APRA-Partei und ging die Treppe in den ersten Stock hinauf.

Die Polizisten nickten und nahmen auf den gediegenen Sesseln im Wohnzimmer Platz. Sie hatten von der Staatsanwaltschaft den Auftrag erhalten, den früheren Präsidenten Perus in Untersuchungshaft zu nehmen. Auf zehn Minuten mehr oder weniger kam es jetzt nicht an. Immerhin hatten sich die Ermittlungen gegen den zweimaligen Staatschef jahrelang in die Länge gezogen. Nun war Alan Garcia „schachmatt“, wie TV-Moderator Jaime Bayly es am Abend in seiner Sondersendung formulieren würde.

Der Korruptionsskandal um den Baukonzern Odebrecht forderte ein weiteres prominentes Opfer. Die engsten Vertrauten des gewieften Politikers hatten von der brasilianischen Firmengruppe 4 Millionen US-Dollar an Schmiergeldern erhalten. Und Alan Garcia hatte während seiner Amtszeit als Präsident dem Konsortium den Zuschlag erteilt. Der Bau einer elektrischen Bahn für die Hauptstadt Lima, ein Milliardengeschäft, war den Brasilianern damit sicher. Es würde für Garcia kaum möglich sein, vor Gericht seine Unschuld zu beteuern, zumindest nicht auf glaubwürdige Weise.

Kurz darauf hallte ein lauter Knall durch das vornehme Haus. Die Beamten sprangen auf die Beine und rannten die Stufen nach oben. Die Tür ins Schlafzimmer war verschlossen. Sekundenschnell brachen die Männer das Schloss auf und stürmten in den Raum. Doch das, was sie sahen, ließ sie augenblicklich erstarren: Alan Garcia saß auf einem Stuhl und stöhnte. Von seiner rechten Schläfe rann Blut. Auf dem Boden lag ein Revolver. Alan Garcia hatte den Winkel für die Schussbahn mit Bedacht gewählt. Selbst eine sofortige Notoperation in einem nahen Krankenhaus würde sein Leben nicht retten können. Um kurz nach 10 Uhr am Mittwochmorgen des 17. April 2019 verbreiteten die Massenmedien die Nachricht seines Todes.

Dr. Jens Haßfeld war der Erste, der mir auf der Krankenstation unseres Missionsspitals die Hiobsbotschaft zurief. Ich eilte umgehend in mein Büro und öffnete die Webseite von RPP, dem wichtigsten Nachrichtenportal Perus. Aus den Beiträgen konnte ich gleich entnehmen, welche Schockwelle der Freitod des Ex-Präsidenten im ganzen Land ausgelöst hatte. Meine Gedanken wanderten unwillkürlich zurück zu einem Ereignis am 26. Februar 2008:

Meine Frau und ich warteten mit unserem Urologen Dr. David Brady und Dr. Chorrea, einem hochrangigen Mitglied von APRA, in einem feinen Sitzungssaal des Regierungspalastes. Die Tür öffnete sich und Präsident Alan Garcia trat in Begleitung seiner Gattin Pilar Nores in das helle Licht der Kronleuchter. Nach dem üblichen Austausch von Höflichkeiten führte ich meine aufmerksamen Zuhörer anhand einer Laptop-Präsentation durch die Geschichte von Diospi Suyana. Ich begann mit unserem Jugendtraum, ein Leben lang gemeinsam als Ärzte für Menschen in Not zu arbeiten. Meine Frau Tina und ich hatten 2002 unsere verwegene Vision auf 100 Seiten zu Papier gebracht – wir wollten ein Hightech-Krankenhaus für die Nachfahren der Inkas bauen. Hoch oben in den Anden Südperus sollte diese moderne Klinik auf Spendenbasis entstehen, ohne Kredite, ohne Hilfe der Regierung und ohne Bill Gates.

Deshalb hatten wir alle unsere Hoffnungen auf die Karte des Glaubens gesetzt. Nur mit Gottes Hilfe könnte dieses medizinische Zentrum jemals Wirklichkeit werden.

Der höchste Würdenträger Perus und die First Lady blickten gebannt auf den kleinen Bildschirm, als ich von den unzähligen Fügungen und Wundern sprach, die wir bereits erlebt hatten. Auf geheimnisvolle Weise waren wir von einer höheren Macht auf verschlungenen Wegen geleitet worden und dem großen Ziel Schritt für Schritt näher gekommen.

Ich erzählte, wie ein gewisser Bauingenieur namens Udo Klemenz und seine Frau Barbara in der Küche ihres Hauses Gott um einen Lebensauftrag baten. Und ich zeitgleich in meiner Heimatstadt Wiesbaden von einem Anwalt zum ersten Mal ihre Namen hörte und sie anrief. Das Klingeln meines Anrufs ertönte wenige Augenblicke nach dem Amen ihres Gebetes. So kam Udo Klemenz dazu, unser Riesenprojekt zu überwachen – auf ehrenamtlicher Basis.

Natürlich durfte ich Alan Garcia nicht verschweigen, warum wir zwei Jahre zuvor den Kontakt zu seiner Frau Pilar Nores gesucht hatten: Die staatliche Kulturagentur wollte unsere Baustelle damals stilllegen und von uns ein Bußgeld von 700.000 US-Dollar abkassieren. Eine fehlende Lizenz war den Bürokraten Anlass genug, unserem Vorhaben ein für alle Mal den Garaus zu machen. In unserer Panik hatten wir gehofft, irgendwie beim neu gewählten Präsidentenehepaar persönlich vorsprechen zu können. Alle, die wir fragten, hatten müde abgewunken. „Ihr Anliegen ist völlig chancenlos“, hatte sogar der deutsche Botschafter etwas ärgerlich in den Telefonhörer gebrummt. Und doch, bis heute unerklärlich, hatte Pilar Nores uns drei Wochen später eine siebzigminütige Audienz in ihrem Büro gewährt. Und nach unserem Treffen sogar die Schirmherrschaft von Diospi Suyana übernommen.

„Wissen Sie, Herr Präsident“, fuhr ich langsam fort und klickte auf die nächste Folie, „im Dezember 2005 konfiszierte der peruanische Zoll am Flughafen meinen Beamer, den ich bei meinen weltweiten Vortragsreisen einsetzte. Also brauchte ich dringend einen neuen. Als ich in einem Geschäft Limas ein Gerät ausprobierte und die Bilder meiner Präsentation über die Leinwand huschen ließ, stand ‚zufällig‘ – inkognito – der Chef des Telekommunikationsunternehmens Impsat hinter mir. Der spendete uns danach eine Satellitenschüssel für Internet und Telefon. Als seine Firma Impsat die Großspende in der Wochenzeitschrift Somos werbewirksam verbreitete, bezahlte ein Minenbesitzer den Stahl für unser Dach. Schließlich wurde Fernsehkanal 2 auf uns aufmerksam und drehte mehrere Reportagen über ‚das Krankenhaus des Glaubens‘!“

Nach meinen Ausführungen bemächtigte sich eine kurze Stille des Sitzungssaals. Dann räusperte sich Alan Garcia, beugte sich etwas nach vorne und sagte: „Dr. John, Sie sind näher an Gott dran als ich!“

Das war eine gewagte Aussage, denn niemand von uns kann das Verhältnis eines anderen Menschen zu Gott beurteilen. In der Tiefe unseres Herzens spielen sich seelische Kämpfe ab, von denen ein Außenstehender nicht die leiseste Ahnung hat. Aber – ein „Senfkorn Glaube“ reiche aus, um Berge zu versetzen, hatte Jesus einmal seinen Jüngern versichert. Er wusste, dass wir vergänglichen Geschöpfe stets zwischen Hoffen und Bangen, Glauben und Zweifel hin- und hergerissen werden. Aber trotz der bohrenden Ungewissheit tief drinnen genügt der Schrei zu Gott, um seine reale Kraft zu erfahren.

Zwischen unserer Begegnung mit Alan Garcia und seinem Selbstmord lagen ziemlich genau elf Jahre. In dieser Zeitspanne hatte sich Diospi Suyana von bescheidenen Anfängen zu einem Werk mit 270 Mitarbeitern entwickelt. Einfach war es nie. Wie oft gingen wir zwei Schritte nach vorne und einen zurück. Manchmal auch umgekehrt. Wir machten gewaltige Fortschritte und erlitten Rückschläge, wir feierten Siege und gingen durch das Tal der Tränen. Aber auf diesem Weg häuften sich so viele Indizien für die Existenz Gottes, dass ich es als meinen Lebensauftrag ansehe, diese Erfahrungen weiterzugeben.

Wie gerne hätte ich deshalb vor dem talentierten Staatsmann noch ein zweites Mal ein Bekenntnis meines Glaubens abgelegt. Ich hätte ihn beschworen, dass wir in jeder Lebenssituation, selbst in den dunkelsten Stunden, den Schutz des Allerhöchsten erfahren dürfen.

Doch dazu sollte es leider nie kommen. Alan Garcia wurde am Karfreitag 2019 bestattet.

Wir kommen von ganz weit weg

Die Sonne warf ihre letzten Strahlen durch die trüben Fensterscheiben des kleinen Lehmhauses. Daniel Ticona blickte zu seinem Neffen auf der anderen Tischseite hinüber und ergriff das Wort: „Meine beiden Leistenbrüche tun so weh, und sie werden von Monat zu Monat größer.“ Der Aimara-Indianer machte eine kurze Pause und hustete leise, „Constantino, du hast doch gesagt, dass deine Mutter in diesem Missionskrankenhaus Diospi Suyana gut behandelt wurde. Vielleicht können mir die Ärzte dort auch helfen!“

Constantino wiegte mit dem Kopf hin und her. „Onkel, von unserem Dorf nach Curahuasi ist es eine lange Reise. Man muss mehrmals die Busse wechseln. Glaubst du, dass du die Strapazen wirklich aushalten könntest?“

„Natürlich schaffe ich das. Gott hat mir genug Kraft gegeben!“ In Daniels Augen lag eine tiefe Entschlossenheit. „Ich bin zwar über achtzig, aber eine Busfahrt ist für mich kein Problem!“

„Onkel, ich werde dich begleiten. Wenn du willst, können wir noch in dieser Woche aufbrechen!“

Daniels vom Wind und Wetter gegerbtes Gesicht schien sich etwas aufzuhellen: „Neffe, ich danke dir. Möge Gott uns auf der Reise beschützen!“

Der Alte schlug mit den faltigen Händen auf seine ausgeblichene Hose, als wolle er sich mit dieser Geste selbst etwas Zuversicht einflößen. Und Mut würde er noch brauchen. Er konnte nicht wissen, dass sich gerade politische Unruhen wie Gewitterwolken über dem Bundesstaat Cusco zusammenbrauten.

Manchmal ist es wohl besser, die Zukunft nicht zu kennen und sich ohne quälende Sorgen zur Ruhe zu betten. Denn Angst und Ungewissheit wirken lähmend. Sie können einem Menschen jede Lebenskraft rauben. Aber wenn der Körper schmerzt und die Geduld zerrinnt, hat ein Kranker im peruanischen Hochland irgendwann ohnehin gar keine andere Wahl, als sein Heil in der Ferne zu suchen. Auch in Puno gab es ein Regierungskrankenhaus. Doch dessen Ruf war schlecht. Die meisten Ärzte ließen im Umgang mit Indianern jegliche Freundlichkeit vermissen. Es dauerte Wochen, um überhaupt einen Arzttermin zu ergattern. Und gewöhnlich verstrichen weitere Monate, bis eine Operation anberaumt wurde. In den Privatkliniken ging es zwar schneller, aber deren Preise waren für die Campesinos, also Landbauern wie ihn, unerschwinglich hoch.

Es war ein Mittwochnachmittag im Februar mitten in der Regenzeit. Die beiden bestiegen in ihrem Dorf Ilave den Kleinbus, der sie über holprige Wege nach Puno, der Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates bringen würde. Viel Gepäck hatten sie wahrlich nicht dabei: zwei kleine Taschen mit Wäsche zum Wechseln und etwas Proviant. Daniel klammerte sich an die Haltestange des Vordersitzes und versuchte mit seinen Armen den Oberkörper zu entlasten, wann immer das klapprige Gefährt durch eines der vielen Schlaglöcher holperte. Jede Erschütterung schmerzte. Mal drückte es in einer Leiste, mal in der anderen. Man hatte ihm einmal gesagt, die anstrengende Feldarbeit hätte wohl seine Brüche ausgelöst oder zumindest verschlimmert. Daniel schüttelte unmerklich mit dem Kopf. Von irgendetwas muss der Mensch doch leben. Seit Generationen hatten seine Vorväter auf dem Acker geschuftet und ihr täglich Brot dem harten Boden abgerungen. In der Höhe von fast 4.000 Metern wuchs nicht alles, aber die Erträge von Tomaten, Kartoffeln und Bohnen hatten für den Eigenbedarf und den bescheidenen Verkauf auf dem Markt ausgereicht.

Nach anderthalb Stunden erreichten Daniel und Constantino den zentralen Busbahnhof von Puno. An diesem Umschlagsplatz von Passagieren und Waren herrschte ein geschäftiges Treiben. Zu jeder Tages- und Nachtzeit kamen Busse an oder fuhren von hier in jede Himmelsrichtung davon. Nach Süden dauerte eine Fahrt um den Titicacasee nach La Paz sieben bis acht Stunden, vorausgesetzt, der Grenzübertritt zwischen Peru und Bolivien verlief ohne besondere Vorkommnisse und der Fahrer musste keine platten Reifen wechseln. In jungen Jahren war Daniel zweimal diese Strecke gefahren, um an einer Klinik dort behandelt zu werden. Einige Buslinien bedienten die Verbindungen nach Arequipa im Westen und Cusco im Norden. Sicherlich hatte er in seinem Leben Cusco, die alte Metropole der Inkas, gelegentlich besucht. Aber wie Constantino ihm erklärt hatte, lag das Hospital Diospi Suyana noch weiter entfernt, jenseits des Horizonts, irgendwo im Bundesstaat Apurimac.

Auf Daniel Ticona wirkte das ruhelose Treiben beängstigend: Menschentrauben, wohin man schaute. Aufgeregte Rufe und hektische Schritte. Sein Blick suchte unwillkürlich nach Constantino. Ohne seinen Neffen wäre er an diesem Ort ziemlich hilflos gewesen. Alleine hätte er sich so eine lange Fahrt niemals zugetraut!

Bald standen die beiden in einer Schlange vor dem Fahrkartenschalter. Als sie an der Reihe waren, sagte Constantino zur Frau hinter der Glasscheibe: „Zweimal Cusco!“, und Sekunden später hielt er die Tickets in seiner Hand. Abfahrtszeit 22.30 Uhr.

Jede Reise birgt ihre Risiken und Gefahren, dachte er. Würde der Busfahrer nachts am Steuer wach bleiben und seine Fahrgäste sicher und verantwortungsvoll ans Ziel bringen? Tagtäglich berichteten die Nachrichten von schrecklichen Zusammenstößen auf den Fernstraßen. Und auch Überfälle auf Fahrzeuge waren keine Seltenheit. Im Schutze der Dunkelheit lagen die Maskierten im Hinterhalt auf der Lauer. Urplötzlich griffen sie an, schwer bewaffnet und zu allem entschlossen. Nach dem Raub verschwanden sie mit ihrer Beute in den Büschen am Wegrand.

Daniel Ticona sprach leise ein Gebet. Er war sich sicher, dass Gott ihn und Constantino begleiten würde. Auf der Reise nach Cusco und auf allen Fahrten danach. Und er selbst würde tapfer sein und Gott vertrauen.

Der Nachtbus benötigte für die 400 Kilometer auf der Panamericana 8 Stunden. Dem Himmel sei Dank, es kam zu keinen Zwischenfällen. Kurz nach Sonnenaufgang folgten noch eine Taxifahrt durch Cusco und danach eine 3-stündige Tour mit dem Minibus nach Curahuasi. Die letzten Kilometer im Ort legten sie in einem Mototaxi zurück, das im Schritttempo die Auffahrt zum Missionsspital hochkeuchte, vorbei an Gästehäusern und Restaurants.

Im Eingangsbereich des Krankenhauses war viel los. Mehrere Straßenhändler boten ihre Waren an. Auf den Ständen sah man Süßwaren, Sandwiches und sogar warme Gerichte für den großen und den kleinen Hunger.

Die begehrten Eintrittskarten, sogenannte Coupons für den Tag, waren längst vergeben. Die ganze Nacht hindurch hatten Hunderte von Menschen draußen ausgeharrt. Leider gehörten am Morgen nicht alle zu den glücklichen Gewinnern eines Losverfahrens. Nun standen viele unschlüssig auf der Straße herum und fragten sich, ob sie es am nächsten Tag auf einen weiteren Versuch ankommen lassen sollten.

Das Mototaxi hielt direkt am Wächterhäuschen und die beiden Indianer stiegen vorsichtig aus der kleinen Kabine. Auf einer weißen Wand stand geschrieben: Hospital Diospi Suyana – herzlich willkommen!

So einen Satz lasen sie gerne, doch Daniel und Constantino blickten besorgt auf den Vorplatz. Menschen in großer Zahl standen hier wie bestellt und nicht abgeholt. Offensichtlich war das Krankenhaus dem Massenansturm nicht gewachsen. Würde es ihnen nun genauso ergehen wie den Wartenden, denen die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben stand?

„Wir haben für heute keine Tickets mehr!“ Der schwarz gekleidete Wächter im Tor erklärte ihnen die traurige Wahrheit.

„Wir kommen aus Puno und waren fünfzehn Stunden unterwegs“, rief Constantino, der sich nicht so schnell abwimmeln lassen wollte, „mein Onkel ist zweiundachtzig Jahre alt und hat starke Schmerzen!“

„Wenn das so ist“, meinte der Mann vom Wachpersonal, „dann dürft ihr als Notfall ins Spital!“

Die beiden Reisenden atmeten auf. Eine weitere Hürde hatten sie genommen. Langsam gingen sie auf einem Zementweg die 150 Meter zum Haupteingang. Rechter Hand schaukelten und kletterten einige Kinder unbeschwert auf dem Spielplatz des Hospitals. Mit einer gewissen inneren Spannung betraten sie den Wartesaal. Er war groß und wie üblich überfüllt. Wohl 120 Patienten – überwiegend Quechua-Indianer – saßen auf den orangefarbenen Bänken. Einige belagerten die Information und hofften auf gute Nachrichten.

„Wir kommen von ganz weit weg“, rief gerade ein Campesino und wandte sich bittend an die Sekretärin, „kann meine Mutter vielleicht am Nachmittag noch von einem Arzt untersucht werden?“

Die Dame an der Rezeption schüttelte mit dem Kopf: „Leider nein, aber vielleicht morgen.“

Daniel und Constantino folgten einem Wegweiser und gelangten über einen Gang zwischen Apotheke und Labor zu einem kleinen Wartesaal, gingen dann durch eine Doppeltür in die Notaufnahme. Hinter einer Theke rechts saßen einige Krankenschwestern und begrüßten freundlich die Neuankömmlinge.

„Womit können wir Ihnen dienen?“, fragte eine kleine Peruanerin, die sich mit dem Namen Maribel vorstellte.

Da sein Onkel nur gebrochenes Spanisch sprach, antwortete Constantino: „Wir sind die ganze Nacht gefahren. Mein Onkel hat Schmerzen, in den Leisten große Beulen und mit der Prostata hat er auch Probleme!“

„Dann sollte Ihr Verwandter gleich mal hier Platz nehmen. Wir werden zunächst einige Daten notieren und anschließend Puls und Blutdruck messen!“

Daniel schwieg, aber seine dankbaren Augen sagten umso mehr. Es tat gut, so fürsorglich versorgt zu werden, und das Schönste war das Lächeln einer Krankenschwester, die offensichtlich als Missionarin am Spital arbeitete. Ihr ausländischer Akzent war unüberhörbar. Einen halben Nachmittag, eine ganze Nacht und einen Vormittag hatte ihre Anreise gedauert. Aber ihre Mühen wurden in diesen Augenblicken belohnt.

Bald wies man Daniel eine fahrbare Trage hinter einer Faltwand zu. Constantino setzte sich auf den Stuhl daneben. „Ich bin so froh, dass wir jetzt drinnen sind“, flüsterte Daniel, „wenn ich an all die Leute am Eingang denke, die in der Nacht vergeblich gewartet haben, gehören wir doch zu den Glücklichen!“

Sein Neffe nickte.

Es dauerte keine zehn Minuten, und eine junge Ärztin mit funkelnden schwarzen Augen trat an sie heran.

„Ich heiße Dr. Karla Aguilar, ich möchte Ihnen gerne helfen. Ich habe einige Fragen, danach werde ich Sie gründlich untersuchen!“

Daniel wunderte sich, wie ungewohnt schnell hier alles ging. Nach der Untersuchung nahm eine Schwester Blut- und Urinproben ab. Wenig später führte man ihn quer durch das Spital zu einem dunklen Raum, in dem ein Ausländer mit einer kleinen Keule aus Plastik auf den Bauch drückte. „Ich kann mit dieser Sonde mitten in Sie hineinsehen“, sagte der Mann und lachte: „Ihre Prostata ist ganz schön groß, und außerdem haben Sie Leistenbrüche!“

Nach diesem Ausflug zum Ultraschallraum nahmen sie vor der Notaufnahme Platz.

Als Daniel und Constantino am Nachmittag wieder ins Freie traten, lagen alle Laborergebnisse vor. Die Diagnosen standen fein säuberlich in der Akte, und für den nächsten Vormittag hatte Daniel sogar einen Termin beim Urologen bekommen. Wie man munkelte, war dieser Arzt aus Österreich ein echter Meister seines Fachs. Bei ihm wäre er in den besten aller Hände. Auf der anderen Straßenseite fanden sie ein billiges Zimmer in einem der vielen Unterkünfte, die Tür an Tür auf Gäste wie ihresgleichen Ausschau hielten.

Nach einer geruhsamen Nacht, die besonders dem alten Daniel wohltat, betraten sie am Morgen erneut das Hospital und saßen bald im vollen Wartesaal vor den Sprechzimmern der Ärzte. Plötzlich um halb neun öffnete sich an der Stirnseite eine große Flügeltür. Daniel sah dahinter in einen geräumigen Kirchsaal mit weißen Wänden und bunten Glasfenstern. Vorne auf einem Podest spielten junge Leute moderne Musik. Wie auf ein Zeichen erhoben sich fast alle Patienten von den Bänken und strömten in die Krankenhauskirche. Daniel und Constantino folgten dem Sog der Menschen, ohne genau zu wissen, wie lange der Morgengottesdienst dauern würde. Daniel schaute kurz nach hinten. Gut 250 Besucher hatten sich auf zwei Ebenen in den Saal gedrängt. Über der Kanzel hing ein schlichtes Holzkreuz. Durch das Buntglas schienen warme Sonnenstrahlen und warfen Lichtreflexe in allen Farben auf die Keramikfliesen.

Nach zwei Liedern hielt ein Pastor um die siebzig eine Predigt. Er wechselte während seiner Kurzansprache mehrmals zwischen Spanisch und Quechua hin und her. Daniel spürte instinktiv, dass der Mann hinter der Kanzel keine Sprüche klopfte. Seine Verkündigung kam aus dem Herzen: Gott, der Schöpfer des Universums, liebte alle Menschen. Das galt für Alte und Junge, Gesunde und Kranke. Die Worte des Pfarrers waren wahrer Balsam für die besorgten Patienten, die mit physischen Schmerzen und seelischem Kummer hierher nach Curahuasi gekommen waren – getrieben von dem unbändigen Wunsch nach Linderung und Heilung. Interessanterweise bedeutet Curahuasi in der Sprache der Quechuas: Das Haus, wo man heilt. Und die wörtliche Übersetzung von Diospi Suyana beschreibt den Ort, wo man auf Gott vertraut.

Schon um halb elf rief der Urologe über die Lautsprecheranlage Daniel in sein Sprechzimmer. Dr. David Brady war schlank und hochgewachsen. Er überragte seinen Patienten um mindestens dreißig Zentimeter. Nachdem er in Ruhe die Akte studiert hatte, erhob er seinen eigenen körperlichen Befund.

„Die Sache ist klar, Sie brauchen wegen ihrer beiden Leistenbrüche eine Operation. Wollen Sie den Eingriff bei uns machen lassen?“ Constantino übersetzte jeden Satz des Missionsarztes ins Aimara.

Daniel nickte und fragte: „Wann kann er mich denn operieren? Vielleicht noch vor der Trockenzeit im Mai?“ Zu seiner Überraschung meinte Dr. Brady: „Am nächsten Dienstag könnte ich Sie auf den Operationsplan setzen. Das wäre der 12. Februar.“

Nur noch wenige Tage! Am Nachmittag fuhren Daniel und Constantino nach Cusco, um Samstag und Sonntag bei Bekannten zu verbringen. Das letzte Wochenende mit Schmerzen in den Leisten!

Ein Operationstermin war kostbar, das wusste Daniel von seinen Verwandten und Nachbarn. Unter keinen Umständen wollte er diese Chance verpassen. Er würde sich am Montag pünktlich auf der Krankenstation melden. Koste es, was es wolle.

Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg

Es war Montag, der 11. Februar. In aller Frühe standen Daniel und Constantino morgens an der Haltestelle im Stadtteil Arcopata. Normalerweise fuhren hier im 20-Minuten-Takt die Kleinbusse nach Curahuasi ab.

Auffällig wenige Fahrgäste hatten sich eingefunden. Unsere beiden Freunde aus Puno schöpften keinen Verdacht. Niemand hatte sie über den Generalstreik der Landbauern informiert, der ausgerechnet für jenen Tag ausgerufen worden war. Die Campesinos wollten die Regierung in Lima wegen der miserablen Ernte zwingen, den allgemeinen Notstand zu verhängen und die Bauern zu entschädigen.

In so einer Woche, in der betrunkene Streikposten womöglich zu allem fähig wären, blieben die meisten Peruaner lieber zu Hause und warteten auf bessere Zeiten. Warum ein Risiko eingehen? Steine flogen schnell durch die Luft und zertrümmerten im Bruchteil einer Sekunde selbst die dickste Windschutzscheibe. An den Straßenblockaden könnte das übliche Palaver schnell in offene Aggression ausarten.

„Wir sind im Paro, Streik“, würden die Campesinos an den Barrikaden rufen. „Wir lassen niemanden durch!“

Von all dem hatten Daniel und Constantino keinen Schimmer. Sie blickten durch die Seitenfenster nach draußen, als der Hyundai mit seinen neun Insassen die Anhöhe vor Cusco erklomm. Auf beiden Seiten reihten sich baufällige Adobehäuser aus Lehm und unverputzte Zementkonstruktionen aneinander. Die Stahlstangen auf den Dächern ließen erkennen, dass die Besitzer planten, in einer unbestimmten Zukunft eine weitere Etage auf ihre Gebäude zu bauen, vielleicht auch zwei oder drei, je nach Kassenlage der Familie. Auf den Bürgersteigen lagen unappetitliche Müllberge, in denen Straßenhunde nach Futter wühlten und sich gegenseitig die Brocken streitig machten.

Zwanzig Kilometer hatten sie wohl schon zurückgelegt und die Außenbezirke von Izcuchaca kamen in Sichtweite.

Der Fahrer bremste abrupt ab. Eine lange Kolonne von großen und kleinen Fahrzeugen versperrte ihnen den Weg. „Vorne ist Schluss“, rief der Mann am Steuer, „durch diese Barrikade kommen wir nicht durch!“

Einige Fahrgäste begannen zu schimpfen. „Diese verdammten Streiks bringen überhaupt nichts und machen uns nur das Leben schwer“, brummte ein gut gekleideter Herr auf dem Vordersitz.

„Was ist denn hier los?“, fragte Constantino die Mitfahrer.

„Ja, hast du etwa nichts von dem Paro gehört?“, antwortete eine Indianerin von hinten, erstaunt über seine Unwissenheit.

Normalerweise ist in der Hauptstadt der Provinz Anta um 9 Uhr viel los. Und man muss sich auf der belebten Hauptstraße in Acht nehmen. Quirlige Mototaxis kurven wie aus dem Nichts um die Ecken. Fußgänger überqueren im Schnellschritt die Straßen und dazwischen rennen die Hunde ziemlich kopflos durch den Verkehr. Aber an jenem Vormittag waren die meisten Läden geschlossen. Eine reine Vorsichtsmaßnahme der Besitzer. Niemand konnte vorhersagen, ob nicht die Truppen der Polizei die Öffnung der Straße erzwingen würden. Dann könnte sich die ohnehin gespannte Atmosphäre schnell in offener Gewalt entladen. Eine Straßenschlacht in Peru kennt keine Sieger und Verlierer, sondern nur Verletzte und Tote.

Mit den übrigen Fahrgästen bewegten sich Daniel und Constantino der Straßensperre entgegen. Vorbei an den wartenden Autos und hinein in eine völlig unberechenbare Situation.

Das lokale Streikkomitee hatte ganze Arbeit geleistet: Einige gefällte Bäume lagen quer über der Fahrbahn. Daneben türmte sich ein Wall aus Geröll und Steinen. Der Qualm brennender Autoreifen verpestete die Luft und reizte – je nach Windrichtung – die Augen. Eine große Gruppe von Campesinos lagerte am Straßenrand. Die Männer debattierten lautstark mit mehreren Autofahrern, die eine Durchfahrt auf dem Verhandlungswege erreichen wollten. Doch bei der gereizten Stimmung der Streikenden war Bedachtsamkeit geboten.

„Wir lassen niemanden durch“, brüllten die finsteren Gestalten an den Barrikaden. „Und wenn ihr es versucht, kriegt ihr eine in die Fresse!“

Constantino und Daniel wechselten besorgte Blicke und wichen unwillkürlich zurück. „Komm, wir warten dort hinten“, flüsterte Constantino und zog seinen Onkel an der Hand an einen Zaun an der Seite. Sie setzten sich auf den Boden und aßen einige Kartoffeln mit Käse, die fliegende Straßenhändler anboten.

„Wir müssen nach Curahuasi, heute noch. Ich darf meinen OP-Termin nicht verpassen!“ Daniels Stimme zitterte leicht. Die Tumulte auf der Straße schlugen ihm sichtlich aufs Gemüt.

Die Stunden verstrichen … und nichts hatte sich am Status quo geändert. Die dicke Luft war nach wie vor spürbar. Und der steigende Alkoholspiegel bei einigen Streikenden machte ihr Verhalten immer unberechenbarer.

Die beiden Männer machten sich zunehmend Sorgen. Sollten etwa alle ihre Mühen umsonst gewesen sein? Und nun taten sie etwas, was auf Außenstehende eher rätselhaft wirken musste: Die beiden gläubigen Christen schlossen die Augen, senkten ihre Köpfe und brachten ihre Not vor Gott. „Vater im Himmel, bitte hilf uns, nach Curahuasi zu kommen“, flehten sie inbrünstig, „Du kennst immer Mittel und Wege, selbst dort, wo wir keinen Ausweg sehen!“

„Hermano, Bruder“, fragte Constantino schließlich einen Einheimischen, der dem Treiben mit düsterer Miene zuschaute, „es sieht nicht danach aus, dass sie heute Autos durchlassen werden. Wie weit müssten wir denn laufen, um alle Straßensperren hinter uns zu lassen?“

„Ich denke, ihr würdet acht Stunden brauchen“, antwortete der Mann und sah mitfühlend auf den alten Daniel. „Bis Ancahuasi sind es um die dreißig Kilometer. Dort könntet ihr möglicherweise ein Taxi bekommen!“

Das waren keine guten Aussichten. Constantino und Daniel zogen es vor, weiter zu warten. Vielleicht hofften sie auch auf ein Wunder. Schließlich brach die Dämmerung an. Die beiden Männer begriffen allmählich, dass sie nur wertvolle Zeit verloren hatten. Jetzt oder nie!

Sie fassten sich ein Herz und griffen zu den Taschen, obwohl über Izcuchaca gerade ein Regenschauer niederging. Ihre Jacken knöpften sie bis oben zu und zogen sich die Mützen etwas tiefer in die Stirn. Sie machten einen großen Bogen um die zahlreichen Sperren und marschierten los. Erstaunlich viele Peruaner hatten offenbar den gleichen Entschluss gefasst. Sie nahmen das Gesetz des Handelns in die Hand und bewegten sich schweigend die Straße entlang. Die Nacht brach herein.

Berglandindianer sind das Laufen gewöhnt. Aber in der Dunkelheit und im Regen wird ein Marsch für jeden Menschen zur Tortur. Es dauerte nicht lange, und sie waren bis auf die Haut durchnässt.

„Wir müssen jetzt in Bewegung bleiben, sonst holen wir uns eine Grippe!“, sagte Daniel und lief unbeirrt weiter.

Im Morgengrauen, etwa zehn Stunden später, schleppten sich zwei frierende Gestalten über den Marktplatz von Ancahuasi. Sie hatten zwar Unglaubliches geleistet, aber bis Curahuasi waren es immer noch achtzig Kilometer.

Leider fand sich im Ort kein Taxifahrer mit der Bereitschaft, sie nach Limatambo zu bringen. Die Zeiten waren zu gefährlich! Bis zur Mautstation in acht Kilometern Entfernung mochte es noch relativ sicher sein, doch danach führte die Überlandstraße über unzählige Serpentinen ins Tal hinab. Bei einem Paro warfen die Campesinos nicht selten Steine von den Hängen auf die vorbeifahrenden Autos. Eine Delle im Dach und kaputte Fenster galten als gerechte Strafe für Streikbrecher.

Waren die beiden also wieder auf sich selbst angewiesen? – Nein, ganz und gar nicht. Sie beteten erneut um eine Lösung. Und siehe da, sie nahte bald: in Gestalt eines Fahrrads.

Ohne Umschweife sprach Constantino den Mann auf dem Sattel an: „Señor, würden Sie uns Ihr Fahrrad verkaufen?“

„Wie viel wollt ihr bezahlen?“ Der Fremde zeigte sogleich einen überragenden Geschäftssinn. Und tatsächlich, nach einigen Minuten wurde man handelseinig, und der Drahtesel ging für 100 Soles in den Besitz von Constantino über.

„Onkel, setze dich hinten auf den Gepäckträger, ich trete in die Pedale!“

Hier waren nicht kleine Jungs dabei, sich die Zeit zu vertreiben, sondern zwei unterkühlte Männer wollten schlicht und ergreifend ihr Tempo verdreifachen. Zwar am Rande der Erschöpfung, aber mit einem eisernen Willen ausgestattet. Daniel kletterte etwas umständlich auf den harten Sitz und umklammerte mit beiden Armen seinen Vordermann.

Wahrscheinlich gibt es nicht viele Europäer oder US-Amerikaner, die mit zweiundachtzig Jahren zu so einer Leistung fähig wären. Es hat schon etwas Tollkühnes an sich, nach einem nächtlichen Fußmarsch noch siebenunddreißig Kilometer auf einem wackeligen Zweirad zu bewältigen. Im modernen Sprachgebrauch bezeichnen die Psychologen so ein Durchhaltevermögen mit dem Fachwort Resilienz. Sie ist Teil unserer Persönlichkeitsstruktur. Christen kennen zudem noch eine übernatürliche Kraftquelle, die der Prophet Jesaja schon vor 2.750 Jahren beschrieben hat: „Doch die, die ihre Hoffnung auf den Herrn setzen, gewinnen neue Kraft. Sie schwingen sich nach oben wie die Adler. Sie laufen schnell, ohne zu ermüden. Sie gehen und werden nicht matt!“ Am Nachmittag um 14 Uhr rollten sie in den Ort Limatambo ein und entdeckten zu ihrer großen Freude ein Taxi rechter Hand auf einem Parkplatz.

Wer völlig ausgelaugt ist, weiß die Segnungen eines Autos zu schätzen. Jetzt dauerte es nur noch eine weitere Stunde, bis sie erschöpft, aber heilfroh die Schwelle des Hospitals Diospi Suyana überschritten. Sie hatten immerhin einen zweiunddreißigstündigen Marathon von 125 Kilometern erfolgreich überstanden!

Nach einer warmen Dusche und einer kräftigen Suppe kuschelte sich Daniel in sein trockenes Krankenhausbett. Sie hatten es geschafft! Zwar waren sie mit einem Tag Verspätung am Ziel angelangt – aber wer hätte es über das Herz gebracht, dem leidgeprüften Daniel seine Operation zu verweigern?

Dr. Brady wohl kaum. Er operierte die Leistenbrüche am nächsten Vormittag und entließ seinen Patienten am Freitag derselben Woche aus der stationären Behandlung. Und: Weder Daniel noch Constantino bekamen einen grippalen Infekt. Sie dankten Gott für die Bewahrung und machten sich fröhlich auf den Heimweg. Der verlief ohne Hindernisse oder sonstige Schwierigkeiten, denn der Streik hatte am Dienstagabend geendet.

Das, was der alte Daniel auf sich nahm, um unter allen Umständen im Hospital Diospi Suyana behandelt zu werden, ist bemerkenswert. Aber vier Fünftel unserer Patienten haben weite Anreisen hinter sich, bevor unsere Mitarbeiter die Krankengeschichte erheben. Sie lassen staatliche Krankenhäuser und Privatkliniken links liegen und stellen sich vor unserem Missionsspital in eine lange Schlange. Sie investieren Geld und Zeit, ohne zu wissen, ob sie tatsächlich eine der begehrten Eintrittskarten erhalten werden.

Der legendär gute Ruf von Diospi Suyana hat viele Gründe. In einem Land, in dem das Gesundheitssystem an Korruption und Inkompetenz leidet, haben über vierzig TV-Reportagen unser Krankenhaus als Erfolgsmodell gepriesen. Die Kombination aus Freundlichkeit, guten Behandlungsergebnissen und günstigen Preisen erklärt so einiges, aber nicht alles. Aus meiner Sicht ist ein ganz wesentlicher Aspekt unser Glaube. Jeder Besucher unseres Morgengottesdienstes versteht, dass Diospi Suyana nicht an Gewinnmaximierung interessiert ist. Wir Mitarbeiter wollen vielmehr unseren Glauben an den Gott der Bibel auf praktische und liebevolle Weise leben. Mit Sachverstand und Leidenschaft zugleich. So wie Jesus es einmal ausgedrückt hat: „Was ihr einem der geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!“

Drama, Blut und Tränen

Ich kann gut verstehen, warum die meisten Menschen Krankenhäuser am liebsten meiden. Sie erinnern uns an die eigene Vergänglichkeit und bringen uns zudem in Kontakt mit den Körperflüssigkeiten Blut, Urin und Tränen. Anders als bei Horrorfilmen, die man mit einem leichten Druck auf die Fernbedienung ausschalten kann, lässt sich der Klinikalltag nicht abstellen. Ekel und Grusel bleiben. Nicht nur der Laie erschaudert beim Anblick ausgemergelter Krebspatienten oder der schmutzig gelben Gesichtsfarbe eines Leberzirrhotikers. Auch der erfahrene Mediziner trägt die unangenehmen Eindrücke mit sich herum und nimmt sie am Abend mit ins Schlafzimmer.

Und doch sind wir alle froh, dass es Spitäler gibt. Hier wird Leid gelindert und Leben verlängert. Und wir ahnen, dass auch wir selbst früher oder später Pflege brauchen werden. Auf einer Krankenstation umgeben von anderen bedürftigen Patienten.

In den Bergen Perus haben die Quechuas nur einen sehr beschränkten Zugang zu einer guten medizinischen Betreuung. Deshalb ist es verständlich, warum Alte und Junge strapaziöse Reisen auf sich nehmen, um im Hospital Diospi Suyana behandelt zu werden. Daniel Ticona hatte überzeugende Gründe, als er die ganze Nacht durch den Regen lief, um unser Krankenhaus zu erreichen, Pablo Human hingegen war dazu nicht in der Lage.

Seine fünf erwachsenen Kinder mussten ihren 55 Jahre alten Vater über die Schwelle ins Hospital tragen. Der Indianer aus Südperu litt an einem Aorten-Aneurysma, einer gefährlichen Erweiterung der Hauptschlagader des Körpers. Solche Aneurysmen sind tickende Zeitbomben. Schlagartig können sie platzen und innerhalb von Minuten den Tod durch Verbluten herbeiführen. In Pablos Fall hatte sich die Aussackung der Aorta mit Blutgerinnsel gefüllt, die gelegentlich wie Torpedos dem Blutstrom folgend große und kleine Blutgefäße der Beine verstopften. Der rechte Oberschenkel war bereits kalt und der Fuß schwarz. Auf der linken Seite sah es etwas besser aus, allerdings zeigte die abgestorbene Großzehe, dass akuter Handlungsbedarf bestand. Zu allem Übel hatte sich das tote Gewebe infiziert und eine allgemeine Blutvergiftung, also eine Sepsis, eingesetzt. Ein Herzinfarkt in der Vorgeschichte machte aus Pablo alles andere als einen guten chirurgischen Kandidaten. Wegen dieser Kombination von Risikofaktoren hatte sich bisher kein Chirurg vorgedrängt, um dem Kranken zu helfen. Die Erfolgschancen waren einfach zu niedrig.

Als die Kinder ihren Vater vorsichtig im Sprechzimmer absetzten, schauten sie erwartungsvoll auf unseren Gefäßchirurgen Dr. Thomas Tielmann. „Doktor, bitte tun Sie etwas“, flehten ihre Augen, „wir wollen nicht, dass unser Vater vor die Hunde geht!“

Dr. Tielmann erhob bei Pablo einen gründlichen körperlichen Befund und ordnete dann eine Reihe von Untersuchungen an. Schließlich teilte er der Familie seine Entscheidung mit: „Ich bin bereit, Ihren Vater zu operieren“, erklärte er, „aber ob er überleben wird, weiß nur Gott!“

Aus einer spontanen Gefühlsregung heraus nahmen Pablos erwachsene Kinder den Missionsarzt in die Arme. Diese Geste drückte mehr aus als jedes Wort. Die Familienangehörigen schöpften wieder etwas Hoffnung und fühlten sich endlich verstanden und angenommen.

Wann haben Sie das letzte Mal Ihren Hausarzt vor Dankbarkeit an sich gedrückt? Das ist wahrscheinlich schon eine Weile her. Pablo weinte, als Dr. Tielmann ein Gebet sprach und die nächsten Tage bewusst Gott anvertraute. Sein Leben würde zwar wortwörtlich auf des Messers Schneide liegen, aber nicht das Damoklesschwert des Zufalls hätte das finale Sagen, sondern Gott, der unser Schicksal in seinen Händen hält.

Auch die Operation begann mit einem Gebet. Nach Eröffnung der Bauchwand unterbrach Dr. Tielmann mit einer großen Klemme, die er unterhalb des Abgangs der Nierenarterien ansetzte, den Blutfluss in der Aorta. Er schnitt mit umsichtigen Handgriffen das Aneurysma auf und nähte eine Rohrprothese aus Polyester ein. In einem zweiten Schritt entfernte er mit einem Ballonkatheter mehrere Thromben aus den Beckenarterien. Mit der verbesserten Durchblutung wurden die beiden Oberschenkel wieder warm. In der letzten Phase amputierte er den rechten Oberschenkel. Insgesamt dauerte dieser Hochrisikoeingriff vier Stunden. Er verlief erfolgreich und rettete ein Menschenleben. Langfristig ist daran gedacht, den Patienten mit einer Beinprothese zu mobilisieren. Gott sei Dank, dass es diese Möglichkeit gibt!

Übrigens bilden wir am Hospital Diospi Suyana Assistenzärzte aus und unterrichten junge Krankenschwestern. Für Medizinstudenten aus dem Ausland wird ihre Famulatur (Praktikum) an unserer Einrichtung meist zu einer eindrücklichen Lebenserfahrung. Sie sehen bei uns fortgeschrittene Krankheitsbilder, die sie in Europa oder in den USA so gut wie nie zu Gesicht bekommen würden.

Meine Frau Martina wirbelte in der ihr typischen Art durch die Notaufnahme. Alle sieben Krankentragen waren mit Patienten belegt und der Warteraum draußen quoll über. „Rebekka, schau dir mal die Schwangere dort hinten näher an und erhebe ihre Anamnese“, Martina zeigte mit einer flüchtigen Handbewegung auf eine junge Frau mit einem enormen Bauchumfang.

Die Schweizer Medizinstudentin schnappte sich ihren Notizblock, trat an die Patientin heran und zog den Vorhang hinter sich zu. Keine fünf Minuten später erstattete die angehende Ärztin ihren Bericht. „Die Indianerin ist gar nicht schwanger“, sagte sie zu Tinas Überraschung. „Sie hat einen Ultraschallbericht eines externen Arztes dabei, der besagt, dass es sich um einen großen Tumor handelt!“

Die 29-Jährige wurde umgehend unserem Gynäkologen Dr. Jens Haßfeld vorgestellt. Ein Kontroll-Ultraschall sowie ein Computertomogramm bestätigten die Verdachtsdiagnose einer riesengroßen Ovarialzyste. Bereits am nächsten Tag lag die Patientin auf dem OP-Tisch und Dr. Haßfeld entfernte mit viel Erfahrung einen Tumor von sage und schreibe 14 ½ Kilogramm.

Der Blutverlust hielt sich in Grenzen und Alicia Carbajal überstand die folgende Nacht ohne Komplikationen. Am Morgen lief sie glücklich und sichtlich erleichtert über die Krankenstation. Die feingewebliche Untersuchung ergab keinerlei Hinweise auf eine Krebserkrankung und die Mutter von zwei Kindern war durch diesen Eingriff geheilt. Was unsere Medizinstudentin angeht, wird sie den Fall wohl bis an ihr Lebensende nicht vergessen.

Generell gilt in Südamerika, dass man am Morgen nicht weiß, was der Abend bringen wird. Diese Aussage trifft besonders auf den Alltag eines Krankenhauses zu. Da ist selbst der nächste Augenblick nicht vorhersagbar. Am Hospital Diospi Suyana sind viele Positionen nur einmal besetzt. Das heißt, es gibt einen einzigen Traumatologen, einen Urologen und nur eine Allgemeinchirurgin. Wenn das Telefon klingelt und der Patient rollt in die Notaufnahme, ist der jeweilige Arzt gefordert. Dabei geht es nicht um Lust und Laune, sondern um Pflichterfüllung zu jeder Tages- und Nachtzeit.

Wie an jenem Freitagabend. Familie Boeker wollte das Wochenende gemütlich einläuten. Erst ein Stockbrot am Lagerfeuer rösten und danach mit den Kindern einen schönen Film anschauen. Doch dann erhielt unser Arzt Dr. Tim Boeker einen ominösen Anruf aus dem Krankenhaus, der auf der Stelle alle Planungen über den Haufen warf: „Kommen Sie sofort in die Notaufnahme. Ein junger Mann hat sich mit der Kreissäge seinen rechten Vorderarm verletzt!“

Unser Traumatologe fuhr sofort in das Missionsspital. Der Befund: Der rechte Vorderarm war fast vollständig „amputiert“ und wurde nur noch an einer Seite durch einige Weichteile und den Ulnar-Knochen, die Elle, zusammengehalten. Die elektrische Säge hatte die Arterien, Venen, Nerven, Knochen und die meisten Sehnen durchtrennt. Nun bestanden zwei Möglichkeiten: Der Arzt hätte den Vorderarm ganz abschneiden, die Wunde zunähen und anschließend zu Hause das Heimkino genießen können. Oder er würde in einer Nachtschicht das Unmögliche versuchen, nämlich all die vielen Strukturen zu reparieren.

Dr. Tim Boeker entschied sich für die zweite Variante und wurde dabei maßgeblich durch Dr. David Brady unterstützt. Die Operation dauerte sechs Stunden. Die Durchblutung des Vorderarmes war danach zufriedenstellend, und nach und nach kehrte Gefühl in die Hautareale zurück. Wohl jeder von uns kann den Jubel des Patienten nachvollziehen, als er wieder in der Lage war, seine rechte Hand sinnvoll zu bewegen.

Während meiner Vortragsreisen werde ich regelmäßig gefragt, welche Rolle dem Gebet bei der Versorgung unserer Patienten zukomme. Unsere Ärzte sind hervorragend ausgebildet und praktizieren Schulmedizin auf hohem Niveau. Aber als Christen wissen wir um die besondere Bedeutung des Segen Gottes bei all unseren Bemühungen. Gott ist der Herr über Leben und Tod. Deshalb beten wir nicht nur im Morgengottesdienst, sondern auch am Krankenbett und im Operationssaal. Die Patienten nehmen dieses Angebot dankbar an. „Just do your best and let Him take care of the rest!“, sang der christliche Songwriter Keith Green in den 1980er-Jahren: „Gib dein Bestes und überlasse Gott alles Übrige!“ An diese Empfehlung halten wir uns gerne. Und gelegentlich erleben wir Überraschungen, die nach den Regeln der medizinischen Logik nicht erklärt werden können.

30. November. Es war ein langer Arbeitstag von zwölf Stunden im Spital gewesen. Müde stellten meine Frau und ich zu Hause unsere Taschen auf den Boden. Tina kämpfte mit einer schweren Erkältung. Sie war zum dreiundachtzigsten Geburtstag ihres Vaters in Deutschland gewesen. Eine anstrengende Stippvisite von sieben Tagen: Cusco – Lima – Madrid und Frankfurt, hin und zurück. Sofort nach ihrer Rückkehr hatte Tina sich wieder an die Behandlung der vielen Patienten gemacht. Aber der Jetlag, gepaart mit dem chronischen Schlafmangel, forderte seinen Tribut. Besonders ihr tiefer Husten gefiel mir nicht.

„Musst du heute Abend noch etwas Dringendes erledigen?“, fragte ich sie mit sorgenvollem Blick.

„Nein, eigentlich nicht!“, antwortete sie und ging in die Küche, um Apfelmus zu kochen. Während ich im Schlafzimmer ein Sudoku löste, vernahm ich plötzlich die Sirene eines Krankenwagens. Ganz leise. Dann etwas lauter. Als Nächstes hörte ich, wie unten jemand die Garagentür aufriss. Ein Motor sprang an.

„Ich komme mit!“, rief ich in den Hof hinunter. Doch zu spät. Meine Frau war schon längst um die Straßenecke gebogen. Langsam schloss ich das Tor. Was war nur los?

Trotz der vorgerückten Stunde fand ich auf der Straße ein Mototaxi, das mich zum Spital brachte. Ich entdeckte Martina mit unserer Kollegin Dr. Ana Delgado und einigen Krankenschwestern in der Röntgenabteilung. Ihr kurzer Bericht beschrieb eine Tragödie, die wieder einmal zeigte, dass ein Unheil zu jeder Zeit wie aus dem Nichts zuschlagen kann.