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Und jetzt? Newa ließ das Schild sinken und schüttelte den Kopf. All diese Mühe, all diese Träume und sie rannte einfach davon. Es fühlte sich an wie ein Verrat an all den Jahren, in denen sie sich bemüht hatte, aus ihrem Leben etwas Besseres zu machen. Aber was war der Punkt? Ein Studium? Ein Job? Das bedeutete nichts, wenn sie weiterhin in dieser Stadt gefangen wäre, in einem Leben, das nichts anderes als Schmerz versprach. »Du schaffst das«, murmelte sie zu sich selbst und hob das Schild wieder hoch. Ihr Magen zog sich zusammen, als ein Auto in der Ferne auftauchte. Die Scheinwerfer blitzten auf, wurden größer und verschwanden dann wieder, ohne anzuhalten. Newa senkte das Schild und biss sich auf die Unterlippe. Vielleicht hielten die Leute nicht, weil sie zu jung wirkte. Oder vielleicht, weil sie so verloren aussah, dass sie jedem klarmachen musste, keine Ahnung zu haben, wohin sie wollte.
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Seitenzahl: 295
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Inhaltsverzeichnis
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Newa stand am Rand der Landstraße, die das kleine Städtchen in die weite Welt hinausführte. Die Herbstsonne hing tief am Horizont, tauchte die Baumwipfel in ein warmes Gold und warf lange Schatten auf den staubigen Asphalt. Der Wind spielte mit ihren Haaren, die in einem ungezähmten Braun über ihre Schultern fielen. Sie hatte sie nicht gebunden. Wozu auch? Das war kein feierlicher Abschied, sondern ein Fluchtversuch.
Ihr Gesicht war jung, von Sommersprossen übersät, die wie kleine Inseln auf ihrer blassen Haut verstreut waren. Doch ihre grünen Augen wirkten älter, als sie sollten und als hätten sie zu viele unbequeme Wahrheiten gesehen. Unter ihren Augen zeichneten sich leichte Schatten ab, Überbleibsel der schlaflosen Nächte, in denen sie mit ihrem Entschluss gerungen hatte, endgültig zu gehen.
Sie trug eine abgenutzte Jeansjacke über einem dunkelgrauen T-Shirt mit einem verblassten Logo, das sie selbst nicht mehr entziffern konnte. Ihr Rucksack war klein, fast zu klein für jemanden, der nicht wusste, wohin die Reise ging. Doch alles, was sie mitnehmen konnte, waren ein paar Kleidungsstücke, ein Notizbuch, ein zerknittertes Foto ihrer Mutter und eine Dose mit ein paar Münzen und Scheinen. Eben alles, was ihr Vater übrig gelassen hatte. Ihre Turnschuhe, einst strahlend weiß, waren von Jahren des Gebrauchs gezeichnet, die Schnürsenkel unterschiedlich, einer hellblau, der andere grau, aber das störte sie nicht.
Newa presste ihre Lippen zusammen und zog das handgeschriebene Schild fester an sich. Irgendwohin stand in ungelenken Buchstaben darauf, geschrieben mit einem dicken Filzstift, den sie aus dem Küchenschrank gekramt hatte. Der Geruch abgestandener Luft hing ihr noch in der Nase. Das war das Letzte, was sie von Zuhause mitgenommen hatte. Sie schüttelte den Gedanken ab und drehte sich langsam um, um einen letzten Blick auf die kleine Stadt zu werfen, die sich hinter den Hügeln duckte.
So viele Erinnerungen drängten sich auf einmal in ihren Kopf, dass sie die Tränen mühsam unterdrücken musste. Sie dachte an ihre Schulzeit. An die ständigen Sorgen, die wie ein dunkler Schatten über ihr gehangen hatten. Während andere Kinder mit neuen Rucksäcken und frischen Heften in die Schule kamen, hatte sie sich jedes Buch leihen und jeden Stift dreimal benutzen müssen. Manche Lehrer hatten Mitleid gezeigt, andere hatten sie ignoriert, als wäre ihre Situation unsichtbar.
Trotz allem hatte Newa sich durchgebissen. Sie hatte bis spätabends gelernt, wenn ihr Vater bereits in unerschütterlichen Schlaf gesunken war, hatte ihre Arbeiten mit Zittern vor Hunger abgegeben und war dennoch eine der besten in ihrem Jahrgang gewesen. Ein Lehrer hatte ihr sogar einmal gesagt, dass sie Talent habe, dass sie studieren und etwas aus sich machen könne.
Und jetzt? Newa ließ das Schild sinken und schüttelte den Kopf. All diese Mühe, all diese Träume und sie rannte einfach davon. Es fühlte sich an wie ein Verrat an all den Jahren, in denen sie sich bemüht hatte, aus ihrem Leben etwas Besseres zu machen. Aber was war der Punkt? Ein Studium? Ein Job? Das bedeutete nichts, wenn sie weiterhin in dieser Stadt gefangen wäre, in einem Leben, das nichts anderes als Schmerz versprach.
»Du schaffst das«, murmelte sie zu sich selbst und hob das Schild wieder hoch. Ihr Magen zog sich zusammen, als ein Auto in der Ferne auftauchte. Die Scheinwerfer blitzten auf, wurden größer und verschwanden dann wieder, ohne anzuhalten. Newa senkte das Schild und biss sich auf die Unterlippe. Vielleicht hielten die Leute nicht, weil sie zu jung wirkte. Oder vielleicht, weil sie so verloren aussah, dass sie jedem klarmachen musste, keine Ahnung zu haben, wohin sie wollte.
Die Minuten zogen sich und der Wind wurde stärker. Newa zog die Jeansjacke enger um sich, während sie sich in Gedanken verlor. Sie dachte an ihre Mutter, die immer gesagt hatte, dass Träume groß sein müssen, wenn man in einem kleinen Ort lebt. »Sonst bist du schon verloren, bevor du angefangen hast«, hatte sie oft gesagt. Doch die Träume ihrer Mutter waren mit ihr gestorben und Newa hatte sich geschworen, dass ihr das nicht passieren würde.
Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, hörte sie das Brummen eines Motors, das näher kam und langsamer wurde. Ihr Herz schlug schneller, als sie das Schild hochhob. Ein klappriger hellblauer Lieferwagen hielt neben ihr. Der Fahrer, ein junger Mann mit zerzausten Haaren und einem Zahnstocher im Mund, lehnte sich aus dem Fenster. Seine Augen musterten sie kurz, dann zog er eine Braue hoch.
»Irgendwohin, hm?«, fragte er mit einem amüsierten Tonfall.
Newa nickte, hielt seinem Blick stand und hob trotzig das Kinn. »Genau. Irgendwohin.«
Er zuckte mit den Schultern. »Steig ein. Ich fahr sowieso nirgendwo Bestimmtes hin.«
Mit einem letzten Blick auf die leere Straße hinter sich öffnete Newa die Tür und zog sich in den alten Wagen. Sie hatte keine Ahnung, wohin die Reise sie führen würde. Aber sie wusste eines sicher: Alles war besser als hier.
Der Innenraum des Lieferwagens war so chaotisch wie sein Fahrer. Auf dem Sitz in der Mitte lagen zerknitterte Landkarten, leere Chipstüten und ein Stapel CDs mit handgeschriebenen Labels wie Roadtrip Mix und Best of the 80s. Der markante Geruch von altem Kaffee hing in der Luft und das Armaturenbrett war übersät mit Kratzern und kleinen Kerben.
Newa warf dem Fahrer einen verstohlenen Blick zu, während sie den Rucksack auf ihren Knien festhielt. Er wirkte ein paar Jahre älter als sie, Mitte bis Ende zwanzig vielleicht. Seine dunkelbraunen Haare waren zerzaust und etwas zu lang, als hätte er sich schon länger nicht um einen Friseur gekümmert. Ein Teil davon fiel ihm lässig in die Stirn, während der Rest widerspenstig nach hinten wuchs. Er trug ein ausgewaschenes schwarzes Longsleeve, dessen Ärmel bis zu seinen Oberarmen hochgeschoben waren. Darunter konnte man den Ansatz eines Tattoos erkennen, das sich über seinen linken Arm zog.
Sein Gesicht war markant, mit scharfen Wangenknochen und einem leichten Bartschatten, der ihm etwas Ungezwungenes verlieh. Seine Augen waren von einem ungewöhnlichen Graublau. Die Art von Augen, die einen mit einem einzigen Blick zu durchschauen schienen. Er hatte ein selbstbewusstes Grinsen auf den Lippen, das eine Mischung aus Gelassenheit und Neugier vermittelte.
»Ich bin Kesko«, sagte er schließlich, während er den Zahnstocher aus dem Mundwinkel nahm und aus dem Fenster schnippte. »Und du bist...?«
»Newa«, antwortete sie knapp, wobei sie ihren Blick weiterhin auf die Straße vor ihnen richtete.
»Newa«, wiederholte er, als würde er den Klang des Namens testen. Dann warf er ihr einen kurzen Seitenblick zu. »Wie alt bist du, Newa?«
Sie zögerte einen Moment. »Achtzehn.«
Kesko nickte langsam, als wäre er nicht ganz überzeugt, fragte aber nicht weiter nach. Stattdessen trat er das Gaspedal durch und der Lieferwagen brummte lauter als die Geschwindigkeit schneller wurde.
Der Innenraum des Wagens war still, abgesehen vom leisen Brummen des Motors und dem gelegentlichen Rattern der Reifen über Unebenheiten im Asphalt. Kesko hielt die Hände lässig am Lenkrad, seine Haltung entspannt, als würde er das Leben auf der Straße schon ewig kennen. Doch hin und wieder wanderte sein Blick unauffällig zu Newa hinüber.
Sie saß auf dem Beifahrersitz, den Rucksack fest umklammert, und starrte aus dem Fenster. Das schräg einfallende Sonnenlicht fiel auf ihr Gesicht, zeichnete weiche Schatten auf ihre Wangen und brachte die feinen Sommersprossen auf ihrer Haut zum Vorschein. Ihre grünen Augen wirkten ruhig, doch in ihrem Blick lag eine Tiefe, die ihn innehalten ließ.
Er wusste, dass sie jung war. Sie hatte es ihm schließlich eben gesagt. Aber es war mehr als ihr Alter, das ihn zum Nachdenken brachte. Da war etwas an ihr, das so gar nicht zu einem typischen Teenager passte. Die Art, wie sie sich hielt, mit einem leichten, fast unmerklichen Widerstand in der Haltung, als wäre sie ständig darauf vorbereitet, sich gegen die Welt zu behaupten. Sie hatte etwas Erwachsenes, fast Abgeklärtes an sich, das mit ihrem zierlichen, jugendlichen Erscheinungsbild im Kontrast stand.
Und dann war da diese Schönheit, die sie selbst offenbar nicht bemerkte. Es war keine aufdringliche, gekünstelte Attraktivität, sondern etwas Ungezwungenes, Natürliches. Ihre Haare fielen in unordentlichen Strähnen über ihre Schultern und ihre Kleidung, die nichts Besonderes war, sondern nur eine alte Jeansjacke und ein T-Shirt, ließ sie gerade deshalb so ehrlich wirken. Sie war die Art von Person, die nichts tun musste, um aufzufallen.
Kesko richtete den Blick wieder auf die Straße und zwang sich, sich zu konzentrieren. Es war ihm unangenehm, dass er sie so intensiv musterte. Sie war gerade erst eingestiegen. Das war nicht der Moment, sich über solche Dinge Gedanken zu machen. Trotzdem konnte er sich ein kurzes Schmunzeln nicht verkneifen. Sie wirkte so entschlossen, so souverän, dabei war sie wahrscheinlich nervös wie sonst was.
Nach einer Weile brach Kesko die Stille: »Also, warum ausgerechnet nach Irgendwohin? Kein Ziel? Keine Pläne? Einfach rein ins Abenteuer?«
Newa überlegte kurz, wie sie antworten sollte. Sie wollte ihm nicht die ganze Wahrheit erzählen. Nichts über ihren Vater, nichts über ihre Mutter und schon gar nicht über das Leben, das sie zurückgelassen hatte. Stattdessen zuckte sie mit den Schultern und zwang sich zu einem halbherzigen Lächeln.
»Ich dachte mir, irgendwohin ist besser als gar nichts«, sagte sie und versuchte, dabei locker zu klingen. »Ich war immer in der gleichen Stadt, immer in der gleichen Schule, mit den gleichen Leuten. Weißt du, wie sich das anfühlt? Als wäre dein ganzes Leben schon vorgezeichnet. Immer die gleichen Straßen, die gleichen Gesichter...« Sie machte eine ausladende Geste in die Luft. »Ich will einfach mal was anderes sehen. Mal was erleben, verstehst du?«
Kesko zog die Augenbrauen zusammen, aber er schwieg einen Moment, bevor er mit einem kleinen Schmunzeln antwortete: »Klingt, als würdest du mir nachreden.«
Newa zog die Stirn kraus. »Wie meinst du das?«
»Naja«, erwiderte er, während er den Gang wechselte und dabei einen kurzen Blick auf sie warf. »Ich bin quasi der König von Irgendwohin. Mein ganzes Leben besteht aus Gelegenheitsjobs und davon, nicht länger als ein paar Wochen an einem Ort zu bleiben. Aber bei dir klingt's irgendwie... anders. Als würdest du nicht nur vorwärts wollen, sondern auch weg von irgendwas.«
Seine Worte ließen sie schlucken. War sie so leicht zu durchschauen? Doch sie zwang sich zu einem Lachen. »Du interpretierst zu viel. Ich hab einfach Lust auf die Freiheit. Keine Verpflichtungen, keine Erwartungen, kein Stress. Das klingt doch gut, oder nicht?«
Kesko nickte langsam, seine Augen weiterhin auf die Straße gerichtet. »Klingt gut, klar. Aber weißt du, manchmal kann auch Irgendwohin ziemlich chaotisch sein. Nur so als Vorwarnung.«
Newa schwieg und sah aus dem Fenster. Die Bäume zogen wie ein grüner Schleier an ihnen vorbei und die Straße schien sich endlos in die Ferne zu ziehen. Sie fühlte, wie sich ein kleiner Knoten in ihrer Brust löste. Auch wenn Kesko sie zu durchschauen versuchte, war es angenehm, jemandem gegenüberzusitzen, der ihr nicht mit Mitleid oder Vorwürfen begegnete.
»Chaotisch ist okay«, sagte sie nach einer Weile leise, ließ den Rucksack in den Fußraum sinken und zog die Knie an ihre Brust. »Solange es nicht so chaotisch ist wie dort, wo ich herkomme.«
Kesko warf ihr einen prüfenden Blick zu, schwieg aber. Es war, als hätte er gespürt, dass sie noch nicht bereit war, mehr zu erzählen.
Der Wagen rollte weiter und mit jedem Kilometer fühlte sich Newa ein kleines bisschen freier. Auch wenn sie wusste, dass sie vor der Wahrheit nicht ewig würde weglaufen können.
Die ersten Kilometer verliefen in einer Mischung aus Stille und zögerlichem Smalltalk. Der Lieferwagen rumpelte über die Landstraße und das Brummen des Motors schien lauter zu sein als ihre Gespräche. Newa umklammerte immer noch ihre Beine, ihre Finger in den Stoff ihrer Jeans gekrallt. Sie fühlte sich wie eine Fremde im eigenen Körper, halb angespannt, halb entschlossen, sich nicht anmerken zu lassen, wie unsicher sie war.
Kesko warf ihr einen schnellen Seitenblick zu, während er das Lenkrad mit einer Hand locker hielt. Sie wirkte wie ein Vogel, der gerade aus einem Käfig entlassen worden war. Sie schien bereit, zu fliegen, aber immer noch unsicher, wohin.
Er beschloss, die Stille zu brechen. »Also«, begann er mit einem Ton, der so beiläufig wie möglich klingen sollte, »bist du immer so gesprächig?«
Newa drehte den Kopf zu ihm und zog eine Augenbraue in die Höhe. »Kommt drauf an, mit wem ich rede.«
»Fair genug«, gab er zurück, ein Grinsen huschte über sein Gesicht. »Dann hoffe ich mal, dass ich einen guten Eindruck mache.«
Sie zuckte mit den Schultern und starrte wieder aus dem Fenster. Kesko ließ sich davon nicht beirren.
»Du bist das erste Mal per Anhalter unterwegs, oder?«, fragte er nach einer Weile.
Newa zögerte kurz. »Ist es so offensichtlich?«
»Ein bisschen«, antwortete er ehrlich. »Die meisten, die ich mitnehme, plaudern sofort drauflos. Du... hältst dich zurück. Das ist gar nicht schlecht. Vorsicht ist gut, besonders hier draußen.«
Aus dem Augenwinkel sah er, wie sie die Lippen schürzte, als überlege sie, ob sie etwas sagen sollte. Schließlich kam ein leises »Ich habe keine Angst. Ich bin nur... vorsichtig.«
Kesko nickte, seinen Blick konzentriert auf die Straße gerichtet. »Das ist klug. Viele Leute sind da draußen unterwegs, nicht alle sind nett. Aber ich schwöre, ich bin harmlos. Du kannst mich gerne durchsuchen, wenn's hilft.«
Newa schnaubte leise und für einen Moment war da etwas in ihrem Gesicht, das wie ein Lächeln aussah. »Das wäre ein seltsamer Einstieg.«
»Tja, ich dachte, ich biete es an, bevor du es verlangst.« Keskos Ton war leicht und spielerisch. Er merkte, wie sie sich ein wenig entspannte.
Ein paar Minuten vergingen, bevor er wieder sprach. »Also, wie bist du auf die Idee gekommen, einfach so loszuziehen?«
Newa überlegte sich die nächsten Worte. »Manchmal muss man einfach weg, weißt du? Irgendwohin, Hauptsache weg.«
Kesko nickte verständnisvoll. »Das verstehe ich. Ging mir ähnlich, als ich jünger war. Die Welt da draußen ist groß und man weiß nie, was man verpasst, wenn man immer nur am selben Ort bleibt.«
Sie schwieg daraufhin und er beschloss, sie nicht weiter zu drängen. Stattdessen wechselte er das Thema. »Du kommst also aus Cedarvale?«, erkundigte er sich beiläufig.
»Ja.«
»Schöne Stadt?«
»Wenn du auf verrostete Wasserrohre und bröckelnde Fassaden stehst, dann ja.«
Kesko lachte. Es war ein ehrliches, warmes Lachen, das den Druck in der Luft ein wenig löste. »Ich glaube, ich habe ein Faible für solche Orte. Sie haben... Charakter.«
Newa sah ihn schief an. »Das ist eine nette Art, trostlos zu umschreiben.«
Er grinste. »Vielleicht. Aber ich meine es ernst. Manche Orte wachsen einem ans Herz, auch wenn sie auf den ersten Blick nichts Besonderes sind.«
Newa antwortete nicht, aber Kesko bemerkte, dass sie ihn einen Moment länger ansah, als ob sie über seine Worte nachdachte.
»Weißt du«, begann er, während er mit einer Hand das Lenkrad hielt, »du erinnerst mich ein bisschen an mich selbst, als ich das erste Mal unterwegs war. Warst du schon mal außerhalb von Cedarvale?«
Newa schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Ein paar Schulausflüge, aber das war's.«
»Dann wird das deine erste große Reise.« Er grinste begeistert. »Und du hast keinen blassen Schimmer, was dich erwartet, stimmt's?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Man könnte es Abenteuerlust nennen.«
Kesko lachte leise, dann klopfte er auf das Armaturenbrett. »Gut so. Abenteuer sind besser, wenn man sie nicht plant. Glaub mir, ich hab das gelernt.«
»Ist das so, ja?«
Er lehnte sich etwas zurück, als sie eine längere Gerade passierten. Sein Ton wurde lockerer, fast nachdenklich, und dann begann er zu erzählen.
»Also, da war diese eine Zeit, als ich in New Mexico unterwegs war. Ich hatte mir für ein paar Tage einen Job auf einer Ranch geholt. Keine große Sache, nur Zäune reparieren und so. Ich dachte, es wäre ein einfacher Auftrag. Aber am dritten Tag tauchte der Ranchbesitzer mit Panik in den Augen auf und meinte, sein Hund wäre verschwunden. Ein riesiger Schäferhund, der wohl in die Wüste abgehauen war.«
Newa hob eine Augenbraue. »Und du bist einfach losgezogen, um ihn zu suchen?«
»Ja, klar. Ich meine, ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich einlasse. Aber hey, ich war jung, dumm und dachte, ich könnte alles. Also bin ich mit einer Flasche Wasser und einem Stück Speck losgezogen.« Kesko schüttelte den Kopf und grinste. »Hab drei Stunden in der prallen Sonne gesucht, bis ich schließlich einen Schatten hinter einem Felsen sah. Da lag der Hund, lebendig und gesund, nur zu faul, um nach Hause zu gehen. Er hat den Speck genommen, ist aufgestanden und hat mich dann zurück zur Ranch geführt, als wäre ich derjenige, der sich verlaufen hat.«
Newa konnte nicht anders, als zu schmunzeln. »Und der Ranchbesitzer?«
»Der war so dankbar, dass er mir eine Woche lang Essen und Unterkunft umsonst gegeben hat. Also ja, ich hab quasi durch einen Hund überlebt.«
Newa hörte Keskos Geschichte mit einer Mischung aus Interesse und Skepsis. Während er sprach, stellte sie sich die glühend heiße Wüste von New Mexico vor, den endlosen Horizont und den Schatten des Felsens, hinter dem der Hund gelegen hatte. Sie konnte nicht sagen, ob sie beeindruckt oder belustigt sein sollte. Die Art, wie Kesko erzählte, so leicht und fast beiläufig, als wäre es nichts Besonderes, stundenlang durch die Wüste zu wandern, um einen Hund zu rette, ließ sie denken, dass er entweder ein ziemlicher Angeber oder wirklich so entspannt war, wie er wirkte.
Trotzdem musste sie sich eingestehen, dass etwas an seiner Geschichte sie beruhigte. Vielleicht war es die Botschaft dahinter, die er nicht einmal ausgesprochen hatte. Egal wie aussichtslos eine Situation scheint, manchmal reicht ein Stück Speck, um sie zu lösen.
Während Kesko grinste, als hätte er selbst den Witz seiner Geschichte gerade erst erkannt, merkte Newa, dass sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit wirklich abgelenkt fühlte. Sie war weg von ihren Sorgen, weg von Cedarvale.
»Nevada war auch eine wilde Geschichte«, fuhr Kesko fort. »Ich habe mal bei einem Catering-Service ausgeholfen. War eigentlich nicht mein Ding, aber sie brauchten jemanden, der schwere Kisten tragen kann, also hab ich zugesagt. Dann, am Tag der Hochzeit, riesige Sache, hunderte Gäste, teures Essen, fällt dem Bräutigam ein, dass er die Ringe vergessen hat. Natürlich war das Chaos vorprogrammiert.«
Newa runzelte die Stirn. »Und was hast du gemacht?«
»Nun ja, ich hab mir das Auto vom Chef des Caterings geschnappt und bin losgedüst, um die Ringe zu holen. Die Braut war schon halb am Durchdrehen, die Gäste wurden nervös und der arme Bräutigam hat gezittert wie ein Blatt. Ich hab’s gerade noch rechtzeitig zurückgeschafft. Genau in dem Moment, als der Priester Ringe, bitte gesagt hat. Hab sie ihm in die Hand gedrückt und bin dann wieder in der Küche verschwunden, als wäre nichts gewesen.«
»Und niemand hat dich entlohnt?«, fragte Newa ungläubig.
Kesko grinste stolz. »Doch, später. Der Bräutigam hat mir einen Umschlag mit genug Trinkgeld gegeben, dass ich eine Woche lang durch Nevada reisen konnte. War eine nette Sache.«
Als Kesko von der Hochzeit in Nevada erzählte, konnte Newa nicht anders, als sich das Chaos vorzustellen. Den nervösen Bräutigam, die hektische Suche nach den Ringen und Kesko, wie er scheinbar mit einem Lächeln auf den Lippen alles im letzten Moment rettete. Es war fast wie eine Filmszene, aber das schien zu ihm zu passen.
Sie fragte sich, wie jemand so lässig und gelassen bleiben konnte, selbst wenn alles drunter und drüber ging. Während sie ihn beobachtete, wie er die Geschichte mit lebhaften Gesten untermalte, begann sie zu verstehen, dass er diese Ruhe nicht nur spielte, sie war ein Teil von ihm.
Newa konnte nicht leugnen, dass sie ein bisschen neidisch war. Ihr Leben war nie so leicht gewesen und sie hatte nie gelernt, in schwierigen Momenten einfach das Beste daraus zu machen. Keskos Geschichten wirkten wie ein Gegengewicht zu ihrer eigenen Unsicherheit und sie fragte sich, wie es wohl wäre, auch nur einen Bruchteil von dieser Leichtigkeit zu besitzen.
»Montana war auch... interessant«, meinte Kesko dann mit einem Lachen, das fast ein bisschen peinlich klang. »Ich war müde von der Fahrt und hab einen Platz gesucht, um mein Zelt aufzuschlagen. Hab einen tollen Ort gefunden, direkt an einem Fluss, total idyllisch. Bin eingeschlafen wie ein Stein. Nur, um mitten in der Nacht von einem Ranger geweckt zu werden.«
Newa sah ihn fragend an. »Warum?«
»Tja, wie sich herausstellte, war ich mitten in einem Naturschutzgebiet. Kein Camping erlaubt.« Er lachte erneut und schüttelte den Kopf. »Der Typ war nett genug, mich nicht gleich zu vertreiben. Hat mir stattdessen erklärt, warum der Platz so geschützt ist. Wir haben uns irgendwann so gut verstanden, dass er mir am nächsten Tag eine private Führung durch das Gebiet gegeben hat.«
Als Kesko von seiner Nacht im Naturschutzgebiet in Montana erzählte, konnte Newa ein Schmunzeln kaum unterdrücken. Sie stellte sich vor, wie er, müde und ahnungslos, sein Zelt aufschlug, nur um mitten in der Nacht von einem Ranger geweckt zu werden. Es hatte etwas Komisches und gleichzeitig Bewundernswertes, wie er aus einer peinlichen Situation nicht nur das Beste machte, sondern sogar noch einen Vorteil zog.
Newa dachte darüber nach, wie sie in einer ähnlichen Lage reagiert hätte. Wahrscheinlich wäre sie vor Verlegenheit im Boden versunken oder hätte sich stundenlang darüber geärgert. Aber Kesko schien nichts aus der Ruhe zu bringen. Er war wie jemand, der das Leben nahm, wie es kam, ohne sich zu sehr darum zu kümmern, ob alles perfekt lief.
Sie fragte sich, ob diese Gelassenheit angeboren war oder ob sie etwas war, das er sich in den Jahren auf der Straße angeeignet hatte. Und insgeheim wünschte sie sich, dass sie selbst irgendwann einmal so unbeschwert mit den Pannen des Lebens umgehen könnte.
Kesko ließ den Blick kurz über die leere Straße vor ihnen schweifen. »Weißt du«, sagte er mit einem schiefen Grinsen, »das ganze Erzählen macht mich hungrig. Vielleicht sollte ich meine Geschichten rationieren, bevor ich noch völlig aus der Puste komme.«
Newa lachte leise, fast gegen ihren Willen. »Hätte nicht gedacht, dass Worte so anstrengend sein können.«
»Das liegt daran, dass ich mit Leidenschaft erzähle«, entgegnete er und klopfte sich spielerisch auf die Brust. »Aber im Ernst, ich könnte jetzt etwas Herzhaftes vertragen.«
Gerade in diesem Moment tauchten die ersten Lichter einer kleinen Stadt am Horizont auf. Kesko deutete mit einem Finger auf ein leuchtendes Schild, das in grellem Rot und Gelb vor einem kleinen Restaurant aufblinkte. Bill's Burgers & More war in großen Buchstaben darauf zu lesen.
»Perfektes Timing«, verkündete Kesko triumphierend. »Siehst du, manchmal liefert das Universum genau das, was man braucht.«
Er lenkte den Wagen auf einen staubigen Parkplatz in der Nähe des Ladens und stellte den Motor ab. Der Duft von frisch gegrilltem Fleisch und knusprigen Pommes schwebte durch die Luft und Kesko drehte sich zu Newa. »Was meinst du? Burger und Pommes? Oder bist du mehr der Salat-Typ?«
Newa zuckte mit den Schultern und ließ ihren Rucksack auf den Boden gleiten. »Solange es essbar ist, ist es mir egal.«
Er öffnete die Fahrertür mit einem breiten Grinsen. »Das ist die richtige Einstellung. Los, lass uns essen.«
Gemeinsam stiegen sie aus dem Lieferwagen und gingen zum Eingang hinüber. Der Grill zischte und die Luft war erfüllt von Stimmen und Musik, die leise aus einem alten Radio drang. Newa fühlte sich seltsam entspannt. Vielleicht lag es an dem Duft, vielleicht an Keskos lockerer Art. Sie konnte es selbst nicht genau sagen, aber für den Moment war es ihr egal.
Der Burgerladen war ein kleines, unscheinbares Gebäude am Stadtrand, mit einer schlichten, weißen Fassade. Drinnen war es angenehm warm und duftete nach frisch gegrilltem Fleisch, Zwiebeln und knusprigen Pommes. Einige kleine Tische standen eng aneinander und ein leises Gemurmel von Stimmen füllte die Luft. Man hörte das Klingen von Besteck, das auf Tellern klapperte, und das gedämpfte Sprechen von Gästen.
Newa ließ sich gegenüber von Kesko an einen der freien Tische sinken. Der Boden war mit dunklen Fliesen ausgelegt, die Wände mit alten Postern und Retro-Bildern behangen, die Geschichten vergangener Jahre erzählten. Es war kein besonders großes Lokal, aber heimelig. Genau das richtige Fleckchen für ein schnelles Essen und einen kurzen Moment des Innehaltens.
Newa hatte die Karte vor sich liegen, sah aber eigentlich nur darauf, um sich zu konzentrieren. Während sie die Auswahl auf der Karte betrachtete, machten sich Gedanken über die Bezahlung breit. Sie zählte in ihrem Kopf die Scheine, die sich in der Dose befanden, die sie ihrem Vater entwendet hatte. Es war nicht viel und würde knapp werden.
Kesko bemerkte, wie zögerlich Newa die Speisekarte studierte. Nachsichtig fragte er: »Alles in Ordnung? Du siehst aus, als würdest du dir überlegen, wie du das hier mit dem Hunger hinkriegst.«
Sie zuckte zusammen und ihre Wangen färbten sich leicht rot. »Ach, ich bin eigentlich gar nicht so hungrig. Vielleicht esse ich nur etwas Kleines, damit du dir keine Sorgen um mich machst.«
Er legte die Stirn in Falten und platzierte die Hände vor sich auf dem Tisch. »Komm schon, das glaubst du doch selbst nicht. Lass mich raten. Das Geld ist knapp, oder?«
Newa hüstelte leicht. »Es ist nur... Ich habe nicht so viel dabei. Für den Rest der Reise muss ich vorsichtig sein.«
Kesko lächelte sanft, während er sich eine verirrte Strähne aus der Stirn strich. »Kein Problem. Heute lade ich dich ein. Es ist schließlich mein Pech, dass ich dich so hungrig gemacht habe mit meinen Geschichten.«
Newa riss den Kopf hoch und schüttelte ihn hastig. »Das ist zu viel. Das geht nicht. Ich will dich nicht schon bei der ersten Gelegenheit ausnutzen.«
»Das ist kein Ausnutzen«, erwiderte Kesko ruhig und winkte ab. »Ich finde es nett, dass du dir Sorgen machst. Aber manchmal sollte man einfach die Hilfe von jemandem annehmen.«
Sie sah ihn einen Moment lang an, bevor sie langsam nickte. »Danke. Es... es ist sehr freundlich von dir, dass du so hilfsbereit bist.«
»Natürlich«, pflichtete Kesko mit einem breiten Lächeln bei, bevor er den Blick wieder auf die Speisekarte lenkte. »Aber jetzt bestellen wir, was wir wollen. So, als wären wir einfach zwei Reisende, die sich mal eine kleine Pause gönnen.«
Newa lächelte, entspannte sich ein wenig und nahm die Karte wieder zur Hand. Vielleicht würde dieser Abend nicht ganz so schwer werden, wie sie befürchtet hatte.
Als die Burger vor ihnen auf dem Tisch abgestellt wurden, lief den beiden das Wasser im Mund zusammen.
Kesko biss so herzhaft in seinen, dass sich an beiden Mundwinkeln rote Burgersauce sammelte. »Na, wie schmeckt's?«, fragte er, nach dem ersten zufriedenen Bissen und leckte sich genüsslich die Lippen.
Newa kaute nachdenklich und schob sich langsam eine Pommes in den Mund. »Nicht schlecht. Der Burger ist besser als erwartet.«
»Bill hat's offensichtlich drauf«, entgegnete Kesko und klopfte sich spielerisch auf die Brust. »Der Typ kann bestimmt fast alles auf den Grill werfen und es schmeckt wie ein Festmahl. Selbst wenn man tagelang unterwegs ist, bleibt einem das hier in Erinnerung, finde ich.«
Newa beobachtete ihn, wie er seinen Burger mit einem gewissen Genuss verzehrte, die Art, wie er jede Bissen genoss, ohne Hast, sondern mit einer fast nachdenklichen Ruhe. Sie konnte nicht anders, als sich ein wenig für ihn zu interessieren. Nicht nur wegen seiner lockeren, offenen Art, sondern auch wegen seiner Geschichten, von denen er so beiläufig erzählte. Geschichten, die von Städten und Erlebnissen berichteten, die weit über ihre eigene Vorstellungskraft hinausgingen.
»Du bist echt schon überall herumgekommen, oder?«, fragte sie interessiert und legte eine Serviette auf ihren Schoß.
Kesko sah sie an, die graublauen Augen glänzend vor Begeisterung. »Na ja, ich probier's zumindest. Gibt noch viele Ecken, die ich nicht gesehen habe. Aber ich hab ein bisschen was hinter mir. Seit ich 18 bin, reise ich. Es sind jetzt neun Jahre, seitdem.«
Newa starrte ihn überrascht an. Neun Jahre, das machte ihn schon 27. Fast zehn Jahre älter als sie selbst. »Wow, neun Jahre. Das heißt, du bist hast schon viel erlebt und gesehen.«
Er lehnte sich entspannt zurück und ließ seine Fingerspitzen über den Karton mit Pommes gleiten. »Richtig herumgekommen, ja. Viel gesehen, viele verrückte Sachen erlebt. Manchmal wünschte ich, ich hätte ein Notizbuch dabei gehabt, um alles aufzuschreiben. Das hätte mir bestimmt viel Geld einbringen können.«
»Und du machst das ganz allein?«, bohrte sie weiter nach. »Da bist du aber ziemlich unabhängig.«
Kesko lachte. »Naja, man gewöhnt sich dran. Zu Beginn war es das absolute Chaos, aber irgendwie hat's trotzdem funktioniert. Mal mit Jobs, mal ohne. Hauptsache, ich komm irgendwie voran.«
»Und wo kommst du eigentlich her?«, hakte Newa nach und schob sich eine Pommes in den Mund.
«Aus einer Stadt namens Ravenford. Hört sich vielleicht düster an, ist aber eigentlich ganz nett. Relativ große Stadt, viele Geschichten, viele Möglichkeiten, wenn du weißt, wo du suchen musst.« Kesko zog sich seine Cola näher und nahm einen großen Schluck. »Da bin ich aufgewachsen. Dann mit 18 los und seitdem bin ich unterwegs.«
Newa hörte aufmerksam zu, während er in lockerer, beinahe beiläufiger Art erzählte. Sie konnte nicht anders, als sich vorzustellen, wie diese Stadt war. Ein lebendiger, pulsierender Ort, mit Menschen, die in Eile durch die Straßen liefen, Lichter, die in der Dunkelheit funkelten und eine Energie, die sich durch die ganze Stadt zog.
»Ravenford klingt spannend«, meinte sie schließlich. »Ich kannte mal jemanden, der aus einer Stadt namens Bridgeport kam. Die hat auch so eine große, lebendige Atmosphäre.«
Kesko nickte. »Bridgeport ist eine Ecke weiter. Vielleicht sogar auf dem Weg, wenn du so willst. Hätte nie gedacht, dass du schon mal von Städten außerhalb von Cedarvale gehört hast.«
Newa lächelte. »Manchmal lese ich auch gerne über Orte, an denen ich selbst noch nie war. So eine Art Vorbereitung für später.« Sie ließ ihren Blick durch die Menschen im Laden schweifen, die geduldig auf ihre Bestellungen warteten, und seufzte leicht. »Die Welt ist einfach riesig. Irgendwohin zu gehen und zu wissen, dass es so viele Wege gibt, das fasziniert mich.«
Kesko beobachtete sie einen Moment lang, bevor er lässig den Kopf zur Seite neigte. »Du willst echt einfach nur weg, oder?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Schon irgendwie. Es gibt nicht viel in meinem Leben, das mich hält. Ich lasse mich nicht an meine Heimat fesseln. Irgendwann muss man sich einfach losreißen, sonst bleibt man ewig an einem Ort gefangen.«
»Klar, verstehe«, murmelte Kesko und wischte sich ein wenig Sauce von der Hand. »Manchmal ist das der einzige Weg, wie man vorwärtskommt. Einfach losziehen und schauen, wohin es einen trägt.«
Newa sah auf ihre Pommes, bevor sie leise fragte: »Und du? Denkst du irgendwann daran, wieder zurückzugehen?«
Er zuckte mit den Schultern und nahm noch einen letzten Bissen von seinem Burger. »Wer weiß. Vielleicht irgendwann, wenn ich nichts Neues mehr finde. Aber ehrlich gesagt? Der Weg dorthin muss erst mal gefunden werden. Solange es immer etwas zu entdecken gibt, bleibe ich unterwegs.«
Sie sah ihm einen Moment lang in die Augen und für den Bruchteil einer Sekunde fühlte es sich an, als würde sie in seine Gedanken blicken. Als wäre sie selbst schon ein Teil dieser Reise, die ihn schon seit Jahren trieb.
Und vielleicht, nur vielleicht, wollte sie genau das. Sich ebenfalls finden, sich treiben lassen, ohne Angst, ohne Unsicherheit. Einfach nur irgendwohin.
»Aber sag mal«, fragte Kesko schließlich, der das Schweigen bemerkt hatte. »Was treibt dich wirklich dazu, einfach loszulaufen und irgendwohin zu gehen?«
Newa sah auf ihren halben Burger, bevor sie leise antwortete: »Wie gesagt, manchmal muss man einfach weg. Und ein Ziel? Das ergibt sich für mich vielleicht unterwegs.«
»Ich finde das mutig von dir«, sagte Kesko und betrachtete sie interessiert. »Du wirkst ziemlich erwachsen für dein Alter.«
Sie lächelte schüchtern und zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wächst man auch einfach schnell, wenn man immer irgendwie klar kommen muss. Man hat keine andere Wahl, als erwachsen zu werden.«
Kesko zog eine Braue nach oben, als er seine Cola nahm und einen Schluck trank. »Achtzehn Jahre bist du alt, sagst du? Das ist ein gutes Alter, um die Welt zu entdecken. Jung genug, um alles auszuprobieren, aber alt genug, um zu wissen, worauf es ankommt.«
Newa runzelte kurz die Stirn. »Naja, man macht, was man kann. Ich will einfach schauen, wohin ich komme, wenn ich keine Fesseln mehr habe.«
»Da hast du aber ganz schön Glück, jemanden wie mich getroffen zu haben«, meinte Kesko mit einem schiefen Grinsen, bevor er nach einer Pommes griff. »Einer, der dich ein ganzes Stück mitnehmen kann, wenn du magst.«
Newa schmunzelte und trank nun ebenfalls einen Schluck ihrer Limo. »Das stimmt wohl. Mal sehen, ob ich dich überhaupt aushalte.«
»Na hör mal«, rief er gespielt empört. »Wir kennen uns zwar erst ein paar Stunden, aber schon bald wirst du selbst sagen, dass ich der beste Wegbegleiter bin, den man sich überhaupt vorstellen kann.«
Kesko zwinkerte Newa schelmisch zu und lehnte sich anschließend satt nach hinten, die Hände auf dem Bauch verschränkt. Newa lächelte amüsiert. Vielleicht würde dieser Abend nicht ganz so schwer werden, wie sie befürchtet hatte.
Während sie die letzten Reste ihres Essens verputzte, beobachtete Kesko sie aus dem Augenwinkel. Sie wirkte noch immer ein wenig vorsichtig, aber dieses scharfe, wissbegierige Funkeln in ihren grünen Augen und die Art, wie sie aufmerksam jede seiner Worte aufnahm, ließ ihn nicht los. Sie erinnerte ihn an jemanden, den er aus einer anderen Zeit kannte.
Es war die Mischung aus Wildheit und Entschlossenheit, die ihn an sich selbst von damals erinnerte. Damals, als er auch noch mit leeren Taschen und einer Karte voller unbekannter Orte durch die Welt zog. Jung, neugierig und voller Träume.
»Ich finde es bemerkenswert, wie du das machst«, murmelte Newa dann leise. »Wie du dein eigenes Leben in den Händen hältst und immer wieder neu entscheidest, wohin es gehen soll.«
Kesko nickte dankend, antwortete aber nicht. Vielleicht, dachte er, könnte sie tatsächlich keine schlechte Begleiterin für die nächste Zeit sein. Sie hatte diesen wilden Funken in den Augen, eine Art Aufbruchsstimmung, die er so mochte. Newa war jung, voller Träume und wie er damals bereit, all das zu erkunden, was die Welt zu bieten hatte.
Aber es war nicht nur das. Es war auch ihre unerschütterliche Stärke, die ihn beeindruckte. Die Art, wie sie sich nicht dem fügen wollte, was sie in Cedarvale hätte festhalten können. Sie wollte losgehen, wollte weiter, wollte etwas Neues finden. Und das war genau die Haltung, die er selbst schon so lang pflegte.
Jemand wie sie, war eigentlich eine perfekte Begleitung, dachte Kesko. Jemand, der nicht einfach stehen bleibt, sondern weitermacht und lieber irgendwohin ging, als unglücklich zu verweilen.
Für einen kurzen Moment war er fast überrascht, wie schnell sie sich so leicht in sein Herz geschlichen hatte. Aber es fühlte sich gut an, fast wie eine Erleichterung. Vielleicht war es tatsächlich genau das, wonach er die ganze Zeit gesucht hatte, ohne es zu wissen. Ein Mensch, der mit ihm unterwegs sein wollte, ohne über die Vergangenheit nachzudenken, ohne Plan für die Zukunft, ohne endgültiges Ziel.
Kesko legte einen Moment lang den Kopf schief und lächelte leicht für sich. Es war vielleicht lange her, dass er jemanden so schnell für eine Reise begeistern konnte. Aber Newa... sie hatte das, was es dazu brauchte. Diesen grenzenlosen, unerschütterlichen Drang zu gehen. Und irgendwie hatte sie auch den Mut, nicht zurückzublicken.