Auf den Bergen des Kaukasus - Schimonach Ilarion - E-Book

Auf den Bergen des Kaukasus E-Book

Schimonach Ilarion

0,0

Beschreibung

Neben den 'Aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers' ist dieses erstmals 1907 erschienene Buch die wohl wichtigste Schrift über das Jesusgebet. Der Verfasser, ein russischer Mönch, der auf dem Berg Athos lebte und sich später als Einsiedler in die Berge des Kaukasus zurückzog, ist davon überzeugt, dass der im Jesusgebet angerufene Name Gott selbst ist. Durch das Hören auf die Stimme Gottes in sich selbst treten das eigene Wollen und das Ego mehr und mehr zurück: 'Um das ewige Leben in sich zu spüren, muss man immer den verehrungswürdigen und allerhaltenden Namen Jesus Christus in seinem Verstand tragen, auf den Lippen und im Herzen, und er heiligt unser ganzes Wesen.'

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 608

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Schimonach Ilarion (Domratschev), geboren um 1845 im Gouvernement Vjatka (heute Gebiet von Kirow), gestorben 1. (14) Juni 1916 in Tjomnye Buki (Gebiet von Kuban) stammte aus einer Priesterfamilie, besuchte das Geistliche Seminar und arbeitete als Lehrer. Er trat in das russische Pantaleimonkloster auf dem Berg Athos ein und lebte dort mehr als 20 Jahre. Nach Mitteilung von Starez Varsonufij von Optina Pustin war er dort Schüler des Starez Disiderij. Er übersiedelte in das neu gegründete Neu-Athoskloster, lebte aber vorwiegend als Einsiedler. Im Buch gibt er die Gebetserfahrung seines Lehrers und Starez Disiderij und seine persönlichen Erfahrungen wieder.

P. Bonifaz Tittel OSB, geboren 1947 in Wien, ist Mönch des Wiener Schottenstiftes. Er studierte Theologie und Russisch in Wien, Salzburg und an der Leningrader Geistlichen Akademie unter dem Metropoliten Nikodim (Rotov) sowie dem jetzigen Patriarchen von Moskau und ganz Russland Kirill (Gundjaev). Von 1975 bis 2011 war er am Stiftsgymnasium Professor für Katholische Religion und Russisch. Heute ist P. Bonifaz Pfarrer in Breitenlee, Wien.

www.ilarion.de

Schimonach Ilarion

Bonifaz Tittel

Auf den Bergen des Kaukasus

Gespräch zweier Einsiedler über das Jesusgebet

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Deutschsprachige Erstausgabe: © 1991 Otto Müller Verlag Salzburg

Neuausgabe

1. Auflage 2013

© 2013 Verlag der Ideen, Volkach

www.verlag-der-ideen.de

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-942006-10-1

Covergestaltung und Layout:

Jonas Dinkhoff, www.starkwind-design.de

Coverbild: iStockphoto.com/Rafal Belzowski

Autorenbild Schimonach Ilarion:

commons.wikimedia.org

Printed in Germany

Gewidmet der Jungfrau aus Nazareth

die zuerst glaubte,

bevor sie empfing,

die zuerst Christi Jüngerin war,

bevor sie Seine Mutter wurde,

die zuerst das Wort Gottes in ihrem Herzen erwog,

bevor sie Es in ihrem Schoß trug,

Gewidmet der Mutter Gottes,

der Lehrmeisterin des Jesusgebetes

Inhalt

Vorwort zur Neuausgabe

Die Starzen und die Sowjetunion

Das Jesusgebet und die Tradition der römisch-katholischen Kirche

Einleitung

1. Zur Problematik des Buches

2. Zur Übersetzung

3. Zum Umfeld des hesychastischen Gebetes

3.1 Das Wiederholungsgebet

3.2 Das Wiederholungsgebet in Russland

3.3 Russischer Hesychasmus und Marienverehrung

4. Das Namen-Jesu-Gebet

5. Historische Entwicklung des Jesusgebetes

I. Die Begegnung

1. Kapitel

Aufstieg des Einsiedlers auf die Berge und Beschreibung der Schönheit der Berge, die sich seinem Blick eröffnet

2. Kapitel

Ein bemerkenswertes Treffen mit dem Starez und der Anfang des Gesprächs über das geistige Tun

3. Kapitel

Im Namen Gottes ist Gott Selbst anwesend

4. Kapitel

Beweise dafür, warum dem Namen Jesu Göttlicher Wert zugeschrieben wird. Und warum für den, der glaubt und den Herrn liebt, der Name gleichsam der Herr und Retter selbst ist

5. Kapitel

Erläuterung, worin die Wirksamkeit oder Spürbarkeit des Jesusgebetes für unser Herz besteht

6. Kapitel

Über die Früchte des Gebetes

7. Kapitel

Erläuterung, wodurch man befähigt wird, die Gabe des Jesusgebetes zu erlangen und warum es mühselig ist. Wie verhält sich das Psalmengebet zum Jesusgebet; wie grundlegend ist das Heilige Evangelium. Wer den Starez das Jesusgebet lehrte

8. Kapitel

Über die Tiere, Vögel und den Anblick der Natur des Kaukasus

9. Kapitel

Eine kurze Biografie des Starzen

II. Die Unterweisung

10. Kapitel

Erläuterung, dass das ewige Leben im Sohn Gottes ist und was nötig ist, um es zu erlangen

11. Kapitel

Eine genaue Erläuterung über die erste Stufe des Jesusgebetes

12. Kapitel

Über die zweite Stufe des Jesusgebetes

13. Kapitel

Über die dritte Stufe des Jesusgebetes

14. Kapitel

Noch etwas über das Gebet im Allgemeinen

15. Kapitel

Davon, dass das Jesusgebet einer Führung bedarf. Über die Gründe seiner Herabsetzung. Anregung, es zu tun

16. Kapitel

Allgemeine Schlussfolgerungen über das Gebet aus all dem, was bisher darüber gesagt wurde. Woher das Jesusgebet kommt und was sein Inhalt ist

17. Kapitel

Die verächtliche Meinung der Gegenwart über das Jesusgebet und die Gründe dafür

18. Kapitel

Auszug aus dem Buch des Starez Paisij Velitschkovskij, in dem der Vorzug des Jesusgebetes vor dem Psalmengebet aufgezeigt wird

19. Kapitel

Über die menschliche Seele und ihre Kräfte, zum größten Teil der Lehre der heiligen Väter entnommen.Über die Selbsterkenntnis. Worin besteht die Ähnlichkeit unserer Seele mit Gott

20. Kapitel

Erläuterung der inneren Kräfte unserer Seele: Was heißt Vereinigung des Geistes mit der Seele: welcher Unterschied besteht zwischen den Begriffen Verstand und Geist, in welcher von beiden Kräften nimmt das Gebet Wohnung?

21. Kapitel

Über das menschliche Herz

22. Kapitel

Über den menschlichen Geist

23. Kapitel

Über die Würde des Menschen und noch etwas über unseren Geist

24. Kapitel

Über den Sinn für das Göttliche Sein, der in die menschliche Seele gelegt wurde

25. Kapitel

Was ist die geistige Welt?

26. Kapitel

Über die Menschwerdung des Sohnes Gottes und darüber, dass in Seinem Namen Er Selbst mit Seinem Göttlichen Wesen für die gläubigen Beter anwesend ist

27. Kapitel

Über die außerordentliche Wichtigkeit und Unersetzbarkeit des Jesusgebetes im Werk unserer ewigen Rettung und zugleich über die größte geistliche Kraft, die in ihm verborgen ist und die wir alle daher unbedingt benötigen

28. Kapitel

Warum wird das innere Leben in Gott von allen weisen und verständigen Leuten so hoch gepriesen und für eine große und lobwürdige Sache gehalten, wenn es doch gerade zu unseren Zeiten überaus selten zu sehen ist und diese Zeiten arm sind an ähnlichen Bestrebungen, so dass nur wenige Menschen es erwerben?

III. Der Abschied

29. Kapitel

Reise des Einsiedlers in das Innere der Kaukasischen Berge

30. Kapitel

Eine Darstellung der Lufterscheinungen. Über das Schweigen. Ein Wort des hl. Gregors des Theologen über den schnellen Lauf des Erdenlebens

31. Kapitel

Der Anblick der Berge im Herbst in den einsamen Schluchten des Kaukasus nach den Worten des Einsiedlers

32. Kapitel

Der Anblick dieser Berge zur Winterszeit

33. Kapitel

Andere Reisen des Einsiedlers durch die Berge des Kaukasus, verschiedene Begebenheiten und Abenteuer, die er zu dieser Zeit dort erlebte

34. Kapitel

Lob der Kaukasischen Einöde. Was jemand benötigt, der in der Einöde leben möchte. Der innere Gehalt dieses Lebens

35. Kapitel

Die Gefühle des Einsiedlers beim Verlassen der Einöde während seiner Ausreise nach Russland

36. Kapitel

Gedanken und Empfindungen des Einsiedlers bei seinem Abschied von dem Kloster, in dem er viele Jahre verbrachte; von seinem geistlichen Vater, dem Igumen* des Klosters, und von der ganzen, ihm lieb gewordenen Brüderschaft des Klosters; zugleich eine Fortsetzung des Lobes der Wüste

37. Kapitel

Eine Warnung vor der vorzeitigen Wüste.Was man für den richtigen Eintritt in sie benötigt

38. Kapitel

Ein Vergleich über die Bedeutung des Lebens in der Gemeinschaft des Klosters und in der Wüste. Über den hl. Arsenios, den Schweigenden; noch eine Warnung vor dem vorzeitigen Eintritt in die Wüste

39. Kapitel

Über den Glauben an Gott, den ein Einsiedler durch die Erfahrungen seines Lebens gewinnt. Worin besteht dieser Glaube und was ist sein Wesen?

40. Kapitel

Über die Anwendung des Glaubens auf die Tätigkeit des Einsiedlers und überhaupt auf alle unsere guten Werke zur Bekräftigung der Gottesfurcht in unserem ganzen Leben

41. Kapitel

Über die Gedanken und wie man sie zurückhalten kann

42. Kapitel

Über die dämonischen Erscheinungen, Ränke und Schrecken, denen die Einsiedler unterworfen sind, und wie man sich von ihnen erretten kann

43. Kapitel

Der Abschied des Starez von den Bergen aufgrund seines hohen Alters und großer Erschöpfung seiner Körperkräfte

44. Kapitel

Unser letzter Besuch beim Starez und sein seliges Ende

Personenverzeichnis

Begriffserklärungen

Geographische Hinweise

Bibliographie

1. Quellentexte und Übersetzungen

2. Nachschlagwerke und Lexika

3. Literatur

Karte

Vorwort zur Neuausgabe

Abt Emmanuel Heufelder von Niederaltaich brachte uns jungen Mönchen im Kolleg St. Benedikt in Salzburg die Ostkirchen nahe. Einen persönlichen Zugang bekam ich durch die Mitfeier der Liturgie im »Byzantinischen Chor« und das beeindruckende Buch von Igor Smolitsch, Leben und Lehre der Starzen. Der Weg zum vollkommenen Leben. Von nun an begleiteten mich diese großen Lehrmeister auf die eine oder andere Weise mein weiteres Leben.

Die Starzen und die Sowjetunion

Freilich, als ich 1977/78 als katholischer Priester an der orthodoxen Leningrader Geistlichen Akademie studieren durfte, war das Starzentum in der Öffentlichkeit der Sowjetunion kein Thema.

Die Kirche war im öffentlichen Leben auf ein Minimum reduziert, für 9 Millionen Moskauer gab es gerade 40 offene Kirchen, für 5 Millionen Leningrader 20 offene Kirchen, davon waren viele nur kleine Kapellen. Zahlreiche religiöse Symbole waren seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts zerstört worden. So bewegte zum Beispiel Gläubige immer wieder die Frage nach dem Verbleib der Reliqien des Hl. Seraphim von Sarov, einem der beliebtesten Hesychasten und Starzen Russlands. Johannes von Kronstadt (1829–1909) war ein ungemein populärer Gemeindepriester, Gymnasiallehrer, Hesychast, Wundertäter, Gründer von Kinderheimen, Nachtasylen, Krankenhäusern und zwei Nonnenklöstern. In einem von ihnen, dem Kloster zum Hl. Johannes von Rila in Petersburg, wurde er bestattet. Dieses Kloster an der Karpovka wurde zwar nicht wie tausend andere zerstört, es wurde 1923 aufgehoben, die Begräbnisstätte zubetoniert und alle Nonnen wurden Anfang der Dreißiger Jahre nach Kasachstan deportiert. Bis 1989 war in dem Kloster eine Höhere landwirtschaftliche Lehranstalt untergebracht. Aber vor dem Kellerfenster, das zu dem zubetonierten Mausoleum führte, brannten Kerzen und in einiger Entfernung beteten still einige alte Babuschkas (Großmütter) …

Religiöse Literatur gab es überhaupt nicht und die Einfuhr war verboten. »Der Genozid gegen das eigene Volk«, so Patriarch Alexij II. im persönlichen Gespräch, richtete sich gegen alles Religiöse, gegen Ikonen, Reliquien, Kirchenbauten, Bücher, Menschen … Was erhielt den Glauben dann am Leben? Die liturgischen Gebete, die auswendig gelernt wurden, von Hand abgeschriebene Gebetbücher (ich selbst bekam als Zeichen der Freundschaft von einem Seminaristen ein solches Geschenk «нa утешение» zum Trost), die alten Babuschkas, denen der Staat nichts mehr anhaben konnte und – das persönliche Gebet, das in Russland so verbreitet gewesene Jesusgebet. Aber weil es so persönlich ist, existieren nur wenig bekannte persönliche Zeugnisse.

Es gibt aber ein überraschendes persönliches Gebetszeugnis über das Jesusgebet von Metropolit Ilarion (Alfeev), dem gegenwärtigen Leiter des Außenamtes der Russischen Orthodoxen Kirche. In seinem Artikel über das Gebet zitiert er »Bücher über das Jesusgebet«. Er führt eine Stelle aus dem Buch »Auf den Bergen des Kaukasus« über das immerwährende Gebet an und kommentiert dann: »Ich habe diesen Abschnitt aus dem Buch »Auf den Bergen des Kaukasus« auch deshalb angeführt, weil vor vielen Jahren, als ich noch ein Knabe war, ich die Gelegenheit hatte nach Georgien zu reisen, in die Berge des Kaukasus, unweit von Suchumi. Dort traf ich mit Einsiedlern zusammen. Sie lebten dort sogar während der Sowjetzeit, fern von aller weltlichen Nichtigkeit, in Höhlen, Tälern und Schluchten, und von ihrer Existenz wusste niemand etwas. Sie lebten für das Gebet und übergaben von Generation zu Generation den Schatz der Gebetserfahrung. Das waren Menschen wie aus einer anderen Welt, die eine große geistliche Höhe erreicht hatten, eine tiefe innere Ruhe. Und das alles Dank des Jesusgebetes. Gewähre uns Gott, dass wir durch erfahrene Lehrmeister und durch die Bücher der heiligen Väter diesen Schatz erlernen können – das unaufhörliche Jesusgebet.«1

Metropolit Ilarion wurde 1966 geboren, als Halbwüchsiger müsste er die Einsiedler des Kaukasus um 1980 getroffen haben. Zu dieser Zeit war Jurij W. Andropow Vorsitzender des KGB, der eine sehr restriktive Politik andersdenkenden Intellektuellen gegenüber verfolgte. Aber »Russland ist groß und der Zar ist weit« … Erst nach der Wende 1991 wurde bekannt, dass im Tal Пcxy Pschu (sprich Ps-chu), 80 km von Suchumi entfernt, eine Hauptsiedlung der Namensverehrer war. 1928–1931 wurden in den Bergen des Kaukasus und im Tal Pschu über 300 Namensverehrer aufgespürt, verbannt und erschossen. Weitere Nachrichten sind vorläufig nicht bekannt.2 Für die Russische Orthodoxe Kirche begann die Wende mit der 1000-Jahrfeier der Rus 1988, zunächst zögerlich unter Michail S. Gorbatschow. Im Januar 1991 wurden, für alle völlig unerwartet, die Reliquien von Seraphim von Sarov im Keller des Museums der Geschichte der Religionen und des Atheismus im Lagerraum für Gobelins, in einen Sack eingenäht, gefunden. Nach ihrer Identifizierung, die mir Patriarch Alexij II. bei einer Audienz am 5. Februar genau schilderte, wurden die Reliquien nach 70 Jahren, am 6. Februar, in der Epiphanie-Kathedrale des Patriarchen zur öffentlichen Verehrung vorgestellt. Unvergesslich bleibt, wie im Anschluss daran tausende Gläubige ruhig, geordnet und betend Richtung Kreml zogen. Nun war wirklich eine neue Zeit angebrochen. Als wir 1999 das Johanneskloster an der Karpovka besuchten, waren die Kirche und das zubetonierte Mausoleum wieder rekonstruiert und im Kloster lebte eine aufblühende Schwesterngemeinschaft.

2002 veröffentlichte Metropolit Ilarion (Alfeev) das grundlegende Werk »Das heilige Geheimnis der Kirche. Einführung in die Geschichte und Problematik des Namensverehrer-Streites« über den Athosstreit, der durch das Buch »Auf den Bergen des Kaukasus« ungewollt ausgelöst wurde.

Schimonach Ilarion (Domratschev) nahm an den Streitigkeiten selbst nicht teil3. Metropolit Ilarion (Alfeev) stellt in seinem Werk alle Dokumente rund um den Athostreit zusammen und vermittelt dadurch ein sehr differenziertes Bild. Interessant ist ein Argument, das er in seinen Schlussfolgerungen ausführt: Er weist darauf hin, dass viele Sympathisanten der Namensverehrer von der Russischen Orthodoxen Kirche später kanonisiert wurden: so der Moskauer Metropolit Makarij (Nevskij), Zar Nikolaj II. und seine Gemahlin, Zarin Aleksandra Fjodorowna, Großfürstin Jelisaveta Fjodorowna, die Gründerin der Schwesterngemeinschaft Martha und Maria, sie finanzierte auch die 2. Auflage des Buches »Auf den Bergen des Kaukasus«. Ebenso wurden zur Schar der Heiligen auf der Synode im Jahr 2000 der Mönch Kukscha Novyj, Starez Varsonufij von Optina Pustyn, der oben erwähnte Johannes von Kronstadt, Priester Pavel Florenskij und andere gezählt. Nicht wenige von ihnen beendeten ihr Leben als Märtyrer.

Das Jesusgebet und die Tradition der römisch-katholischen Kirche

Über die Beziehung von Jesusgebet und westlichen Gebetsformen wird näher in der Einleitung berichtet. Nur soviel allgemein: Wer sich mit der Theologie der Ostkirchen und ihren Gebetsformen befasst, nähert sich als katholischer Christ auch den eigenen Wurzeln. Die Kirchenspaltung erfolgte 1054, die Dobrotoljubie, Philokalia aber schöpft aus den Väterschriften, die bis in die Frühzeit des Mönchtums zurückgehen.

Athanasius, Antonius der Große, Symeon der Neue Theologe, Johannes von Damaskus, Johannes Klimakos, Ephräm der Syrer, Makarios der Ägypter und viele andere gehören dem ersten, ungeteilten Jahrtausend der Christenheit an. Viele der russischen Starzen schöpfen aus genau diesen Quellen: Seraphim von Sarov, Johannes von Kronstadt, Ignatij Brjantschaninov … (wobei ihnen der ökumenische Geist aus ihrer Zeit heraus aber doch ferne ist).

Das Jesusgebet wird oft »Gedenken Gottes«, »Leben in der Gegenwart Gottes«, »Übung der geistlichen Nüchternheit« genannt. In der katholischen Kirche war in monastischen Kreisen diese Übung auch bekannt. Es gibt ein Buch über die Vergegenwärtigung Gottes, das genau die Praxis der Stoßgebete und die Schwierigkeiten der Vergegenwärtigung beschreibt und auch für Weltleute gedacht ist.4 Ebenso wird heute Bruder Lorenz von der Auferstehung (1614–1691), ein Mönch der Unbeschuhten Karmeliten in der Rue de Vaugirard in Paris neu entdeckt. Seine Gespräche und geistlichen Schriften handeln nur vom Leben in der Gegenwart Gottes.5

Aber in der allgemeinen Praxis konnte sich diese Übung nicht so durchsetzen wie das Jesusgebet in der Ostkirche. Das Jesusgebet scheint in Russland viel mehr im Volk verwurzelt gewesen zu sein. Dazu haben sicher die Dobrotoljubie, die »Aufrichtigen Erzählungen des Pilgers« und auch das vorliegende Buch beigetragen.

»Auf den Bergen des Kaukasus« wurde ein richtiges Volksbuch, nicht zuletzt auch wegen der Naturschilderungen. Die Schönheit der Berge und der Natur ist für Ilarion das offene Buch der Schöpfung Gottes, in dem man von dem Abbild auf das Urbild, den Schöpfer schließen kann.

Dieses Buch möchte wieder die Freude am Gebet wecken. Es möchte zu einer Pilgerreise einladen. An manchen Stellen wird man verweilen, an manchen vorübergehen, manches erschließt sich erst später, aber am Ende möchte die persönliche Begegnung mit Gott stehen.

Die Übersetzung der russischen Namen erfolgt im Text in der in der deutschen Sprache gebräuchlichen, verständlichen Schreibweise, nur in der Bibliographie wird die Transliteration der leichteren Nachverfolgbarkeit wegen beibehalten.

In ganz besonderer Weise möchte ich mich bei Herrn Uwe Dinkhoff bedanken, der durch seine Kompetenz und Energie diese Neuauflage ermöglicht hat. Ohne ihn und den Verlag der Ideen wäre dieses Buch wohl nicht mehr erschienen.

Ostern 2013

P. Bonifaz Tittel

1Ilarion (Alfeev), Metropolit: O molitve (Über das Gebet) in: Pravoslavnaja enciklopedija »Azbuka very« (Orthodoxe Enzyklopädie »Alphabet des Glaubens«) www.azbyka.ru, Stand: 6.5.2013

2Ilarion (Alfeev), Metropolit: Imjaslavie (Namensverehrung) in: Pravoslavnaja enciklopedija (Orthodoxe Enzyklopädie), Alexij II., Patriarch von Moskau und der ganzen Rus’ (Red.) – Moskau 2000 – , Bd. 22, S. 457–495.

3Ilarion (Alfeev), Metropolit: Ilarion (Domracev) in: Pravoslavnaja enciklopedija, Bd. 22, S. 166–172

4Hock, Konrad, Die Übung von der Vergegenwärtigung Gottes, Würzburg 1917. 9 Auflagen bis 1920

5de Meester, P. Conrad, Bruder Lorenz von der Auferstehung, Paris 1991; Deichgräber Reinhard, Bruder Lorenz, All meine Gedanken sind bei dir, Neufeld Verlag 2009

Einleitung

1. Zur Problematik des Buches

Jeder Mensch hat in sich die Sehnsucht nach Geborgenheit und Harmonie, nach Frieden mit sich und den anderen. Es ist die Sehnsucht nach einem Frieden, »den die Welt nicht geben kann« (Joh 14,27), da dieser Friede nicht im Schweigen der Waffen, sondern im Schweigen der Leidenschaften, der zerstörerischen, unkontrollierten Triebkräfte und der Sünde im Herzen liegt. Seit den »Aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers« ist auch dem Westen das Jesusgebet vertraut, das durch ein andauerndes Leben in der Gegenwart Gottes zur Herzensreinheit und damit zum Ruhen in Gott, zur Hesychia, führen soll.

Die »Aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers« sind freilich nur ein Zeugnis des hesychastischen Gebetes, das seit den Tagen der Mönchsväter und Einsiedler in den ägyptischen Wüsten der Sketis und der Thebais immer wieder gepflegt wurde. Manchmal floss dieser Strom des Gebetes stark und gleichmäßig, manchmal schien er ganz zu versiegen. Er wurde jedoch immer wieder durch Einzelne belebt, die sich auf die alten Quellen besannen, die Schriften der Väter lasen und sie vor allem in ihrem Leben auch verwirklichten.

Eine letzte große Blüte erlebte das Herzensgebet in Russland durch das Wirken und die Übersetzungen des großen Starzen von der Moldau Paisij Velitschkovskij (1722–1794), der durch die Dobrotoljubije, die slawische Übersetzung der Philokalie, und durch seine Schüler das Mönchtum Russlands im 19. Jahrhundert vielfach verinnerlichte und von innen erneuerte. Die schönsten Früchte dieser neohesychastischen Bewegung sind die geistlichen Väter, die Starzen von Optina Pustyn, um nur die bekanntesten zu nennen, Bischof Feofan der Klausner, der hl. Serafim von Sarov und vor allem auch die weite Verbreitung des Jesusgebetes in allen Schichten des russischen Volkes, die dieses Volk zusammen mit der Liturgie zu einem betenden Volk machte.

Diese Neuentdeckung der alten Quellentexte belebte eine Lebensform, die im Westen weitgehend untergegangen ist – das Anachoretentum, das Einsiedlertum, das für den hl. Benedikt die zweite Art der Mönche darstellt, und die Lebensform für den im Kloster gereiften Mönch sein kann, der zum Einzelkampf in der Wüste antritt. Das russische Mönchtum hat im Lauf der Zeit für sich verschiedene »Wüsten« entdeckt; der wichtigste Schauplatz war ab dem 14. Jahrhundert die Gegend nördlich von Moskau, nördlich des Wolgastromes; in immer unwirtlichere Gegenden zogen die Anachoreten bis in den Hohen Norden, in die Wälder von Archangelsk und das Seengebiet von Beloozero, dem Weißen See.

Noch Ende des 19. Jahrhunderts gibt es einen letzten großen Zug in die »Wüste«, in die Einsamkeit der kaukasischen Berge, in die uns dieses Buch führen wird. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, als Georgien mit dem Zarenreich vereint wurde, hat der Kaukasus, dieses gewaltige Gebirgsmassiv zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer, auf den Russen eine große Anziehung gehabt; Puschkin und Lermontov beschreiben seine Erhabenheit und Größe. Für die russischen Einsiedler war dieses Gebiet aber besonders geeignet, da es im 19. Jahrhundert relativ unerschlossen und wenig besiedelt war.

1875 wurde am Fuß des Kaukasus in der Nähe der Stadt Suchumi von Mönchen des russischen Pantaleimon-Klosters auf dem Berg Athos das Novyj Afon Simono-Kananickij-Kloster (Neu Athos Simon Kananäus Kloster) gegründet. Einer von ihnen war Schimonach Ilarion, der sich nach einem Klosteraufenthalt im Pantaleimonkloster und später in Novyj Afon schließlich in die Einsamkeit der Berge des Großen Kaukasus zurückzog, wo er andere Einsiedler antraf. Seine Erfahrungen und Meditationen legte er in dem Buch »Auf den Bergen des Kaukasus« nieder, das 1907 in 1. Auflage, 1910 in 2. verbesserter und stark erweiterter Auflage in Batalpaschinsk und in 3. Auflage 1912 im Höhlenkloster in Kiew erschien. Das Buch wurde von einfachen Christen eifrig gelesen und war ein richtiges Volksbuch über das Jesusgebet, da es eine Art Auszug aus der Dobrotoljubije ist. Bald jedoch war es auch heftig umstritten. Ilarion vertritt nämlich im 3. Kapitel seines Buches die Meinung, dass der im Jesusgebet angerufene Name des Herrn, Gott Selbst sei. 1912–1913 erreichte der »Streit um die Göttlichkeit des Namens Jesu« in der russischen Theologie seinen Höhepunkt, als die Auseinandersetzung mit einem Mal auf dem Berg Athos die Form einer Raserei und des Aufruhrs annahm. Beide Parteien, die Befürworter wie auch die Gegner des Buches, führten trotz vordergründig logischer Argumente einen ungeheuer emotionellen Kampf und konnten einander nicht mehr verstehen, sodass der Streit mit Gewalt, unterbrochen wurde. Maßgeblichen Anteil an dem Verlauf des Streites hatte allerdings ein Schüler Ilarions, Antonij Bulatovitsch. Die Anhänger Ilarions wurden unter der Bezeichnung »Vergöttlicher des Namens« zu Häretikern erklärt – sie selbst nannten sich jedoch »Verehrer des Namens« und ihre Gegner »Bekämpfer des Namens« Am 9. 7. 1913 wurden zunächst 621 (oder 415) russische Mönche und am 17. 7. weitere 212 (oder 100) auf dem russischen Kanonenboot »Donez« vom Athos nach Odessa abtransportiert und in verschiedenen Klöstern Russlands verstreut angesiedelt. Nicht erst Weltkrieg und Revolution, sondern diese militärische Lösung eines dogmatischen Konflikts war die Ursache für den Rückgang des russischen Mönchtums auf dem Heiligen Berg.1 Die Frage selbst blieb im wesentlichen trotz theologischer Gutachten unentschieden und wurde noch lange diskutiert.

Es würde den Rahmen des Vorwortes bei weitem sprengen, wollte man den Verlauf und die Problematik des Streites um die Göttlichkeit des Namens Jesu hier aufzeigen2. Vereinfacht gesagt, dürfte die Heftigkeit des Streites zwei Ursachen gehabt haben: Das Unvermögen beider Parteien einander zu verstehen, dürfte zunächst darauf zurückzuführen sein, dass auf zwei verschiedenen Begriffsebenen argumentiert wurde. Ilarion möchte – mit einer theologisch gelegentlich undeutlichen Sprache – den Gebetsrealismus, die tatsächliche Gegenwart Gottes im Gebetsvollzug, ausdrücken. Allein schon der Rahmen des Buches, die Naturschilderungen und persönlichen Bekenntnisse legen nahe, dass Ilarion den Namen Jesu als Gottes uns ganz persönlich zugewandte Seite aufgefasst hat. Ilarion hat über das Geheimnis meditiert, dass der unbegreifliche Gott sich mit einem menschlichen Namen ansprechen lässt, so wie Er unser menschliches, begrenztes Fleisch angenommen und vergöttlicht hat. Er schreibt in seiner »Antwort auf die Rezension«: »Er (sc. der Name Jesus) ist untrennbar von der Person des Gottmenschen, dem Retter der Welt, und muss untrennbar von Ihm gedacht werden. Nehmt das Fleisch vom Sohn Gottes, und Er wird nicht mehr der Gottmensch sein …«3 Mit seinem Verständnis vom »Geheimnis und der Macht des Namens« steht Ilarion allerdings ganz auf biblischem Boden. Die Gebetswirklichkeit zwischen Gott und Mensch möchte keine Philosophie über den Namen Gottes sein, wie weit der Name auch Gottes Wesen entspricht, sondern ein lebendiges Gespräch zwischen Personen. Gegenüber theologischen Beweisen bleibt für Ilarion das Glaubenserlebnis grundlegend: »Um die Gegenwart des Sohnes Gottes in Seinem ganz heiligen Namen ›Jesus Christus‹ zu spüren, dazu braucht es nicht verstandesmäßige Beweise, sondern die innere Erfahrung, geistliches Leben und vor allem – den Glauben …«4 Ein tragischer Riss zwischen Theologie und Frömmigkeit, theologischer Gelehrsamkeit und auf Gott im Gebet gerichtetem Gedanken, zwischen theologischer Schule und kirchlichem Leben, ein Riss und eine Spaltung zwischen Intelligenz und Volk innerhalb der Kirche, wird im Verlauf des Athosstreites spürbar.

Der Streit dürfte aber auch noch einen zweiten, nicht ganz aus der Luft gegriffenen Grund gehabt haben, wenn er auch nur beiläufig erwähnt wird. Die Gegner der »Namensverehrer« befürchteten eine Geringschätzung der liturgischen Gebete und der Psalmodie zugunsten des Jesusgebetes, Feofan Zatvornik bezeichnet das Jesusgebet als »Talisman« für jene, die es ohne kirchliches Fundament praktizieren. Ilarion selbst betont allerdings immer wieder mit den Väterschriften, dass das Jesusgebet nur im Einklang mit dem kirchlichen Leben und den liturgischen Gebeten wachsen kann. Es ist aber sicher nicht überflüssig darauf hinzuweisen, dass das Jesusgebet kein ausschließlicher und billiger Abkürzungsweg zum Heil ist.

2. Zur Übersetzung

Der Übersetzung liegt die zweite, erweiterte Auflage zugrunde: Schimonach Ilarion, Na gorach Kavkaza. Beseda dvuch starcev pustynnikov o vnutrennem edinenii s gospodom naschich serdec, tschrez molitvu lisus Christovi. Ili: Duchovnaja dejatelnost’ sovremennych pustynnikov, Batalpaschinsk 1910, 2. Auflage. Das gesamte Werk besteht aus einem Vorwort mit einem Starzenwort an junge Asketen (Warnung vor vorzeitiger Wüste) und drei Teilen:

1.Gespräch der Einsiedler auf den Bergen des Kaukasus mit Naturschilderungen

2.Beschreibung einiger Teile aus der Lehre und dem Erdenleben Jesu Christi

3.Geistliche Briefe des Starzen aus der Wüste an verschiedene Personen über Inhalt und Verrichtung des Jesusgebetes, sowie eine Antwort auf die Rezension der 1. Auflage.

Übersetzt wurde der erste Teil. Die Übersetzung versucht neben Textgenauigkeit auch den Stil wiederzugeben, der stark von liturgischen Formeln und Schriftstellen geprägt ist. Manche Stellen mögen als Wiederholung oder etwas klischeehaft erscheinen, sie gehören aber zum meditativen Stil, der sich in langsamem Kreisen dem Zentrum nähern will. Eine Adaptierung oder Kürzung des Textes birgt immer auch die Gefahr einer Verfälschung in sich. Besonders betrifft diese Frage die Naturschilderungen in den Kapiteln 1, 8, 29, 31 und 32, die die Grundlage für das Gotteserlebnis Ilarions darstellen. Sie sind nicht nur Rahmen oder Hintergrund, »sie bilden für den das Jesusgebet übenden Einsiedler eine nicht unwesentliche Seite der Frömmigkeit und des Aufstiegs zu Gott«5. Vermutlich wird auch das 42. Kapitel »Über die dämonischen Erscheinungen« auf Unverständnis stoßen, es gehört aber zur asketischen Literatur der Wüstenväter und handelt von der Überwindung der Furcht.

Das Buch Ilarions führt in eine dem Westen vielfach noch unbekannte Welt und bringt eine Fülle von Namen und Begriffen, da Ilarion aus der fünfbändigen Dobrotoljubije, den Aussprüchen der Väter, theologischen Vorlesungen und der Geschichte der russischen Kirche zitiert. Die bei ihrer ersten Nennung mit einem * gekennzeichneten Namen werden daher im Anhang in alphabetischer Reihenfolge erklärt. Die folgenden Überlegungen möchten das Jesusgebet in den asketischen und historischen Zusammenhang einordnen.

3. Zum Umfeld des hesychastischen Gebetes

Der Begriff des Hesychasmus hat im Lauf der Zeit verschiedene Definitionen erfahren. 1960 definiert ihn das Lexikon für Theologie und Kirche als seit dem 12. Jahrhundert nachweisbare Form mittelalterlicher ostkirchlicher Mystik, die auf Symeon den Jüngeren Theologen zurückgeht. Als Hauptübung wird die äußere Gebetstechnik der Hesychasten beschrieben, das Anhalten des Atems, Neigen des Kinns auf die Brust, Blick auf die Leibesmitte, unaufhörliches Jesusgebet und von einer später immer mehr veräußerlichten Askese gesprochen. Als Hauptvertreter wird Gregorios Palamas angeführt, der durch seine Unterscheidung zwischen dem Wesen und den Tätigkeiten Gottes dieser Mystik die theologische Begründung gab.

Die grundlegenden Arbeiten von Hausherr haben gezeigt, dass es längst einen »Hesychasmus vor diesem Hesychasmus« gab, was das Wesentliche, die Buß-, Gebets- und Meditationspraxis, betraf. Hier wurzelt der Hesychasmus ganz im alten Mönchtum und besonders in Russland war er immer wieder der Versuch, die asketischmystische Tradition der palästinisch-sinaitischen Väter neu zu verkörpern und zum Sprechen zu bringen. Besonders deutlich ist dies beim Neubegründer des russischen Hesychasmus Nil Sorskij (1433–1508) zu sehen, und wie bei ihm tritt auch bei den großen Betern Serafim von Sarov und Starez Siluan die äußere, technische Seite des Gebetes stark zurück und wird relativiert.6 Sie alle haben den Hesychasmus nicht als Erfolg versprechende Vollkommenheitspraxis oder als »leichtere und schnellere Methode« gesehen, sondern als Lebensprogramm, das das in der Taufe grundgelegte göttliche Leben entfalten soll. Für Serafim von Sarov liegt das Ziel des Lebens in der Erlangung und zunehmenden Erwerbung des Heiligen Geistes, für Nil Sorskij in den Charismen des Heiligen Geistes. Der Weg dazu führt durch die Hesychia, die Stille, das innere Schweigen. Aber die Hesychia, das Gebet der Ruhe, verstand man nicht nur als Erfolg einer Gebetsmethode, die die schlechten Gedanken vertreibt, sondern vor allem als das Bemühen um das Schweigen der weltlichen, verderblichen Leidenschaften. Grundlage dafür ist die Reue, das Wissen um seinen sündhaften Zustand und das zerschlagene Herz, das Gott nicht verachten wird. Dieses in die Tiefe gehende Wissen um die eigene Schwäche lässt den Beter immer wieder den Blick auf den Erlöser richten – das ist der Weg zum immerwährenden Gebet.

Dieser Weg soll ein ständiges Voranschreiten in der Reinigung, der Erleuchtung, der Vereinigung sein. Auch in der Form des Gebetes soll es ein Voranschreiten vom äußerlichen Gebet über das bewusst mitvollzogene, innere Gebet geben bis zum »Gebet des Geistes im Herzen«. Das Stoßgebet und das Jesusgebet sind ob ihrer Einfachheit sehr wichtige und gerne gebrauchte Hilfsmittel, um sich im Alltag Gottes Gegenwart immer wieder bewusst zu machen, doch werden von den Hesychasten die anderen kirchlichen Gebete in keiner Weise abgelehnt. Das Gebet soll von einer kurzfristigen Tätigkeit zu einem Zustand des ganzen Menschen werden – der Mensch selbst soll mit Leib und Seele zum Gebet werden. Hierin liegt die Begründung für die rechte Askese des Leibes, denn der Mensch betet auch mit dem Körper.

Das Mittel dazu, das immer wiederholte Stoßgebet, ist keine Autosuggestion oder hypnotische Beschwörung, sondern die bewusste Hinwendung zur Person Jesu Christi. Man soll in den Kämpfen des Lebens Christus keinen Augenblick aus den Augen verlieren und besonders in den Schwierigkeiten die »Augen des Herzens« sofort auf Ihn richten, denn in der Tiefe der Seele wird das Reich Gottes begründet. Können die »Augen unseres Herzens« aber ruhig in die Augen Gottes schauen, ist dies der Anfang der Herrschaft Gottes in uns, und Gott nimmt immer mehr Wohnung in dem betenden Menschen. Wohnt aber Gott in ihm, so gelangt er an den Ort der Ruhe, denn »unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Gott«.

Die Elemente des hesychastischen Gebetes sind:

1.Die Bitte um Hilfe im Kampf und die Erkenntnis der eigenen Erbärmlichkeit und Erlösungsbedürftigkeit, die bis zu den Tränen der Reue gehen kann, ja als Gabe der Tränen ein besonderes Gnadengeschenk ist. Sie sind für das alte Mönchtum kennzeichnend.

2.Das Wiederholungsgebet oder das Streben nach dem immerwährenden Gebet, das eigentlich ein andauerndes Gedenken Gottes, ein Lebenswandel in Gottes Gegenwart ist.

3.Die unablässige Anrufung Jesu Christi, des Erlösers aus Schuld und Sünde, mit einer Gebetsformel, die ein Bekenntnis zu seiner rettenden Göttlichkeit darstellt, auch wenn der Name Jesus zunächst gar nicht genannt werden muss, wie zum Beispiel im »Kyrie eleison«, »Herr erbarme Dich« oder in der Formel Cassians »O Gott, komm mir zu Hilfe, Herr, eile mir zu helfen«. Erst später wird der Name Jesus explizit angerufen und genannt – das ist das kürzeste Credo an den menschgewordenen Gott.

Das hesychastische Gebet, das Name-Jesu-Gebet, kann nie für sich allein gesehen werden. Es erfordert die Mühe im Gebet, das Vertrautwerden mit dem Wort Gottes (Wer ist dieser Jesus und wer ist er für mich) und das Leben aus den Mysterien der Kirche, des lebendigen und auferstandenen Christus. Wird das Jesusgebet aus dem Zusammenhang der Askese und des kirchlichen Lebens gelöst, wird es nach Feofan dem Klausner zum Talisman. Es ist eine mächtige Waffe im Kampf gegen die seit Evagrius Ponticus in dieser Form aufgezählten acht Hauptlaster oder Leidenschaften: Gefräßigkeit, Unzucht, Geldgier, Traurigkeit, Zorn, Verdrossenheit, Ruhmsucht, Hochmut und wächst nur auf dem Boden der Demut, Bruderliebe und Gottesfurcht im Einklang mit den Lehren der Kirche.

»Ein Altvater sprach zu seinem Bruder: Vergegenwärtige dir alle Tage deinen Tod als nahe und kümmere dich um nichts in der Welt, gleich als lägest du schon lang im Grabe. Habe auch immer die Gottesfurcht in dir. Halte dich für geringer als alle Menschen. Rede von niemand Schlechtes, denn Gott weiß alles. Sei vielmehr mit allen in Frieden, dann wird dir Gott allezeit die Herzensruhe schenken.«7 Hier wird programmatisch der Lebensstil vorgestellt, den auch die Neohesychasten unseres Buches, die Einsiedler im Kaukasus, zu verwirklichen suchten.

Das Gebet muss begleitet werden von der Praxis, den äußeren Übungen wie Fasten, einfache Lebensführung, Schweigen und Wachen, Einsamkeit, Kampf gegen die Fantasien und schlechten Gedanken, denn im Herzen ist die Quelle der Bosheit. Sie alle sollen zu Abtötung der Leidenschaften und zur Reinheit des Herzens führen, ohne die niemand Gott schauen wird. Die Grundhaltung, die zu dieser Reinheit führt, ist die beständige, tägliche Umkehr oder einfach das »Leben in der Gegenwart Gottes«. Um eben diesen andauernden Blick auf Gott zu erhalten, wird bei den Wüstenvätern die Praxis der häufigen Stoßgebete, der »Pfeilgebete«, entwickelt und geübt, bis Gott das Ziel, die von Ihm gewährte Ruhe des Herzens in Gott, schenkt.

3.1 Das Wiederholungsgebet

Um zur Reinheit des Herzens und zum beständigen Gedenken Gottes zu gelangen, sind ein »konkretes geistliches Programm« und die »verborgene Meditation« nötig. Dieses geistliche Programm ist ein gezielter Kampf gegen die Leidenschaften, die den Menschen immer mehr in ihren Bann ziehen und versklaven, wobei nie alle zugleich bekämpft werden können. Ganz konkret soll jeder Mensch seine Hauptschwäche erkennen und den Kampf damit aufnehmen: »Jeder soll erforschen, welches Laster ihn persönlich am stärksten anficht, und dagegen kämpfe er dann vorrangig, mit äußerstem Einsatz und höchster Sorgfalt. Täglich richte er auf dieses Laster mit der ganzen Inbrunst seines Herzens die Pfeile des Fastens, der Nachtwachen, der Meditation, des Betens unter Tränen, dass Gott ihm aus der Versuchung heraushelfe. Denn es ist unmöglich, eine schädliche Leidenschaft zu überwinden, ehe man eingesehen hat, dass man durch eigene Anstrengung den Sieg im Kampf nicht erlangen kann«.8

Die stärkste Hilfe im Kampf ist das Gebet, besonders das kurze, oft wiederholte Stoßgebet. Es ist ein bestimmter Vers der Hl. Schrift, ein Psalmvers, ein an der Hl. Schrift orientiertes Kurzgebet, das unter Umständen laut immer und immer wiederholt, »wiedergekäut«, »im Herzen gewogen« wird, bis es ganz in Fleisch und Blut übergegangen und für das eigene Leben wirksam geworden ist. Die Form dieses Kurzgebetes ist dabei zunächst nicht festgelegt: »Einige fragten den Altvater Makarios: Wie müssen wir beten? Der Greis antwortete ihnen: Es ist nicht notwendig, viele Worte zu machen (Mt 6,7), sondern man muss die Hände ausstrecken und sprechen: Herr, wie Du willst und weißt, erbarme Dich! Wenn aber eine Anfechtung kommt, dann: Herr, hilf! Denn Er weiß, was förderlich ist und wirkt an uns Erbarmen«.9

Auch im Westen waren diese »Pfeilgebete« nicht unbekannt, und in einem Brief an Proba erwähnt Augustinus diese »Pfeilgebete der ägyptischen Brüder«: »Wie man sagt, verrichten die Brüder in Ägypten zwar häufige Gebete, aber sie sollten ganz kurz, gleichsam Pfeilgebete sein, damit nicht die sorgfältig erweckte Herzensandacht, die dem Beter vorzüglich notwendig ist, durch zu lange Dauer dahinschwinde und ihre Kraft verliere … Fern sei vom Gebet vieles Reden, aber es fehle nicht an vielen Bitten, wenn der Eifer der Andacht fortwirkt. Denn viel redet man, wenn man beim Gebet das, was uns notwendig ist, mit überflüssigen Worten erörtert. Man bittet aber viel, wenn man mit ausdauernder frommer Herzensregung sich an Jenen wendet, zu dem wir beten. Denn dieses Geschäft wird meistens besser mit Seufzern als mit Worten, besser mit Weinen als mit Reden betrieben«.10

Der erste, der eine feststehende Gebetsformel zum andauernden Gedenken Gottes überliefert hat, dürfte Johannes Cassian (ca. 360–430/35) gewesen sein. Seine Wirkung als Vermittler des ägyptischen Mönchtums in den Westen kann kaum überschätzt werden, und man kann ihn mit Recht zu den geistigen Vätern des Abendlandes zählen. Benedikt von Nursia hat sich in seiner Regel in vielem an ihm orientiert, aber auch andere bedeutende Ordensgründer und Heilige wie Dominikus, Ignatius von Loyola, Philipp Neri, Teresa von Avila, Johannes vom Kreuz, Franz von Sales, ebenso die Devotio moderna und die Nachfolge Christi. Wir treffen bei ihm auf eine der wesentlichen Quellen abendländischer monastischer Spiritualität, aus der Generationen immer wieder geschöpft haben. Johannes Cassian berichtet über das immerwährende Gebet: »Bei den ägyptischen Mönchen wird der Gebetsdienst, den wir, zu gewissen Stunden durch die Mahnung des an die Tür klopfenden Bruders veranlasst, dem Herrn darbringen, den ganzen Tag hindurch in steter Verbindung mit Handarbeit freiwillig verrichtet. Sie widmen sich nämlich in ihren Zellen der Arbeit beständig in der Weise, dass die Betrachtung über die Psalmen und die übrigen Teile der Heiligen Schrift nie ganz ausgesetzt wird. Hiermit verbinden sie jeden Augenblick Bitten und Gebete und bringen auf diese Weise den ganzen Tag mit Beten zu, was wir nur zu bestimmten Stunden tun. Deshalb wird, abgesehen vom abendlichen und nächtlichen Gebete, des Tages über keine öffentliche Feierlichkeit bei ihnen gehalten; nur am Samstag und Sonntag kommen sie um die dritte Stunde (9 Uhr) zusammen, um die heilige Kommunion zu empfangen. Diese Art des Gebetes ist vollkommener, denn was unaufhörlich dargebracht wird ist mehr als das, was in Zeitabständen verrichtet wird; und angenehmer ist eine freiwillige Gabe als die Verrichtungen, zu welchen die Regel zwingt …«11

Die feststehende Gebetsform lautet: »O Gott, komm mir zu Hilfe, Herr, eile mir zu helfen« (Ps 70,2) und findet sich im 10. Gespräch, der zweiten Unterweisung des Abbas Isaak über das Gebet: »Es wird euch also als Formel der von euch gesuchten Gebetskunde die vorgelegt, die ein jeder nach dem beständigen Andenken an Gott strebende Mönch nach Austreibung all der verschiedenen Gedanken mit unaufhörlicher Erwägung des Herzens betrachten muss … Wie diese uns von Wenigen, die aus den ältesten Vätern übrig waren, überliefert wurde, so wird sie auch von uns nur den Wenigsten und den wahrhaft danach Schmachtenden anvertraut. Es wird euch also, um das ewige Andenken an Gott zu bewahren, diese Gebetsformel unaufhörlich vor Augen sein: »Gott, merk auf meine Hilfe! Herr, eile mir zu helfen!« Aus dem ganzen Schatz der Heiligen Schrift wurde mit Bedacht gerade dieser Vers ausgewählt. Denn er enthält alle Affekte (Stimmungen), die in der menschlichen Natur entstehen können, und schmiegt sich allen Zuständen und Vorkommnissen ganz entsprechend und passend an …«12 Es werden nun 15 Beispiele angeführt, in denen die Gebetsformel verwendet werden soll: bei der Leidenschaft der Essgier, Bitte um Enthaltsamkeit, Anfechtung des Fleisches, Maßhalten, Hilfe gegen Schlaf, Hilfe gegen Schlaflosigkeit, Hilfe gegen falsche Lust, Erhaltung der Tugend, Sanftmut statt Zorn, Bitte um Demut, Ruf bei geistlicher Trockenheit, Erhaltung der Munterkeit des Herzens, Angst um das ewige Heil, Verbleiben in der Tröstung des Herrn.13

Es werden so viele und so verschiedenartige Lebenssituationen angeführt, damit der Beter lernen soll, gerade in den Situationen der Schwäche Christus nicht aus den Augen zu verlieren: »Wir müssen wissen, zu welchem Ziele wir den Blick unserer Seele immer zurückrufen müssen … Keinen Augenblick wollen wir den Blick von Christus abwenden. Und wenn sich unsere Augen nur wenig von Ihm abgewandt haben, so wollen wir die Augen des Herzens wieder zu Ihm wenden und gleichsam in geradester Linie den Blick des Geistes zurückrufen. Das alles geschieht in der Tiefe der Seele. Wenn der Teufel daraus vertrieben ist, wird dort das Reich Gottes in uns begründet.«14 Die Sünde zwingt uns nach dem Beispiel Adams im Paradies, nach dem Fall den Blick von Gott abzuwenden, den Blick zu Boden zu senken, den Blick zwischen Gott und der Welt herumflackern zu lassen, uns vor Gott und vor uns selbst zu verstecken – das Gebet lehrt uns, immer wieder in die Augen Gottes zu schauen, damit unsere Augen gesund und unser ganzer Leib licht werden (Mt 6,22). Das Gebet lässt im Bewusstsein der Sünde den Beter den Blick auf Den richten, Der aus Liebe zu uns für unsere Sünden gekreuzigt wurde. Es führt zur Reinheit des Herzens, die den Beter nach den Seligpreisungen zur Schau Gottes, zur Erkenntnis und Vereinigung mit dem Gott der Liebe führt: »Dann wird jene vollkommene Liebe, mit der Er uns zuerst geliebt hat, auch unser Herz und Gemüt erfüllen, und das Gebet des Herrn wird sich erfüllen, von dem wir glauben, dass es nie unerfüllt bleiben kann. Dies werden die Anzeichen dafür sein: Gott wird unsere ganze Liebe sein, unsere Sehnsucht, das Ziel unseres Suchens und Bemühens, der Inhalt unserer Gedanken. Wir werden für Ihn leben, von Ihm sprechen, Ihn atmen. Gott, das ist jene jetzt schon bestehende Einheit des Vaters mit dem Sohn und des Sohnes mit dem Vater. Sie wird in unser Gemüt und unsere Seele eingesenkt …«15 Wer kann da noch von verbissener und finsterer Askese des Mönchtums sprechen? Wohl ist der Weg nach Jesu Worten eng und steil (Mt 7,14), der in das Reich Gottes führt, da der Mensch durch die Sünde geschwächt und zum Bösen geneigt ist, aber das Ziel ist nach der Benediktusregel das »weite Herz«, das den im Glauben Voranschreitenden »mit der unsagbaren Freude der Liebe auf dem Weg der Gebote Gottes« voraneilen lässt (Prolog der Regel). Das Ziel ist das »neue Herz des Neuen und ewigen Bundes«, das gerne den Willen Gottes erfüllt.

Benedikt von Nursia hat dieses an Christus gerichtete Stoßgebet so geschätzt, dass er es mit Ausnahme der Virgilien, der nächtlichen Gebetszeiten, an den Anfang jeder Hore des Stundengebetes als Eröffnungsvers setzte: »Zuerst singt man den Vers: O Gott komm mir zu Hilfe, Herr, eile mir zu helfen, Ehre sei …, dann den Hymnus der jeweiligen Gebetszeit« (capp 17,3; 18,1). Aus dem Wissen um menschliche Schwäche lässt Benedikt zu Beginn der Gebetszeit Gottes Beistand anrufen. Es ist dieser Vers wie eine Epiklese, eine Herabrufung des Hl. Geistes über den Beter und die betende Gemeinschaft.16 Da die alte Kirche den ganzen Psalter als prophetisches, im Christusereignis erfülltes Buch verstanden hat, lässt dieser an Christus gerichtete Psalm den Beter in das Christusmysterium eintreten: in den Psalmen betet er zu Christus oder es spricht Christus in ihm, und durch Christus hat er im Hl. Geist Zutritt zum Vater.

Diese von Johannes Cassian angegebene Gebetsformel war freilich nicht die einzige Formel, ja es gab geradezu eine Fülle von Stoßgebeten. Abba Arsenios betete: »Herr, leite mich auf Wegen, auf denen ich gerettet werde« oder: »O Gott, verlass mich nicht. Ich habe vor Dir nichts Gutes getan, doch gib mir nach Deiner Güte, den Anfang damit zu machen«.17 So fordert Johannes Klimakos auf: »Rufe zu dem Allmächtigen, Der dich retten kann, nicht mit gelehrten und schön gesetzten Worten, sondern in einfältiger und demütiger Rede, und fange vor allem immer an mit einem flehentlichen: ›Erbarme Dich meiner, denn ich bin schwach.‹ Dann wirst du die Kraft des Allerhöchsten an dir erfahren und die unsichtbaren Feinde im unsichtbaren Kampf durch unsichtbare Hilfe überwinden. Wer sich daran gewöhnt hat, auf solche Weise zu kämpfen, ist imstande, auf der Stelle die Feinde in die Flucht zu schlagen, aber diese Gnade verleiht Gott mit Recht Seinen Arbeitern nur als Belohnung für die früheren Mühen.«18

Das berühmteste an Jesus Christus gerichtete Wiederholungsgebet, in dem der Jesusname nicht vorkommt, ist das »Kyrie eleison«. Hier kommen wir schon ganz in die Nähe des späteren Jesusgebetes, auch wenn der Name »Jesus« nicht genannt wird. »Jesus ist der Herr« (Röm 10,9), Der unaufhörlich mit dem Mund bekannt und von Dem zugleich im Herzen geglaubt wird, dass Gott Ihn von den Toten auferweckt hat. So wird dieser »Herr Jesus« gerade in den Kämpfen und Versuchungen als Sieger über Sünde und Tod angerufen.

3.2 Das Wiederholungsgebet in Russland

Ein schönes Beispiel für dieses Wiederholungsgebet findet sich zugleich mit dem Zöllnergebet (Lk 18,13), der klassischen Form des Jesusgebetes, in der Nestorchronik in der »Unterweisung« des Fürsten Vladimir Monomach (1053–1125). Die wertvollen Ratschläge des erstaunlich belesenen Staatsmannes richten sich nicht nur an seine Söhne, sondern an alle russischen Fürsten, um die miteinander in Feindschaft lebenden russischen Teilfürsten zur Nächstenliebe und zur Treue aufzufordern, und stützen sich ganz auf persönliche Erfahrung. »Sobald Gott euch das Herz weich macht, dann vergießt Tränen um eurer Sünden willen und sprecht: ›Gleich wie Du Dich der Hure, des Räubers und des Zöllners erbarmt hast, so erbarme Dich auch über uns Sünder!‹ So haltet es in der Kirche wie auch vor dem Schlafengehen … Seid ihr aber zu Pferde und habt ihr mit niemand etwas zu schaffen und entsinnt ihr euch keines anderen Gebetes, so sprecht bei euch insgeheim ständig: ›Herr, erbarme Dich!‹, denn dieses ist das beste unter den Gebeten, und besser ist es, als unterwegs an allerlei Unsinn zu denken«.19

Zu gleicher Zeit, Anfang des 12. Jahrhunderts, findet sich im Kiewer Paterikon allerdings auch schon die älteste Erwähnung der klassischen, heutigen Form des Jesusgebetes in der Vita des russischen »Fürst-Heiligen« Nikola Svjatoscha von Tschernigov: »Im Munde hatte er immerwährend das Gebet ›Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, sei mir gnädig.‹20

Auch der große Erneuerer des hesychastischen Gebetes in Russland, Nil Sorskij, dessen ganzes Beten liturgisch geprägt ist, empfiehlt eine Liste von Stoßgebeten im Kampf gegen die schlechten Gedanken, ganz der Praxis der Mönchsväter entsprechend: »Keuschheit und Reinheit sind nicht nur das äußerliche Leben, sondern der verborgene Mensch des Herzens, wenn er sich von unreinen Gedanken rein hält. Daher soll man diese Gedanken abschneiden … indem man fleißig zu Gott betet, wie es uns die heiligen Väter auf verschiedene Weise, aber im gleichen Sinn überliefert haben.

Einer hat es von David übernommen, so zu beten: ›Meine Verfolger haben mich umringt; O meine Freude, erlöse mich von meinen Feinden, die mich umringt haben!‹ Ein anderer sagt über dieselben unreinen Gedanken folgendes: ›Gott, eile mir zu Hilfe‹ und ähnliches. Ein anderer von ihnen sagt wiederum: ›Richte, Herr, die Feinde, die mich umgeben haben, und kämpfe gegen die, die gegen mich anstürmen‹, und den übrigen Psalm. Rufe auch um Hilfe, wie du es aus den Schriften hörst von denen, die um Keuschheit und Reinheit kämpfen.

›Wenn der Ansturm gegen dich besonders stark wird, dann stehe auf und erhebe Augen und Hände zum Himmel und bete folgendermaßen: – Du bist stark, O Herr und Dein ist der Kampf, Du streite und siege in dieser Sache für uns, O Herr! – Und schreie zu Dem, Der allmächtig ist zu helfen mit demütigem Rufen: – Hilf mir, O Herr, denn ich bin schwach!‹ Dies ist aber die Überlieferung der heiligen Väter, und wenn du diese Kämpfe durchschritten haben wirst, wirst du aus Erfahrung wissen, dass diese unreinen Gedanken durch Gottes Gnade ganz und gar besiegt werden. ›Immer aber schlage die Feinde mit dem Namen Jesu‹, denn es gibt nichts Kräftigeres für diesen Sieg. Bewahre dich aber vor dem Sehnen nach Personen und dem Hören von Gesprächen, die die Leidenschaften aufpeitschen und unreine Gedanken erregen, und Gott wird dich bewahren.«21

3.3 Russischer Hesychasmus und Marienverehrung

Russisch-orthodoxe Frömmigkeit ist ohne Marienverehrung undenkbar. Russland hält sich für das Eigentum der Mutter Gottes, im Mittelpunkt jeder altrussischen Stadt stand die Maria-Himmelfahrts-Kirche, die Hälfte der 3000 Klöster Russlands in 1000 Jahren war der Mutter Gottes geweiht. Nach russischen Theologen hat sie das Bild und den Charakter der russischen Kirche geprägt. Diese Marienverehrung prägt auch das Gebet der russischen Hesychasten.

Sowohl beim Jesusgebet in seiner klassischen Form, bei den an Christus gerichteten Wiederholungsgebeten der Mönchsväter wie auch beim Ave Maria geht es um das zentrale Geheimnis des christlichen Glaubens, um das Geheimnis der erlösenden Menschwerdung Gottes. Richtet sich die Bitte des Zöllners im Evangelium an »Gott, Der ihm gnädig sein soll« (Lk 18,13), so setzt das Jesusgebet »Jesus Christus, Den (wesensgleichen) Sohn Gottes« an diese Stelle. Der biblische Gruß an Maria ist ebenfalls nur im Kontext der Menschwerdung Gottes zu sehen. Auch die kürzesten Wiederholungsgebete wie »Jesus«, »Herr Jesus«, das heißt »Jesus ist Gott«, sind ein Meditieren um die Mitte des christlichen Glaubens, die Menschwerdung. Richtet sich das »Vater unser« an Gott, Den Vater, so kann das »Gegrüßet seist Du, Maria« als christozentrisches Gebet ihm zur Seite gestellt werden, da Maria Ihre Stellung im Heilsmysterium als Gottesmutter und Jungfrau erhält und Sie durch Ihre Fürbitte zu Ihrem göttlichen Sohn hinführen soll. Gott tritt in die Menschheitsgeschichte durch einen konkreten Menschen, Maria, ein. Beide Gebete zusammen, das »Vater unser« und das »Gegrüßet seist Du, Maria«, sind gleichsam eine Kurzfassung des christlichen Glaubens. Es ist bemerkenswert, dass der Begründer der heute üblichen Form der Rosenkranzgebete, Dominikus von Preußen (1384–1460), das östliche Jesusgebet in seiner klassischen Formulierung kannte und es seinem Inhalt nach an die Seite des Ave Maria stellt und beide empfiehlt, da er offenkundig beide Gebete ihrer Intention nach als Parallele empfand.22

Wir finden aber auch in der russisch-orthodoxen Kirche einen gewichtigen Zeugen, der das Jesusgebet mit dem Ave Maria gleichsetzt. Es ist dies einer der populärsten und bedeutendsten Hesychasten Russlands, der hl. Serafim von Sarov (1754–1833), der in seinem monastischen Leben fast alle Formen der asketischen Kämpfe durchgefochten hat, vom Säulensteher über den Einsiedler bis zum geistlichen Vater vieler Tausender Hilfesuchender, bis zum Starzen, der auch heute noch innig verehrt wird. Seine Gebetsregel lautet so: »Jeder Christ soll, wenn er sich vom Schlaf erhoben hat, sich mit dem Kreuzzeichen bezeichnen und das Gebet des Heiles sprechen, das unser Herr und Gott, Jesus Christus Selbst, Seine Jünger gelehrt hat: das ›Vater unser‹ dreimal, zur Ehre der Mutter Gottes das ›Gegrüßet seist Du, Maria‹ dreimal, schließlich einmal das ›Glaubensbekenntnis‹. Nach diesem morgendlichen Gebet soll jeder Christ an seine Arbeit gehen, ob Mann, Frau oder Kind, gleich welchen Standes oder Berufes, wo eben ihn Gott hingestellt hat.

Wenn er unterwegs oder mit häuslichen Arbeiten beschäftigt ist, soll er leise sagen: ›Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, sei mir Sünder gnädig.‹ Wenn er von Berufs wegen von vielen Leuten umgeben ist, soll er nach Möglichkeit nur in Gedanken sagen: ›Herr erbarme Dich‹ und es bis Mittag versuchen. Vor dem Essen soll er wieder die Gebete sprechen. Nach dem Essen soll er während seiner Arbeit wieder beten: ›Heilige Mutter Gottes, rette mich Sünder‹ und es bis zum Abend versuchen. Überkommt ihn abends der Schlaf, soll jeder Christ die morgendlichen Gebete wiederholen und mit dem Kreuzzeichen einschlafen.«

Der Heilige lehrt, dass so jeder Christ, der sich an diese kleine Regel wie an einen Rettungsanker inmitten der Wogen des Alltags anhält und mit Demut sie ausübt, bis zum Maß der christlichen Vollkommenheit und Gottesliebe gelangen könnte, da diese drei Gebete das Fundament des Christentums sind: das erste Gebet, die Worte unseres Herrn selbst, hat er uns als Beispiel für alle anderen Gebete gegeben; das zweite wurde durch den Engel vom Himmel herabgetragen als Gruß für die Mutter Gottes, wo der Eckstein des Neuen Testamentes in der Menschwerdung Jesu Christi grundgelegt wurde; das Glaubensbekenntnis aber enthält in sich in Kürze alle Dogmen des christlichen Glaubens.

Wir finden diese innige Verehrung der Gottesmutter aber auch bei den großen Hesychasten auf dem Ihr geweihten Berg Athos. So bekennt der hl. Maximos Kausokalybos in einem Gespräch mit Gregor dem Sinaiten (gest. 1346): »Ich will nicht vor Dir, ehrwürdiger Vater, das Wunder verheimlichen, das durch die Hilfe der allerseligsten Gottesgebärerin an mir geschah. Schon von meiner Jugend an trug ich in mir den lebendigen Glauben an meine Herrin und Gottesgebärerin, und ich ließ nicht ab, Sie inständig unter Tränen zu bitten, Sie möge mir die Gnade des Geistigen Gebetes erteilen. An einem Tage kam ich nun wie gewöhnlich in die Kirche und betete zu Ihr mit der grenzenlosen Glut meines Herzens. Als ich voll Liebe Ihre heilige Ikone küsste, da spürte ich plötzlich in der Brust und im Herzen eine sonderbare Wärme und ein Feuer, das von der heiligen Ikone ausging, mich aber nicht brannte, vielmehr mich erfrischte und mir Erquickung brachte und meine Seele mit großer Rührung erfüllte. In diesem Augenblick, mein Vater, begann mein Herz aus seinem tiefsten Grunde heraus das Gebet zu sprechen, und mein Geist empfing durch das Gedenken an meinen Herrn Jesus Christus und meine allheilige Gebieterin und Gottesgebärerin neue Kraft, und auch jetzt bleibt mein Herz immer in diesem Gedenken. Und, verzeih mir schon, seit jener Stunde hört das Gebet in meinem Herzen nicht mehr auf.«23

Wenn wir nun über Jahrhunderte hinweg den Blick auf unsere Zeit richten, so sehen wir dasselbe Phänomen bei einem der letzten großen Starzen auf dem Berge Athos, beim Schimonach Siluan (1866–1938) vom russischen Pataleimonkloster. Auch er verdankte seine Umkehr dem Anruf der Gottesmutter und erhielt von Ihr wie Maximos Kausokalybos oder Serafim von Sarov die Gnade des immerwährenden Gebetes als Geschenk der Mutter Gottes: »Als ich ein junger Novize war und eines Tages vor der Ikone der Gottesmutter betete, kam das Jesusgebet in mein Herz, blieb dort und verrichtete sich von selbst, immerfort … Wenn doch die Menschen wüssten, wie groß die Liebe der allreinen Mutter zu denen ist, die Christi Gebote halten, und wie Sie leidet und trauert um diejenigen, die unbußfertig sind. Ich habe es an mir selbst erfahren. Ich sah die Gottesmutter nicht, aber der Heilige Geist ließ mich Sie erkennen. Mehr als vierzig Jahre sind vergangen, da Sie mich Sünder aufsuchte und ermahnte. Ich wäre verloren gewesen, ich Elender, aber ich vernahm Ihre Stimme und hörte Ihre Worte: ›Es ist mir zuwider zu sehen, was du tust.‹ So lieb und wohltuend, so sanft war Ihre Stimme, dass ich niemals diese süßen Worte vergessen kann, und ich weiß nicht, wie ich Sünder der gnadenreichen, sich erbarmenden Mutter des Herrn danken soll.

Sie ist in Wahrheit unsere Fürsprecherin vor dem Herrn, und schon allein Ihr Name erfreut die Seele. Der ganze Himmel und die ganze Erde erfreuen sich Ihrer Liebe.

Unfassbar! Sie lebt im Himmel und schaut unaufhörlich die Herrlichkeit Gottes, aber Sie vergisst uns Armselige nicht und bedeckt mit Ihrer Barmherzigkeit die ganze Erde und alle Völker. Und diese Seine allreine Mutter hat der Herr uns gegeben. Sie ist unsere Freude und unsere Hoffnung. Sie ist unsere Mutter im Geiste, Ihrer Natur nach als menschliches Wesen uns verwandt, und jede christliche Seele zieht es hin zu Ihrer Liebe …«24

Die Hesychasten verehren die Mutter Gottes so sehr, weil Sie die Lehrmeisterin des immerwährenden Gebetes ist. Bevor Sie Jesu Mutter wurde, war Sie Seine Jüngerin, weil Sie dem Wort glaubte und es andauernd in Ihrem Herzen erwog. Zutiefst einbezogen in das Geheimnis der Erlösung, wird Sie gerade unter dem Kreuz den Lieblingsjüngern zur Mutter gegeben. Sie vermag die Augen des Beters auf Ihren Sohn zu richten und gleichsam die Atmosphäre des Gebetes, die Beistandsgnaden zu vermitteln. Ein an die Jungfrau Maria gerichtetes Gebet bittet: »In Deiner Liebe eine meine Seele«. Sie vermag als Fürbittende für alle Stimmungen, die der Seele entspringen, zu wirken und als Braut des Heiligen Geistes den Beter im Gebet so zu führen, dass er selbst Tempel des Heiligen Geistes wird. Auf dem Berg Athos, der der Jungfrau Maria geweiht ist, hat sich seit langem eine ausführliche Formel des Jesusgebetes entwickelt, die parallel zum Ave Maria mit der Bitte an die Gottesmutter schließt: »Herr Jesus Christus, Sohn und Wort des lebendigen Gottes, durch die Bitte Deiner allreinsten Mutter und aller Heiligen habe Erbarmen mit uns und rette uns!«25 Das orthodoxe Ave Maria lautet so: »Freue Dich, gesegnete Maria, der Herr ist mit Dir, gesegnet bist Du unter den Frauen und gesegnet ist die Frucht Deines Lebens, denn Du hast den Retter unserer Seelen geboren.«

4. Das Namen-Jesu-Gebet

Gegenüber der Vielzahl von Wiederholungsgebeten, die vom frühen Mönchtum an bis in die Neuzeit praktiziert wurden, setzte sich schon früh das Gebet im Namen und zum Namen Jesu im Mönchtum des Ostens durch. Ein Grund dafür lag nicht nur in der Einfachheit der Gebetsformel, die ja vielgestaltig sein konnte, sondern vor allem im Wissen um die Macht des Namens einer Person. Im Glauben und Denken fast aller Völker gehört der Name unlöslich zur Person. Der Name ist nicht »Schall und Rauch«, nicht zufällig von außen der Person auferlegt, sondern er ist Ausdruck des Wesens, Lebensprogramm, gleichsam die dem anderen zugewandte Seite. Wer seinen Namen kundtut, lässt sich ansprechen, bleibt nicht anonym, sondern tritt in Gemeinschaft, ja er gibt dem anderen gewissermaßen Macht über sich.

Es gehört zu den grundlegenden Erfahrungen der biblischen Offenbarung, dass Gott Seinem Volk gegenüber nicht anonym geblieben ist, sondern dass Er einen Eigennamen hat, den Er langsam geoffenbart hat. Verweigert Er dem Erzvater Jakob noch die Kenntnis Seines Namens (Gen 32,30), so gibt Er sich gerade im Zusammenhang mit der für Israel grundlegenden Erfahrung der Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten als »Jahwe« zu erkennen (Ex 3,14). Wenn man Jahwe anruft, kommt Er herbei und macht Seine Verheißung wahr: »An jedem Ort, an dem Ich Meinem Namen ein Gedächtnis stifte, will Ich zu dir kommen und dich segnen« (Ex 20,24). Der Name wird gleichsam zum Begriff für die Gegenwart Gottes. Der Name Jahwes umschreibt so stark das personhafte Wirken Jahwes, dass man ihn geradezu als Wechselbegriff für Jahwe selbst verwenden kann (Lev 18,21). Der Name Jahwes wird fast zu einer Hypostase, er nimmt den Platz ein, an dem in anderen Religionen das Kultbild stand. Er erscheint geradezu wie eine in sich stehende Realität, die von geheimnisvoller Macht ist.

Die Anrufung des Namens macht das Land, den Menschen, über den dies geschieht, zum Eigentum Gottes (Dtn 28,10). Die »Heilighaltung des Namens« war für den Gläubigen des Alten Bundes Inbegriff und Höhepunkt des religiösen Lebens. Diese große Ehrfurcht vor dem Namen Gottes führte dazu, dass statt des Namens »Jahwe« in der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel, nur »Kyrios« geschrieben wurde und schon im letzten Jahrhundert vor Christus der Name »Jahwe« nicht mehr ausgesprochen wurde. Den genau ausgesprochenen Jahwenamen durften nur mehr die Priester beim Sprechen des aaronitischen Segens, Zeugen im Prozess wegen Gotteslästerung und der Hohepriester beim Sprechen der drei Sündenbekenntnisse am Versöhnungstag aussprechen. Statt des Gottesnamens wurde sonst Adonai (= Herr), Memra (= das Wort), Schechinah (= das Wohnen Gottes bei seinem Volk) oder ha Schem (= der Name) eingesetzt.26

Vielleicht ist uns durch die lange christliche Gewöhnung die ungeheure Tatsache nicht mehr bewusst, was es für die Urchristen bedeutete, statt des unaussprechbaren Namens den Namen Jesu Christi einzusetzen und ihn jederzeit und allerorten anrufen zu dürfen. Der Name Jesus ist die letzte und endgültige Offenbarung des Namens und Wesens Gottes: »Jahwe rettet«, wie er in und durch Jesu Leben, Kreuz und Auferstehen gezeigt hat. In den Evangelien, vor allem in den Aussagen des Johannes-Evangeliums, haben wir die christologischen Deutungen der atl. Aussagen über den Jahwenamen vor uns. Damit ist in dieser letzten Evangeliumsschrift die Linie des Alten Testamentes wieder aufgenommen, dass Gottes Offenbarung an einen persönlichen Eigennamen gebunden ist, an Jesus Christus.

Die Fülle von Jesu Leben und Werk zeigt sich in Seinem Namen (Mt 1,2), Sein Name ist das »Wort Gottes« (Joh 1,1, vgl. dazu den jüdischen Ersatz von Jahwe durch Memra, Wort), statt Jesus kann es auch nur heißen: »der Name« (Apg 5,41; 3 Joh 7, vgl. dazu den jüd. Ersatz von Jahwe durch ha Schem, der Name). Die älteste christliche Bekenntnisformel, die zugleich ein Stoßgebet sein kann, lautet daher »Jesus ist der Kyrios, der Herr« (Röm 10,9), das heißt Jahwe selbst, und ist das Bekenntnis Seiner Gottheit. Hat sich Jahwe das erste Mal im Dornbusch Mose geoffenbart, so offenbart Er sich letztgültig im Leben Jesu und unter der Dornenkrone am Kreuz, dessen titulus »König der Juden« ist und Jahwe allein ist König Seines Volkes. Der Tempelvorhang zerreißt zur Todesstunde Jesu – der tiefste Blick in das innerste Heiligtum Gottes wird durch den sterbenden Jesus am Kreuz gewährt. Ihn, den Auferstandenen, bekennt Thomas: »Mein Herr und Mein Gott« (Joh 20,28). Jahwe lässt sich in Jesus mit einem menschlichen Namen anrufen, und wir rufen uns und Ihm immer in Erinnerung, was Er für uns getan hat. Die Rosenkranzgeheimnisse sind letztlich nichts anderes als ein andauerndes Meditieren um dieses Christusgeheimnis vor Seinem Angesicht.

Die Christen waren daher geradezu gekennzeichnet als die, »die den Namen des Herrn Jesus anrufen«, und man könnte die Apostelgeschichte das Buch des Jesusnamens nennen. Es ist das Zentrum der urchristlichen Verkündung der Apostelgeschichte, dass »kein anderer Name den Menschen gegeben ist«, und die Wunder sind Erweis der »Macht des Namens« (Apg 3,1–10). Wer den Namen des Herrn anruft, gehört zur Gemeinde und wird gerettet (Apg 2,17–21; 9,14). Das ganze Leben steht unter dem Namen Jesu (Kol 3,17) und zu den Gaben der Vollendung gehört es, dass die Sieger den Namen des Lammes tragen werden (Offb 3,12). Es ist der »hohe Name«, der über den Christen ausgerufen ist und sie dadurch zum Eigentum Jesu Christi macht (Jak 2,7).

5. Historische Entwicklung des Jesusgebetes

Die folgende Übersicht über einige hesychastische Schriftsteller soll eine zeitliche Einordnung der in dem Buch oft zitierten Autoren erlauben.

Das hesychastische Gebet gewann seine spätere klassische Form durch die Verbindung des Jesus-Namens mit den rhythmischen Wiederholungsgebeten der Wüstenväter. Rückgehend auf die Mystik des Evagrius Ponticus, der die Spiritualität der sketischen Wüste und der großen alexandrinischen Theologen, insbesondere die des Origenes, in sich verbindet, entstand auf dem Sinai ab dem 5. Jahrhundert der große Überlieferungsstrom des sinaitischen Hesychasmus, aus dem noch im 15. Jahrhundert in Russland Nil Sorskij vorzugsweise schöpfen wird. Der russische Hesychasmus und Neohesychasmus, der von Paisij Velitschkovskij Ende des 18. Jahrhunderts wiederbelebt wird, zeichnet sich überhaupt durch eine besondere Nähe zu den palästinisch-sinaitischen Vätern aus. Die Spiritualität der Mönche des Sinai bekundete sich durch eine starke Jesusfrömmigkeit, deren natürliche Frucht die Anrufung des Jesusnamens war. Der erste Zeuge dafür scheint Diadochus, der Bischof von Photike