Auf den Schwingen des Blutes - Dania Dicken - E-Book

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Dania Dicken

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Beschreibung

Für FBI-Profilerin Libby Whitman geht ein langgehegter Traum in Erfüllung, als aus ihrer Freundin Julie Thornton eine Kollegin wird. Gleich ihr erster gemeinsamer Fall schockiert selbst die erfahreneren Teamkollegen: In Seattle wird die Leiche einer Frau gefunden – teilweise gehäutet und zu Tode gefoltert. Schnell befürchten die Profiler, dass der Täter erst am Anfang einer Mordserie steht. Doch nicht nur die Ermittlungen verlangen Libby einiges ab, sie kämpft auch privat immer noch darum, wieder eine normale Beziehung mit ihrem Mann Owen zu führen. Als sie unverhofft eine Nachricht von ihrem Ex-Freund Kieran erhält, der seit ihrer Trennung in Seattle lebt, stellt ihr Wunsch nach einem Wiedersehen ihre Ehe vor eine Belastungsprobe – und reißt bei Libby alte Wunden auf ...

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Prolog
Samstag, 12. November
Sonntag, 13. November
Montag, 14. November
Dienstag, 15. November
Mittwoch, 16. November
Donnerstag, 17. November
Freitag, 18. November
Samstag, 19. November
Sonntag, 20. November
Montag, 21. November
Donnerstag, 24. November
Nachbemerkung
Impressum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dania Dicken

 

Auf den Schwingen des Blutes

 

Libby Whitman 9

 

 

Thriller

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Mensch ist das grausamste Tier.

Friedrich Nietzsche

 

Prolog

 

Die Sterne standen günstig. Das sah er, als er nach oben gen Himmel blickte. Es war eine sternenklare Nacht – eine Nacht, in der er mit göttlichem Beistand rechnen konnte. Den brauchte er für sein Vorhaben.

Auch wenn sie weit genug draußen waren, um zu dieser späten Stunde unbemerkt zu bleiben, wollte er kein Risiko eingehen und hockte sich vor sie, um sie zu knebeln. Sie würde schreien – heftig schreien. Das wusste er und es war zu riskant. Er würde ihr den Knebel wieder abnehmen, wenn sie nicht mehr die Kraft hatte, um wirklich laut zu sein. Diese Erfahrung hatte er ja inzwischen gesammelt und wusste, dass es so kommen würde.

Sie wehrte sich und zappelte, bevor sie ihn unter Tränen ansah. Das konnte er im dämmrigen Licht der Fackeln immer noch erkennen.

„Nicht doch“, sagte er. Sie zitterte, aber er wusste nicht, ob das aufgrund von Kälte oder Angst war. Möglich war beides.

Schließlich erhob er sich wieder und versuchte, ihr leises Wimmern zu ignorieren. Es tat ihm leid, aber es gab keine andere Möglichkeit. Er hatte schon so viel versucht.

Er hatte alles bereitgelegt, was er brauchte. Für einen Moment schloss er die Augen, bevor er zu seinem Jagdmesser griff. Es hatte sich für diesen Zweck bereits bewährt.

Die Frau schluchzte erstickt, als er hinter sie trat. Sie kniete am Boden, die ausgestreckten Arme links und rechts an einen der Pfähle gefesselt. So war es gut. Das war richtig. Es würde klappen.

Sie sah es nicht kommen, als er das Messer auf Höhe ihres Nackens ansetzte und fest zustach. Der folgende Schmerzensschrei fuhr ihm durch Mark und Bein, aber er musste weitermachen. Es ging nicht anders. Er schloss kurz die Augen und verließ sich ganz auf sein Gefühl, als er den tiefen Schnitt bis unterhalb der Rippen führte. Im fahlen Schein der Fackeln fing er das Blut mit einer Schale auf. Sie wollte noch immer schreien und zappelte heftig, konnte sich aber nicht wehren.

Die Götter waren ihm gewogen, das spürte er. Diesmal würde er nicht scheitern.

Er fing das Blut auf, bis er der Ansicht war, eine ausreichende Menge gesammelt zu haben. Anschließend setzte er die Schale an die Lippen, um davon zu kosten.

Er hätte gar nicht beschreiben können, wie es sich anfühlte, ihre Energie in sich aufzunehmen. Eine immense Wärme breitete sich von seiner Körpermitte ausgehend bis in seine Fingerspitzen aus. Jetzt fühlte er sich nicht mehr unvollständig, sondern makellos – und er war dankbar.

Aber er war noch nicht fertig. Auf das gepeinigte Schluchzen achtete er nicht, während er Schale und Messer weglegte und stattdessen zur Axt griff.

 

 

Samstag, 12. November

 

„Endlich nimmt das alles Gestalt an.“ Nachdem er sich aufs Sofa gesetzt hatte, ließ Owen seine Blicke durchs Wohnzimmer schweifen. Mit einem Glas Wasser in der Hand gesellte Libby sich zu ihm und nickte zustimmend.

„Wir haben uns ja auch ordentlich rangehalten. Fehlt bloß noch der Hobbyraum“, sagte sie.

„Ach, der …“ Grinsend machte Owen eine wegwerfende Handbewegung, womit er Libby zum Lachen brachte.

„Nicht so wichtig, oder?“, murmelte sie.

„Nicht wirklich. Für heute habe ich jedenfalls genug.“

„Ich auch. Ich glaube, ich gehe gleich duschen, bevor wir zu Julie und Kyle fahren.“

„Gute Idee“, fand Owen. „Ich freue mich schon auf den Abend.“

„Und ich mich erst.“

An Owen gelehnt, saß Libby auf dem Sofa und genoss den wohnlichen Zustand, in den sie ihr Haus endlich versetzt hatten. Seit ihrem Umzug vor zwei Wochen hatten sie jede freie Minute darauf verwendet, Möbel aufzubauen, Kartons auszupacken und sich einzurichten. Im Erdgeschoss hatten sie nun eine fertige Küche, ein gemütliches Wohnzimmer und auch das Arbeitszimmer befand sich bereits in einem nutzbaren Zustand. Es war nur ein kleiner Raum, aber bis jetzt kam es auch nicht oft vor, dass Libby oder Owen zu Hause arbeiteten. Das änderte sich jedoch möglicherweise bald.

Nachdem Libby ihr Glas geleert hatte, ging sie nach oben. Dort waren Bad und Schlafzimmer fertig, auch das Gästezimmer war bereits nutzbar. Einzig dem Hobbyraum hatten sie noch keinerlei Beachtung geschenkt, darin stand neben einigen Kartons bloß ein Heimtrainer. Um sich davon nicht frustrieren zu lassen, hatte Libby in weiser Voraussicht die Tür geschlossen und ignorierte den Raum, während sie ins Schlafzimmer ging und sich aus dem Kleiderschrank etwas zum Anziehen für den Abend heraussuchte, das sie auf dem Bett ausbreitete. Anschließend warf sie einen Blick in den Garten, der in einem tristen novemberlichen Grau dalag. Darum würden sie sich im Frühjahr kümmern, Owen hatte bislang ein einziges Mal den Rasen gemäht und die Hecke geschnitten, mehr war draußen noch nicht passiert.

Während Libby sich unter die Dusche stellte, dachte sie wieder daran, wie froh sie jetzt war, endlich ein richtiges, neues Zuhause gefunden zu haben. Sie mochte das Haus und konnte sich vorstellen, dort viele Jahre zu verbringen.

Schließlich stieg sie wieder aus der Dusche, ein Handtuch um den Kopf geschlungen und eins um den Körper. Als sie vor dem Spiegel stand, versuchte sie zwar, gedanklich den Anblick vorwegzunehmen, der sich ihr bieten würde, aber als ihr Blick ihre Narben streifte, hielt sie trotzdem inne und konnte den Blick nicht davon abwenden.

Die vielen kleinen Schnittwunden an ihren Armen waren in den drei Monaten, seit Vincent sie ihr beigebracht hatte, gut verheilt und fielen kaum noch auf. Für das Brandzeichen galt zu ihrer Erleichterung Ähnliches – sie hatte sich bei ihrem Arzt danach erkundigt, ob es möglich war, die Narbe entfernen zu lassen, doch davon hatte er ihr vorerst abgeraten und empfohlen, einfach abzuwarten. Er war der Meinung, dass sie mit der Zeit so weit verblassen würde, dass sie kaum noch auffiel, und bislang schien er Recht zu behalten. Brandings zu entfernen war teurer und komplizierter als bei Tätowierungen, die Erfolgsaussichten nicht allzu groß. Nachdem sich das für Libby zuerst niederschmetternd angehört hatte, arbeitete Michael in seinen regelmäßigen Sitzungen mit ihr daran, einfach anzunehmen, dass sie diese Narbe wohl behalten würde – ähnlich wie alle anderen, die Vincent verursacht hatte. Damit musste sie jetzt leben.

Inzwischen war sie längst zu dem Schluss gekommen, dass sie andere Narben hatte, die noch deutlich auffälliger waren als die liegende Acht, die sie an der Schulter trug – die Operationsnarbe am Hals etwa, aber die machte ihr nicht so viel aus. Die großen Narben auf ihrem Rücken jedoch, die von den Peitschenhieben stammten, reichten fast bis in ihren Nacken und Libby hatte sich geschworen, fortan keine ärmellosen Oberteile mehr anzuziehen oder welche mit tiefem Rückenausschnitt. Ihr schlichtes schwarzes Abendkleid hing nun im Schrank und sie konnte sich nicht vorstellen, es je wieder zu tragen. Das traf sie inzwischen weitaus härter.

Sie drehte sich vor dem Spiegel um und betrachtete die schwieligen Narben. Zwar hatte man ihr damals im Krankenhaus Mut gemacht, dass die Wunden trotz der mangelnden vorangegangenen Versorgung gut abheilen würden und das war auch passiert – aber dass sie niemand rechtzeitig versorgt hatte, bedeutete nun, dass die Narben für immer sichtbar bleiben würden.

Libby versuchte, sich zu sagen, dass Vincent es nicht besser getroffen hatte, denn er war jetzt tot. Dennoch versetzte es ihr einen heftigen Stich ins Herz, weil sie trotz allem immer ein gutes Verhältnis zu ihrem Körper gehabt hatte und es ihr gerade schwerfiel, ihn so anzunehmen, wie er jetzt war. Es war schwierig für sie, ihren Frieden mit allem zu schließen – aber es war erst drei Monate her und die Alpträume waren auch noch da, zumal sie einen großen Bogen um alle Beruhigungsmittel machte, die vielleicht dagegen geholfen hätten.

Nachdem sie ihre Haare geföhnt hatte, ging sie ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Sie hatte Jeans und einen schlichten Pullover herausgelegt – und hübsche Unterwäsche. Auch dazu hatte Michael ihr geraten, denn er war überzeugt davon, dass sie nur dann ein positives Körpergefühl zurückgewann, wenn sie aktiv etwas dafür tat – und ihrer Beziehung zu Owen tat es auch gut, wenn sie sich jetzt nicht versteckte.

Sie hatte gerade erst die Unterwäsche angezogen, als sie Schritte auf der Treppe hörte und Owen im Schlafzimmer erschien. Mit einem Lächeln ging er zu ihr und umarmte sie.

„Hey, schöne Frau.“ Er schloss die Augen und küsste sie liebevoll. „Du siehst toll aus.“

„Danke“, erwiderte Libby.

„Hab gehört, dass du fertig bist. Dann gehe ich auch mal duschen.“

„Nur zu.“ Sie lächelte und gab ihm einen Kuss, bevor er sich auszog. Während sie selbst sich anzog, beobachtete sie ihn verstohlen.

Als Owen schließlich in der Dusche war und Libby fertig vor dem Spiegel stand, atmete sie tief durch. Sie war froh, dass es zwischen ihr und Owen wieder besser lief – in mancherlei Hinsicht sogar besser als je zuvor, denn sie wusste jetzt, dass er immer für sie da war und sie ihm vorbehaltlos vertrauen konnte. Das erleichterte es ihr, wieder Intimität zuzulassen und ein bisschen damit zu experimentieren, was möglich war und was nicht.

Es würde schon wieder gut werden, da war sie inzwischen recht zuversichtlich. Gemeinsam würden sie das schaffen.

Nachdem Owen fertig war, brachen sie bald in Richtung Annandale auf. Libby freute sich immer noch wie verrückt darüber, dass ihre beste Freundin endlich ganz in der Nähe wohnte.

Nach etwa einer Viertelstunde waren sie am Ziel und parkten vor der Einfahrt des Hauses. Auch dort hingen noch keine Gardinen an den Fenstern und die Wände waren kahl, das konnte Libby sehen, als sie beim Näherkommen ins erleuchtete Wohnzimmer schaute. Owen klopfte an die Tür und es dauerte nur einen kurzen Augenblick, bis Kyle ihnen öffnete.

„Hey, ihr beiden. Kommt rein.“ Nacheinander begrüßte er sie mit einer Umarmung, ehe Julie hinter ihm erschien, um Libby und Owen ebenfalls willkommen zu heißen.

„Schön, dass ihr da seid. Bitte seht großzügig über das Chaos hinweg und macht es euch gemütlich“, sagte sie.

„Chaos? Welches Chaos?“, erwiderte Owen grinsend. Libby grinste ebenfalls und folgte ihm ins Haus.

Julie und Kyle hatten ihren anfänglichen Rückstand in Sachen Umzug inzwischen gut aufgeholt. Zwar fehlten im Wohnzimmer richtige Lampen, Wandbilder und die Gardinen, aber alles andere war fertig. Inzwischen hatten sie auch eine Küche, die sie feierlich einweihen wollten. Sie hatten beschlossen, Pizza selbst zu machen und weil Kyle kundtat, hungrig zu sein, fingen sie auch gleich damit an.

„Ihr seid hier aber gut vorangekommen“, eröffnete Owen das Gespräch, während Kyle begann, den Pizzateig auszurollen.

„Wir machen auch kaum etwas anderes im Moment. Vor ein paar Tagen kam endlich die Küche, wir müssen jetzt also nicht mehr verhungern. Deshalb hatte ich auch die Idee, sie gleich mit euch einzuweihen“, sagte Julie.

„Und wie gefällt es euch hier überhaupt?“, fragte Owen.

„Überraschend gut. Ich konnte mir ja zum Glück immer vorstellen, in Washington zu arbeiten, und ich hatte es gut – Nick Dormer hat ja dafür gesorgt, dass man mir hier einen roten Teppich ausrollt und ich bloß noch anfangen muss. Er wollte dich wirklich dringend in seinem Team haben, Süße.“ Grinsend schenkte Kyle seiner Frau einen Kuss, woraufhin Julie lächelte und sagte: „Ich würde ihm jetzt bloß gerne noch beweisen, dass ich auch wirklich das kann, was er mir zutraut.“

„Keine Angst, wir haben bestimmt bald wieder einen großen Fall“, sagte Libby. „Wenn ich mal überlege, dass ich erst seit anderthalb Jahren im Team bin und in dieser Zeit mehr spektakuläre Fälle bearbeitet habe als so manch anderer Ermittler in seiner ganzen Laufbahn …“

„Jetzt hör dir unsere Frauen an – die Welt ist nicht genug“, spottete Kyle.

„Das stimmt aber. Libbys Sensationsquote im Job ist deutlich höher als meine“, sagte Owen.

„Mir schwant Böses“, feixte Kyle.

„Mit Recht“, sagte Julie. „Trotzdem bin ich froh, jetzt endlich in der BAU zu sein. Es ist einfach toll.“

„Dann hat es sich ja gelohnt.“ Als Kyle sie liebevoll umarmte, stahl sich ein Lächeln auf Libbys Gesicht. Die beiden wirkten immer noch verliebt wie am ersten Tag.

„Wir können übrigens nächste Woche gern mal zusammen Mittagessen gehen“, richtete Kyle sich an Owen. „Ich habe mich am Anfang nicht so recht getraut, ich wollte erst mal die Kollegen besser kennenlernen – aber vielleicht könntest du auch mal dazustoßen und wir vertiefen die behördenübergreifende Zusammenarbeit.“

„Klingt großartig“, fand Owen.

Während sie die Pizza belegten, berichteten Julie und Kyle davon, wie es ihnen in den ersten beiden Wochen in ihren neuen Jobs ergangen war. Für Libby war zumindest Julies Schilderung nichts Neues, aber sie hörte trotzdem gern zu.

„Kommst du denn jetzt überhaupt mit deiner Doktorarbeit voran?“, richtete Owen sich schließlich an Julie, woraufhin sie genervt die Augen verdrehte.

„Hör bloß auf. Ich habe seit vier Wochen nicht eine Zeile geschrieben. Wenn das so weitergeht, habe ich bald alles vergessen!“ Sie lachte belustigt, doch Libby schüttelte den Kopf.

„Du vergisst gar nichts. Das kann ich mir nicht vorstellen.“

„Nein, schon klar, aber ich würde wirklich gern mal daran weiterarbeiten“, sagte Julie, während Kyle die Pizzableche in den Ofen schob. Mit Getränken gingen sie ins Wohnzimmer und setzten sich aufs Sofa.

„Dann habe ich eine superschlaue Frau. Das ist schon sehr sexy – Dr. Julie Thornton“, verkündete Kyle stolz.

„Ich bin Special Agent Julie Thornton“, erwiderte sie kopfschüttelnd.

„Bald bist du beides.“

„Das FBI ist doch sicher an der Arbeit interessiert, oder?“, fragte Owen.

Julie nickte. „Sie sind vor allem an den Transkripten meiner Täterinterviews interessiert – und an meiner Analyse. Ich habe den Fokus ja zwischenzeitlich etwas verschoben, denn meine Ausgangsthese war ja, dass es möglich sein müsste, Sadisten vom Morden abzuhalten. Davon bin ich ja ziemlich bald abgekommen, ich setze jetzt früher an – ich arbeite nun in meiner Thesis an der Frage, wie man bei Vergewaltigern sexualsadistische Vorlieben erkennen und verhindern kann, dass sie eskalieren und zum Mörder werden.“

Libby war überrascht, wie interessiert Owen mit einem Mal wirkte. „Aber Vergewaltiger werden doch jetzt schon im Gefängnis mit Aversionstherapie behandelt.“

„Sicher, aber die bisherigen Angebote konzentrieren sich nicht auf Täter mit sadistischen Vorlieben. Aversionstherapie und kognitive Umstrukturierung haben es bei Sadisten ja verdammt schwer.“

„Und wie willst du bei solchen Typen etwas erreichen?“, fragte Owen.

„Ich will mich einfach nicht damit abfinden, dass man manche Täter nicht erreichen kann. Ich weiß ja schon, dass Sadisten keine Gefühle zulassen. Ich hoffe immer darauf, dass ich bei ihnen den wunden Punkt finden kann, der es mir möglich macht, sie anzusprechen und empfänglich zu machen für das Leid ihrer Opfer. Dabei wäre es natürlich hilfreich, wenn ich die Opfer auch in diese Arbeit einbeziehen könnte. Das wird ja in manchen Programmen schon gemacht, da sollen die Täter sich hinterher in einem Brief oder einem persönlichen Gespräch bei ihren Opfern entschuldigen.“

Libby zog die Schultern hoch und wollte schon etwas sagen, aber dann entschied sie sich doch dagegen und tat so, als sei nichts gewesen.

„Was ist los?“, fragte Julie, die diese Reaktion bemerkt hatte.

„Ich glaube, dass es Täter gibt, die man nicht erreichen kann. Die hören nicht auf.“

„Das kann ich einfach nicht akzeptieren!“, regte Julie sich auf.

„Bei Brian Leigh hättest du Glück gehabt, als er damals gerade erst festgenommen war und ins Gefängnis kam. Er war noch jung, er stand ganz am Anfang. Ich erinnere mich an den Unterschied zwischen meinen beiden Konfrontationen mit ihm. Anfangs war er unsicher und hat gezögert – aber die Zeit im Gefängnis und die Konfrontation mit Gleichgesinnten hat ihn versaut. Das war im Übrigen auch bei Vincent Bailey der Fall. Der hätte einfach nicht nach seiner ersten Vergewaltigung ungeschoren davonkommen dürfen. Die Zusammenarbeit mit seinem Cousin Randall hat dann aber alle Dämme brechen lassen.“

Libby war irritiert, als die Blicke der anderen auf ihr ruhten und für einen Moment keiner etwas sagte. Ausgerechnet Owen fand als Erster seine Sprache wieder.

„Glaubst du wirklich, man hätte ihn stoppen können?“

Libby nickte. „Ich habe ihn kennengelernt, als schon alles zu spät war – aber gelernt hat er von Randall. Dass er auch anders konnte, weiß ich von Mary Jane. Er hatte ja auch Zeit, vorher ganz allein mit vier Entführungsopfern zu üben und seine sadistischen Vorlieben voll auszukosten. Dabei hat er, wie die meisten Sadisten, fremde Opfer genommen, so dass es ihm leichter fiel, sie zu foltern. Als er dann bei uns in Arlington aufgetaucht ist …“ Sie holte tief Luft und zog die Schultern hoch. „Da war es ihm dann egal, dass er längst eine persönliche Beziehung zu mir aufgebaut hatte. Ich hatte einen Namen und ein Gesicht für ihn, aber ich hatte immer den Eindruck, das hat ihm noch zusätzlich Spaß bereitet. Dass er verdammt genau wusste, was er tut, hat er mich spüren lassen. Und da war er auch nicht mehr zu bremsen.“

Erneut schwiegen die anderen kurz, bis Julie sagte: „Dass du da tatsächlich differenzieren kannst.“

„Ja, ich weiß genug über ihn, um sagen zu können, dass er vermutlich nicht immer so war. Aber irgendwann war einfach alles zu spät. Zu dem Zeitpunkt, als er mich in seiner Gewalt hatte, war er nicht mehr therapierbar.“

Für einen kurzen Moment sah Julie Libby einfach nur an, bevor sie aufstand und Libby impulsiv umarmte.

„Ich möchte es mir nicht vorstellen … kann ich gar nicht. Aber noch viel verrückter ist, dass du das so sagen kannst. Jetzt schon.“

„Der Therapie mit Michael sei Dank. Auf die Art bespreche ich das mit ihm auch. Ich überlege schon, dir davon zu erzählen, weil ich weiß, dass dich das voranbringen würde. Ich überlege ja sogar, selbst über ihn zu schreiben.“

Während Julie sich setzte, bedachte Kyle sie mit einem ungläubigen Blick. „Du willst was?“

„Noch nicht sofort, so weit bin ich noch nicht. Aber ich glaube, niemand kennt diesen Fall so gut und so genau wie ich. Nicht in seiner Gesamtheit. Ich war fünf Tage lang bei ihm und wir haben uns ja unterhalten – teilweise auf Augenhöhe. Er wollte von mir wissen, wo der Unterschied zwischen einem Psychopathen und einem Sadisten liegt, das weiß ich noch. Es wäre Verrat an meinem Berufsstand, für mich zu behalten, was ich da erlebt habe.“

„Schaffst du das denn? Ich meine …“ Kyle wusste gar nicht, was er sagen sollte.

„Das frage ich mich auch die ganze Zeit“, gab Owen zu. „Sie hat mir vor ein paar Tagen gesagt, dass sie darüber nachdenkt und im Arbeitszimmer stapelt sich schon neue Fachliteratur zum Thema.“

„Ich überlege aber, das Paper mit dir zusammen zu erarbeiten“, sagte Libby in Julies Richtung. „Wenn du Zeit hast, natürlich. Wenn deine Thesis fertig ist oder so. Ich weiß ja nicht, wie lang du noch brauchst.“

„Ja, das weiß der Himmel. Aber … ernsthaft, du hast ja gar nichts gesagt! Warum nicht?“, fragte Julie irritiert.

„Ich wusste noch nicht, wie. Ich hatte Angst vor meiner eigenen Courage. Vorhin im Bad habe ich mich noch im Spiegel angesehen und hätte heulen mögen – aber ich kann es nicht ändern und das, was ich weiß, ist für unsere Disziplin ein Geschenk. Das spielt in einer Liga mit dem, was meine Mum über ihren Vater zu sagen hatte. Ich bin zwar keine Wissenschaftlerin, deshalb könnte ich deine Hilfe gut brauchen, aber ich glaube, ich will das machen“, sagte Libby.

„Wow. Du bist unglaublich, weißt du das? Wenn ich denke, dass meine Frau unfassbar ist, muss ich ja bloß kurz an deine denken, Owen.“ Kyle stand auf und ging zur Küchentür, um in den Backofen zu spähen.

„Ich wundere mich hier nicht mehr“, erwiderte Owen gleichmütig und legte mit einem Lächeln einen Arm um seine Frau.

„Sollte ich vielleicht auch nicht. Und ab sofort arbeiten die beiden auch noch zusammen. Jetzt liegen doch alle Serienmörder Amerikas weinend in ihren Betten!“

Julie lachte laut, als Kyle das sagte und auch Libby grinste verstohlen.

„Die Pizza ist gleich fertig“, warf Kyle ein, so dass sie aufstanden und den Tisch deckten. Beim Essen wechselten sie zu Libbys Erleichterung das Thema und Owen erkundigte sich bei Julie danach, ob sie eigentlich kein Heimweh nach England hatte.

„Manchmal schon“, gab Julie zu. „Es ist durch die Zeitverschiebung so lästig, zu Hause anzurufen. Wir sind aber über Weihnachten dort, darauf freue ich mich schon.“

„Ich mich auch“, sagte Kyle. „Das ist ja erst mein zweiter Besuch drüben.“

„Wir sind an Thanksgiving wieder in Kalifornien. Das hat sich jetzt so eingebürgert“, erzählte Owen.

„Und dein Bruder? Wie geht es Byron?“, fragte Julie.

„Er war letztes Wochenende bei uns und hat uns ein bisschen beim Aufbauen der Möbel geholfen. Ihm geht es so weit gut. Allmählich entwickeln wir ein normales Verhältnis, das ist eine ganz interessante Erfahrung. Übrigens ist das etwas, was ich dir zu verdanken habe“, sagte Owen zu Libby.

„Mir? Wieso?“

„Weil du zwischen uns vermitteln kannst. Du bremst uns, wenn wir wieder aufeinander losgehen wollen. Das ist ziemlich angenehm. Ich glaube, Byron hat großen Respekt vor dir.“

„Das sollte er auch, ich habe ihn schließlich schon in Handschellen durch Baltimore geschleift“, erwiderte Libby unbeeindruckt und lachte.

„Das hatte er auch mal nötig.“

Julie grinste. „Byron ist schon speziell. Ich kann da nicht mitreden, ich habe keine Geschwister – aber mein Dad und sein Bruder sind sich auch nicht sehr ähnlich. Da hat es zwischendurch auch schon ganz ordentlich gekracht.“

Inzwischen bewegten sich die Themen wieder in normalem Fahrwasser, wie Libby erleichtert feststellte. Nach dem Essen ging Kyle in den Umzugskartons auf die Suche nach Gesellschaftsspielen und so vertrieben sie sich mühelos die Zeit. Libby spürte, wie gut es auch Owen tat, nun endlich Freunde in der Nähe zu haben, mit denen man sich in der Freizeit treffen konnte.

Als sie schließlich wieder nach Hause aufbrachen, verabredete er sich schon mit Kyle zum Mittagessen, was Libby zufrieden beobachtete. Sie war wirklich froh, dass auch Owen und Kyle sich gut verstanden, aber sie hatten auch einen ähnlichen Hintergrund.

Auf den Straßen war es sehr ruhig, als Libby und Owen nach Hause fuhren. Eine Zeitlang sagte keiner von beiden etwas, doch schließlich brach Owen das Schweigen.

„Ich finde es immer wieder beeindruckend, wie du schon über Bailey sprichst“, sagte er, als sie an einer Ampel standen.

„Das ist doch das Ziel meiner Therapie bei Michael. Also, ein Ziel.“

„Ja, sicher … Aber ich hoffe wirklich, du nimmst dir nicht zu viel vor, wenn du über Bailey schreiben willst.“

„Das muss ich ausprobieren. Ich versuche jetzt auch, die Flucht nach vorn anzutreten. Es ist das, was ich vorhin sagte – nach dem Duschen stand ich vor dem Spiegel und habe meine Narben gesehen. Ich werde nie vergessen, was er mir angetan hat, deshalb werde ich lernen müssen, damit zu leben. Ich weiß von euch, dass mein Foto im Fernsehen war, als er mich in seiner Gewalt hatte. Ich bin jetzt die FBI-Agentin, die von Vincent Bailey entführt wurde. Ich kann mich nur von diesem Opferstatus befreien, indem ich dazu stehe und die Flucht nach vorn antrete. Das habe ich übrigens gemeinsam mit meiner Mum.“

„Ich weiß … ich mache mir doch nur Sorgen, verstehst du?“, fragte Owen mit einem sanften Unterton.

„Ja, natürlich. Das ist lieb von dir. Aber ich glaube, du musst dir keine Sorgen um mich machen. So leicht gebe ich nicht auf.“

 

 

Sonntag, 13. November

 

Während die Waschmaschine lief, räumte Libby noch einige Bücher ins Regal und summte die Musik mit, die aus dem Wohnzimmer zu ihr schallte. Owen war in der Garage damit beschäftigt, ein Regal aufzubauen, in dem er sein Werkzeug und die Gartengeräte unterbringen konnte.

Sie wusste wirklich nicht, ob sie schon so weit war, über Vincent zu schreiben, doch bei Michael in den Therapiesitzungen schaffte sie es immer besser, auch über das zu sprechen, was Vincent ihr angetan hatte. In einer wissenschaftlichen Arbeit wollte sie dennoch nicht ihre persönlichen Erfahrungen ausbreiten, sondern den Menschen Vincent Howard Bailey analysieren. Michael war noch zwiegespalten, was dieses Vorhaben betraf, und so ähnlich ging es auch Libby. Aber am Vorabend war ihr erst so richtig klar geworden, was das vielleicht auch für Julies Doktorarbeit bedeutete und das war eine Chance, die sie sich eigentlich nicht entgehen lassen durften.

Als sie gerade ihr Psychologielexikon ins Regal schob, klingelte ihr Handy auf dem Schreibtisch. Neugierig stand Libby auf und warf einen Blick aufs Display, doch Nicks Namen zu lesen, ließ sie Übles ahnen.

„Hey, Nick“, begrüßte sie ihn freundlich.

„Entschuldige die Störung am Sonntag, ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.“

„Ich räume bloß Kartons aus.“

„Okay, hör zu – Alex hat vorhin eine Mail von den FBI-Kollegen aus Seattle bekommen. Das Seattle PD hat sie am Donnerstag um Unterstützung in einem äußerst blutigen Mordfall gebeten, aber sie sind da ziemlich schnell an ihre Grenzen gestoßen und haben uns nun kontaktiert. Angesichts der Fotos, die ich mir vorhin angesehen habe, kann ich das verstehen.“

„Was ist denn los? Ist das bloß ein einzelner Mordfall?“

„Bis jetzt ja. Allerdings schätzen die Kollegen in Seattle, dass es dabei nicht bleiben wird, und dieser Einschätzung schließe ich mich an.“

„Was ist denn passiert?“

Nick zögerte kurz mit seiner Antwort. „In den Wäldern außerhalb Seattles wurde eine weibliche Leiche gefunden, die auf eine Art und Weise ermordet wurde, die ich noch nie gesehen habe. Laut Aussage des zuständigen Gerichtsmediziners wurde ihr bei lebendigem Leib der Rücken geöffnet und die Rippen mit einer Axt von der Wirbelsäule getrennt.“

Libby schluckte hart. „Was zum …“

„Ich weiß es nicht. Keine Ahnung. Alex hat mir vorhin die Fotos weitergeleitet und wir waren uns einig, dass wir morgen fliegen. Pack ein paar Sachen ein, es geht nach Seattle.“

„Okay … ich hätte besser nicht gefragt.“

Nick lachte. „Ja, vielleicht. Ich wollte nur, dass du Bescheid weißt. Wir treffen uns um acht am Hangar.“

„In Ordnung. Bis morgen, Nick.“

„Grüß Owen von mir.“

Libby versprach es und legte kopfschüttelnd auf. Das hatte sie tatsächlich auch noch nie gehört. Gerade wusste sie nicht, wie sie sich das vorstellen sollte, aber sie beschloss, nicht zu genau darüber nachzudenken. Der bloße Gedanke verursachte ihr Übelkeit.

Sie steckte ihr Handy weg und überlegte. Ausgerechnet Seattle. Sie musste sofort an Kieran denken, ob sie wollte oder nicht. Es war fast zwei Jahre her, dass sie ihn zuletzt gesehen hatte. Sollte sie es ihm sagen? Sie hätte sich gern mit ihm getroffen, um zu sehen, wie es ihm ging. Allerdings glaubte sie auch, zu wissen, wie Owen das fand und war außerdem nicht sicher, wie Kieran eigentlich dazu stand.

Unsicher stemmte sie die Hände in die Hüften und überlegte. Auf diese Fragen hatte sie noch keine Antwort, deshalb ging sie erst einmal in die Garage, wo Owen dabei war, Nägel ins Holz zu hämmern. Er blickte auf, als er ihre Schritte hörte.

„Hey, was ist los?“, fragte er.

„Viele Grüße von Nick, er hat gerade angerufen. Ich fliege morgen mit meinem Team nach Seattle.“

„Nach Seattle? Was ist los?“

„Ein sehr blutiger Mordfall, an dem sich das Seattle PD und die Kollegen vom FBI die Zähne ausbeißen. Die Details erspare ich dir. Morgen früh um acht fliege ich mit meinem Team.“

Seufzend legte Owen den Hammer weg und stand auf, doch dann sagte er schlicht: „Okay.“

Fragend zog Libby eine Augenbraue hoch. „Dein Unterton verrät, dass es das nicht ist.“

„Du machst deinen Job.“

„Klar mache ich meinen Job. Was sonst?“

„Ich wusste ja, dass dieser Moment irgendwann kommt, aber der Gedanke behagt mir nicht, dass du knapp dreitausend Meilen weit weg sein wirst. Wenn da etwas passiert …“

„Ich bitte dich, mein ganzes Team wird bei mir sein“, sagte sie stirnrunzelnd.

„Ich weiß. Das ist jetzt mein persönliches Problem, das ist mir klar. Es gefällt mir nur einfach nicht.“

„Das wird noch öfter passieren.“

„Ja, und auch das gefällt mir nicht.“

„Owen …“ Libby seufzte tief und ging zu ihm, um ihn zu umarmen. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass er stocksteif dastand und die Umarmung nur zögerlich erwiderte.

„Komm schon, du kannst ehrlich zu mir sein“, versuchte sie, ihn zu ermutigen.

„Ich weiß, aber … ich werde das mit mir selbst ausmachen müssen. Ich ahne nur jetzt schon, dass ich keine Nacht ruhig schlafen werde.“

„Das ist völlig irrational.“

„Ich kann diese Gedanken aber nicht abstellen. Ich weiß nicht, wie.“

Libby seufzte mitfühlend. Es tat ihr leid, dass er so empfand.

„Was soll ich jetzt tun? Nicht fliegen? Kündigen?“, fragte sie.

Owen schüttelte den Kopf. „Nein, bitte nicht. Das muss ich selbst in den Griff kriegen.“

„Oder mit Michaels Hilfe?“

„Vielleicht auch das. Keine Ahnung. Bis jetzt hatten wir das Problem ja noch nicht.“

„Es tut mir leid. Ich möchte nicht, dass es dir meinetwegen schlecht geht.“

„Du bist nicht der Grund. Aber …“ Owen schüttelte den Kopf und senkte den Blick. „Das waren fünf Tage Hölle, Libby. Fünf Tage, in denen ich nicht wusste, ob du das überhaupt überlebst und wenn, ob du je wieder die Alte wirst.“

„Ich versuche es“, sagte sie.

„Ich weiß. Trotzdem bist du es nicht und du wirst es nie sein. Ich habe das kommen sehen. Ich habe befürchtet, dass das etwas zerstört. Keine Ahnung, ob ich das nochmal packen würde …“

Diese Aussage traf Libby mitten ins Herz. Sie atmete tief durch und überlegte, was sie antworten sollte.

„Du tust ja gerade so, als hätte man es pausenlos auf mich abgesehen“, sagte sie vorsichtig.

„Wie lang bist du jetzt beim FBI? Du warst schon öfter in Gefahr.“

„Du in deinem Job auch – und wir beide gemeinsam in San José bei der Polizei. Ich hatte, nebenbei bemerkt, auch schon mal Angst, dass du stirbst.“

„Ich weiß. Hör nicht auf mich. Flieg nach Seattle, ich muss das selbst in den Griff kriegen. Vielleicht rufe ich Michael wirklich mal an.“

„Ja, mach das“, bestärkte Libby ihn. „Solange du jetzt kein Problem damit hast, dass es Seattle ist …“

„Wegen Kieran, meinst du?“, fragte Owen treffsicher. Libby nickte und sah ihn gespannt an, aber er wusste nicht, was er erwidern sollte.

„Ich habe auch schon an ihn gedacht, das gebe ich ehrlich zu. Aber du glaubst doch nicht im Ernst, dass …“ Libby setzte noch einmal neu an. „Du bist mein Mann. Daran wird sich niemals etwas ändern.“

„Also willst du ihn sehen.“

„Ich weiß es nicht … Ich habe ihn seit zwei Jahren nicht gesehen. Ich weiß nicht mal, ob er das überhaupt möchte. Noch hat er ja gar keine Ahnung, dass ich da sein werde.“

Owen sah sie immer noch nicht an, als er tief Luft holte und fragte: „Legst du Wert darauf, ihn zu sehen?“

„Keine Ahnung, darüber habe ich noch nicht nachgedacht – aber ich sehe, du hast ein Problem damit.“

„Irgendwie habe ich gerade mit allem Probleme … tut mir leid.“

„Ich muss es ihm nicht sagen. Nicht, wenn dich das verletzen würde.“

„Ach, das alles erwischt mich bloß auf dem falschen Fuß. Du musst dreitausend Meilen weit weg und dann auch noch von allen Städten, die die Westküste zu bieten hat, ausgerechnet nach Seattle.“

Liebevoll legte Libby eine Hand auf seine Schulter. „Ich will dich nicht verletzen, Owen. Dafür bist du mir viel zu wichtig. Ich sage ihm einfach nicht, dass ich komme.“

Nun hob Owen unsicher den Blick. „Das würdest du tun?“

Libby nickte. „Auch wenn ich überrascht bin, wie eifersüchtig du sein kannst.“

„Ich kenne ihn überhaupt nicht. Wahrscheinlich reagiere ich total über, aber …“

„Ich weiß. Schon gut. Mir musst du nicht sagen, was vor drei Monaten passiert ist.“

„Wir sind doch gerade erst dabei, irgendwie damit zurechtzukommen. Aber wenn ich jetzt wüsste, du siehst Kieran in Seattle wieder …“

„Dann würde ich ihn eben wiedersehen. Nichts weiter, ehrlich. Aber ich lasse es einfach, okay?“

Owen nickte langsam. „Okay. Danke.“ Nun umarmte er sie sogar und atmete tief durch. „Tut mir leid. Ich reagiere vielleicht über, aber ich kann nicht anders.“

„Nein, schon gut. Ich weiß, dass du auch durch die Hölle gegangen bist. Belassen wir es dabei, dass ich in Seattle ermitteln werde.“

„Wahrscheinlich wäre es mir egal, wenn ich ihn kennen würde. Wenn ich das einschätzen könnte.“

„Ja, aber du kannst es nicht und auch, wenn ich mich freuen würde, ihn wiederzusehen, komme ich ohne zurecht.“

„Danke.“ Owen küsste sie und hob den Hammer wieder auf. „Ich bin bald fertig.“

„Das ist schön. Sieht gut aus. Ich werde mal nach der Wäsche sehen.“

„Okay. Wie wäre es heute mit einem gemütlichen Sofaabend?“

„Gern“, sagte Libby und lächelte. „Wobei ich mich freuen würde, wenn wir bei Gelegenheit auch mal wieder über den Urlaub nachdenken könnten.“

„Klar. Ich würde mich auch freuen, wenn wir ihn nachholen könnten. Das war ja nun nichts diesen Herbst …“

Die beiden warfen sich einen vielsagenden Blick zu, bevor Libby wieder ins Haus ging und die Wäsche von der Waschmaschine in den Trockner umfüllte. Anschließend holte sie ihre Notfall-Reisetasche aus dem Auto und überprüfte, ob alles drin war, was sie brauchen würde. Sie beschloss, T-Shirts gegen Pullover zu tauschen, denn in Washington State nahe der kanadischen Grenze war es zu dieser Jahreszeit garantiert nicht mehr warm.

Während sie die Tasche neu packte, überlegte sie, ob sie richtig reagiert hatte. Owens Äußerungen hatten sie überrascht. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er ein Problem damit hatte, wenn sie irgendwo in den Staaten ermittelte. Daran würde er sich tatsächlich gewöhnen müssen, denn das war Teil ihres Jobs. Natürlich konnte sie verstehen, woher das kam, aber da musste unbedingt eine Lösung her.

Und was Kieran betraf, wusste sie selbst nicht, was sie darüber denken sollte. Zwar hätte sie ihn gern wiedergesehen, aber sie hatte auch Respekt davor. Er hatte sich sicher verändert – so wie sie sich auch verändert hatte. Allerdings fand sie es schwierig, Kieran zu kontaktieren, obwohl sie wusste, dass es Owen Bauchschmerzen bereitete.

Seit wann war er denn so eifersüchtig? Aber diese Frage konnte sie sich gleich selbst beantworten, denn als Vincent sie entführt hatte, hatte er sich zwischen sie und Owen gedrängt. Er hatte Owen einiges genommen, was eigentlich nur ihm zustand und sie wusste, dass ihr Anblick ihn jedes Mal schmerzhaft daran erinnerte.

Sie war ihm dankbar, dass er das mit ihr aushielt und sie sich seit Wochen einander annäherten wie zwei Teenager, die noch keine Ahnung vom anderen Geschlecht hatten. Das war Liebe, so viel stand fest, und Libby fand es unnötig, ihm noch mehr zuzumuten.

Trotzdem fragte sie sich, wann Vincent Bailey endlich aufhören würde, einen Schatten über ihr Leben zu werfen. Sie bekam das einfach nicht aus ihrem Kopf. Vor kurzem hatte sie Sadie danach gefragt, die zwar versucht hatte, sich ermutigend zu äußern, doch letztlich hatte sie zugeben müssen, dass es auch bei ihr damals eine ganze Weile gedauert hatte.

Libby seufzte frustriert. Nein, sie würde Kieran nicht kontaktieren. Das war es nicht wert. Was hätte sie ihm auch sagen sollen? Wenn er sie so sah, würde er sich nur in all seinen Befürchtungen von früher bestätigt sehen.

Aber hatte er Recht? Hatte es so kommen müssen? Libby hatte keine Antwort auf diese Frage. Auch wenn sie durch die Hölle gegangen war und das niemals vergessen würde, war ihr Job beim FBI trotzdem immer noch genau das, was sie mehr wollte als alles andere.

Sie hatte die Tasche gerade geschlossen, als Owen im Schlafzimmer erschien. „Hier bist du.“

„Ja, ich habe meine Tasche für die Reise noch mal durchgesehen.“

Owen nickte bloß und ging zu ihr, um sie zu küssen. „Du wirst mir verdammt fehlen, weißt du das?“

Lächelnd legte sie ihre Arme um ihn. „Du mir auch. Sehr sogar.“

 

 

Montag, 14. November

 

„Ich bin ja mal gespannt, was da auf uns zukommt“, sagte Julie, während sie in Triangle die Interstate verließ. Am Vortag hatte sie Libby vorgeschlagen, zusammen zu fahren, was sich vielleicht auch für die Zukunft anbot.

„Wenn Nick nach einem einzigen Mord das ganze Team mit dem Jet nach Seattle schickt, nimmt er es auf jeden Fall ernst“, sagte Libby.

„Das ist ungewöhnlich, oder?“

Libby nickte. „Sehr. Aber der Mord scheint ja auch besonders grausam gewesen zu sein.“

„Ausgehend von dem, was Nick gestern sagte …“ Julie schüttelte sich und nickte dem Soldaten am Checkpoint freundlich zu. Ungehindert fuhren sie weiter zum Flugfeld der Marines. Einige der anderen Kollegen waren schon dort und das Flugzeug stand auch schon draußen.

„Guten Morgen“, begrüßte Nick sie. „Bereit für die Westküste? In Seattle regnet es mal wieder, habe ich gehört.“

Ian grinste. „Das tut es doch eigentlich immer, oder?“

„Im Sommer überhaupt nicht“, sagte Libby. „Ich kenne dort jemanden.“

„Dummerweise ist jetzt nicht Sommer“, spottete Ian.

Als das Team so weit vollständig war, stiegen sie ins Flugzeug. Belinda würde als Einzige nicht mitfliegen, das ließ ihr aktueller Gesundheitszustand nicht zu. Kurz darauf erhielt der Pilot die Starterlaubnis und sie hoben ab. Libby beobachtete, wie Julie staunend aus dem Fenster blickte und sie dann plötzlich mit einem breiten Grinsen bedachte.

„Jetzt ist es endlich so weit!“

„Was, dass du in einem Flugzeug sitzt?“, fragte Nick.

„Nein – mein erster großer Fall. Wir fliegen sogar. Das ist so toll!“

„Freu dich nicht zu früh, dieser Fall wird nicht ganz ohne sein, glaube ich. Seid ihr bereit fürs Briefing?“

Die anderen nickten und so legte Nick los. „Das Opfer wurde inzwischen als die 28jährige Deborah Hutchinson identifiziert, sie hat als Sekretärin in einer Anwaltskanzlei gearbeitet und leider wissen die Ermittler bis jetzt nicht, wann und wie sie verschwunden ist. Mit Sicherheit sagen können sie nur, dass sie am 27. Oktober zuletzt gesehen wurde. Am 28. ist sie morgens nicht zur Arbeit erschienen und wurde von den Kollegen als vermisst gemeldet. Deborah lebte seit einem halben Jahr allein, deshalb gibt es da niemanden, der sie vorher als vermisst hätte melden können. Gefunden wurde ihre Leiche am 1. November von einem Ranger auf Bainbridge Island im Wald. Das Bainbridge PD hat gleich beim Seattle PD um Hilfe gebeten und letzte Woche hat die Polizei dann eine Anfrage ans FBI gerichtet – jetzt liegt der Fall bei uns.“

„Was hast du da gestern gesagt – ihr wurden die Rippen vom Rückgrat getrennt?“, fragte Dennis.

Dormer nickte und griff nach seinem Tablet. „Ich habe Fotos für euch und hoffe, ihr habt einen starken Magen.“

Libby fragte sich, was jetzt kommen würde, doch dann sah sie es. In einem verregneten Waldgebiet lag eine nackte weibliche Leiche mit dem Gesicht nach unten im Gestrüpp. Ihr Rücken war nicht mehr als solcher zu erkennen, denn der Täter hatte sie von hinten regelrecht aufgerissen.

Für einen Moment sagte niemand etwas, während Nick langsam nacheinander weitere Fotos zeigte. Libby beugte sich vor und versuchte, etwas zu erkennen.

„Der Gerichtsmediziner hat rekonstruiert, dass der Täter ihr erst mit einem Messer die Wirbelsäule entlang geschnitten hat, um die Rippen freizulegen. Die hat er dann vermutlich mit einer Axt von der Wirbelsäule getrennt und sie schließlich zur Seite weggeklappt. Ähnlich ist er mit den Schulterblättern verfahren.“

Jesse blickte starr auf die Fotos. „Wow, ist das krank.“

Libby bemerkte, wie Julie neben ihr sich auf einmal aufrichtete und so aussah, als würde sie etwas sagen wollen, entschied sich dann aber dagegen.

„Außerdem fehlten ihr an den Seiten noch größere Hautstücke, die wohl herausgeschnitten wurden. Darauf konnte sich bislang noch niemand einen Reim machen“, sagte Nick und präsentierte auch davon Fotos. Die nächsten Aufnahmen stammten aus der Gerichtsmedizin und zeigten die fehlenden Hautstücke deutlich.

„Bitte sag mir jetzt, dass die Frau schon tot war, als das passiert ist“, murmelte Dennis.

Nick seufzte tief. „Nein, war sie nicht. Zumindest sagt der Gerichtsmediziner, dass sie wohl starb, als durch die Prozedur ihre Lungen kollabiert sind – so wie wohl ihr ganzer Kreislauf. Hier an ihren Handgelenken sind Fesselmale sichtbar.“

Libby spürte, wie Übelkeit in ihr aufstieg. „Ist das grauenhaft.“

„Haben die Kollegen vor Ort schon irgendeine Vermutung, was das soll?“, fragte Julie.

„Nicht so richtig, warum fragst du?“

„Weil mich das an etwas erinnert.“

„Woran?“

Julie zögerte kurz mit ihrer Antwort. „An eine Hinrichtungsmethode der Wikinger. Das wird Blutadler genannt – dem Opfer wird der Rücken aufgeschnitten, die Rippen von der Wirbelsäule getrennt und wie Adlerschwingen zur Seite geklappt.“

„Wieso weißt du so etwas?“, fragte Jesse.

Julie grinste verlegen. „Hat denn von euch nie jemand die Serie Vikings gesehen?“

„Doch, aber daran erinnere ich mich gar nicht“, sagte Dennis.

„In einer Episode wird das gezeigt, das werde ich nie vergessen. Das hier ist viel zu ähnlich. In der Serie wurde es so erklärt, dass dem Opfer noch die Lungenflügel herausgezogen und auf die Schultern gelegt wurden, aber ich habe das später mal nachgelesen – die Lunge würde allein beim Öffnen des Rückens kollabieren, deshalb glauben Historiker, dass eher die Schulterblätter weggeklappt wurden. Wenn das Opfer es geschafft hat, während der ganzen Prozedur keinen Laut von sich zu geben, standen ihm die Tore Walhallas offen.“

Libby warf ihr einen schiefen Blick zu. „Langsam wird mir unheimlich, was du alles weißt.“

„Fernsehen ist nicht das Schlechteste“, sagte Julie. „Jedenfalls hat man die Menschen so sterben lassen. Das muss unendlich grausam sein.“

„Offensichtlich“, brummte Ian.

„Die Theorie finde ich auf jeden Fall interessant, denn zu dem vorliegenden Verletzungsmuster würde es passen“, sagte Nick. „Die Kollegen hatten noch keine Vermutung in diese Richtung geäußert, aber ich werde es ihnen später vorstellen. Meine – und ihre – Befürchtung war, dass dieser Täter hier nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal getötet hat.“

„Nein, bestimmt nicht. Das Maß an Gewaltbereitschaft spricht für sich“, sagte Libby.

„Die Frage ist jetzt, ob der Täter psychisch gestört ist“, sagte Alexandra.

„Das haben die Kollegen in Seattle sich auch gefragt und es ist nun unsere Aufgabe, das herauszufinden und ihnen ein Profil zu liefern. Julies Hinweis könnte da durchaus hilfreich sein.“ Wohlwollend schenkte Nick ihr ein Lächeln, das Julie erwiderte.

„Wo wurde die Frau denn getötet? Auch im Wald?“, fragte Libby.

„Nein, dort wurde sie nur abgelegt“, antwortete Nick.

„Dann erklärt der Transport vielleicht auch, warum die Wunde am Rücken nicht so offen ist, wie sie es sein könnte“, sagte Julie. „Wäre wirklich der Blutadler gemeint, hätte ich eigentlich erwartet, dass der ganze Rücken freiliegt, aber das scheint ja nicht der Fall zu sein.“

„Klingt plausibel“, fand Nick. „Wenn wir in Seattle sind, beginnen wir wie üblich mit der Viktimologie. Wir müssen wissen, in welcher Beziehung Täter und Opfer zueinander standen und warum es ausgerechnet Deborah getroffen hat. Dadurch, dass wir nichts über ihr Verschwinden wissen, könnte das schwierig werden.“

„Seit wann schreckt es uns denn, dass etwas schwierig ist?“, fragte Ian.

„Ich hoffe nur, wir kommen so rechtzeitig, dass wir den Täter finden, bevor das noch einmal passiert“, sagte Libby halblaut.

„Das hoffe ich auch“, stimmte Alexandra ihr zu.

Allmählich verteilten sie sich auf die anderen Sitze im Flugzeug. Jesse hörte Musik über seine Kopfhörer, Alexandra las etwas und die anderen unterhielten sich leise. Julie und Libby hatten sich zusammen auf die letzten beiden Plätze ans Fenster gesetzt.

„Wikinger“, murmelte Libby. „Das hätte ich nicht gewusst.“

„Das muss ja auch überhaupt nicht richtig sein, aber die Ähnlichkeit ist erschreckend.“

„Warum würde jemand das tun?“

„Vielleicht als eine Art Menschenopfer?“

„Du siehst wirklich zu viele Filme“, sagte Libby und lachte.

„Ich weiß, dass es Menschenopfer so gut wie überhaupt nicht gibt – aber vielleicht hat unser Täter hier ja damit angefangen. Dass der nicht ganz sauber tickt, liegt doch auf der Hand, oder?“

„Ja, da hast du wohl Recht.“ Seufzend blickte Libby aus dem Fenster und sagte nichts mehr. Für einen Augenblick schwieg auch Julie, doch dann nahm sie das Gespräch wieder auf.

„Wirst du Kieran wiedersehen?“

Libby zog die Schultern hoch und atmete tief durch. „Vermutlich nicht.“

„Nicht? Warum das?“

„Owen zuliebe.“

„Ach was. Ist er etwa eifersüchtig?“

„Er kennt Kieran nicht und kann die Situation nicht einschätzen. Ich weiß, dass ich garantiert nicht von vergessen geglaubten Gefühlen übermannt werde, aber Owen weiß das nicht. Ich meine …“ Libby machte eine Pause und suchte nach den richtigen Worten. „Da hat sich letztens schon ein Mann in unsere Beziehung gedrängt. Wir arbeiten ja noch daran, das wieder zu vergessen.“

„Komm schon, das kann man doch nicht vergleichen.“

„Nein, aber für Owen fühlt es sich vermutlich so an.“

Julie war nicht überzeugt. „Du hast Kieran seit zwei Jahren nicht gesehen und bist inzwischen verheiratet. Da wird es doch wohl erlaubt sein, mal Hallo zu sagen.“

„Ich habe entschieden, Kieran nicht zu sagen, dass ich komme. Das ist ja nicht nötig.“

„Ja, da hast du wohl Recht – aber was, wenn er rausfindet, dass du da bist? So unwahrscheinlich ist das nicht.“

„Das überlege ich mir, wenn es so weit ist.“

„Owen hat so seine Momente, oder?“

Libby wusste, was Julie damit sagen wollte, aber sie fühlte sich sofort in der Pflicht, ihren Mann in Schutz zu nehmen. „Er ist manchmal sehr eigen. Das habe ich schon im Zusammenhang mit Byron erlebt und jetzt eben hier. Eigentlich wäre es ihm lieber gewesen, ich würde gar nicht fliegen, aber da gab es keine Diskussion für mich.“

Überrascht zog Julie die Brauen hoch. „Das klingt aber gar nicht gut. Hat er Verlustängste?“

Stirnrunzelnd erwiderte Libby ihren Blick. „Wundert dich das? Nach allem, was passiert ist?“

„Nein, aber deshalb muss ich das doch nicht gut finden.“

„Er will mit Michael sprechen.“

„Ja, das ist vielleicht keine schlechte Idee. Sonst wird er mit mir sprechen müssen und ich weiß nicht, ob ihm das lieber ist!“ Julie grinste breit und lachte, doch Libby ließ sich davon nicht anstecken.

„Jules … ich weiß, du bist auf meiner Seite und du meinst es gut, aber du kannst da zum Glück nicht mitreden. Du hast nicht das erlebt, was mir zugestoßen ist. Das hätte problemlos das Potenzial, unsere Ehe zu zerstören. Owen gibt sich wahnsinnig viel Mühe und er hat eine unendliche Geduld. Das rechne ich ihm hoch an.“

„Ich auch, aber … ach, vergiss es.“

Libby sagte nichts mehr. Julies Frage danach, was Libby tun würde, wenn Kieran sie kontaktierte, war nicht unberechtigt. Es war durchaus denkbar, dass er von ihrer Anwesenheit erfuhr, und sie wusste nicht, wie sie reagieren würde, wenn er sie sehen wollte.

Jetzt war sie vollkommen hin- und hergerissen. Sie verstand Owen gut, aber tatsächlich fühlte sie sich durch seine Sorge auch eingeengt.

Konnte es da keinen Kompromiss geben?

 

 

Libby flog nicht besonders gern. Der Flug nach Seattle dauerte fünf Stunden, denn Seattle war noch weiter von der Ostküste entfernt als San Francisco. Sie war schon gespannt, wie lange sie in Seattle bleiben würde, denn in der Folgewoche ging es schon in die Heimat nach Kalifornien. Mit Pech würde sie dauernd hin und her fliegen.

Als der Pilot endlich in den Sinkflug ging, streckte Libby sich und war froh, nach der Landung endlich aussteigen zu können. Sie hatten den kleineren King County International Airport angesteuert, der näher am Stadtzentrum lag.

Die Maschine war zu einem abgelegenen Hangar gerollt, wo bereits zwei Dienstfahrzeuge des FBI geparkt waren. Daneben warteten zwei Männer und eine Frau auf sie, die gleich auf sie zugingen.

„SSA Dormer?“, fragte einer von ihnen.

„Das bin ich“, sagte Nick.

„SSA Robert Morton, das sind meine Kollegen, Special Agent Audrey Dunham und Special Agent Adam Colbert. Ich danke Ihnen vielmals dafür, dass Sie hergekommen sind, um uns bei den Ermittlungen zu unterstützen.“

„Selbstverständlich, das ist unser Job. Als meine Kollegin gestern Ihre Mail bekommen hat, wussten wir gleich, dass wir hier gefragt sind“, erwiderte Nick und fuhr damit fort, das ganze Team vorzustellen.

„Sehr angenehm“, sagte Morton und bat sie, ihm zu den Autos zu folgen. Sie verstauten ihr Gepäck im Kofferraum und teilten sich auf die beiden Dienstwagen auf, mit denen sie sich am Hangar vorbei auf den Weg zu einer Ausfahrt machten. Noch wirkte es nicht so, als befänden sie sich mitten in einer Metropolregion, aber Libby zuckte kurz zusammen, als Morton auf die Interstate 5 nach Norden auffuhr. Diese Straße würde sie für immer mit Brian Leigh in Verbindung bringen, der damals ein heilloses Chaos angerichtet hatte, indem er mit ihr stundenlang ziellos auf dem Freeway herumgefahren war.

Während sie in Richtung Stadtzentrum fuhren, begegneten ihnen auch immer wieder Hinweisschilder auf den Boeing-Konzern. Kieran arbeitete hier irgendwo ganz in der Nähe, das wusste sie. Für ihn war Seattle das, was für sie Quantico war. Ganz unvoreingenommen freute sie sich für ihn.

Sie fuhren an einem ausgedehnten Industriegebiet vorbei in Richtung Downtown Seattle.

---ENDE DER LESEPROBE---