Wer keine Grenzen kennt - Dania Dicken - E-Book

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Dania Dicken

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Beschreibung

Ein Amtshilfegesuch aus London erreicht die Behavioral Analysis Unit in Quantico: In einem Müllcontainer wurde die Leiche eines amerikanischen Staatsbürgers gefunden. Folterspuren am Körper weisen darauf hin, dass der Tote ein Geheimnis hatte, das sein Mörder ihm entlocken wollte. FBI-Profilerin Libby Whitman begleitet ihre Kollegin Julie Thornton in ihre englische Heimat, um dort gemeinsam mit Julies Mutter Andrea und der Londoner Metropolitan Police im Fall des toten Amerikaners zu ermitteln. Schnell finden sie heraus, dass es sich bei dem Toten um einen CIA-Agenten handelte. Doch je näher sie seinem Mörder kommen, umso größer wird die Gefahr ...

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Prolog
Samstag, 25. Mai
Dienstag, 28. Mai
Mittwoch, 29. Mai
Donnerstag, 30. Mai
Freitag, 31. Mai
Samstag, 1. Juni
Sonntag, 2. Juni
Montag, 3. Juni
Dienstag, 4. Juni
Mittwoch, 5. Juni
Epilog
Nachbemerkung

 

 

 

 

 

 

 

 

Dania Dicken

 

Wer keine Grenzen kennt

 

Libby Whitman 18

 

 

Thriller

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Marcel

 

Du fehlst uns

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gute Grundsätze, zum Extrem geführt, verderben alles.

 

Jacques Bénigne Bossuet

Prolog

 

„Du hast es selbst in der Hand. Ich kann sofort aufhören. Du musst mir nur sagen, wo sie ist.“

Hasserfüllt blickte Jason zu Mike auf, der mit seinem Gesicht genau vor ihm war und ihn geradezu herausfordernd ansah. Sein Blick ging durch einen rötlichen Schleier, der von dem Blut herrührte, das ihm ins Auge getropft war. Mit jedem Herzschlag pulsierte auch der Schmerz in seinem Körper. Im Mund hatte er den metallischen Geschmack von Blut, seine Zunge tastete ganz automatisch nach den Zähnen, die Mike ihm vor weniger als zehn Minuten ausgeschlagen hatte.

„Vergiss es“, erwiderte Jason und spuckte Mike vor die Füße – einerseits, um seine Verachtung zum Ausdruck zu bringen, andererseits, um den Blutgeschmack im Mund loszuwerden. Er gab vor, nicht darauf zu achten, was Mike tat, aber er sah es im Augenwinkel. Mike bog erneut einen seiner Finger nach oben und Jason hielt die Luft an, um sich auf den Schmerz vorzubereiten. Er explodierte förmlich, als er das Brechen seiner Fingergelenke spürte, und es gelang ihm nicht ganz, einen Schmerzensschrei zu unterdrücken. Keuchend biss er die Zähne zusammen und schloss kurz die Augen.

„Warum ist die kleine Schlampe dir so wichtig? Es geht hier um die Leben unschuldiger Amerikaner! Das kann dir unmöglich wichtiger sein. Wann hast du angefangen, deine Mission zu verraten?“, redete Mike auf ihn ein.

Jason öffnete die Augen wieder und rang nach Luft. „Wann hast du damit angefangen?“

Nun schnaubte Mike verächtlich. „Stehst du auf sie?“

„Nein. Ich habe nur einfach moralische Grundsätze. Im Gegensatz zu dir.“

„Jetzt blas dich nicht so auf.“ Mike wandte sich ab und ging zu dem Tisch schräg hinter Jason. Um sich unerschütterlich zu geben, drehte Jason sich nicht um. Insgeheim betete er, dass Mike ihn nicht wieder mit Elektroschocks malträtierte. Seine Muskeln brannten jetzt noch. Sein gesamter Brustkorb schmerzte bei jedem Atemzug, aber das konnte auch von seinen Rippen herrühren. Die waren mindestens geprellt, wenn nicht sogar gebrochen. Dafür hatte Mike gesorgt, als Jason nackt und gefesselt auf dem Boden gelegen hatte. Mike hatte ihn getreten, als Jason noch die Kapuze über dem Kopf gehabt hatte, die Mike ihm fürs Waterboarding übergezogen hatte. Auch mit eiskaltem Wasser aus einem dicken Feuerwehrschlauch hatte er ihn abgeduscht. Er fror immer noch, ließ es sich aber nicht anmerken.

Er würde nicht reden. Aus Prinzip nicht. Er konnte nicht fassen, dass Mike so korrupt und skrupellos war und keinerlei moralische Grundsätze mehr kannte. Das hatte er schon nicht begriffen, als Mike ihn hatte zwingen wollen, alles zu verraten, woran er glaubte. Aber dass er jetzt sogar noch einen Schritt weiterging ...

„An deiner Stelle würde ich reden“, sagte Mike drohend von hinten. „Sie ist es nicht wert.“

„Und das bestimmst du?“, schnaubte Jason. Es machte ihn nervös, Mike nicht sehen zu können, aber er konnte es nicht ändern. Seine Hände waren an das harte Metallgestell gefesselt, das die Bezeichnung Stuhl nicht verdiente, und auch seine Füße waren festgebunden. Er konnte sich überhaupt nicht wehren.

Und das hätte er ihr antun sollen?

„Wo hast du sie versteckt?“, bohrte Mike weiter nach. Jason hörte, dass er mit irgendwas hinter seinem Rücken hantierte.

„Finde es doch selbst heraus“, schnaubte Jason und spuckte erneut Blut auf den Boden.

„Du wirst es mir nicht sagen, oder?“

„Nein, werde ich nicht. Warum sollte ich? Sie weiß nichts.“

„Wie kannst du sicher sein?“

„Sie hat es mir gesagt.“

Mike schnaubte verächtlich. „Natürlich ... und weil sie so schöne blaue Augen hat, hast du ihr geglaubt.“

„Du kannst mich mal, Mike.“

„Ich weiß.“

Plötzlich sah Jason, wie eine schnelle Bewegung vor seinen Augen verwischte. Dass es eine Schlinge war, verstand er erst, als sie sich um seinen Hals zuzog. Er hatte gar nicht gehört, wie Mike sich ihm von hinten genähert hatte.

Panisch schnappte er nach Luft, aber er konnte nicht atmen. Mike schnürte ihm buchstäblich die Luft ab. Jason wand sich in seinen Fesseln, konnte aber nichts tun.

„Letzte Chance“, sagte Mike drohend. „Du willst doch nicht für die kleine Schlampe sterben?“

Doch es dauerte noch einige qualvolle Sekunden, bis er wieder locker ließ und Jason erlöst nach Luft schnappen konnte. Er hustete, sein Atem ging rasselnd und pfeifend.

„Komm schon, erspar mir das. Ich will dich nicht töten müssen“, sagte Mike.

Jason hätte am liebsten laut gelacht. Er wusste jetzt, dass er das nicht überleben würde. Das konnte Mike gar nicht mehr riskieren.

„Wo hast du sie versteckt?“, fragte Mike erneut und zog die Schlinge währenddessen leicht zu.

Angestrengt schnappte Jason nach Luft. „Du tötest mich sowieso.“

„Muss ich ja jetzt“, erwiderte Mike und schloss die Schlinge um Jasons Hals.

Samstag, 25. Mai

 

„Da seid ihr ja! Kommt rein, meine Familie ist auch schon da“, verkündete Julie aufgeregt, gleich nachdem sie die Haustür geöffnet hatte.

„Moment“, sagte Libby und machte Anstalten, Julie umarmen zu wollen. „Happy Birthday, Jules.“

Julie grinste bis über beide Ohren und ließ sich nacheinander von Libby und Owen umarmen und beglückwünschen. „Danke, ihr beiden. Es ist schön, dass ihr da seid.“

Gemeinsam folgten sie Julie durchs Haus und in den Garten. Libby trug das Geschenk für Julie, Owen schleppte die Babyschale mit Gracie hinterher. Im Vorbeigehen streifte Libbys Blick Salatschalen und Teller in der Küche, auf der Terrasse hießen sie Luftballons und Girlanden willkommen. Aus einer Ecke drang Kyles Fluchen an ihre Ohren, der gestresst am Grill herumhantierte. Vor ihm standen überall auf der Terrasse verteilt die ersten von Julies Geburtstagsgästen.

Ihre ganze Verwandtschaft aus England war gekommen, denn Julie wurde an diesem Tag dreißig Jahre alt. Außerdem hatten sie ein langes Wochenende, denn am Montag war Memorial Day. Die perfekte Gelegenheit für eine ausgelassene Geburtstagsfeier, auf die Julie sich schon seit Wochen gefreut hatte.

„Wie schön, euch zu sehen!“, wurden Libby und Owen gleich von Julies Mutter Andrea begrüßt. „Und diesmal ist der Anlass ja auch ein freudiger.“

Libby grinste. Sie hatte Andrea zuletzt gesehen, als Julie nach der Attacke von Nazario Morales Otero halbtot im Krankenhaus gelegen hatte – etwas, woran sie nicht sonderlich gern zurückdachte.

„Und da ist ja die neue Erdenbürgerin ... so ein hübsches Kind! Sieh mal, Greg.“ Andrea blickte zu ihrem Mann auf, der Gracie ebenfalls wohlwollend musterte und lächelte.

„Herzlichen Glückwunsch, ihr beiden. Eure Tochter ist euch aber ausnehmend gut gelungen!“

„Danke“, erwiderte Owen grinsend.

„Ich bin mal gespannt, wann wir in den Genuss der Großelternschaft kommen ...“ murmelte er mit einem kritischen Seitenblick zu seiner Tochter, die gerade bei Kyle war.

„Jetzt lass sie schon in Ruhe, das geht uns überhaupt nichts an“, erinnerte Andrea ihn mit gespielter Strenge. Zum Glück hatte Julie nichts gehört.

„Hey!“, begrüßte Emma Libby und Owen fröhlich und umarmte die beiden.

„Du tust ja gerade so, als hättest du uns ewig nicht gesehen“, erwiderte Libby grinsend.

„Komm, das Frühstück ist schon eine ganze Weile her“, sagte Emma belustigt. Sie stand bei ihren Eltern und ihrem Bruder Rob, die diesmal auch die Reise in die Staaten angetreten hatten. Libby hatte die Familie bei Julies Hochzeit kennengelernt und schüttelte Emmas Vater Jack, ihrer Mutter Rachel und Rob nacheinander die Hände.

„Schön, dass wir uns wiedersehen“, sagte Jack. „Emma schwärmt in den höchsten Tönen von euch.“

„Und das, wo sie doch nicht bloß unser Kind an der Backe hat, sondern auch noch mich“, sagte Owen und seufzte.

„Das war ja nun überhaupt nicht eingeplant. Aber wir alle waren sehr froh, zu hören, dass nichts Ernsteres passiert ist“, sagte Rachel.

„Wie geht es dir denn?“, erkundigte Greg sich, der dazugestoßen war.

„Ach, es geht täglich bergauf. Anfang des Monats habe ich auch die Ausbildung an der FBI Academy wieder aufgenommen – mit dem Sportprogramm muss ich sehen, wie ich das hinbekomme. Zum Glück ist man dort sehr verständnisvoll“, berichtete Owen.

„Waren sie bei mir ja auch“, warf Libby ein.

„Du bist damals aber auch angeschossen worden, weil sie dich nach Utah geschickt haben. Bei mir lagen die Dinge ja etwas anders.“

„Trotzdem haben wir einen echten Schrecken bekommen, als Emma anrief und uns erzählte, was passiert ist. Das sind ja Dinge, mit denen wir uns in England nicht so sehr konfrontiert sehen wie die Menschen hier“, sagte Rachel.

„Was, Waffengewalt?“, fragte Libby. „Kein Wunder. Es gibt Statistiken, die schätzen, dass die Hälfte der Amerikaner mindestens einmal in ihrem Leben in eine Situation geraten, in der sie mit Waffengewalt konfrontiert werden. Das bleibt auch nicht aus, wenn Waffen so leicht erhältlich sind wie hier in den USA.“

„Also siehst du das eher kritisch?“, fragte Greg.

„Schon, ja. Ich gebe zu, ich trage meine ja aus Gewohnheit so ziemlich überall – verdeckt, versteht sich, aber ich bin in meinem Leben schon in genug Situationen geraten, in denen es sich bezahlt gemacht hätte, bewaffnet zu sein. In diesem Moment war das auch so. Ich weiß nicht, ob ich Owen hätte retten können, wenn ich nicht bewaffnet gewesen wäre.“

„In solchen Momenten frage ich mich ja schon, ob es richtig war, dass du hergekommen bist“, sagte Jack mit Blick auf Emma.

„Dad, ich bin erwachsen. Ich komme schon klar. Libby und Owen sind super und ich fühle mich total sicher bei ihnen.“

„Wenn nicht bei den beiden, wo sonst?“, sagte Rachel und lächelte. Entzückt nahm sie Gracie in Augenschein und beglückwünschte die Owen und Libby ebenfalls.

„Wir werden ja noch ein bisschen warten müssen“, sagte sie und seufzte.

„Mum“, sagte Emma streng und verdrehte die Augen. „Darf ich bitte erst mal ein bisschen Berufserfahrung sammeln?“

„Darfst und sollst du“, sagte Jack. „Und Rob hat sowieso noch Zeit.“

„Ich studiere ja auch noch“, gab Emmas jüngerer Bruder zu bedenken.

„Eben. Alles zu seiner Zeit.“

Owen hob Gracie aus der Babyschale und setzte sie auf seinen Arm. Das kleine Mädchen schaute sich neugierig um und war besonders fasziniert von den vielen Luftballons.

„Na endlich“, sagte Kyle, der sich inzwischen vom Grill gelöst hatte und zu ihnen gekommen war. „Das war ein harter Kampf, aber gleich kann ich Fleisch auf den Grill legen.“

Als Julie in die Küche huschen wollte, folgte Libby ihr ins Haus und stellte das Geschenk auf den Esstisch, wo schon weitere hübsch verpackte Präsente standen.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“, erkundigte sie sich.

„Nimm irgendwas mit raus, was hier rumsteht“, sagte Julie. „Kyle ist entnervt, weil die Kohle nichts taugt. Vorhin haben Onkel Jack und Rob an der Tankstelle noch neue geholt, die ist besser. Ich bin total gestresst!“

„Dabei ist doch heute dein Ehrentag“, sagte Libby.

„Du kennst mich. Ich bin eine Perfektionistin. Meine ganze Familie ist hier, ich will, dass sie es schön haben. Und da kann ich schlechte Kohle echt nicht brauchen!“

Libby lachte. „Kann ich dir sonst irgendwie helfen?“

Julie schüttelte den Kopf. „Nein, es ist völlig ausreichend, dass ihr da seid. Das ...“

Sie wurde von der Haustürklingel unterbrochen und verdrehte die Augen.

„Ich gehe schon“, bot Libby an und Julie lächelte.

„Danke. Du bist die Beste.“

Libby erwiderte das Lächeln und ging zur Tür, um Nick und Sheila hereinzulassen. Nick lächelte, als er Libby sah.

„Hätte ich mir ja denken können, dass du schon hier bist“, sagte er.

„Dabei sagt man doch, dass Eltern mit kleinen Kindern chronisch unpünktlich sind“, erwiderte Libby und ließ Nick herein. Sie begleitete ihn hindurch in die Küche zu Julie, die seine Glückwünsche freudig entgegennahm, und nacheinander trafen nun auch die übrigen Kollegen aus der BAU ein. Der Grill verrichtete seinen Dienst, wenig später waren die ersten Steaks und Würstchen fertig. Der Gabentisch für Julie hatte sich gut gefüllt, aber sie war noch gar nicht dazu gekommen, sich mit ihren Geschenken zu befassen. Sie war völlig davon vereinnahmt, sich um ihre Gäste zu kümmern, und Libby konnte sich vorstellen, dass es etwas ganz Besonderes für Julie war, jetzt sogar ihre Verwandtschaft aus England um sich zu haben. Es waren alle Menschen gekommen, die ihr wichtig waren.

Owen und Libby hatten Emma an diesem Wochenende frei gegeben, damit sie die Zeit mit ihrer Familie verbringen konnte. Im Augenblick war sie fast nur zum Schlafen zu Hause, aber für Libby war das selbstverständlich. Am Vorabend waren sie schon gemeinsam mit Emma und ihrer Familie essen gegangen, was Libby sehr gefallen hatte. Gracie hatte einfach im Restaurant auf ihrem Arm geschlafen.

Schließlich waren alle versorgt und so hatten auch Julie und Kyle es endlich an ihre Plätze geschafft. Libby entging nicht, wie die beiden verstohlene Blicke tauschten, woraufhin Kyle aufstand und sich räusperte. Alle Blicke ruhten gespannt auf ihm.

„Es ist toll, dass ihr alle gekommen seid! Wir freuen uns sehr darüber, dass wir Julies Ehrentag heute mit euch zusammen feiern können. Einige von euch haben ja auch eine sehr lange Anreise dafür auf sich genommen, wofür wir euch von Herzen danken möchten. Ganz besonders ich, denn ich bin der Grund dafür.“ Er grinste breit und alle lachten.

„Es ist jetzt vier Jahre her, dass ich Jules kennengelernt habe, und wir sind seit drei Jahren verheiratet. Eigentlich ist das noch gar nicht so lang, aber es liegt bereits eine turbulente und nicht immer einfache Zeit hinter uns. Ich werde meiner Frau nie vergessen, was sie alles aufgegeben hat, um bei mir sein zu können, und ich weiß, dass ich dieses Geschenk auch nicht immer ausreichend gewürdigt habe. Das tut mir noch immer leid, aber letztlich war unsere Liebe stärker und ich bin froh und dankbar, jede Nacht neben Julie einzuschlafen und jeden Morgen neben ihr aufzuwachen.“

Kyle bedachte seine Frau mit einem liebevollen Blick, wie Libby ihn nie zuvor bei ihm bemerkt hatte. Jack setzte schon zu einem Applaus an, bis er merkte, dass Kyle noch nicht fertig war.

„Ich bin wahnsinnig stolz auf meine kluge und immer witzige Frau, die genau weiß, was sie will. Das ist etwas Gutes. Mit Jules wird es niemals langweilig, obwohl ich auch einen entspannten Sonntagabend auf dem Sofa sehr zu schätzen weiß. Unsere Jobs beim FBI sind fordernd genug – und trotzdem waren wir beide der Meinung, dass es jetzt an der Zeit für etwas Neues ist.“

Als die beiden erneut verschwörerische Blicke tauschten, beschlich Libby ein Verdacht, den sie gleich wieder verwarf. Das konnte nicht sein. Davon hätte sie gewusst.

„Wir hätten selbst nicht damit gerechnet, dass wir euch heute davon erzählen können, und wir waren auch erst nicht sicher, ob wir es tun sollen, aber dann haben wir uns doch dafür entschieden. Vielleicht ahnt der eine oder andere es längst“, sagte Kyle, während Julie mit einem verlegenen Grinsen aufstand. Auf Andreas Gesicht zeichnete sich freudige Erkenntnis ab.

„Wir werden Eltern“, ließ Kyle endlich die Bombe platzen und küsste Julie unter dem lauten Applaus der Gäste.

Libby war mehr als überrascht. Sie hatte keine Ahnung gehabt. Überhaupt keine. Zwar war ihr der verzückte Blick aufgefallen, mit dem Julie Gracie anfangs gemustert hatte, aber gleichzeitig hatte sie sich dagegen verwahrt, jetzt selbst ein Kind zu wollen.

Greg und Andrea standen auf und umarmten ihre Tochter nacheinander. Julie war vor Aufregung ganz rot im Gesicht und hatte Freudentränen in den Augen.

„Glückwunsch“, rief Owen ihnen zu.

„Von mir auch“, sagte Nick. „Und wann ist es so weit?“

„Ende Januar“, erwiderte Julie. „Es ist also noch viel Zeit.“

„Dann wisst ihr es ja wirklich gerade erst“, stellte Rachel fest.

„Ja, seit fünf Tagen“, sagte Kyle und lachte. „Wir waren wirklich nicht sicher, ob wir es schon verkünden sollen, aber wie sagt man so schön: Wir sind guter Hoffnung.“

„So soll das auch sein“, sagte Andrea. „Ist das aufregend! Ich freue mich so für euch.“

„Wohl eher für uns“, sagte Greg und provozierte damit einige Lacher. Nun standen Familie und Kollegen doch nacheinander auf und beglückwünschten Julie und Kyle mit einer Umarmung.

„Ich freue mich für dich“, raunte Libby Julie zu, die erfreut lächelte. Als die allgemeine Aufregung sich wieder gelegt hatte, setzten sie sich und fuhren mit dem Essen fort.

„Wusstest du davon?“, fragte Owen seine Frau leise und sie schüttelte den Kopf.

„Ich hatte keine Ahnung.“

„Das kommt jetzt wirklich überraschend.“

Das fand Libby auch. Nach dem Essen half sie Julie und Emma dabei, das Geschirr in die Küche zu bringen und räumte mit Julie die Spülmaschine ein.

„Toll, dass ihr jetzt auch Eltern werdet“, sagte Libby, als die beiden allein waren.

Julie stellte einen Teller ab und richtete sich auf. „Das kam schneller, als ich es selbst für möglich gehalten habe.“

Libby lächelte. „Ist doch schön.“

„Bist du sauer, weil ich nichts gesagt habe?“

„Nein, warum? Ich bin nur überrascht, weil ich noch nicht damit gerechnet hätte. Eigentlich wolltet ihr doch noch warten ... oder nicht?“

„Dachte ich, ja. Aber ich muss ehrlich zugeben, dass es mich beschäftigt hat, dich schwanger zu sehen. Du bist meine beste Freundin, ich habe das hautnah miterlebt. Und auch, wenn ich nicht deine Vorgeschichte habe, so fand ich den Gedanken an eine Geburt immer beängstigend – bis ich gesehen habe, wie gut du das gemeistert hast. Und bis ich deine wunderschöne Tochter gesehen habe ...“ Julie seufzte verträumt und lachte.

„Ja, das ist mir durchaus aufgefallen“, erwiderte Libby mit einem Augenzwinkern.

„Da sind echt die Hormone mit mir durchgegangen. Ich habe dann sehr mit mir gerungen, zumal ich gesehen habe, wie schwer du dich anfangs getan hast. Ich hatte Angst, dass es mir auch so gehen könnte. Aber jetzt, wo Emma bei euch ist, läuft es doch toll. Das wäre auch eine Möglichkeit für Kyle und mich.“

„Das kann ich mir für euch auch gut vorstellen.“

„Na ja ... ich habe das dann mit Kyle besprochen, der dem Ganzen gegenüber aufgeschlossener war, als ich vermutet hätte. Er fand die Idee gut. Und dann ... ich weiß nicht, du hattest kürzlich so viel zu tun, weil Owen doch angeschossen wurde und überhaupt so viel Ärger hatte und alles ... und ich dachte, dass es dich vermutlich ziemlich wenig interessiert, ob Kyle und ich jetzt versuchen, ein Baby zu bekommen.“

„Ach was, Jules ... du bist meine beste Freundin! Du kannst mir doch alles sagen.“

„Wollte ich auch. Ich hab ja nicht damit gerechnet, dass ... Ich traue mich ja kaum, es zu sagen, aber es hat sofort geklappt. Auf Anhieb. Ich habe die Pille im April abgesetzt und bin sofort schwanger geworden. Das weiß ich zwar erst seit ein paar Tagen, aber ... da hatte ich irgendwie ein schlechtes Gewissen dir gegenüber.“

Fragend zog Libby eine Augenbraue hoch. „Im Ernst? Ich bitte dich! Ich habe jetzt mein Baby. Dass das etwas schwieriger war, ist mir inzwischen egal. Daran verschwende ich überhaupt keinen Gedanken mehr. Und nur, weil ich mir da offensichtlich selbst im Weg stand und mich blockiert habe, musst du doch kein schlechtes Gewissen haben, weil du eben Glück hast und es sofort klappt.“

Julie seufzte erleichtert und umarmte Libby stürmisch. „Oh Mann, jetzt bin ich froh ... danke. Ich habe mich wirklich verrückt gemacht!“

„Ach was, musst du nicht. Wir sind doch Freunde. Egal, worum es geht.“

„Du bist die Beste, ehrlich! Dir ist schon klar, dass ich dich jetzt mit Fragen zu Tode löchern werde, ja?“

„Klar“, sagte Libby und lachte. „Was immer du wissen willst.“

„Ich wollte dich bitten, mir Joans Nummer zu geben“, sagte Julie. „Ich habe nie so darüber nachgedacht, bis das Thema bei dir aufkam, aber ich glaube, ich kann mir auch eine Hausgeburt vorstellen.“

„Ist doch toll! Ich würde es immer wieder so machen. Joan war wirklich großartig.“ Mit diesen Worten zückte Libby ihr Handy und schickte Julie die Kontaktdaten ihrer Hebamme in einer Nachricht.

„Ich freue mich so!“, platzte es plötzlich aus Julie heraus. „Am Montag habe ich gemerkt, dass ich überfällig bin, und ich habe mir gleich einen Test besorgt. Ich dachte sowieso, ich spinne bestimmt – aber er war positiv. Vorgestern war ich bei meiner Ärztin, die so nett war, schon mal einen Ultraschall zu machen und sie hat tatsächlich was gesehen.“

Libby lächelte. „Ich weiß, wie aufregend das ist. In zwei, drei Wochen siehst du sogar schon den Herzschlag.“

„Darauf freue ich mich so! Das ist wahnsinnig toll.“

„Kyle scheint sich ja auch sehr zu freuen.“

„Und wie! Das, was er vorhin gesagt hat, meint er auch so. Ich habe jetzt auch das Gefühl, dass unsere Beziehung stark genug ist, um diese Veränderungen auszuhalten. Irgendwie denke ich manchmal, dass unser Start nicht so gut war, aber jetzt kennt jeder von uns seinen Standpunkt und er hat seinen Fehltritt wirklich mehr als wiedergutgemacht. Ich glaube, es ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um einen Schritt weiter zu gehen.“

Libby nickte. „Das freut mich sehr. Und du weißt, du kannst mit allem zu mir kommen. Immer.“

„Klar doch.“ Julie umarmte Libby und strahlte. „Das ist so aufregend!“

„Ja, das ist es wirklich. Ich fand es ziemlich toll, schwanger zu sein.“

Julie lächelte und hakte sich bei Libby unter, als sie wieder nach draußen gehen wollten. Nach dieser Offenbarung stand Julie noch mehr im Mittelpunkt als sowieso schon. Es freute Libby, zu sehen, wie glücklich ihre Freundin wirkte. Julie schien nun auch angekommen zu sein.

 

Dienstag, 28. Mai

 

Das Erste, was Libby nach dem Weckerklingeln hörte, waren die fröhlichen Geräusche ihrer Tochter aus dem Wohnzimmer. Sie gähnte und streckte sich, nachdem sie sich aufgesetzt hatte, und stand schließlich auf. Noch im Nachthemd ging sie nach unten, wo sie Emma im Pyjama mit Gracie auf dem Teppich vorfand. Emma amüsierte das kleine Mädchen damit, dass sie sich immer wieder eine Hand vors Gesicht hielt und dann durch ihre Finger blinzelte. Gracie gluckste vergnügt.

„Guten Morgen“, sagte Libby und lächelte. „Wie lang seid ihr schon auf den Beinen?“

„Och, so etwa eine halbe Stunde. Sie hatte Hunger und eine frische Windel hat sie auch schon. Haben wir dich geweckt?“

„Nein, das war der Wecker. Alles gut. Ich wollte nur mal nach euch sehen.“

Emma erwiderte ihr Lächeln. „Hier ist alles bestens. Ich kümmere mich schon um Gracie. So wie immer.“

„Ich weiß.“ Für einen Moment sah Libby die beiden an, bevor sie schließlich wieder nach oben ging. Im Bad begegnete sie Owen, der gerade vor dem Waschbecken stand und sich die Zähne putzte. Libby stellte sich neben ihn und tat es ihm gleich. Gerade trug er nichts außer seinen Shorts, weshalb Libbys Blick seine Brust ungehindert streifen konnte.

Die OP-Narbe begann knapp unterhalb seines Halses und endete eine Handbreit über seinem Bauchnabel. Ähnlich wie bei ihr seinerzeit hatten die Ärzte nicht viel Zeit auf einen minimalinvasiveren Eingriff verwenden können, sondern hatten seinen Brustkorb geöffnet und das Projektil schnell wieder rausgeholt, das ihn beinahe getötet hätte. Und ähnlich wie ihr machte es ihm nicht viel aus. Er sah nicht die riesige Narbe oder dass er beinahe gestorben wäre – er sah, dass er noch am Leben war. Die Narbe erinnerte ihn daran, dass er noch eine Chance bekommen hatte, und dafür war Owen mehr als dankbar.

Mit der Aussicht darauf, bald FBI-Agent zu sein, hatte Owen die Erinnerung an die Ereignisse vor ein paar Monaten schon so gut wie hinter sich gelassen. Libby ging es ähnlich. Einzig die Aussage, die ihnen noch im Prozess gegen Brogan bevorstand, verhinderte, dass sie die Sache als erledigt betrachteten.

Sie gingen hinunter und so lange Owen Frühstück machte, kümmerte Libby sich um Gracie. Sie setzte sich mit ihrer Tochter auf dem Arm aufs Sofa und kuschelte mit ihr, während Gracie über ihre Schulter hinweg Owen in der Küche beobachtete.

Libby genoss diesen Moment. Sie genoss jeden Moment mit ihrer Tochter aus vollen Zügen. Jetzt konnte sie das. Emma hatte sich inzwischen bestens bei ihnen eingelebt und sich schon oft als Engel erwiesen. Auch während Owens Krankenhausaufenthalt und seiner anschließenden Genesung zu Hause hatte Emma alles am Laufen gehalten, so dass Libby guten Gewissens zur Arbeit hatte gehen können. Das war wichtig, denn sonst hätten sie zu allen übrigen Sorgen auch noch finanzielle dazubekommen. Owen hatte sich um seine Reha und später um die FBI Academy gekümmert, während Emma ihnen tagsüber mit Gracie den Rücken freihielt. Und wenn Libby nach Hause kam, konnte sie sich auf Gracie konzentrieren, ohne sich um irgendwas im Haushalt kümmern zu müssen, weil Emma das auch noch übernahm. Dafür zahlten Owen und Libby ihr gern ein großzügiges Taschengeld und sie ermöglichten ihr Auszeiten, so oft es ging. Wäre Emma nicht gewesen – Libby hätte nicht gewusst, wie alles funktionieren sollte.

Durch seine Verletzung würde Owen die Academy später abschließen als ursprünglich geplant. Wenn alles so weiterlief wie jetzt, war er im September einsatzbereit fürs FBI. Demnächst würde er mit der Rekrutierungsabteilung über mögliche Einsatzgebiete sprechen, worauf Libby schon sehr gespannt war.

Sie frühstückten gemeinsam mit Emma, was sie jeden Morgen sehr genossen. Gracie saß in ihrem Hochstuhl und hämmerte mit einer Stoffrassel auf dem Tisch herum.

„Und was habt ihr heute so vor?“, fragte Libby.

„Oh, mal sehen. Gleich kommt ja erst mal noch Micah vorbei ... vermutlich werde ich mit den beiden einen Spaziergang machen. Vielleicht gehen wir auch einkaufen. Es wird sich etwas finden“, sagte Emma und lächelte.

„Klingt einladender als die Seminarräume, die mich heute erwarten“, sagte Owen.

„Das glaube ich dir. An die erinnere ich mich gut“, sagte Libby. Sie war Emma unendlich dankbar dafür, dass sie nicht bloß auf Gracie aufpasste, sondern auch auf Byrons Sohn Micah. Byron musste zwar nicht an jedem Tag zum College, aber an den Tagen, an denen er hinging, hatte er sich den Stundenplan so vollgepackt, dass er von früh bis spät auf den Beinen war.

Sie waren auch noch gar nicht mit dem Frühstück fertig, als es klingelte und Byron mit seinem Sohn vor der Tür stand. Er wirkte abgehetzt und gestresst.

„Hey, ich muss gleich weiter ... ich versuche, nachher pünktlich zu sein“, sagte er. „Danke, ja?“

„Kein Problem“, sagte Libby, die Micah entgegennahm und ins Wohnzimmer brachte. Dort angekommen, setzte sie ihn auf dem Fußboden ab, wo er gleich begann, auf allen vieren das Wohnzimmer unsicher zu machen.

Nur wenige Minuten später traf Julie ein und begrüßte alle bestens gelaunt. Während sie kurz mit Emma sprach, drückte Libby Gracie einen Kuss auf die Wange und reichte sie schließlich an Emma, bevor sie ihre Schuhe anzog. Auch Owen verabschiedete sich von seiner Tochter und Emma und gemeinsam mit Julie stiegen sie ins Auto.

„Ich könnte mich wirklich daran gewöhnen, dass du mitfährst“, sagte Julie an Owen gerichtet, der bloß grinste.

„Ein bisschen werde ich das auch noch machen. Demnächst wird ja vermutlich eher Kyle die Ehre mit mir haben.“

„Darauf freut er sich schon. Und du?“

„Du kannst ja Fragen stellen! Es ist ein wenig zwiespältig, denn einerseits ist das großartig mit dem FBI, aber andererseits ist ja alles etwas chaotisch verlaufen ... na ja. Ich versuche, nicht mehr dran zu denken und nach vorn zu blicken“, sagte Owen.

„Ist auch besser so. Eins steht fest: Es wird nie langweilig bei uns.“

„Das stimmt. Bei euch schon mal überhaupt nicht mehr“, sagte Libby augenzwinkernd, während sie auf den Freeway fuhr.

„Nein ... Irgendwie hat mich das alles wirklich überrumpelt. Nicht mehr lang und wir sind Eltern!“

„Ich habe mich inzwischen dran gewöhnt“, sagte Owen. „Und auch, wenn es alles komplizierter macht, ich möchte es nicht missen.“

Unterwegs unterhielten sie sich gut gelaunt, doch in Quantico angekommen trennten sich ihre Wege. Owen musste zum Ostflügel der Academy, während Libby und Julie zum Büro der Profiler gingen. Dort angekommen, wurden sie von den Kollegen begrüßt und holten sich Kaffee. In der Teeküche begegneten sie Nick, der sie freundlich begrüßte.

„Schön, euch zu sehen“, sagte er. „Und danke für die schöne Feier, Julie. Sogar mit Überraschung!“

Julie grinste. „Du kennst mich. Ich kann kein Geheimnis für mich behalten.“

„Ach, das musst du auch nicht. Wir freuen uns alle mit dir. Das waren wirklich tolle Nachrichten!“ Er wandte sich an Libby. „Du hast deinen Vortrag für morgen fertig, nehme ich an?“

Libby nickte. „Ich gehe ihn später noch mal durch, aber ja ... so weit sollte alles passen.“

„Darauf bin ich wirklich sehr gespannt!“ Nick zwinkerte ihr mit einem Lächeln zu, bevor er sich mit seiner Kaffeetasse auf den Weg in sein Büro machte. Libby goss heißes Wasser in ihre und Julies Teetasse und ging mit ihrer Freundin zu ihrem Schreibtisch.

„Irgendwie kommst du sehr auf Sadie“, sagte Julie.

Libby setzte sich an ihren Schreibtisch. „Weil ich auch unterrichte? Na ja, bei mir ist das doch bloß gelegentlich.“

„Ich finde es gut, dass du das machst. Du hast ja auch viel in deinem Leben erlebt, worüber du sprechen kannst.“

Das hatte Libby wirklich. Tatsächlich machte es ihr nichts aus, über solche Dinge offen zu reden. Inzwischen hatte sie an der Academy schon öfter vor den Rekruten über Vincent Bailey gesprochen, das war längst normal für sie. Neu hinzugekommen war nun, dass sie darüber sprach, wie es war, in einer Sekte aufgewachsen zu sein. Sie hatte Nick den Vorschlag selbst gemacht, weil sie es für eine gute Idee hielt, die Rekruten im Umgang mit Personen zu schulen, die eine völlig andere Sozialisation durchlaufen hatten. Sie wollte das am Beispiel der FLDS tun, aber das war auch hinsichtlich anderer religiöser oder ethnischer Gemeinschaften nicht ganz uninteressant – oder auch in Bezug auf langjährige Entführungsopfer, die nach ihrer Befreiung mitunter einen ähnlichen Realitätsschock erlebten wie jemand, der in einer weltfremden Sekte aufgewachsen war.

Nach der wöchentlichen Teambesprechung widmete Libby sich in Ruhe der Durchsicht ihrer Präsentation und war gerade damit fertig, als Julies Telefon klingelte. Weil ihre Freundin überrascht die Brauen hochzog, wurde Libby neugierig. Julie meldete sich und grinste. „Mum. Hängst du wirklich so sehr an mir?“

Libby lächelte amüsiert und wollte sich schon einer Mail zuwenden, horchte aber gleich auf, als Julie weitersprach.

„Ein Amerikaner?“, sagte sie und hörte weiter zu. Libby gab gar nicht erst vor, nicht zuzuhören.

„Ein verständlicher Wunsch. Und es stört die nicht, wenn ausgerechnet ich komme? Dann will ich das natürlich machen“, sagte Julie und machte Libby damit immer neugieriger. Allerdings ließ Julie sie nach dem Ende ihres Telefonates nicht länger zappeln als nötig, legte den Hörer beiseite und beugte sich auf ihrem Schreibtisch vor.

„Lust auf eine Reise nach London?“, fragte sie.

„Ich?“, erwiderte Libby verdutzt.

„Ja. Mit mir. Letzte Woche wurde in einem Londoner Vorort ein toter Amerikaner in einem Müllcontainer entdeckt. Das wäre vielleicht nicht so außergewöhnlich, wenn die Leiche keine Folterspuren aufweisen würde.“

„Oh“, machte Libby und zog überrascht die Augenbrauen hoch.

„Ja, das hat die ermittelnde Polizei sich auch gedacht. Pünktlich zu ihrer Rückkehr hatte meine Mum mit ihrem Team den Fall auf dem Tisch. Natürlich haben sie auch die amerikanische Botschaft in Kenntnis gesetzt – und die würde gern eigene Profiler draufschauen lassen. Also uns“, berichtete Julie.

„Uns persönlich?“

„Nein, das nicht. Das hat jetzt meine Mum initiiert. Sie hat mit offenen Karten gespielt, aber es hat niemand was dagegen, wenn ich komme. Und ich würde gern dich mitnehmen.“

Libbys Augen begannen zu leuchten. „Das wäre großartig! Sollen wir mit Nick sprechen?“

Julie war einverstanden und so gingen sie hinüber zum Einzelbüro ihres Vorgesetzten. Als er sie kommen sah, grinste er bereits.

„Ihr seht so aus, als hättet ihr irgendwas vor“, mutmaßte er.

„In der Tat“, sagte Julie und erklärte Nick kurz den Sachverhalt. Als sie geendet hatte, nickte er und sagte: „Wenn die dortigen Kollegen damit einverstanden sind, dass du deine Mum unterstützt, bin ich es auch. Es ist ja nicht unüblich, dass wir in solchen Fällen tätig werden. Das würden zwar eigentlich die Kollegen vor Ort übernehmen, aber wenn explizit Profiler angefordert sind, macht es natürlich Sinn, dass sie sich an uns wenden.“

„Soll das heißen, wir fliegen?“, fragte Julie aufgeregt.

„Wenn das für dich in Ordnung ist ...?“

„Warum sollte es das nicht?“

„Wegen deiner Schwangerschaft“, gab Nick zu bedenken, doch Julie machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Das geht schon. Ich meine, ich könnte nach England fliegen und mit meiner Mum ermitteln! Da gibt es doch kein Halten für mich ...“

„Das dachte ich mir“, erwiderte Nick belustigt. „Aber das ist ja auch sehr verständlich.“

„Ich bin so aufgeregt!“, rief Julie erfreut. „Dann buchen wir am besten gleich mal Flüge!“

Grinsend schüttelte Nick den Kopf und Libby und Julie verließen sein Büro.

„Das wird grandios! Wir beide in England ...“ schwärmte Julie, weshalb Libby lachte.

„Da haben wir uns damals kennengelernt.“

„Das werde ich auch nie vergessen. Was jetzt nicht unbedingt an den Russen liegt, die uns da gekidnappt haben.“

„Hör bloß auf.“ Libby machte eine wegwerfende Handbewegung und schüttelte den Kopf. Sie konnte sich immer noch gut daran erinnern, wie sie etwa ein Jahr nach ihrer Flucht aus der FLDS mit der ganzen Familie nach London geflogen waren – Sadie, Matt, Hayley und Libby. Die englischen Profiler hatten die BAU-Kollegen zu einer Fachtagung zum Thema Profiling geladen. Für Libby war es das erste Mal gewesen, dass sie in ein anderes Land gereist war, doch das hatte ihren Horizont sehr erweitert. Es hatte auch ihre innige Freundschaft zu Julie begründet, der sie sich gleich tief verbunden gefühlt hatte. Die Tatsache, dass russische Mädchenhändler sie am Covent Garden unbemerkt entführt und versucht hatten, sie außer Landes zu bringen, hatte das nur noch vertieft.

Gemeinsam hatten sie den Plan ausgeheckt, dass Julie die Männer ablenken würde, damit Libby fliehen und Hilfe holen konnte – was funktioniert hatte, aber es hatte Libby damals extrem belastet, zu wissen, dass sie Julie zurücklassen musste. Das hatte sie kaum ertragen. Letztlich war es Matt gewesen, der Julie in bester Geheimagentenmanier gefunden und befreit hatte.

Libby und Julie hatten schon viel zusammen erlebt. Nicht so viel, wie Libby es gern gehabt hätte, denn aufgrund der räumlichen Distanz hatten sie sich zwischendurch jahrelang nicht gesehen – aber sie hatten immer den Kontakt gehalten, weil sie sich einander so verbunden gefühlt hatten. Das war etwas ganz Besonderes. Genau wie die Tatsache, dass sie jetzt zusammen arbeiteten und immer noch befreundet waren. Julie war wirklich eine enge Vertraute für Libby.

„Schon verrückt, was wir alles zusammen erlebt haben“, sagte Julie, die offensichtlich ähnlichen Gedanken nachhing wie Libby.

„Da sagst du was. Und jetzt – wir fliegen in meine Heimat! Wir ermitteln mit meiner Mum ... das ist schon verdammt cool.“

Libby lächelte zustimmend. Sie erklärte sich bereit, Flüge herauszusuchen, bevor Julie ihre Mutter zurückrief. Zeitverschiebung und Flugdauer würden dafür sorgen, dass sie viel Zeit verloren, weshalb sie sich darauf einigten, erst am nächsten Abend zu fliegen und einen Nachtflug zu nehmen.

„Und trotzdem landen wir ja erst Donnerstag“, stellte Libby fest.

„Samstag hast du Geburtstag ... das ist ja eigentlich blöd, oder?“

Libby zuckte mit den Schultern. „Aus dem Alter, dass man Geburtstage aufregend findet, sind wir ja langsam raus.“

„Ach, das stimmt doch nicht.“

„Deiner war gerade aufregend, klar. Du bist dreißig geworden. Das werde ich erst nächstes Jahr. Ich buche jetzt.“

Julie nickte und rief Andrea an, um ihr die Flugdaten durchzugeben. Nachdem sie das Gespräch wieder beendet hatte, blickte sie zu Libby und sagte: „Sie will uns schon mal die Unterlagen zu dem Fall schicken.“

„Gute Idee ... wir haben ja noch genug Zeit, uns alles anzuschauen.“

Es dauerte auch nicht lang, bis Julie Post von ihrer Mutter hatte. Libby rollte mit ihrem Stuhl neben Julie und schaute ihr über die Schulter, während Julie die Mails mit allen bisherigen Ermittlungsergebnissen der Reihe nach öffnete.

Die Leiche eines Mannes war Freitagmorgen von einer Angestellten einer Bäckerei in einem Müllcontainer gefunden worden. Die Fotos offenbarten, dass der Mann stranguliert worden war – das verrieten ihnen die blutunterlaufenen Striemen an seinem Hals. Die hinzugerufene Polizei hatte schnell Spuren von Folter an dem Leichnam gefunden – Fesselmale, gebrochene Finger, ausgeschlagene Zähne, zahlreiche Blutergüsse und geprellte Rippen. Bei der späteren Obduktion waren auch kleinere Brandverletzungen aufgefallen, die von Elektroschocks herrührten.

„Der hatte wohl ein Geheimnis, das ihm jemand entlocken wollte“, murmelte Julie.

„Sieht ganz so aus“, stimmte Libby ihr zu.

Identifiziert worden war der Tote jedoch erst am Sonntag. Er hatte absolut nichts bei sich gehabt und seine Fingerabdrücke oder der Zahnstatus hatten auch nicht geholfen, weshalb die Polizei sich mit einem bearbeiteten Foto an die Medien gewandt und einen Hinweis von seinen Nachbarn bekommen hatte. Bei dem Toten handelte es sich um Martin Sharp – amerikanischer Staatsbürger, wohnhaft in Streatham, London. Seinen Lebensunterhalt hatte er als freiberuflicher Fotograf verdient. Die Metropolitan Police hatte seinen Laptop mitgenommen und der Polizeitechnik übergeben, die es jedoch bis jetzt noch nicht geschafft hatte, ihn zu entsperren. Er war sehr gut gesichert – überraschend gut für einen freiberuflichen Fotografen.

Das alles zusammen hatte dafür gesorgt, dass die Metropolitan Police sich an die Profiler vom Birkbeck College gewandt hatte. Außerdem hatten sie die amerikanische Botschaft vom Tod eines US-Staatsbürgers in Kenntnis gesetzt, woraufhin die dortigen Verantwortlichen darauf bestanden hatten, auch US-Profiler ins Boot zu holen. Alle Verantwortlichen fragten sich, was ein Fotograf an sich hatte, das dazu führte, dass man ihn folterte und umbrachte. Bis jetzt hatten die Ermittler keinerlei Hinweise gefunden. Überhaupt wussten sie noch nicht sehr viel über die Hintergründe der Tat. Am aufschlussreichsten war der Obduktionsbericht, der von ausdauernder und gezielter Folter sprach und Julies Verdacht nährte, dass man Martin Sharp etwas hatte entlocken wollen. Die Frage war nur: was?

Genau darauf hatte die Polizei bislang keine Antwort.

„Hat deine Mum denn schon irgendwelche Theorien?“, fragte Libby.

„So, wie sie sich vorhin ausgedrückt hat, wohl nicht. Dazu sind sie noch gar nicht gekommen und die Verantwortlichen in der Botschaft haben sich wohl auch dafür ausgesprochen, auf uns zu warten, bevor sie weitermachen.“

„Klar, bei Mordermittlungen ist Zeit ja auch kein kritischer Faktor“, murmelte Libby stirnrunzelnd und lachte. Julie zuckte grinsend mit den Schultern.

„Frag mich nicht. Wahrscheinlich stehen sie sich wieder alle mit ihren Zuständigkeiten im Weg.“

„Schon möglich ... Wenn ich an einen Fotografen denke, denke ich daran, was er fotografiert hat. Hat er etwas beobachtet, das er nicht beobachten sollte? Hat er Nacktaufnahmen von Kindern gemacht? Es muss ja etwas sein, das den – oder die – Täter dazu motiviert hat, ihn vor seinem Tod zu foltern. Und dann wurde er stranguliert ... das ist alles sehr direkt. Sehr brutal. Das spricht für ein persönliches Motiv.“

Julie nickte zustimmend. „Absolut, ja. Der Täter hatte nur Verachtung für ihn übrig, das bestätigt ja auch der Fundort der Leiche. Ein Müllcontainer – symbolischer geht es ja kaum.“

Libby beugte sich vor und stützte den Kopf in die Hände. „Das ist wahr. Irgendein Geheimnis muss er gehabt haben. Was weiß man generell über ihn? Er war amerikanischer Staatsbürger – wo kam er her?“

Julie durchsuchte die Mailanhänge und fand einen Scan von Martin Sharps Reisepass. Laut diesem war Sharp in North Carolina geboren. Es gab auch ein Visum der britischen Botschaft, das auf ihn ausgestellt worden war.

„Gibt es sonst noch irgendwelche Infos über ihn?“, fragte Libby. Julie öffnete die Datenbank der Sozialversicherung und suchte nach einem Martin Sharp aus North Carolina, doch sehr zu ihrer Überraschung erzielte sie keinen Treffer.

„Hm“, machte sie skeptisch. „Irgendwas ist doch hier faul.“

„Klar ist hier was faul. Er wurde ermordet, und zwar auf eine unschöne Art. Das muss einen Grund gehabt haben.“

„Besonders viele Infos haben die Ermittler ja noch gar nicht“, sagte Julie.

„Er ist ja auch erst seit zwei Tagen identifiziert. Und wenn die Polizei noch nicht mal den Laptop geknackt hat ...“

„Ist aber interessant, dass der noch da war.“

„Ja ... und dass der so gut gesichert ist. Was hatte Martin Sharp zu verbergen?“

„Vielleicht gibt es ja Infos über Martin Sharp im Internet ... man sollte ja meinen, dass ein Fotograf eine Homepage mit seinem Portfolio hat.“ Julie öffnete den Browser und gab Martin Sharp Fotograf in eine Suchmaschine ein. Tatsächlich erzielte sie einen Treffer – martinsharp-photography.co.uk zeigte eine Auswahl seiner Fotos von Porträt bis zu Hochzeitsfotografie und wirkte auf den ersten Blick ziemlich unverdächtig.

Im Anschluss vertieften sie sich bis zum Feierabend erneut in die Unterlagen über Martin Sharp. Der Obduktionsbericht las sich schrecklich – er hatte nicht nur oberflächliche Brandverletzungen durch Zigarettenkippen erlitten, man hat ihm auch Elektroschocks zugefügt. Davon waren sowohl Brandwunden zu finden als auch eine gesteigerte Konzentration an Milchsäure in seinen Muskeln, was durch Überbeanspruchung in Folge von Krämpfen entstanden war. Das fand Libby scheußlich. Fotos dokumentierten alles – Fesselmale an seinen Handgelenken, die Brandwunden und auch die Prellungen und Blutergüsse, die noch vor seinem Tod begonnen hatten, sich zu bilden. Grausam fand sie auch, dass man ihm die Finger gebrochen und Zähne ausgeschlagen hatte.

„Das sind ganz üble Methoden“, urteilte auch Julie. „Ich weiß noch nicht, ob ich darin viel persönliche Wut oder einfach nur brutale Mafiamethoden sehen soll.“

Libby antwortete nicht gleich. „Es hat definitiv etwas sehr Abgebrühtes. Wer auch immer dafür verantwortlich ist – er wusste genau, was er da tut. Wie er es anstellen muss. Ich sehe da eher einen organisierten Hintergrund als etwas Persönliches.“

Sie gingen den gesamten Obduktionsbericht durch und betrachteten auch alle anderen Informationen, die die britischen Ermittler bis jetzt zusammengetragen hatten, kamen aber zu keinem hilfreichen Schluss mehr. Solange die britischen Ermittler keinen Zugriff auf Sharps Laptop hatten, traten sie auf der Stelle. Nachdem sie alles für ihre Reise am nächsten Tag vorbereitet hatten, traten sie den Heimweg an.

Owen wartete bereits am Auto auf sie, wo Libby ihn mit einer Umarmung und einem Kuss begrüßte. „Wie war dein Tag?“

„Anstrengend. Bin froh, dass es jetzt nach Hause geht. Und bei euch?“

„Wir haben einen Fall“, sagte Libby. „Und zwar nicht irgendeinen Fall – es geht um einen ermordeten Amerikaner in London. Die amerikanische Botschaft hat uns angefordert.“

„Das heißt, ihr fliegt nach London?“

Libby nickte. „Sieht so aus, ja.“

„Puh, also ist es jetzt schon so weit“, sagte er. „Irgendwie bin ich ganz froh, dass Emma jetzt da ist. Keine Ahnung, wie ich das sonst schaffen sollte.“

„Musst du ja nicht“, erwiderte Libby und lächelte. „Ich bin ja hoffentlich nicht zu lang weg.“

„Ja, das hoffe ich auch. Du wirst uns sehr fehlen.“

Libby lächelte. Ihr würde es ähnlich gehen – Gracie war jetzt ein halbes Jahr alt und sie war noch nie so lang von ihrer Tochter getrennt gewesen. Das würde jetzt eine Herausforderung werden.

Zu Hause angekommen, verabschiedeten sie sich von Julie und gingen ins Haus. Sie fanden Emma mit den Kindern im Wohnzimmer und es entging Libby auch nicht, dass Emma ein wenig erleichtert angesichts ihrer Rückkehr wirkte.

„Na, wie ist es heute gelaufen?“, erkundigte Libby sich.

„Ganz gut eigentlich. Heute haben sie beide problemlos Mittagsschlaf gemacht. Vorhin waren wir noch im Supermarkt, das war irgendwie ein bisschen stressig.“

„Du musst auch wirklich nicht einkaufen gehen, wenn du beide Kids hier hast“, sagte Owen aus der Küche.

„Das sollte ein Zeitvertreib sein“, entgegnete Emma.

„Ich werde jetzt mal was kochen“, beschloss Owen. Libby blieb bei Emma und den Kindern und ging dem Au-Pair auch beim Windelwechseln zur Hand. Sie waren gerade fertig damit, als es klingelte und Byron vor der Tür stand. Er wirkte einigermaßen abgekämpft.

„Komm rein“, sagte Libby. Noch im Flur ließ Byron seinen Rucksack von der Schulter gleiten, zog die Schuhe aus und ging ins Wohnzimmer, wo er sich erst seinen Sohn schnappte und sich dann mit Micah auf dem Arm aufs Sofa sinken ließ. Micah brabbelte fröhlich und patschte seinem Vater mit seinen kleinen Händen im Gesicht herum.

„Dafür lohnt sich die Plackerei doch immer“, sagte Byron und seufzte.

„Harter Tag?“, fragte Libby und er nickte.

„Du kannst dir vermutlich nicht vorstellen, wie hart es für mich ist, wieder die Schulbank zu drücken. Ich habe das so lange nicht gemacht ... Es ist verdammt anstrengend. Ich möchte auch ungefähr dreihundert Mal am Tag abbrechen und einen Joint rauchen, da bin ich ganz ehrlich. Aber in solchen Momenten schaue ich immer auf mein Handy, auf das Bild von Micah und mir ... das hilft. Der kleine Mann gibt mir wie nichts sonst Sinn im Leben.“

Libby nickte, denn das konnte sie vollkommen nachvollziehen. Ein eigenes Kind änderte alles. Es gab nicht viel im Leben, das sie als so absolut und fundamental erlebt hatte wie die Mutterschaft. Damit war sie einerseits festgelegt, andererseits eröffnete es alle Möglichkeiten – nichts war so zukunftsträchtig wie das Leben, das vor einem Neugeborenen lag. Ein einziges anderes Erlebnis hatte Libby in ihrem Leben gehabt, das eine ähnliche Zäsur dargestellt hatte, und das war ihre Flucht aus der FLDS mit dem anschließenden gewaltsamen Tod ihrer Mutter gewesen. Das hatte wirklich alles verändert. In jedem Fall konnte sie gut nachvollziehen, wie es Byron gerade ging.

„Ich bin ehrlich – Micah rettet mir jeden Tag das Leben“, sagte Byron ins Schweigen hinein. „Jasmines Tod hat mich so umgehauen ... Da hatte ich endlich mal jemanden gefunden, dem ich mich so nah fühle, und dann stirbt sie einfach ... Ich meine, du hast es gesehen. Ich wäre fast rückfällig geworden.“

Libby nickte. „Und wer hätte es dir in diesem Moment verübeln können?“

„Aber das macht es ja nicht besser. Im Gegensatz zu Micah. Er macht es besser. Er gibt mir jeden Tag den Antrieb, aufzustehen und über mich hinauszuwachsen. Weil er es verdient hat.“

Das war etwas, was Libby nur zu gut nachvollziehen konnte. Sie hatte in ihrem Leben auch schon viele Krisen durchlebt und sich immer wieder an den Haaren aus dem Sumpf gezogen, allerdings nie eine solche Sinnhaftigkeit erlebt wie seit der Geburt ihrer Tochter. Sie hatte erst jetzt das Gefühl, wirklich zu wissen, wohin sie gehörte. Wer sie war. Wozu das alles gut war. Sie drückte Gracie einen Kuss auf die Stirn und seufzte.

 

Mittwoch, 29. Mai

 

„Ich werde nie vergessen, wie es sich angefühlt hat, den Polizisten gegenüberzustehen. In dem Moment waren sie wirklich der Feind für mich. Das hatte man mir mein Leben lang so eingetrichtert und ich habe es nicht hinterfragt. Ich hatte Angst vor ihnen, obwohl sie mir nur helfen wollten. Unbewusst habe ich das gespürt, aber ich wollte den Gedanken nicht zulassen. Ich hatte Angst, mich einlullen zu lassen. Das hat auch angehalten. Kein Wunder, schließlich haben sie mich dann nach Los Angeles gebracht, zum noch größeren Feind: dem FBI.“ Libby machte eine kurze Pause und grinste, als einige der Rekruten lachten.

„Im Nachhinein war das mein Glück. Die dortigen Agents waren zunächst auch überfordert, weil ich gemauert habe. Komplett. Ich habe einfach geschwiegen. Aber dann waren sie clever und haben ihre Profilerin und Traumaexpertin angerufen. Sadie Whitman konnte sich darin einfühlen, wie mir zumute war. Sie hat sich mir erst mal vorgestellt – sich ganz persönlich. Sie hat mir erzählt, dass sie verheiratet ist und zwei Katzen hat. Ihr war klar, dass sie mir auch was liefern muss, wenn ich etwas liefern soll.

---ENDE DER LESEPROBE---