Niemand hört sie sterben - Dania Dicken - E-Book

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Dania Dicken

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Beschreibung

Vor der Ankunft in ihrer Ferienunterkunft auf der schottischen Isle of Skye werden Profilerin Andrea und ihre Familie in einen Verkehrsunfall verwickelt. Der herbeigerufene Polizist erkennt Andrea und bittet sie um Hilfe: Seit über einem Jahrzehnt vergewaltigt und ermordet ein Unbekannter halbwüchsige Jungen.
Andrea hilft dem Sergeant und erstellt ein Profil, das schnell zu einer Festnahme führt, doch damit fängt der Ärger erst an ...
Neuauflage des unter dem Titel "Das Grauen in dir" veröffentlichten Thrillers von be.thrilled (2017)

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Zwölf Jahre zuvor
Kapitel 1
Kapitel 2
Elf Jahre zuvor
Kapitel 3
Kapitel 4
Elf Jahre zuvor
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Nachbemerkung
Impressum

 

 

 

 

Dania Dicken

 

 

Niemand hört sie sterben

 

Profiler-Reihe 9

 

 

 

Psychothriller

 

 

 

 

 

 

Neuauflage 2023

 

Zuerst erschienen unter dem Titel „Das Grauen in dir“ bei be.thrilled, Köln (2017)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein jeder leidet unter dem, was er getan; das Verbrechen kommt wieder auf seinen Urheber zurück.

 

Lucius Annaeus Seneca

 

 

 

 

Zwölf Jahre zuvor

 

Er brüllte, so laut er konnte, aber mehr als ein dumpfes Gurgeln brachte er nicht hervor. Wenigstens hatte er nicht mehr das Gefühl, an dem Schal in seinem Mund ersticken zu müssen.

Es war eher, dass er am Ekel erstickte, der in jede Pore seiner Haut drang. Ekel und Wut – das war alles, was er empfand. Allerdings wich beides allmählich einer bohrenden Angst, weil er nicht wusste, was dieser Mann mit ihm vorhatte, wenn er einmal mit ihm fertig war. Vielleicht würde er ihn töten. Immerhin hatte er ihn ja gesehen. Er könnte ihn beschreiben.

Dabei hätte Paul alles dafür gegeben, wenn nur der Schmerz endlich geendet hätte. Der Schmerz, der ihm den Verstand vernebelte und ihn am ganzen Körper erstarren ließ. Die gefesselten Hände hatte er zu Fäusten geballt und er zerrte immer wieder an den Stricken, die ihn so grausam bewegungsunfähig machten. Aber es half nichts. Schreiend biss er auf den Schal und versuchte, gegen die Tränen anzukämpfen, die ihm die Sicht trübten.

Mit jedem Stoß entfuhr ihm ein schmerzerfülltes Stöhnen. Das war so falsch. Er war doch nicht schwul. Er hatte eine Freundin.

Paul kniff die Augen zusammen und schrie, so laut er konnte, doch das war nicht genug. Es kam niemand, um ihm zu helfen.

Doch plötzlich hielt der Mann inne. Innerlich war Paul wie gelähmt. Starr vor Angst lag er da und vergaß beinahe das Atmen. Das war auch besser so, denn der Mann hatte ihn mehrmals so fest gewürgt, dass jeder Atemzug in seiner Kehle entsetzlich brannte und sich wund anfühlte. Sein Hals war rau, immer wieder hustete er und erstickte dabei fast an seinem Knebel.

Dann bewegte sich der Mann. Paul sah, wie er sich anzog. Er fragte sich, ob das, was er zwischen den Beinen auf der Haut spürte, Blut war. Und er fragte sich, ob er jetzt sterben musste.

Langsam drehte er den Kopf. Da stand der Mann neben ihm, die untersetzte Gestalt mit dem seltsamen Geruch und dem Schnurrbart. Er knöpfte sich hastig die Hose zu und starrte Paul an.

„Tut mir leid“, sagte er, drehte sich um und rannte aus dem Zimmer.

Fassungslos starrte Paul ihm hinterher. Tut mir leid? Der Kerl hatte ihn zweimal vergewaltigt und verschwand dann einfach mit den Worten, es tue ihm leid?

Hilfe, wollte Paul brüllen, doch es kamen nur erstickte Laute. Schreiend zerrte er an seinen Fesseln, aber dadurch gruben sie sich nur noch tiefer in seine ohnehin wundgescheuerte Haut. Auch da war Blut.

Er konnte schon allein deshalb kaum atmen, weil er auf dem Bauch lag. An allen vieren gefesselt, splitternackt und in einer Situation, die er seinem ärgsten Feind nicht gewünscht hätte.

Immer wieder schrie Paul um Hilfe. Aber es war niemand da. Sein Peiniger war verschwunden und seine Eltern würden noch lange nicht nach Hause kommen.

Seine Eltern. Er fühlte sich wie gelähmt bei dem Gedanken daran, dass sie ihn so finden würden. Auch wenn das Erlösung bedeutete.

Aber er hatte doch nicht wissen können, dass dieser Mann sich nur als Polizist verkleidet hatte. Und so, wie er ihm zugesetzt hatte, war es auch sinnlos gewesen, sich wehren zu wollen.

Plötzlich fühlte er sich schwach. Paul kämpfte nicht länger gegen die Tränen, sondern ließ sie laufen. Es tat so weh. Es fühlte sich so entsetzlich an. Erstickt wimmernd zerrte er an seinen Fesseln und versuchte, sich irgendwie zu befreien. Wenn er das schaffte, musste niemand davon erfahren. Dann konnte er einfach so tun, als wäre es nie passiert.

Verzweifelt versuchte er, den Schal loszuwerden, und hustete. Seine Fesseln gaben nicht nach. Der Knebel auch nicht. Völlig wehrlos lag er auf dem Bett seiner Eltern und musste warten. Dabei war es das, was er gerade am wenigsten konnte. So musste die Hölle sein.

Er wollte weg. Einfach nur weg. Er wollte sich in eine Ecke setzen und die Welt vergessen. Sie war ohnehin soeben über ihm eingestürzt. Paul verspürte das dringende Bedürfnis, sich das Blut abzuwaschen. Blut und Ekel.

Andererseits mussten sie ihn unbedingt bald finden, denn sonst kam er von da nicht weg. Auf Gedeih und Verderb war er dort festgebunden, weil dieser feige Mann ihn einfach so zurückgelassen hatte.

Paul hätte sich nie träumen lassen, dass ihm so etwas jemals widerfahren könnte.

 

 

 

 

Kapitel 1

 

Der Weg durch die Highlands war atemberaubend. Die Route hatte Andrea und ihre Familie geradewegs durch einen Nationalpark geführt, im Augenblick passierten sie auf ihrem Weg zu Isle of Skye den Loch Linnhe. Schottland war voller wunderbarer grüner Hügel, die selbst unter Wolken reizvoll wirkten. Vielleicht auch gerade deshalb. Grasbewachsen und teilweise bewaldet lagen sie da. Das hatte Andrea immer mal kennenlernen wollen, aber tatsächlich hatte es nach ihrer Ankunft in England noch satte zwölf Jahre gedauert, bis sie sich so weit vorgewagt hatte.

Urlaub. Den hatte sie wirklich nötig. Sie hatte auch nicht eine einzige Seminar- oder Hausarbeit ihrer Studenten eingepackt. Jetzt hatte sie frei. Die Handys waren ausgeschaltet, das Radio dudelte leise vor sich hin.

Die spitzen Hügel spiegelten sich im Wasser des angrenzenden Loch. Schon jetzt fühlte sie sich entspannt. Gregory war ebenfalls ausgeruht, obwohl er nun schon seit fast fünf Stunden hinter dem Steuer saß. Als Andrea sich erneut zu ihrer Tochter umdrehen wollte, fing sie seinen Blick auf.

„Sie macht das ganz tapfer“, sagte er.

„Das stimmt. Mit neun war ich wesentlich quengeliger“, erinnerte sie sich.

„Ich auch. Aber ich hatte wenigstens Jack, den ich unterwegs piesacken konnte.“

Andrea grinste bei der Vorstellung, jedoch nur kurz. In letzter Zeit hatte es ihr immer wieder leidgetan, dass Julie ein Einzelkind war. Sie fühlte sich allein und wünschte sich ein Geschwisterchen, aber das wollten ihre Eltern nicht mehr. Andrea wusste, es war nur eine Phase, aber trotzdem tat ihr die Kleine leid. Sie hatten den richtigen Zeitpunkt verpasst.

Liebevoll beobachtete sie Julie beim Schlafen. Ihre Locken waren zu zwei Zöpfen gebunden, ihr Kopf schaukelte mit den Bewegungen des Autos hin und her. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und hielt ihr Kuschelkissen fest an sich gedrückt. Und dabei war sie schon so groß. Sie wurde so schnell erwachsen ...

Kleine Bäche suchten sich ihren Weg die Hänge hinab. Immer wieder waren Felsen zwischen dem ebenen Grün zu sehen, das sie überall umgab. Verträumt blickte Andrea aus dem Fenster und genoss die einsame Gegend in vollen Zügen. Die Gegend zwischen Fort William und der Isle of Skye war nur dünn besiedelt. Man konnte meilenweit fahren, ohne auf ein Haus zu treffen. Anderen Autos begegnete man schon, denn es gab nicht sehr viele Straßen in der Gegend. Die einzigen Lebewesen, die allgegenwärtig waren, waren die unzähligen Schafe.

Die Wolkendecke wurde dünner. Sonnenflecken huschten über die Hügel, blauer Himmel kam zum Vorschein. Hinter der nächsten Kurve begrüßten sie neue Hügel. Zwischendurch hatten sie mehrmals angehalten und Fotos gemacht.

Gerade als Andrea eine Pinkelpause vorschlagen wollte, fuhren sie an einem Hinweisschild auf eine der schönsten Burgen Schottlands vorbei.

„Sollen wir da mal halten und tauschen?“, schlug Gregory vor.

„Gute Idee.“

„Allmählich möchten meine Füße nicht mehr.“

„Kann ich verstehen.“

Der Blick auf die Uhr verriet Andrea, dass es bereits kurz vor siebzehn Uhr war. Wurde Zeit, dass sie ihr Ziel erreichten. Aber gut anderthalb Stunden Fahrt hatten sie immer noch vor sich.

Als sie um die nächste Kurve gefahren waren, lag Eilean Donan Castle vor ihnen. Sonnenstrahlen brachen durch die Wolken und brachten das Wasser des Lochs direkt hinter der Burg zum Glitzern. Es war ein altes, nicht sehr großes, aber wunderschön gelegenes Gemäuer. Gregory fuhr auf den Parkplatz und stellte das Auto mit Blick auf das herrliche Panorama ab. Trotzdem hielt es ihn nicht lange im Wagen. Er stieg aus und streckte sich.

„Sind wir schon da?“, fragte Julie und gähnte.

„Noch nicht ganz, Schatz. Wir machen nur eine Pause.“

„Wo sind wir?“

„Das ist Eilean Donan Castle.“ Andrea zeigte aus dem Fenster.

„Toll!“ Sofort sprang Julie aus dem Auto und blieb neben ihrem Vater stehen. Andrea gesellte sich zu den beiden und atmete tief durch. Die Luft war klar, regelrecht sauber. Vor der Brücke, die zur Burg führte, stand ein Dudelsackspieler, dessen Lied bis zu ihnen hörbar war. Der Geruch von Algen lag in der Luft.

„Wie weit ist es noch, Daddy?“, fragte Julie.

Gregory streckte die Hand aus und deutete nach Westen. „Hinter diesen Hügeln liegt die Insel. Es ist nicht mehr weit.“

„Wie weit denn?“

„Das kann ich dir nicht genau sagen. Aber wie wäre es denn mit einem Eis?“

„Au ja!“ Julie war begeistert.

„Dann komm mal mit“, sagte Andrea und nahm ihre Hand. Unweit der Toiletten stand einen Eiswagen.

Selig trottete Julie mit ihrem Eis in der Hand neben ihrer Mutter her. Gregory stand nach wie vor beim Wagen und machte Fotos. Das bot sich auch an, denn ein solches Panorama hatte man selten – und noch dazu in der Sonne.

Kurz darauf fuhren sie weiter. Diesmal nahm Andrea hinter dem Steuer Platz und Gregory machte es sich links von ihr gemütlich. Julie schleckte weiter an ihrem Eis.

Andrea folgte der Hauptstraße am Loch Alsh vorbei, das in der sinkenden Sonne einen wunderschönen Anblick bot. Gregory unterhielt Julie mit Rätseln und Witzen. Andrea beobachtete aufmerksam den Straßenverkehr – auch den auf der Gegenfahrbahn, denn immer wieder sah sie von Weitem überholende Autos. Man war gut beraten, aufzupassen.

Die Skye Bridge kam in Sicht, ein langes, schlank wirkendes Bauwerk aus hellem Gestein, das sich hoch über den Loch bis zur Insel wölbte. Hätte sie gekonnt, hätte sie angehalten, um die wundervolle Aussicht zu genießen, die sich rundum bot. Hinter ihnen lag das schottische Festland, unter ihnen strahlend blaues Wasser mit weißen Schaumkronen auf den Wellen und ringsum aufragenden Inseln, die ursprünglich und wild wirkten. Der Anblick erinnerte eher an Vulkaninseln in der Südsee.

Weniger als eine halbe Meile später war die Brücke zu Ende. Flaches Land empfing sie, neben der Straße wucherten Bäume und Gestrüpp. Andrea klappte die Sonnenblende herunter, denn plötzlich waren alle Wolken wie weggeblasen.

Kurz darauf bat Greg sie, mal anzuhalten. Rechts von ihnen lag tatsächlich die Südsee. Tiefblaues, stellenweise grünes Wasser, blauer Himmel mit weißen Wölkchen, Felsklippen und Sandstrand. Eine Bucht zog sich zwischen den Klippen der Insel entlang. Das war atemberaubend.

Nach kurzem Aufenthalt setzten sie die Fahrt fort. Der Südteil der Insel war schön, aber nicht sonderlich spektakulär. Als sie jedoch kurz darauf Broadford verlassen hatten, konnten sie einen ersten Blick auf die Cuillins werfen, die Berge mitten auf Skye. Die höchsten Gipfel ragten beinahe tausend Meter hoch, vor allem in den schroffen Black Cuillins. Die verbargen sich hinter den helleren und sanfteren Hängen der Red Cuillins.

Die Straße schlängelte sich an der Küste vorbei und führte steil bergauf. Genauso abschüssig ging es nach einer Kurve wieder bergab. Wann immer sie konnte, versuchte auch Andrea einen Blick auf die Berge zu erhaschen. Wenigstens konnte man sich hier nicht verfahren, denn es gab kaum Straßen. Und bei den wenigen vorhandenen konnte man froh sein, wenn sie ausreichend befestigt waren.

„Freust du dich schon auf die Seehundtour?“, fragte Gregory seine Tochter.

„Ja, das wird super!“, verkündete Julie fröhlich. Da man diese Tiere in der Gegend beobachten konnte, wollten sie ihr Glück einmal versuchen. Auch Vögel und Delfine konnte man entdecken.

Am Fuße eines kegelförmigen Berges fuhr Andrea am Loch Sligachan entlang. Die Straße, in die sie hätte einbiegen müssen, bemerkte sie zu spät.

„Mist“, ärgerte sie sich. „Da hätten wir reingemusst.“

„Ach, du kannst hier bestimmt gleich irgendwo wenden“, sagte Gregory. Er hatte recht, denn es gab immer wieder Haltebuchten. Eine davon nutzte Andrea zum Wenden, um zu der Straßeneinmündung zurückzufahren. Sie war etwas abschüssig und traf in einem spitzen Winkel auf die Hauptstraße, deshalb hatte sie sie nicht gleich gesehen.

Andrea setzte den Blinker, ließ den entgegenkommenden Verkehr durch und setzte zum Abbiegen an, als ein Wagen, der auf der anderen Straße stand, plötzlich losfuhr. Reflexhaft trat sie auf die Bremse, aber es war zu spät. Die Front des anderen Wagens stieß seitlich gegen ihre. Blech knirschte, der Wagen drehte sich ein Stück weit. Die Reifen des anderen Autos quietschten beim Bremsen.

„Was zum ...“, begann Gregory und stieg aus.

Andrea stellte den Motor ab und drehte sich zu Julie um. „Alles in Ordnung?“

Sie nickte, deshalb löste Andrea den Gurt und stieg ebenfalls aus. Neben dem anderen Auto, einem schwarzen Kleinwagen, stand ein junger Mann und raufte sich die Haare.

„Ist Ihnen etwas passiert?“, fragte Andrea.

„Nein, alles in Ordnung. Ich hab gar nicht auf Sie geachtet, verflucht noch mal ...“

Andrea warf einen Blick auf die Verkehrsschilder. Er hatte die Vorfahrt missachtet, sie wahrscheinlich einfach übersehen. Er war höchstens Anfang zwanzig.

„Was ist denn los?“, fragte Gregory ihn.

„Ich weiß nicht, ich wollte rechts abbiegen und ich habe auf den durchgehenden Verkehr geachtet, aber nicht auf Sie! Mein Vater bringt mich um ...“ Der Junge war vollkommen aufgelöst.

Mit fachmännischem Blick begutachtete Greg die beiden eingedrückten Wagenfronten. „Das ist ein Blechschaden, nichts Dramatisches. Ein Fall für die Versicherung.“

„Trotzdem. Tut mir leid, das ist meine Schuld.“

Gregory behielt den Überblick. Er machte ein Foto von der Situation auf der Kreuzung, dann setzten sie beide Autos weg auf die Seitenstraße, weil sie den Verkehr auf einer Durchgangsstraße blockierten. Anschließend rief Greg die Polizei an.

„Tut mir wirklich leid“, beteuerte der junge Mann.

„Kann vorkommen“, erwiderte Andrea. „Leider war ich ja schon fast abgebogen, sonst hätte ich noch gebremst.“

„Ich hätte einfach nicht losfahren sollen! Ach, das ist wirklich ein Mist ...“

„Niemand ist verletzt und der Schaden sieht nicht weiter schlimm aus.“

Gequält sah er sie an. „Sie sind nicht von hier, oder?“

Andrea schüttelte den Kopf. „Wir kommen aus Norwich.“

„Urlauber?“

Als sie nickte, fluchte er. „Toll, und jetzt versaue ich Ihnen auch noch alles.“

Er tat ihr leid. Sie versicherte ihm noch einmal, dass alles halb so wild sei, dann griff auch er zu seinem Handy und rief jemanden an.

Gregory gesellte sich wieder zu ihnen. „Die Polizei ist unterwegs. Es kommt jemand aus Portree, sollte also bald hier sein.“

„Schön.“ Andrea lächelte. Der junge Mann telefonierte nicht lange. Er hatte sein Handy gerade weggesteckt, als er ihnen die Hand hinhielt. „Calum MacPhearson.“

Sie stellten sich und Julie ebenfalls vor und warteten gemeinsam auf die Polizei. Die Sonne brannte vom Himmel herab; wärmer, als man es ihr im hohen Norden Schottlands zugetraut hätte. An die Leitplanke gelehnt, standen sie da.

„Eigentlich war ich zu einem Freund unterwegs“, sagte Calum. „Ich habe ihm gerade Bescheid gesagt, dass ich später komme.“

„Dafür hat er doch sicher Verständnis“, erwiderte Andrea.

„Schon.“ Calum nickte. „Wie lange wollen Sie hier Urlaub machen?“

„Eine Woche. Es ist wirklich sehr schön hier.“

„Ja, das kann man so sagen. Aber manchmal ist es auch sehr einsam. Viele junge Leute gehen weg, um zu studieren oder zu arbeiten. Hier gibt es einfach nicht viel.“

Es dauerte gut zwanzig Minuten, bis von Norden ein Polizeiwagen in Sicht kam. Der Polizist entdeckte sie sofort und hielt hinter ihnen. Sie warteten, bis er ausgestiegen war und zügig auf sie zuschritt. Er war ein kleiner und stämmiger, gemütlicher Mann Anfang fünfzig mit Geheimratsecken und krausem Haar.

„Guten Tag. Wer hat den Unfall vorhin gemeldet?“, fragte er.

„Das war ich“, antwortete Gregory.

„Und was ist hier passiert?“

„Ich habe die Vorfahrt missachtet und bin in ihren Wagen gefahren“, sagte Calum und zeigte dem Polizisten genau, was geschehen war. Andrea und Gregory ergänzten den Bericht.

„Damit ist die Sache klar“, fand der Beamte und ging ohne Eile zu seinem Wagen. Er holte einen Formularblock heraus und begann, ihre Personalien aufzunehmen. Calum wurde als Unfallverursacher eingetragen und Andrea als Fahrerin des anderen Wagens.

„Lange Fahrt gehabt?“, fragte der Polizist, als Andrea ihm sagte, dass sie aus Norwich kamen.

„Das kann man wohl sagen“, erwiderte sie.

„Oben bei uns in Portree gibt es eine gute Werkstatt, die schauen sich Ihren Wagen bestimmt mal an. Wenigstens ist ja nicht viel passiert.“

„Zum Glück“, warf Gregory ein. „Wir sind ja gerade erst angekommen.“

„Ach, wird schon wieder. Und wo bleiben Sie hier auf der Insel?“

Andrea gab ihm die Anschrift des Bed and Breakfast, das nur wenige Meilen entfernt lag.

„Sehr gut. Dann weiß ich ja, wo ich Sie erreiche, wenn etwas ist. Und du, Junge“, sagte er zu Calum, „passt in Zukunft ein bisschen besser auf. Aber mach dir nichts draus, ich komme öfter hierher, um Unfälle aufzunehmen. Ist eine schlecht einsehbare Kreuzung.“

„Das stimmt allerdings“, bemerkte Andrea.

„Also gut. Das war es eigentlich schon. Jetzt geht alles seinen gewohnten Gang. Ich wünsche Ihnen trotzdem schöne Ferien!“ Der Polizist schüttelte ihnen der Reihe nach die Hand und trottete zurück zu seinem Wagen. Anschließend verabschiedeten sie sich auch von Calum und fuhren weiter zu ihrer Unterkunft.

„So etwas musste ja passieren“, brummte Greg auf dem Beifahrersitz.

„Er hat einfach nicht aufgepasst.“

„Offensichtlich. Na ja, wenigstens betrifft das jetzt nicht unsere Versicherung und fahren können wir ja noch. Aber ich glaube, ich lasse morgen doch jemanden in dieser Werkstatt drüber schauen.“

„Gute Idee“, fand sie.

Kurz darauf hatten sie ihr Ziel erreicht. Das Bed and Breakfast lag auf einem kleinen Hügel inmitten einer hohen Wiese und in Sichtweite der Berge. Es war ein schlichtes kleines Haus. Im Garten spielten die beiden Kinder der Besitzer mit dem Hund. Sie hatten nicht grundlos eine Unterkunft ausgesucht, in der auch Kinder lebten.

Über einen Kiesweg fuhren sie bis zum Haus. Sie waren noch nicht ausgestiegen, als eine blonde Frau Mitte vierzig aus der Haustür trat. In den Händen hielt sie noch ein Geschirrtuch. Mit freundlicher Miene kam sie auf ihre Gäste zu und begrüßte sie sehr herzlich.

„Megan Carpenter mein Name“, sagte die Frau. „Sie müssen die Thorntons sein.“

„So ist es“, erwiderte Gregory.

Mrs. Carpenter bemerkte den Blechschaden vorne am Auto. „Das sieht böse aus.“

„Nicht weiter schlimm. Ein junger Mann hat uns die Vorfahrt genommen.“

„Wo ist das passiert?“

Sie war entsetzt, als sie hörte, dass es keine fünf Meilen von dort geschehen war. Dann rief sie ihren Mann, der ihnen mit dem Gepäck behilflich war, und bot ihnen etwas zu trinken an.

Andrea gefielen die Bed and Breakfasts, die man überall in Großbritannien fand, denn dort wurde Herzlichkeit großgeschrieben. Die Gastfreundschaft war etwas ganz Besonderes. Sie liebte diese familiäre Atmosphäre. Auch die Kinder begrüßten Julie gleich und luden sie ein, mit ihnen zu spielen. Der Junge, Chris, war etwas älter, aber seine Schwester Fiona ziemlich genau in Julies Alter. Sie blieben im Garten, während Mr. und Mrs. Carpenter Gregory und Andrea das Zimmer zeigten, in dem sie schlafen würden. Für Julie hatten sie ein drittes Bett unter die Dachschräge gestellt, dem großen Doppelbett genau gegenüber. Außerdem gab es ein Sofa, einen Fernseher, sogar einen kleinen Kühlschrank und ein gepflegtes Bad. Es gefiel Andrea auf Anhieb.

„Haben Sie bereits zu Abend gegessen?“, erkundigte Mrs. Carpenter sich.

„Wir hatten ein Mittagessen, danke“, erwiderte Gregory.

„In Ordnung. Melden Sie sich, sollten Sie Hunger haben, dann kann ich etwas kochen.“

„Vielen Dank“, sagte Andrea. Mrs. Carpenter verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Andrea öffnete das Dachfenster und blickte hinaus in den Garten. Julie war immer noch bei den Kindern und dem Hund.

„Ich gehe gleich duschen“, kündigte Gregory an. Andrea wandte sich zu ihm um und lächelte.

„Gute Idee. Bin ich froh, dass wir endlich hier sind.“

„Ich auch. Wenn auch mit Blechschaden.“

Sie zuckte mit den Schultern und ließ sich aufs Bett fallen. „Das verdirbt mir jetzt nicht die Laune. Hauptsache Urlaub!“

 

Kapitel 2

 

In Schottland konnte man zum Frühstück Porridge essen. Das war grauer Haferschleim, der ein bisschen an aufgelöste Pappe erinnerte und meistens auch so ähnlich schmeckte. Andrea beobachtete fasziniert den Mann am Nachbartisch, als er die graue Masse wie selbstverständlich in sich hineinschaufelte.

Sie waren mit dem Frühstück bereits fertig und hatten Julie erlaubt, mit Chris und Fiona spielen zu gehen. Gregory nippte stumm an seinem Tee, während Andrea überlegte, ob sie nun wirklich satt war oder nicht. Mrs. Carpenter stellte gerade ihre Lunchpakete zusammen. Noch war es bewölkt, denn über Nacht hatte es sich zugezogen. Allerdings war sonniges Wetter für den Tag vorhergesagt und Mrs. Carpenter hatte versprochen, dass die Wolken sich bald auflösen würden.

Es klingelte. Mrs. Carpenter ging durch den Flur zur Tür. Sie staunte nicht schlecht, als sie einen Polizisten vor sich hatte.

„Oh, Sergeant Boyd! Was gibt es?“, fragte sie.

„Ich möchte zu Gästen von Ihnen, zu Familie Thornton.“

Andrea spitzte ihre Ohren und lauschte den sich nähernden Schritten. Augenblicke später stand der Polizist vom Vortag im Türrahmen. „Guten Morgen, bitte entschuldigen Sie die Störung.“

„Geht es um den Unfall?“, fragte Gregory.

„Nicht direkt, nein.“ Boyd zögerte kurz. Um ungestört sprechen zu können, gingen Andrea und Gregory mit ihm vors Haus. Von irgendwoher hörten sie das Jauchzen der Kinder.

„Was können wir denn für Sie tun?“, erkundigte Gregory sich bei Boyd.

„Es ... nun, ich habe ein möglicherweise eigenartiges Anliegen.“ Boyd sah die beiden prüfend an und konzentrierte sich dann auf Andrea. „Sie kamen mir gestern bekannt vor.“

Überrascht hob sie die Augenbrauen. „Tatsächlich?“

„Ja, ich dachte die ganze Zeit, dass ich Ihr Gesicht kenne. Als ich im Internet Ihren Namen gesucht habe, wusste ich auch gleich wieder, wieso. Da war ein Foto von Ihnen in einer kugelsicheren Weste der Strathclyde Police. Sie waren die Unterhändlerin bei der Glasgower Geiselnahme im FutureLife-Skandal.“

Andrea war ehrlich erstaunt. Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass er gerade davon anfing. Das war schon sechs Jahre her. Dennoch nickte sie. „Das ist richtig, das war ich. Das war damals groß im Fernsehen.“

„Deshalb hatte ich das auch im Kopf.“ Boyd blickte kurz zu Boden. „Sie sind Profilerin, wie ich gestern gelesen habe.“

„Auch das ist richtig. Ich gehöre zum Team der Londoner Profiler und ich unterrichte als Dozentin an der University of East Anglia.“

„Ach so“, machte Boyd. „Das wusste ich nun nicht. Ich habe nur ein wenig in Ihren Fällen gestöbert – Sie hatten ja auch den Archer-Fall.“

Andrea zog die Schultern hoch und nickte. „Das stimmt.“

„Okay ... nun, ich wollte Sie etwas fragen. Vielleicht können Sie mich auch an einen Ihrer Kollegen weiterleiten.“

Andrea antwortete nicht gleich. Boyds Anliegen stimmte sie neugierig. „Worum geht es denn?“

„Ein paar alte Fälle, eingestaubte Akten ... aber sie bereiten mir Kopfzerbrechen. Ich würde mich freuen, wenn ein Profi sich die mal ansehen könnte. Sie oder Ihr Team.“ Boyd sagte das sehr vorsichtig.

„Worum geht es dabei?“, fragte Andrea.

Mit gesenkter Stimme fuhr Boyd fort. „Es sind Vermissten-, Entführungs- und Mordfälle. Alles Jungs im Teenageralter. Wir haben bis heute keine heiße Spur.“

„Hier auf Skye?“, fragte sie überrascht. Bei zehntausend Einwohnern war das ein starkes Stück.

„Ja, der erste Fall liegt zwölf Jahre zurück.“

„Ganz ohne jede Spur?“

„Wenn ich mich einmischen darf“, sagte Gregory von der Seite, „dann mache ich euch einen Vorschlag: Seht ihr euch das an, während ich mit dem Wagen zur Werkstatt fahre, und dann kannst du ihm sagen, was zu tun ist, Andrea.“

„Okay“, erwiderte sie zögernd. „Wenn du das schon vorschlägst. Aber was ist mit Julie?“

„Die kann bestimmt hierbleiben“, sagte er.

„Ich will wirklich nicht – ich meine, Sie machen doch Urlaub“, wandte Boyd ein.

„Das ist normal bei ihr“, erklärte Greg dem Sergeant. „Fahrt ruhig. Ich sehe nach dir, wenn ich fertig bin. Die Polizeistation wird ja nicht sehr schwer zu finden sein.“

„Überhaupt nicht“, bestätigte Boyd erfreut.

„Ich kümmere mich auch um Julie“, versprach Greg.

„Super, danke.“ Andrea wandte sich an Boyd. „Ich hole nur eben meine Sachen.“

„Danke, Mrs. Thornton. Damit hätte ich niemals gerechnet.“ Er gab sich keine Mühe, seine Freude zu verbergen.

Andrea lächelte, holte schnell ihre Tasche und begleitete ihn zum Streifenwagen. Voller Erstaunen beobachtete er die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich in das Polizeiauto setzte. Er schnallte sich an, startete den Motor und musterte sie seufzend.

„Finde ich toll, dass Sie das machen.“

„Mein Mann hat Recht“, sagte sie. „Ich bin ein sehr neugieriger Mensch.“

„Ich auch. Wohl einer der Gründe dafür, dass ich Polizist geworden bin. Und Sie? Aus welchem Grund wird man Profiler?“ Es war mehr als ein höflicher Smalltalk, den Boyd begonnen hatte. Er interessierte sich ehrlich für die Frau aus England, die in ihrem Urlaub mit ihm Polizeiarbeit betrieb.

„Oh.“ Andrea lachte verlegen. „Dieses Interesse entstand während meines Psychologiestudiums. Es fasziniert mich, das menschliche Verhalten zu analysieren und zu erklären.“

„Hm“, brummte Boyd. „Das war es bei mir nicht unbedingt.“

„Nein, ich weiß. Polizisten betrachten ihre Fälle anders.“

Er nickte ernst. „Vielleicht ist das gerade mein Problem. Ich habe hier die mehrere Fälle ermordeter Jungs und ich weiß, der Täter ist immer noch da draußen. Der hört nicht auf, bis wir ihn kriegen.“

„Das gibt es“, stimmte Andrea zu. „Ein weiterer Grund, weshalb ich mir das ansehen sollte. Vielleicht fällt mir etwas auf. Und wenn nicht, kann ich immer noch meine Kollegen aus London verständigen.“

„Das würden Sie tun?“ Boyds helle Augen leuchteten auf.

„Sicher.“ Andrea nickte. „Wir kriegen Ihren Mörder schon.“

„Der ist meine Achillesferse“, gestand Boyd. „Deshalb auch der Überfall auf Sie ... das ist eine Verzweiflungstat!“

„Nicht doch“, sagte Andrea, aber sie glaubte, den Mann zu verstehen.

„Skye ist meine Heimat“, erklärte er. „Ich bin hier aufgewachsen. Als Polizist hat man auf der Insel meist nicht besonders viel zu tun. Es ist ein friedliches, ruhiges Leben. Aber einen Mörder haben wir hier auch. Der muss doch zu fassen sein!“

Das war etwas, das ihn aufregte. Schon seit langem. Etwas, was ihn auffraß.

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, hier zu leben“, sagte Andrea in seine Gedanken hinein.

„Das ist nicht für jeden etwas. Viele junge Leute gehen weg, um zu studieren, und kehren dann nicht zurück. Oder erst später. Man lebt hier von einfacher Arbeit. Aber es gibt auch keinen Stress.“

„Vor allem ist die Insel wunderschön“, sagte Andrea.

„Ja, das ist wahr. Das entschädigt für vieles. Wer hier lebt, sucht sich das aus. Und es kommen ja auch viele Besucher, um sich unsere schöne Insel anzusehen.“

„Ich bin sehr gespannt. Wir sind ja gerade erst angekommen.“

Boyd nickte. „Ich bin wirklich froh, dass Sie mich trotzdem begleiten.“

Andrea lächelte. Der Sergeant war ihr sehr sympathisch, ein bodenständiger, unaufgeregter Mann. Aber er brauchte ihre Hilfe.

„Das mit FutureLife war ja ein Ding damals“, fuhr er fort. „Aber ich muss schon sagen, Ihr Foto war sehr eindrucksvoll. Ich glaube, Sie waren angeschossen. Sie saßen mit der kugelsicheren Weste im Krankenwagen, aber Sie wirkten trotzdem sehr entschlossen.“

„Ich erinnere mich an den Moment“, erwiderte Andrea. „Vielleicht wirkt man so, wenn man weiß, dass man nur noch lebt, weil das Magazin in der Waffe leer war.“

Das Staunen stand Boyd ins Gesicht geschrieben. „Meinen Sie den Geiselnehmer?“

Andrea nickte.

„Der hat bewusst auf Sie geschossen?“ Boyd war fassungslos.

„Er wollte mich erschießen, ja. Der erste Schuss ging daneben, in meine Schulter. Der zweite kam nicht, weil das Magazin leer war. Der hätte aber gesessen.“

Während Boyd den Blinker setzte, sah er Andrea mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Und das sagen Sie so, als wäre nichts dabei.“

„Sie kennen doch meine Geschichte, oder?“, fragte Andrea. Er hatte ja bereits durchblicken lassen, wie gut er sich informiert hatte.

„Größtenteils, denke ich. Bei Ihrem ersten Fall waren Sie gerade erst fünfundzwanzig.“

„Sie meinen die Entführung in London?“, fragte Andrea.

„Richtig“, bestätigte Boyd. „Und dann diese verrückte Mörderin mit den zwei Persönlichkeiten ... der Ripper ... und die Sache mit Katherine und Tracy Archer. Sie waren in jeden größeren Fall der letzten Jahre verwickelt.“

Andrea nickte nur, weil sie nicht wusste, was sie sonst erwidern sollte. Sie hasste es, über ihre Vergangenheit zu sprechen. Da gab es nicht so viele schöne Dinge zu berichten. Manchmal war es ihr einfach unangenehm, über die Fälle zu reden, denn Boyd hatte Recht: Das waren alles die größeren Fälle der letzten Jahre.

„Ich glaube, ich hätte niemand Besseren finden können“, brach Boyd das Schweigen.

„Erwarten Sie nicht zu viel.“ Andrea war nicht sicher, was sie aus dem Stegreif erreichen konnte – und wollte. Schließlich hatte sie Urlaub.

„Ich habe vollstes Vertrauen in Sie“, sagte Boyd unbeeindruckt.

„Worum genau geht es denn?“, wollte sie wissen. Diese Frage beschäftigte sie schon die ganze Zeit.

Eine Mischung aus Schmerz und Ernüchterung trat in Boyds Miene. „Um jemanden, der Kinder vergewaltigt und tötet.“

Andrea atmete tief durch und spürte erst nach einigen Augenblicken, wie fest sie die Hände zu Fäusten geballt hatte. Fortan musste sie nicht länger überlegen. „Das sind die Täter, die ich am meisten hasse.“

Boyd war sichtlich überrascht von der Heftigkeit ihrer Reaktion und kräuselte die Lippen. „Hatten Sie denn auch schon einen solchen Fall? Ich meine, abgesehen von den Archer-Mädchen?“

„Ja“, sagte Andrea. „Da ging es zwar nicht um Kinder, aber ... er war ein Serienvergewaltiger und Mörder.“

Der Polizist nickte langsam. „Das habe ich im Internet gar nicht gesehen. Wer war er?“

Andrea blickte aus dem Seitenfenster. „Der Campus Rapist von Norwich.“

Boyd nickte verstehend. Er erinnerte sich an den Fall. „Das ist doch schon ewig her.“

„Zum Glück.“ Andrea zog die Schultern hoch.

„Haben Sie den auch geschnappt?“, erkundigte Boyd sich arglos.

„Mehr oder weniger“, bestätigte sie. „Ich habe zumindest sein Profil erstellt.“

„Da müssen Sie aber noch jung gewesen sein“, sagte er anerkennend.

Andrea nickte zustimmend. „Ja, damals habe ich selbst noch studiert.“

„Der war doch hinter Studentinnen her.“

„Stimmt. Am Campus der Uni.“

Boyd plauderte einfach weiter. „Muss unheimlich für Sie gewesen sein, zu wissen, dass Sie genau in sein Beuteschema fallen.“

„Leider war das so“, murmelte Andrea.

Plötzlich war der Polizist wie elektrisiert. „Oh nein, sagen Sie nicht, ich habe ... tut mir leid.“

„Nein, Sie haben gar nichts.“ Andrea schüttelte schnell den Kopf. „Das konnten Sie nicht wissen. Aber es stimmt, ich war sein letztes Opfer.“

Unwillkürlich krampften sich die Knöchel des Sergeants ums Lenkrad. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber das gelang ihm nicht. Er wandte den Blick wieder auf die Straße und atmete langsam und hörbar aus, nicht wissend, was er sagen sollte.  

„Die Polizei hat mich rechtzeitig gefunden“, ergänzte Andrea, um ihn zu beruhigen.

Schließlich hatte er sich gefangen. „Warum habe ich das nicht entdeckt?“

„Weil ich damals noch anders hieß“, erklärte Andrea. „Ich habe fünf Monate später geheiratet.“

„Sie haben ...“ Wieder sah er sie kurz an. „Okay. Da gehört einiges zu.“

„Überhaupt nicht“, widersprach Andrea. „Ich wollte nicht, dass es mir mein Leben kaputtmacht.“

Boyd nickte nur. Sie sprachen nicht weiter, weil bereits Portree vor ihnen in Sicht kam. Die Hauptstadt der Isle of Skye lag malerisch am Wasser. Auf Postkarten hatte Andrea schon einmal die bunten Häuserfronten gesehen, die hinter den Masten der Segelschiffe aufragten. Boyd folgte der Hauptstraße in das kleine Städtchen, bog dann in eine Seitenstraße ab und parkte vor einem Gebäude, das von einem Schild als die Polizeistation ausgewiesen wurde. Auf der Insel war alles etwas kleiner.

„Ich habe hier schon immer gearbeitet“, sagte er. „Es zieht den Polizeinachwuchs nicht gerade hierher. Es ist selten etwas los. Die letzten Fälle, mit denen ich zu tun hatte, waren ein Fahrraddiebstahl im Mai und solche aufregenden Dinge wie Ihr Unfall gestern. Aber bald werde ich wieder Arbeit bekommen.“

„Und das wissen Sie schon?“, fragte Andrea beim Aussteigen.

Boyd warf die Fahrertür hinter sich zu. „Ja. In den letzten Jahren ist jedes Mal im August oder September ein Junge verschwunden. Bald ist es wieder so weit. Und weil ich das verhindern will, habe ich Sie angesprochen.“

Nun war Andrea wirklich gespannt. Sie folgte Boyd ins Gebäude. Hinter einem Schreibtisch saß ein jüngerer Kollege und studierte aufmerksam eine Eingabemaske auf seinem Computerbildschirm.

„Und?“, fragte Boyd.

„Mrs. Neill hat sich wieder über die Kids in der Nachbarschaft beschwert“, kam die gelangweilte Antwort zurück.

„Ah. Wollen noch mal ein ernstes Wörtchen mit Stephen und Mike reden.“

„Wen hast du mitgebracht?“

Boyd blieb stehen. „Andrea Thornton ist Profilerin in Norwich.“

Er kam gar nicht dazu, mehr zu sagen. Der junge Kollege hob seine buschigen Augenbrauen und blickte nun doch auf. „Du gibst einfach nicht auf.“

„Nein, Andy, wie sollte ich denn? Wir haben hier einen verdammten Killer auf der Insel!“

Andy seufzte tief. „Fergus ... hast du eine Ahnung, wie viele Kinder am Tag verschwinden? Die sind ausgerissen. Und der Mordfall ist ewig her.“

„Findest du es vielleicht gut, einen ungeklärten Mordfall herumliegen zu haben?“, schnappte Boyd zurück. „Ich nicht.“

Er warf Andrea einen entnervten Blick zu und marschierte in sein Büro. Sie folgte ihm und schloss die Tür hinter sich.

„Hören Sie nicht auf ihn“, sagte Boyd und sank in seinen Bürostuhl. Mit einer Geste bot er Andrea den Platz vor seinem Schreibtisch an.

„Was meinen Sie?“, fragte sie.

„Andy ist ein guter Junge. Das ist er wirklich. Er hat nur Angst, es könnte jemand von hier sein. Jemand, den wir kennen.“

„Was nicht unwahrscheinlich ist.“

„Richtig“, pflichtete der Sergeant bei. „Haben Sie eine Vorstellung, wie es ist, auf einer Insel wie Skye zu leben? Sie ist zwar die größte der Hebriden und hat entsprechend viele Bewohner, aber trotzdem kennt man sich. Hier ist man nicht anonym. Und die Vorstellung, dass es jemand von hier ist, der all das getan hat, jagt mir auch einen Schauer über den Rücken. Das ist wirklich schlimm.“

Das glaubte Andrea ihm sofort. Schweigend beobachtete sie, wie er aufstand, zu einem Aktenschrank ging und einige Hefter heraussuchte, die er in einer gesonderten Schublade untergebracht hatte.

„Das ist der erste Fall“, sagte Boyd und schob ihr einen Hefter hin. „Die Sache liegt zwölf Jahre zurück. Wenn ich Ihnen etwas dazu sagen soll ...“

„Nein, nein“, winkte sie gleich ab. „Lassen Sie mich das einfach erst mal ansehen. Ich möchte mir meine eigenen Gedanken dazu machen und hinterher sehen wir, ob wir ähnlich gedacht haben.“

„Einverstanden.“

Andrea klappte den Hefter auf und betrachtete aufmerksam das Foto eines halbwüchsigen Jungen. Er war dunkelblond; das Formular unter dem Foto verriet, dass er damals fünfzehn Jahre alt gewesen war. Seine Züge waren hager und kantig, aber in einigen Teilen auch noch sehr jungenhaft. Es war noch kein Bartansatz zu erkennen. Seine blauen Augen blickten trüb. Er lächelte nicht, wirkte ausgemergelt. So sah ein Jugendlicher aus, dem etwas zugestoßen war.

Sein Name war Paul Rockwell. Andrea überflog seine Daten nur kurz und blätterte um. Auf der nächsten Seite folgten Tatortfotos. Andrea erkannte ein Zimmer mit Doppelbett und tippte auf das Elternschlafzimmer. Obwohl das Foto nicht sehr groß war, erkannte sie auf Anhieb die Stricke an allen vier Bettpfosten. Fotos auf der nächsten Seite offenbarten Nahaufnahmen der Fesseln. Diverse andere Fotos dokumentierten gesicherte Spuren, aber nichts, was weiter von Interesse war.

Das nächste Blatt zeigte einen medizinischen Bericht. Schwere Verletzungen hatten bei dem Jungen nicht festgestellt werden können, nur Fessel- und Blutspuren. Blutspuren, die dem Arzt Hinweise auf eine gewaltsame anale Penetration geliefert hatten. Eine Vergewaltigung.

Andrea erfuhr, dass es die Mutter gewesen war, die ihren Sohn nackt auf dem Bett gefunden hatte. Er war noch immer an allen vieren gefesselt gewesen, darüber hinaus geknebelt und hatte bäuchlings dagelegen. Zwischen dem Übergriff und seiner Befreiung hatten etwa zwei Stunden gelegen.

Zwei Stunden. Das durfte sie sich gar nicht vorstellen.

Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Dann schlug sie die Aussage des Jungen auf. Er berichtete präzise davon, wie ein als Polizist gekleideter Fremder an der Haustür geklingelt und ihn gefragt hatte, ob seine Eltern da waren. Als er verneint hatte, hatte der Mann ihn sofort angegriffen, überwältigt und beinahe bewusstlos geschlagen. Deshalb hatte er kaum Mühe gehabt, den Jungen auszuziehen und aufs Bett seiner Eltern zu binden. Dort hatte er ihn dann vergewaltigt – zweimal, wie der Junge angegeben hatte. Außerdem hatte er ihn immer wieder fast bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt.

Dann stieß Andrea auf ein Detail, das sie die Stirn runzeln ließ. Der vermeintliche Polizist war hastig aufgestanden, hatte sich angezogen und gesagt „I‘m sorry“. Danach war er, ohne zu zögern, verschwunden und hatte den Jungen sich selbst überlassen.

„I‘m sorry?“, wiederholte sie, stutzig geworden.

„Ja, das ist seltsam, nicht?“, stimmte Boyd zu. „Das ist in Glendale passiert, oben im Norden der Insel. Eigentlich ist die Polizeistation in Dunvegan zuständig, aber auf den Fall ist jeder Beamte der ganzen Insel angesetzt worden. So etwas passiert hier einfach nicht, verstehen Sie? Wir standen alle unter Schock. Paul hat ausgesagt, dass der Mann ihm fremd gewesen sei. Es ist ein Phantombild erstellt worden, aber das hat nicht geholfen. Wahrscheinlich hat der Täter sich solcher Tricks wie eines künstlichen Schnurrbarts und falscher Augenbrauen bedient.“

„Schon möglich“, sagte Andrea. „Keine schöne Sache. Welches ist der nächste Fall?“

„Der hier.“ Boyd reichte ihr einen weiteren Hefter. „Vor elf Jahren in Isleornsay im Süden der Insel. Das fiel von vornherein in meinen Zuständigkeitsbereich. Michael Oakley, sechzehn Jahre.“

Das entnahm Andrea dem Bericht kurz darauf selbst. Michael war ein dunkelhaariger, großer Junge mit leuchtenden Augen. Er wirkte schon etwas erwachsener als Paul. Von einem Wanderer war er am Ufer des kleinen Loch Connan mitten auf der Insel gefunden worden, ein ganzes Stück von seinem Heimatort entfernt. Michael hatte ausgesagt, von einem Mann in einem Zivilfahrzeug angesprochen worden zu sein, der jedoch eine Polizeiuniform getragen hatte. Er hatte nach dem Weg gefragt. Michael hatte kein Misstrauen gehegt, war in den Wagen gestiegen und sofort mit Chloroform betäubt worden. Als er wieder aufgewacht war, hatte er sich auf einem Gestell wiedergefunden, dessen Beschreibung in Andrea sofort die Assoziation mit einem gynäkologischen Stuhl hervorrief, obwohl das laut Schilderung der Ereignisse nicht stimmen konnte. Michael hatte bäuchlings dagelegen, an allen vieren gefesselt, und war ausgepeitscht und gewürgt worden. Er hatte den Mann nicht mehr sehen können. Zwar hatte er aus Leibeskräften geschrien, aber das hatte niemand gehört. Der Mann hatte sich Zeit damit gelassen, Michael zuzusetzen und ihn mehrmals zu vergewaltigen, genau wie Paul. Michael schilderte, dass er Angst um sein Leben gehabt und geglaubt hatte, sterben zu müssen, als er erneut betäubt worden war. Aber sein Peiniger hatte ihn nur zum Loch Connan gebracht und dort nackt liegen lassen.

Andrea runzelte nachdenklich die Stirn. Das erinnerte sie an irgendetwas. Konzentriert überlegte sie, aber es wollte ihr einfach nicht einfallen.

„Woran denken Sie?“, fragte Boyd, dem ihr Grübeln nicht entging.

„Ich überlege, ob mir das nicht bekannt vorkommt. Dieser ganze Ablauf ... das kenne ich irgendwoher.“

„Tatsächlich? Hatten Sie schon mit einem ähnlichen Fall zu tun?“

„Nein, das meine ich nicht. Ich bin ziemlich sicher, einen ähnlichen Fall in der Ausbildung studiert zu haben, aber mir fällt nicht ein, welcher das war.“ Andrea seufzte laut.

„So etwas hat es schon gegeben?“, staunte Boyd.

Andrea nickte. „Ja, ziemlich genau sogar. Das Chloroform, die Peitsche ... das kenne ich.“

„Fällt es Ihnen denn wieder ein?“

„Mit Sicherheit“, sagte sie. „Es ging da auch um einen homosexuellen Täter und ein Gewaltverbrechen.“

„Okay.

---ENDE DER LESEPROBE---