Auf die lange Bank - Annette Bauer - E-Book

Auf die lange Bank E-Book

Annette Bauer

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Beschreibung

Was du heute kannst besorgen … Wir alle schieben Dinge vor uns her, mal mehr, mal weniger; mal für kürzere, mal für längere Zeit. Diese "Aufschieberitis" kann belastend sein, sie ist aber kein Krankheitsbild. Anders sieht es bei der Prokrastination aus, die für das Leben der Betroffenen meist ernsthafte Folgen hat und für die es therapeutische Angebote gibt. Es gibt also einen Unterschied zwischen krankhaftem und alltäglichem Aufschiebeverhalten, der meistens aber nicht wahrgenommen wird. Das wird erstens beiden nicht gerecht und hilft zweitens denjenigen nicht, deren Problem die alltägliche Aufschieberitis ist. Für diese Form gibt es nämlich kaum Konzepte und Hilfen. Hier schafft Annette Bauer mit diesem Buch Abhilfe: - Sie beleuchtet Hintergründe des Aufschiebens, - stellt Motivations-Modelle und Coaching-Ansätze vor, - erörtert die Rolle der Emotionen und - bietet praktische Tools und Tipps an.

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Seitenzahl: 174

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Annette BauerAuf die lange BankWenn Aufschieben zum Problem wird

Über dieses Buch

Was du heute kannst besorgen …

Wir alle schieben Dinge vor uns her, mal mehr, mal weniger; mal für kürzere, mal für längere Zeit. Diese „Aufschieberitis“ kann belastend sein, sie ist aber kein Krankheitsbild. Anders sieht es bei der Prokrastination aus, die für das Leben der Betroffenen meist ernsthafte Folgen hat und für die es therapeutische Angebote gibt.

Es gibt also einen Unterschied zwischen krankhaftem und alltäglichem Aufschiebeverhalten, der meistens aber nicht wahrgenommen wird. Das wird erstens beiden nicht gerecht und hilft zweitens denjenigen nicht, deren Problem die alltägliche Aufschieberitis ist. Für diese Form gibt es nämlich kaum Konzepte und Hilfen. Hier schafft Annette Bauer mit diesem Buch Abhilfe: 

Sie beleuchtet Hintergründe des Aufschiebens, stellt Motivations-Modelle und Coaching-Ansätze vor, erörtert die Rolle der Emotionen und bietet praktische Tools und Tipps an.

Annette Bauer, systemischer Coach, Strukturaufstellerin und wingwave-Coach, seit fast 20 Jahren in der Begleitung und Beratung von Menschen tätig. Sie beschäftigt sich seit einigen Jahren intensiv mit der Lehre der Achtsamkeit und arbeitet als Coach mit vielbegabten Scannern.

Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2019

Coverfoto: © carlosbezz – iStockphoto

Wolfszeichnungen: Petra Sonnenberg-Greulich

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz: Peter Marwitz, Kiel (etherial.de)

Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2019

ISBN der Printausgabe: ISBN 3-95571-781-0

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-911-1 (EPUB), 978-3-95571-913-5 (PDF), 978-3-95571-912-8 (MOBI).

Für

Café Rotkehlchen

Café Wohnraum

Café Schmitz

Café Pause

Bistro Sonne

Cafe Kommödchen

Weil ihr durch eure Fürsorge mit Kaffee, Tee, Kaltgetränken, Suppe, Frühstück, Bananenbrot und dem besten veganen Kuchen Kölns Orte geschaffen habt, an denen ich nicht aufschiebe.

1. Prokrastination oder Aufschieberitis

1.1 Wie ich das Thema entdeckte

Als ich mit den Recherchen für dieses Buch begann, erzählte mir eine Freundin, dass sie in Studienzeiten „… auch mal in der Prokrastinationsambulanz in Münster war. Das war schon gut dort. Ich kam mit meiner Abschlussarbeit nicht richtig voran, immer schob ich das irgendwie, und das Trainingsprogramm dort hat mir geholfen, die Arbeit dann rechtzeitig fertig zu bekommen“.

Ich blieb mit ihr zu diesem Thema im Austausch. Sie war der Meinung, das Programm sei zwar hilfreich gewesen, habe aber ihr eigentliches Problem nicht gelöst: Immer noch schob sie etwas auf, Dinge, bei denen das Aufschieben mal mehr und mal weniger hinderlich im Alltag war.

Viele Jahre nach ihrem Besuch in der Prokrastinationsambulanz entdeckte sie in einer Coachingsitzung, dass sie erneut etwas aufschob. Doch es war etwas anderes als in ihrer Studienzeit. Damals hatte ihr Problem darin bestanden, eine gute Arbeitsstruktur für sich zu finden, Zeitpläne zu erarbeiten und einzuhalten. Doch jetzt schob sie immer wieder vor sich her, für sich selbst etwas Gutes zu tun. Und damit erging es ihr wie Menschen, die an einer Arbeitsstörung leiden: Für ihr eher im Alltag angesiedeltes und nicht mit konkreten Arbeitsabläufen verbundenes Aufschiebeverhalten hatte sie immer gute Begründungen und Ausreden parat. „Ich habe gerade zu viel im Betrieb zu tun.“, „Erst organisiere ich dieses familieninterne Kinderproblem, dann nehme ich mir die Zeit für mich.“, „Eigentlich geht es ja noch ganz gut, ich könnte etwas mehr Freizeit brauchen, aber ich weiß, das wird auch wieder anders.“ So oder ähnlich äußerte sie sich immerzu, wenn sie darauf angesprochen wurde, warum sie nichts machte – für sich. Sich nichts gönnte. Keine Auszeit nahm. Warum der Akku immer leerer wurde und ihr Belastungsgrad immer höher. Sie wusste genau, was zu tun war, sie tat es aber nicht. Ähnlich ergeht es Menschen mit akademischer Prokrastination.

Man weiß genau, was als Nächstes zu tun ist oder welche Schritte in welcher Reihenfolge zu gehen sind. Und dennoch kommt man nicht an den Punkt, diese auch wirklich zu machen. Das ist das eigentliche und so schwer zu entschlüsselnde Problem hinter dem Aufschieben, einem Verhaltensmuster, das in unterschiedlichen Kontexten und Ausprägungen anzutreffen ist.

Um mehr über dieses Phänomen des alltäglichen Aufschiebens herauszufinden, lud ich Menschen zu einem Coaching ein, die von sich selbst behaupteten, unter „Aufschieberitis“ zu leiden. Sie verspürten einen echten Leidensdruck, wollten etwas ändern, konnten es aber nicht. Zumindest nicht ohne Unterstützung. Ich lernte spannende Mechanismen, Denkmuster und Zusammenhänge kennen.

Und was wurde alles aufgeschoben? Einmal war es Hausarbeit, ein anderes Mal, ganz klassisch, eine zu überweisende Rechnung. Dann wieder alltägliche organisatorische Dinge im Zusammenleben, gekoppelt an einen permanenten Widerstand. Oder die Vereinbarung wichtiger Termine. Auch Herzensangelegenheiten wurden immer wieder geschoben und geschoben. Und all diese Dinge hatten nichts mit den bekannten Prokrastinationsbildern zu tun: der akademischen Prokrastination oder der pathologischen Prokrastination als Begleitung von Krankheiten. Man kann sagen: Sie waren störend im Alltag, das Aufschieben hatte jedoch keinen Krankheitswert.

Vielleicht runzeln Sie als Leser*in an dieser Stelle die Stirn. Wer aufschiebt kennt es oft von sich selbst, dass diese in der Wissenschaft vorgenommene scharfe Trennung der Begriffe sich in der Praxis gar nicht so einfach ausmachen lässt. Aufschiebeverhalten – und das wird auch dieses Buch im weiteren Verlauf zeigen – ist im alltäglichen Leben eben nicht klassisch wissenschaftlich in Kategorien einzuordnen. Diese scheinbare Diskrepanz möchte ich am Beispiel einer Erkältung verdeutlichen. Wenn die Nase läuft, der Hals kratzt …, fühle ich mich einfach „erkältet“. Und sollte ich merken, dass die Erkältung mich stark beeinträchtigt, gehe ich zu meiner Hausärztin. Wenn ich sage: „Ach, ich bin einfach so erkältet, ich glaube, es geht nichts mehr. Husten, Schnupfen, der Hals ist auch nicht in Ordnung, ich fühle mich schwer und müde“, versteht sie sofort, was ich meine. Als Diagnose wird sie in ihre Unterlagen jedoch nicht das Alltagswort Erkältung schreiben, sondern „akute Rhinopharyngitis“ oder „akute Infektionen an mehreren oder nicht näher bezeichneten Lokalisationen der oberen Atemwege“ (Diagnosekriterien des ICD-10). Und genauso verfahren Psychologen und Therapeuten bei Aufschiebeverhalten.

Aus ärztlicher oder wissenschaftlicher Sicht ist eine klare Trennschärfe der Begriffe wichtig, auch um bei oft vorkommenden Vermischungen zu guten Einschätzungen zu kommen. Für Sie erklärt sich so vielleicht, warum man unterscheidet zwischen sogenannter Aufschieberitis und „echter“ Prokrastination (siehe Kapitel 2). Auch wenn der alltägliche Sprachgebrauch diese Trennschärfe nicht aufweist: In der Beschäftigung mit diesem Thema ist es wichtig zu wissen, was die einzelnen Dinge bedeuten.

In den Fall-Coachings wurde mir klar: Für die Bandbreite von Aufschiebeverhalten gibt es mehr als eine Ursache. Auch mehr als die zwei, die üblicherweise in der Literatur behandelt werden: Probleme mit der Arbeitsorganisation und psychische Probleme aufgrund einer Erkrankung, die zu Aufschiebeverhalten führen.

In meinen Coachings begegneten mir Menschen, hinter deren Aufschiebeverhalten alte Geschichten steckten. Da gab es Emotionen, die mit etwas zusammenhingen, das sie einmal erlebt hatten, oder es gab Zusammenhänge, die sie vermuteten. Als sei irgendeine frühere Begebenheit an eine bestimmte Tätigkeit, ein Vorgehen oder ein Vorhaben geradezu gekettet. Den Betroffenen selbst war das scheinbar nicht bewusst, sodass sie gar nicht darauf gekommen wären, das verhasste Aufschiebeverhalten mit dieser alten Geschichte in Verbindung zu bringen. Als Coach, die mit emotionsbezogenen Methoden arbeitet, wunderte mich das jedoch weitaus weniger als meine Klient*innen. In Kapitel 7, in dem es um Emotionen geht, wird deutlich werden, warum.

Doch wie kam ich überhaupt zu diesem Thema? Eher unerwartet. In meinem ersten Buch, das sich mit der Begabungsform der Scannerpersönlichkeit beschäftigt, hatte ich in einem Kapitel kurz etwas über Prokrastination geschrieben. Sehr häufig werden Scanner nämlich mit Verhaltensweisen in Verbindung gebracht, die an aufschiebendes Verhalten erinnern, de facto aber keine Prokrastination sind. Eine Klientin mit einer Scannerbegabung schob zum Beispiel den Anfang neuer Projekte oder Ideen ständig auf, weil sie Angst hatte, wieder zu der Erkenntnis zu gelangen: „Das ist es nicht.“ Scanner sind ständig auf der Suche nach dem einen Thema, das sie endlich gänzlich erfüllt. Das für sie Typische ist jedoch, dass sie sich immer neuen Themen zuwenden und nicht das eine Thema haben. Ihre vielen Interessen machen also eine sogenannte Scannerpersönlichkeit nicht automatisch zum Aufschieber oder zur Aufschieberin; darauf hatte ich in meinem ersten Buch hingewiesen.

Als meine Lektorin mich dann fragte, ob ich nicht Lust hätte, ein Buch über Aufschieberitis zu schreiben, sagte ich zu, und zwar aus verschiedenen Gründen. Einmal, weil mir das Phänomen in Zusammenhang mit „meinen vielbegabten Scanner*innen“ bereits begegnet war. Und auch, weil ich vor einigen Jahren in meinem näheren Umfeld einen „echten“ Prokrastinationsfall miterlebt habe. Durch diese Vorerfahrung war es mir möglich, die Unterschiede zwischen akademischer sowie krankhafter Prokrastination und Aufschiebemustern im Alltag zu betrachten, denn ich hatte ja ein konkretes Beispiel vor Augen. Vielleicht ist es mir gerade deshalb so wichtig, eine genaue (Er-)Klärung der Begriffe vorzunehmen.

Die bereits erwähnten Coachings zum Aufschieben im Alltag bestätigten sehr schnell meine These, dass hinter der alltäglichen Form des Aufschiebens (oft) andere Mechanismen stecken können, als man auf dem ersten Blick vermutet. Es gibt eine Art Aufschiebeverhalten, das mit Vorerfahrungen und emotionalen Erinnerungen zu tun hat, die meist unbewusst unser Handeln steuern (siehe Kapitel 7 zu Emotionen). Oft ist überhaupt nicht auf Anhieb ersichtlich, welche Verbindung es zwischen Verhalten und einer zurückliegenden Erfahrung gibt. Zum Aufdecken ist eine Art „Spürhundarbeit“ gefragt, und mit einer rein verstandesmäßigen Einsicht und „logischen“ Erklärungen stößt man bald an Grenzen. Aber gerade das macht das alltägliche Aufschiebeverhalten für mich als Coach, die selbst nicht zum Aufschieben neigt, so spannend.

An dieser Stelle könnte der Einwand laut werden, dass die eben beschriebenen Mechanismen doch auch bei Menschen auftauchen, die unter akademischer Prokrastination leiden. Und diesem Einwand stimme ich zu. Es gibt akademische Prokrastinierer, die wirklich „nur“ ein Problem mit der Arbeitsorganisation haben, und solche, hinter deren Aufschieben ganz andere Themen stecken. Im Coaching spricht man dann vom „Thema hinter dem Thema“. Ich konnte mich mit einer Person unterhalten, deren Fall genauso gestrickt war. Sie konnte eine Abschlussarbeit nicht beenden und suchte Hilfe. Angeboten wurden ihr alle klassischen Tipps und Übungen, die für Menschen mit Problemen in der Arbeitsorganisation hilfreich sind. Bei ihr führten sie jedoch zu keiner Veränderung. Und meine Freundin, die Unterstützung in der Prokrastinationsambulanz gesucht hatte (siehe Kapitelanfang), machte wohl die Erfahrung, dass die Ansätze dort hilfreich waren. Und dennoch versteckte sich bei ihr ein Thema hinter dem Thema, das erst Jahre später aufgedeckt werden konnte. Ich erzähle an einer späteren Stelle genauer davon.

Ich stieg also in das Thema ein, und je tiefer ich eintauchte, umso mehr fiel mir auf: In verschiedenen Zusammenhängen, in Online-Medien, Büchern zur Motivation, Artikeln usw. unterscheidet man in der Regel nicht. Prokrastination und Aufschieberitis werden synonym verwendet. Das Verständnis dessen, was sich hinter den Begriffen genau verbirgt, wird m.E. dadurch nur weiter erschwert.

Der Weg durch dieses Buch

Sind Sie als Leser*in jetzt verwirrt? Sehen Sie momentan nur einen Wust und fragen Sie sich, wie Ihnen all das helfen soll, sich selbst besser zu verstehen? Das ist verständlich und tatsächlich werden einige für Sie als Leser*in vielleicht unerwartete Themen behandelt. Doch damit Sie nicht gänzlich die Orientierung verlieren, gebe ich Ihnen im Folgenden einen kurzen Überblick darüber, wie ich das Thema angehe und was auf Sie zukommt.

Zuerst kläre ich die allgemeinen Prokrastinationsbegriffe und biete damit die Möglichkeit, sich in einem ersten Schritt selbst zu sortieren. Wo erkennen Sie sich (teilweise) wieder? Sind sie eher der akademische Aufschiebetyp oder hat ihr Verhalten eine Anbindung an ein weiteres Krankheitsbild oder Verhaltensmuster? Welche Komponenten beeinflussen das Verhalten? Was hat die Fähigkeit, sich selbst zu regulieren, oder was hat Antrieb mit Ihren Problemen zu tun? Hierauf kann Kapitel 2 Antworten geben.

Die Kapitel 3, 4 und 5 greifen Themenbereiche auf, um die man sich im Zusammenhang mit Aufschiebeverhalten vielleicht erst einmal gar keine Gedanken machen würde. Und doch sind die vielen Mythen, die sich um „Aufschieberitis“ ranken, die Art, wie wir motiviert werden, und nicht zuletzt die Art, wie Blockaden unser Denken und Handeln beeinflussen, wichtig für das umfängliche Verständnis aufschiebender Muster. Und zuletzt ist der große Bereich der Emotionen, das, was unser Gefühlsleben beeinflusst, ein weiterer Verständnisschlüssel. Damit befasst sich Kapitel 7. Hier finden Sie auch emotionsbasierte Coachingansätze, die hilfreich bei Aufschiebeverhalten sein können.

Dieses Buch beschäftigt sich auch mit der harten Realität, nämlich mit den potenziellen Gefahren von Prokrastination, die bis zur Bedrohung der Existenz reichen. Hierzu können Sie ein Interview mit einem Betroffenen lesen (Kapitel 2), dessen Prokrastination existenziell gefährdendes Potenzial hatte, und den Bericht einer Angehörigen (Kapitel 6).

Nach diesen vielen Hintergrundinformationen und übergreifenden Verständnishilfen wendet sich das Buch schließlich praktischen Hilfen und Übungen zu. Lesen Sie hier gerne quer. Stöbern sie in den Übungen und probieren sie ruhig das eine oder andere aus. Teilen Sie sich die Wissenshäppchen so ein, wie sie für Sie passen. Und gönnen Sie sich die verschiedenen Ansätze, das „Problem“ hinter aufschiebendem Verhalten zu verstehen.

Dieses Buch unternimmt keinen (erneuten) Versuch, Sie zu motivieren, endlich Ihr Verhalten in den Griff zu bekommen. Es wird Ihnen hoffentlich helfen, zu verstehen, warum Sie aufschieben. Denn: Nur was wir verstehen, können wir nachhaltig verändern. Und dafür möchte ich Ihnen Mut machen – zu erkennen, was hinter den eigenen Mustern steckt, und diese Dinge mit Unterstützung anzugehen.

1.2 Nur „Aufschieberitis“ oder prokrastinierst du schon? Eine erste Annäherung

Prokrastination, lat. Procrastinatio (Vertagung, Aufschub). Im Fremdwörterlexikon Wahrig findet man unter diesem Schlagwort: „Andauerndes Aufschieben von Aufgaben, die erledigt werden müssen, obwohl dieses Verhalten nachteilige Folgen haben kann.“ Und Aufschieberitis? Im Wahrig sucht man zwischen „aufpoppen, aufstylen, auftunen“ und „Augenmigräne“ vergeblich; auch im Duden wird man nicht fündig. Aufschieberitis ist ein Kunstwort.

Warum ist es mir in diesem Buch so wichtig, klare Begriffsdefinitionen und Trennungen vorzunehmen? Von Brene Brown stammt das Wort der „Dehnbarkeit des Konzepts“, das sie im Rahmen ihrer Beschäftigung mit Narzissmus geprägt hat. Der aktuell inflationäre Gebrauch des Wortes Narzissmus, so Brown, habe dazu geführt, dass sich die ursprüngliche Bedeutung verwischt und man Dinge oder Menschen als narzisstisch bezeichnet, die damit eigentlich nichts zu tun haben. Ähnliches beobachte ich bei der Benutzung des Wortes Prokrastination und der Wortschöpfung „Aufschieberitis“. Für Letztere gibt es keine verbindliche Definition, doch im allgemeinen Sprachgebrauch ist sie durchaus gängig. Und deshalb tut ein genauer Blick not, um das Gesamte verstehen zu können.

Der Begriff Prokrastination stammt aus dem klinischen Bereich und bezeichnet in der Regel die sogenannte akademische Prokrastination: im Zusammenhang mit Studium bzw. Lernen anstehende Aufgaben nicht in Angriff nehmen. Das Wort Aufschieberitis hingegen wurde kreiert, um das alltägliche Aufschieben von Aufgaben und Inhalten zu beschreiben. Es hat einen eher belustigten, aber auch verharmlosenden und verniedlichenden Beiklang. Anders Prokrastination. Dieses Wort klingt nach etwas Ernstem.

Doch auch im allgemeinen Sprachgebrauch ist man schnell mit dem Wort Prokrastination bei der Hand. Wenn ich etwas nicht sofort erledige, „prokrastiniere“ ich. Doch genauso üblich ist es zu sagen: Wenn ich öfter mal Dinge nicht unverzüglich angehe, habe ich „Aufschieberitis“.

Während die wissenschaftliche Forschung sich seit einigen Jahren mit der akademischen Prokrastination beschäftigt, wird das alltägliche Aufschiebeverhalten wenig beachtet. Für die betroffenen Menschen bleibt es ein Phänomen, das sie sich nicht erklären können und für das sie selten wirksame Wege zur Veränderung finden.

Das Wichtigste auf einen Blick:

Das Wort Prokrastination findet sich im Fremdwörterlexikon, das Wort Aufschieberitis nicht.

Prokrastination stammt aus dem klinischen Bereich, während Aufschieberitis eine Wortschöpfung für ein Verhaltensmuster ist.

Aufschiebeverhalten findet sich in einem breiten Spektrum und unterschiedlich starker Ausprägung. Um aufschiebendes Verhalten zu verstehen, braucht es Wissen. Auch aus unerwarteten Bereichen.

2. Über das normale Maß hinausgehend: Prokrastination

Was ist noch „normal“ und ab wann ist etwas „nicht mehr normal“? Nehmen wir einmal das Beispiel Fernsehkonsum: Wer sich den „Tatort“ am Sonntagabend anschaut, wer regelmäßig seine Sportsendung oder Comedy-Show einschaltet, dessen Fernsehkonsum hält sich wohl noch im absolut normalen Rahmen. Sitzt aber jemand täglich viele, viele Stunden vor dem Fernseher, befindet er sich wohl eher auf der „nicht mehr normalen“ Seite des Spektrums. Ein solches Spektrum können wir auch beim Aufschiebeverhalten ausmachen. Alle Menschen schieben gelegentlich etwas auf. Das ist absolut normal und keine Prokrastination. Dieser Begriff ist erst angezeigt, wenn das Aufschieben über das normale Maß hinausgeht. Welche Verhaltensweisen und welche möglichen Schicksale sich hinter einer echten Prokrastination verbergen, soll ein Betroffenenbericht zeigen.

2.1 Interview mit einem Prokrastinierer

Im Rahmen meiner Recherchen zu diesem Buch konnte ich mit R. ein Gespräch über seine Prokrastinationsgeschichte führen. Bei ihm zeigt sich ein sehr breit gefächertes Aufschiebeverhalten, das ihn an verschiedenen Punkten in seinem Leben in schwierige Situationen brachte. Er hat auch das erfahren, was man „lebensbedrohliche Konsequenzen“ nennt: auf Beziehungsebene, in finanzieller Hinsicht und teilweise im Beruf.

Auch heute schiebt er noch auf, allerdings beschränkt sich sein Aufschiebeverhalten auf das, was man als „normal“ bezeichnen kann. Wenn man etwas nicht immer sofort erledigt, dann ist das durchaus als positive Fähigkeit zu werten; das wird in der Diskussion um Aufschiebeverhalten oft vergessen. Diese Fähigkeit sorgt dafür, dass wir abwägen können, was gerade Priorität hat und was warten kann. Und fast jeder wird schon einmal die Erfahrung gemacht haben, dass sich Dinge von selbst erledigen, wenn ich sie nicht erledige (mehr zu den positiven Aspekten des Aufschiebens in Kapitel 3.2).

Die Geschichte von R. zeigt sehr schön, wie breit das Spektrum von Aufschiebeverhalten sein kann. Er hatte in der Vergangenheit – gekoppelt an eine psychische Erkrankung – stark aufschiebendes Prokrastinationsverhalten gezeigt, was ihn im Privatleben in schwere Krisensituationen brachte. Auf Beziehungsebene und in finanzieller Hinsicht gab es einschneidende Folgen. Heute, nach mehrstufigen Behandlungen, hat er seine Aufschiebeanlage so weit im Griff, dass er weder sich selbst noch andere in ernsthafte Gefahr bringt.

Und dennoch schiebt er immer noch „im Kleinen“ auf. Doch hierfür kennt er inzwischen den einen oder anderen Kniff, um Dinge, die erledigt oder nicht vergessen werden sollen, in eine für ihn handhabbare Alltagsstruktur zu bringen. Darüber hinaus hat R. in vielen Bereichen hohe Begabungen und kann oft mit wenig Aufwand ein gutes Ergebnis erzielen. Auch davon erzählt er im Interview. Bei ihm reichen oft 80 % Einsatz, um ein Ergebnis zu erzielen, für das viele andere 100 % brauchen würden. Das gibt ihm Luft in seinen Abläufen. Lesen Sie nun, was er erzählt.

AB: Wann wurde dir klar, dass eine echte Prokrastination mit in das Paket hineingehörte, das in deinem Leben geschnürt war?

R: Ich glaube nicht, dass ich das an einem Punkt festmachen kann. Es ist mir einfach irgendwann bewusst geworden, dass das für mich ein Problem ist.

AB: Gab es dafür einen äußeren Anlass?

R: Es war eher so, dass ich mich mit anderen Leuten unterhalten habe, die das auch haben und noch extremer als ich. Irgendwann merkte ich plötzlich, dass ich dachte: „Du musst das jetzt tun. Und wenn du es nicht tust, hat das echte Konsequenzen.“ Bei mir ist es so, wenn ich merke, jetzt hat etwas echte Konsequenzen, dann ist das körperlich spürbar. Mir wird dann immer ganz warm. Das ist dann der Druck, der da ist. Ja.

AB: Kennst du dieses Körpergefühl, die Körperresonanz Wärme auch aus anderen Stresssituationen?

R: Das ist so ein bisschen wie der Moment, wenn dir plötzlich etwas peinlich ist. Wenn du merkst, du hast etwas Peinliches getan.

AB: Ach, ein super Bild.

R: Wenn du merkst „Ups, ich bin ertappt“.

AB: Und du hast dich quasi selbst ertappt?

R: Ja, genau.

AB: Das ist ja ein ganz wichtiges Gefühl. Peinlichkeit drücken wir ja oft weg.

R: Ja, und jetzt, wo wir drüber sprechen …, es ist tatsächlich sehr, sehr ähnlich dem Gefühl, wenn dir etwas peinlich ist. Weil das [das Aufschieben; Anm. d. A.] ja auch völlig unnötig ist! Das ist ja etwas, womit man immer wieder zu kämpfen hat oder womit ich zu kämpfen habe: Etwas nicht zu tun ist ja völlig blödsinnig. Einfach nichts zu tun.

AB: Und alle anderen können es.

R: Ja, alle anderen können es, genau. Das ist wie Händewaschen. Als würde jemand hingehen und sich einfach die Hände nicht waschen. Würde auch nicht dran denken und so. Bis jemand zu ihm sagt: „Schau mal, du stinkst.“ So ungefähr. Genauso ist das mit der Prokrastination. Ich denke nicht darüber nach. Es passiert einfach. Aber es gibt auch Unterschiede. Es gibt Dinge, die ich aufschiebe, von denen ich genau weiß, ich brauche nur einen Wimpernschlag, eine halbe Stunde und dann ist das erledigt.

AB: Sind das die Alltagskleinigkeiten?

R: Nein, das ist vor allen Dingen im Arbeitskontext. Keine Ahnung, ich muss zum Beispiel einen Text oder eine E-Mail schreiben. Das sind diese Dinge, von denen ich weiß, wenn es dann so weit ist, kann ich sie auch schnell erledigen.

AB: Und funktioniert es dann auch? Ist es so, dass das Ergebnis beim Gegenüber dann auch Zufriedenheit hervorruft?

R: Ja, das funktioniert.

AB: Dann bist du da der Typ „Ich kann es auf den letzten Drücker und es reicht dann auch“?

R: Genau.

AB: Diese Herangehensweise hat dir keinen Schaden zugefügt?

R: Nein, genau. Und die 80 % kann ich in sehr kurzer Zeit schaffen.

AB: Du bist ja auch ein ziemlich intelligenter Mensch.

R: Nicht getestet, aber ja.