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Lydia Benecke, Co-Autorin des Long- und Bestsellers AUS DER DUNKELKAMMER DES BÖSEN geht dem Ursprung des Bösen nach. Die Gefängnispsychologin, Fachfrau für besondere Vorlieben (Paraphilien) und erfahrene Ansprechpartnerin für Kriminalermittler nimmt uns mit auf einen Streifzug der Delikte, die uns alle in unserer Gegenwart so beschäftigen: U-Bahn-Schläger, rohe Gewalt, Amokläufer, Tierquälerei, Sadismus, Kannibalismus, Kindesmissbrauch und brutale Misshandlung. Was geht in so einem Täter nur vor? Und wie nah dran sind diese schrecklichen Taten an den ganz normalen Fantasien, die jeder von uns schon einmal hatte?
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Seitenzahl: 451
Lydia Benecke arbeitet als selbstständige Psychologin und als Therapeutin, unter anderem in einer Sozialtherapeutischen Einrichtung des Strafvollzuges mit schweren Straftätern, und hält regelmäßig Vorträge für ein breites Publikum. Als Co-Autorin von Aus der Dunkelkammer des Bösen war sie mit beteiligt an einem Bestseller, der in mehrere Sprachen übersetzt wird. Mehr über sie unter www.benecke-psychology.com
Lydia Benecke
Auf dünnem Eis
Die Psychologie des Bösen
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2013 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Peter Strotmann, Köln Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm Umschlagmotiv: Thomas van de Scheck, Fulda E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-8387-4500-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Gewidmet meiner Schwester im Herzen Vanessa Pastor sowie vier sehr guten Freunden: Laura Brandt, Henrik Hoemann, Sebastian Burda, und Eva Körner. Danke für eure Gastfreundschaft, durch die ich in sicheren Häfen schreiben konnte, und für eure wertvollen Gedanken, die mir bei der Entwicklung dieses Buches halfen.
Wir können leugnen, dass unsere Engel existieren. Uns einreden, dass sie nicht wirklich sein können. Aber sie tauchen trotzdem auf, an seltsamen Orten und zu seltsamen Zeiten. Sie können durch jede Person sprechen, die wir uns vorstellen können. (Aus dem Film »Sucker Punch«)
Wir glauben (…), dass wir
über das Wesen des Verbrechens
nur klar werden können,
wenn wir auf wissenschaftlichem Boden
seine psychologische Natur erkennen.
(Hans Gross)
Warum begehen manche Menschen grausame Verbrechen? Diese Frage beschäftigt Menschen seit Anbeginn der Menschheit. Aufsehenerregende Verbrechen in Deutschland lösen immer wieder Angst und Entsetzen aus. Fälle wie der Mord am zehnjährigen Mirco, begangen 2010 von dem unauffälligen Familienvater Olaf H., oder die Verbrechensserie des als »Maskenmann« bekannt gewordenen Serienmörders Martin Ney, der als Pädagoge mit Kindern arbeitete, während er fast zwanzig Jahre lang kleine Jungen sexuell missbrauchte und mindestens fünf von ihnen tötete.
Solche scheinbar unbegreiflichen Verbrechen werfen Fragen auf. Fragen wie: Werden manche Menschen »böse« geboren? Entscheiden sie sich, »böse« zu sein, und bleiben es dann ein Leben lang? Auf diese und viele ähnliche Fragen hat die Wissenschaft inzwischen Antworten gefunden. Beide Fragen kann man klar mit »Nein« beantworten. Doch es gibt Eigenschaften, die manche Menschen stärker entwickeln als andere, wegen derer es ihnen leichter fällt, grausam zu handeln. Im Laufe dieses Buches werde ich Sie mit diesen Eigenschaften vertraut machen.
Sie werden sehen, dass sehr viele Menschen das eine oder andere dieser zerstörerischen Charaktermerkmale in sich tragen. Wie viele davon nötig sind, um einen Menschen grausam handeln oder sogar grauenvolle Verbrechen begehen zu lassen, weiß man nicht. Sicher ist nur: Je mehr dieser Bausteine ein Mensch in sich vereint, desto leichter fällt es ihm, grausam zu handeln. Eine klare »Formel für das Böse« gibt es allerdings nicht. Sie werden überrascht sein, dass einige Menschen, die ungewöhnlich viele potenziell »böse« Eigenschaften in sich vereinen, nie Straftaten begehen. Einige Menschen nutzen sie sogar, um damit etwas Nützliches zu tun.
Dieses Buch bietet keine einfachen Antworten auf Fragen nach »Gut« und »Böse«. Einfache Antworten gibt es in diesem Bereich nicht. Doch Sie werden die Logik hinter »guten« und »bösen« Entscheidungen begreifen. Sie werden sehen, dass das Eis, auf dem Sie selbst in dieser Hinsicht stehen, dünner ist, als Sie bisher glaubten. Im Grunde trennt Sie nur ein schmaler Grat von jenen Menschen, die »böse« und grausam handeln. Sie werden in die Köpfe dieser Menschen schauen, Sie werden über ihre Gefühle und Gedanken vermutlich entsetzt sein. Ich lade Sie trotzdem ein auf eine Reise durch die Innenwelt von Psychopathen, von unterschiedlichsten Verbrechern und kaltblütigen Mördern.
Wenn Sie das Wort »Psychopath« hören, verbinden Sie damit viele düstere Vorstellungen über zutiefst böse Menschen. Sie denken an Serienmörder und Horrorfilmfiguren, sprichwörtliche »Ausgeburten der Hölle«, Monster in Menschengestalt. Im Laufe dieses Buches werden Sie durch die Augen einiger Psychopathen blicken. Sie werden erkennen, warum Psychopathen ein fast Ehrfurcht erregendes Grauen in den meisten Menschen auslösen. Der Baukasten des Bösen, den ich Ihnen in diesem Buch vorstelle, besteht aus psychopathischen Eigenschaften. Diese Eigenschaften machen Psychopathen zu dem, was sie sind: Menschen, die unmenschlich wirken und denen es leichtfällt, unmenschliche Taten zu begehen – wenn sie es wollen.
Echte, »alltägliche« Psychopathen haben vieles mit ihren »Artgenossen« aus Büchern und Filmen gemeinsam. Können Sie sich vorstellen, wo die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit verläuft, wenn es um das »Böse in Menschengestalt« geht? Um diese Frage zu beantworten, bat ich den deutschen Fantasy-, Horror- und Science-Fiction-Autor Markus Heitz, mir zu beschreiben, wie er einen Psychopathen in einem Roman darstellen würde. Sein 2013 erschienener Thriller »Totenblick« handelt von einem psychopathischen Serienmörder. Das Bild, das er für mich entwirft, kommt dem eines echten Psychopathen extrem nahe: »Dieser Mensch ist völlig normal, nett und hilfsbereit, sodass man ihn für eine freundliche Person aus der Nachbarschaft hält, die kleine Kätzchen rettet und Omas die Einkäufe trägt.« Meine Frage nach besonderen Kennzeichen verneint der Autor: »Diese Person trägt in der Öffentlichkeit normale Kleidung, um nicht zu sehr aufzufallen, um sich an ihre Umgebung anzupassen, damit sie sich unauffällig darin bewegen kann.« Ich will wissen, was die anderen über diesen Nachbarn denken. »Das sind solche Menschen, von denen sie später sagen: ›Das hätte ich niemals von ihm gedacht.‹ Oder: ›Der war immer so nett und hat sich in die Nachbarschaft eingebracht.‹ Oder: ›Er hat sogar die Tombola organisiert.‹ Etwas in der Art.« Und wie würde der Schriftsteller den Charakter dieses Psychopathen anlegen? »Es würde sofort klar werden«, so Heitz, »dass ihm die Menschen gleichgültig sind, dass er keinerlei Empathie hat und er Emotionen vorspielt, was er in Perfektion beherrscht.« Also ein recht intelligenter Zeitgenosse? Heitz bejaht: »Er wäre manipulativ, um an sein Ziel zu gelangen, er würde ein Netz aus Nettigkeiten flechten, Fallen aus Verpflichtungen für andere aufstellen und sie gnadenlos zum Erreichen seiner Pläne einsetzen.« Diese Intelligenz paart sich jedoch mit erheblicher Rücksichtslosigkeit: »Er würde mit Lügen arbeiten und sich immer im Recht sehen, was ihn in die Lage versetzt, alles zu tun, ohne dabei Skrupel zu entwickeln. Die anderen sind ihm im Weg – oder Erfüllungsinstrumente.«
Als ich Markus Heitz frage, was ihn im wirklichen Leben auf den Gedanken bringen würde, jemand könnte ein Psychopath sein, sagt er: »Je auffälliger sich jemand benimmt, in Art, Kleidung, Ausdrucksweise, desto unwahrscheinlicher ist es, dass er in diese Gruppe gehört. Das wäre meine laienhafte Einschätzung.« Dann erzählt er von zwei Bekannten, von denen er im Nachhinein den Eindruck hatte, sie könnten Psychopathen gewesen sein: »Anfangs waren es tatsächlich scheinbar normale Menschen, die sich jedoch extrem freundlich und einschmeichelnd gaben, die mit Druck Nähe suchten, sich unentwegt und ungefragt meldeten, nachhakten, viel in Eigeninitiative in die Wege leiteten und danach Lob dafür haben wollten – ohne dass man sie darum gebeten hätte.« Als ihre Maskerade aufflog, änderte sich ihr Auftreten von Grund auf: »Sie zogen sich in Behauptungen und Argumentationen zurück, die nur für sie selbst schlüssig waren und Sinn ergaben. Diese Personen leben in ihrer eigenen Wahrheitswelt und schirmen andere Meinungen und sogar Fakten gegen diese Welt ab, sodass sie immer recht haben und die anderen immer die Bösen sind.« Sein Fazit: »Es ist unglaublich faszinierend, solche Menschen zu beobachten. Es ist unglaublich nervend, an solche Menschen zu geraten.«
Was muss in einem Menschen vorgehen, der mehr als zweihundert Menschen tötet, mit sportlicher Gelassenheit, wie ein Jäger das zum Abschuss freigegebene Wild? Richard Leonard Kuklinski, genannt »Der Eismann«, war fast vierzig Jahre lang »Menschenjäger« von Beruf. Seinen ersten, ungeplanten Mord – an dem Anführer einer kleinen Bande – beging er 1948, als er dreizehn Jahre alt war. Danach begann er, gezielt zum eigenen Vergnügen zu töten und seine »Fähigkeiten« darin immer weiter zu verfeinern. Er erschlug, erstach und erschoss Männer in der West Side von Manhattan. Besonders gefiel ihm daran »die Jagd und die Herausforderung«. Auf sein »Naturtalent zum Töten« wurde bald die New Yorker Mafia aufmerksam.
Fortan verband Kuklinski für sich das »Angenehme« mit dem »Nützlichen«: Er tötete im Auftrag der Mafia und wurde dadurch ein wohlhabender Mann. Seine Frau Barbara, zwei Töchter und ein Sohn lebten mit ihm in einem wohlhabenden Vorort von Dumont, New Jersey. Kuklinski behauptete auch ihnen gegenüber, er sei Geschäftsmann – was noch nicht einmal völlig gelogen war. Er war wie geschaffen für das »Geschäft mit dem Tod«. Obwohl er zu unterschiedlichsten Tages- und Nachtzeiten zur »Arbeit« ging, wagte es die Familie nicht, ihm Fragen zu stellen, denn Kuklinski richtete sein aufbrausendes, gewalttätiges Temperament nicht selten auch gegen seine Frau und seine Kinder. Dennoch waren sie die einzigen Menschen, von denen »Der Eismann« sagte, er habe sie geliebt.
Da Sie im Begriff sind, dieses Buch zu lesen, wollen Sie etwas über die »Psychologie des Bösen« erfahren. Steckt dahinter nur das Interesse, die Welt und ihre Verbrechen besser zu verstehen? Oder schwingt auch tief in Ihrem Inneren eine Faszination für das Böse mit? Eine Faszination, die über rein sachliches Interesse hinausgeht? Diese Frage warf auch Markus Heitz auf, als er mir seine Sichtweise auf Psychopathen eröffnete: »Sollte es nicht ein wenig verstörend sein, wenn man bedenkt, wie viele Menschen gerne Bücher lesen und Filme anschauen, in denen psychopathische Mörder ihr Unwesen treiben? Woher rührt die Faszination? Inwieweit identifiziert sich der Zuschauer oder Leser mit dem Anti-Helden? Und: Was sind das für Autoren, die sich so etwas ausdenken und denen es auch noch Spaß macht, ihre Figuren sich austoben zu lassen?«
Anders gesagt – tragen wir nicht alle die Anlagen zum Psychopathen in uns? Mit dieser Frage möchte ich den Vorhang zur Bühne des Bösen aufziehen.
Süße Träume sind daraus gemacht.
Wer bin ich, dem zu widersprechen?
Bereise die Welt und die sieben Meere.
Jeder ist auf der Suche nach etwas.
(Sweet Dreams, Eurythmics)
Cheryl Bradshaw ist eine junge, gutaussehende Schauspiellehrerin auf der Suche nach der großen Liebe. Sie weiß sich darzustellen, ist selbstbewusst, humorvoll und redegewandt. 1978 bewirbt sie sich als Kandidatin für eine Fernsehsendung. Vielleicht kann sie dort den Mann ihrer Träume treffen. Dies hofft sie zumindest, als sie gutgelaunt, mit einem strahlenden Lächeln, die Showbühne betritt. Die Sendung, für die sie sich beworben hat, ist zu dieser Zeit eine der bekanntesten in den USA (eine deutsche Version wird später unter dem Titel »Herzblatt« populär). Der Titel »The Dating Game« verrät auf den ersten Blick, worum es geht: Die Sendung ist ein Spiel mit Gefühlen, in dem Selbstdarstellung und Schlagfertigkeit alles entscheiden. Drei Männer werben um Cheryls Gunst. Cheryl kennt keinen von ihnen, weiß nicht, wie sie aussehen, wie alt sie sind, was sie beruflich machen oder wie sie heißen. Die Männer sitzen hinter einem Sichtschutz, unsichtbar für Cheryl. Allein mit Worten versucht jeder von ihnen, die junge Frau für sich zu gewinnen.
Kandidat Nummer eins ist der 35-jährige Rodney Alcala. Der Moderator stellt ihn den Zuschauern vor, ohne dass Cheryl es hören kann: »Er ist ein erfolgreicher Fotograf, der mit dreizehn seine Fotoleidenschaft entdeckte, als sein Vater ihn in der Dunkelkammer antraf – voll entwickelt.« Diesem doppeldeutigen Wortwitz fügt der Moderator hinzu: »In seiner Freizeit ist er Fallschirmspringer und fährt gerne Motorrad.« Schon diese Beschreibung lässt viele Frauenherzen im Publikum höherschlagen. Hinzu kommt sein sympathisches Äußeres, das Cheryl vorerst noch verborgen bleibt: Rodney ist ein attraktiver Latino-Typ. Sein Lächeln ist mindestens ebenso strahlend und freundlich wie das von Cheryl. Und er lächelt viel, wobei seine Augen fröhlich, geradezu kindlich unschuldig strahlen. Gekleidet ist er in einen modischen, dunkelbraunen Anzug. Das weiße Hemd darunter hat er betont weit aufgeknöpft. Sein langes, dichtes, leicht gelocktes Haar ist fast schwarz. Es fällt offen hinter die Schultern. Seine beiden Mitbewerber, in hellen Anzügen mit kurz geschnittenen Haaren, wirken blass und dröge neben dem lebhaften Rodney, der die gesamte Show über alle Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Schon der erste Satz, mit dem er sich Cheryl vorstellt, wirkt siegessicher: »Wir werden eine großartige Zeit zusammen haben, Cheryl.« Derart von sich selbst überzeugt beantwortet er auch alle Fragen. »Was ist deine liebste Tageszeit?«, fragt Cheryl verschmitzt lächelnd. Ohne zu zögern, erwidert Rodney: »Die beste Zeit ist bei Nacht, die Nachtzeit.« »Warum findest du das?«, hakt Cheryl nach. »Weil es die einzige Zeit überhaupt ist«, antwortet Rodney geheimnisvoll. »Was hast du gegen den Morgen oder den Nachmittag?«, will Cheryl genauer wissen. »Diese Zeiten sind in Ordnung, aber die Nacht ist die Zeit, wo es wirklich gut wird«, erwidert Rodney.
Cheryls nächste Frage fordert das schauspielerische Talent ihrer Bewerber heraus. »Ich bin Schauspiellehrerin und möchte jedem von euch eine private Unterrichtsstunde geben«, beginnt sie. An Rodney gewandt spricht sie weiter: »Du spielst einen geilen, alten Bock. Leg los!« Mit lüsternem Gesichtsausdruck und rauchiger Stimme presst Rodney hervor: »Komm hier herüber«, was er mit einem animalischen Stöhnen abrundet. Einen Augenblick später lächelt er wieder über das ganze Gesicht, wie ein Schüler, der seine Lehrerin mit einem besonders lustigen Witz unterhalten hat. Cheryl ist hingerissen von Rodneys schauspielerischem Naturtalent, dem er ohne auch nur einen Hauch von Nervosität freien Lauf lässt.
Mit ihrer letzten Frage bietet Cheryl Rodney eine weitere Steilvorlage, um sich besonders selbstsicher darzustellen: »Ich serviere dich als Speise zum Essen. Welches Nahrungsmittel bist du und wie siehst du aus?« Mit selbstsicherem Gesichtsausdruck erwidert Rodney sofort: »Ich werde die Banane genannt, und ich sehe wirklich gut aus.« »Kannst du das etwas anschaulicher beschreiben?«, fragt Cheryl. »Schäl mich«, kontert Rodney herausfordernd, womit er sowohl Cheryl als auch das Publikum zum Lachen bringt.
Als sich Cheryl am Ende der Show für einen Kandidaten entscheiden muss, fällt ihr dies sichtlich leicht. Übers ganze Gesicht strahlend sagt sie: »Ich mag Bananen, deshalb wähle ich Kandidat Nummer eins.« Rodney lacht offensichtlich hocherfreut über seinen Sieg. Er kommt hinter der Wand hervor, strahlt Cheryl an, die sichtlich begeistert von seinem Anblick ist. Dann umarmt er sie zur Begrüßung und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. Als sei sie bereits seine feste Freundin, legt Rodney den Arm um ihre Hüfte und bleibt so eng neben ihr stehen, während der Moderator verkündet, was die beiden gewonnen haben: gemeinsamen Tennisunterricht und einen Ausflug in einen großen Freizeitpark. Cheryl empfindet Rodneys stürmische Annäherung offenbar keineswegs als unangenehm. Die beiden lachen sich glücklich an und sehen aus wie ein frisch verliebtes Traumpaar.
Was Cheryl nicht weiß: Rodney hat zu diesem Zeitpunkt bereits mindestens fünf Frauen vergewaltigt und brutal ermordet. Ein achtjähriges Mädchen, das er zehn Jahre zuvor vergewaltigte und zu töten versucht hatte, überlebte nur mit sehr viel Glück schwer verletzt. All dies ahnt niemand, der den gutaussehenden, wortgewandten, charmanten Rodney als Sieger der Show zu sehen bekommt. Doch hinter den Kulissen erhaschen Cheryl und die beiden Mitbewerber einen kleinen Einblick in sein wirkliches Wesen.
Rodney Alcala 1978 in der Show »The Dating Game«.
Sobald er außer Sichtweite der Kameras ist, benimmt Rodney sich wie ein anderer Mensch. Wie ein Schauspieler, der auf der Bühne eine Rolle sehr überzeugend spielte, mit der er in seinem wahren Leben nicht viel gemeinsam hat. Rodney ist hinter den Kulissen einerseits eher still, andererseits fällt er anderen plötzlich ins Wort und versucht sie aufdringlich zu beeindrucken. Jed Mills, während der Show der Mitbewerber direkt neben ihm, erinnert sich später, dass Rodney auf ihn hinter den Kulissen unausstehlich und unheimlich wirkte. Er verhielt sich, als wolle er den anderen absichtlich einen Einblick in sein wahres Wesen geben. Mills beschreibt später: »Letztlich habe ich den Kerl nicht nur unsympathisch gefunden, ich wollte gar nicht in seiner Nähe sein. Er wurde immer unangenehmer und seltsamer. Das war der gruseligste Kerl, den ich in meinem Leben getroffen habe.« Diese Wirkung hat Rodney auch auf Cheryl. Sie lehnt es danach ab, ihn wieder zu treffen – was ihr wahrscheinlich das Leben rettet.
Rodney ist sich absolut bewusst, wie sehr er auch Cheryl direkt nach der Show abschreckt. Er setzt sein Verhalten gezielt ein, um die Menschen in seiner Umgebung zu beeinflussen. Auf den ersten Blick wirkt, was er tut, widersprüchlich: Zuerst macht er bei einer Spielshow mit und legt sich charmant ins Zeug, damit eine fremde Frau ihn als Verabredung auswählt. Doch hinter den Kulissen verwandelt er sich ins genaue Gegenteil. Plötzlich verhält er sich bewusst unangenehm und verschreckt die anderen, auch seine Eroberung. Wenn man genauer hinschaut, macht sein Verhalten aber sehr viel Sinn.
In beiden Situationen erreicht er genau das, was er gerade will. An der Fernsehshow nimmt Rodney nicht teil, weil er eine Frau kennenlernen möchte. Frauen kennenzulernen ist eine seiner leichtesten Übungen. Er weiß, dass Frauen ihn attraktiv finden, er weiß genau, was sie hören wollen. Als Berufsfotograf kann er jede Frau, die ihm gefällt, einfach ansprechen und ihr damit schmeicheln, dass er sie als Modell will. Es ist nicht das mögliche Date, das Rodney in die Sendung lockt, es ist die Sendung selbst.
»The Dating Game« ist zu dieser Zeit überaus beliebt. Rodney möchte im Fernsehen von einem Millionenpublikum gesehen werden und dabei sein eigenes, kleines Theaterstück vorführen. Er spielt die Rolle »Rodney – unwiderstehlicher Draufgänger mit dem sympathischen Lächeln«. In seinem persönlichen Drehbuch hat er die gesamte Handlung schon entworfen: »Rodney, der Unwiderstehliche« wird in der Show nicht nur umwerfend auf die Zuschauer wirken, er wird seine Mitspieler in den Schatten stellen und das Herz der Dame im Sturm erobern.
Die Show wird zu Rodneys persönlicher Bühne, auf der sein Stück genau so aufgeführt wird, wie er es will. Da ist er sich sicher, denn er weiß, was er kann. Er versteht die »Spielregeln«, nach denen sich normale Menschen verhalten, und benutzt sie, um andere zu beeinflussen. Ihm ist klar, wie er sich verhalten muss, um in einem anderen Menschen ein bestimmtes Gefühl zu erzeugen. Dieses Gefühl bestimmt mit darüber, wie sich dieser Mensch verhalten wird. So bringt Rodney Menschen oft dazu, das zu tun, was er will.
Ein weiterer großer Vorteil dabei ist, dass die meisten normalen Menschen noch nie darüber nachgedacht haben, dass es diese Spielregeln überhaupt gibt. Deshalb können sie gar nicht bemerken, wie gezielt er mit ihnen spielt. Weil sie normal sind, kommen sie gar nicht auf den Gedanken, dass eine kleine Anzahl von Menschen nach völlig anderen Spielregeln funktioniert. Rodney ist einer dieser »anderen« Menschen – er ist Psychopath.
Seine Welt ist völlig anders als die normaler Menschen. Er fühlt, denkt und handelt nicht wie sie. Wie alle Psychopathen hat er schon als Kind gemerkt, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmt. Psychopathische Kinder erleben, dass alle anderen anscheinend nach denselben »Regeln« fühlen, denken und handeln – nur sie selbst nicht. Doch sie merken auch früh, dass es besser für sie ist, so zu tun, als würden diese Regeln auch für sie gelten. Je älter sie werden, desto besser können sie ihren Mitmenschen die Rolle vorspielen, die ihnen gerade nützlich ist. Sie werden zu immer besseren Schauspielern und können ihr wahres Inneres zunehmend verbergen.
Hinter den Kulissen wird Rodney, für alle völlig überraschend, ein anderer Mensch, da zeigt er bewusst den »wahren« Rodney. Ihm ist klar, wie der »wahre« Rodney auf andere Menschen wirkt: unangenehm und abschreckend. Denn dieser Rodney sieht und empfindet andere Menschen nur als Dinge. Dinge, die ihm entweder nutzen oder schaden oder ihm egal sind. Während der Show geht es ihm nicht darum, Cheryl als einzelne Person für sich zu gewinnen. Er will die vielen Zuschauer beeindrucken und sich damit beweisen, dass er Millionen von Menschen täuschen kann. Dass sie ihm seine Show als strahlender Traumprinz abkaufen und in ihm den verdienten Sieger sehen.
Dieses Ziel hat er erreicht, als er mit Cheryl die Bühne verlässt. Ab diesem Moment ist sie ihm egal, ebenso wie ihm seine Mitbewerber vor der Show höchstens lästig waren. Er hat auf ganzer Linie gewonnen. Daher hat er keinen guten Grund, weiter seine charmante Maske zu tragen. Cheryl interessiert ihn weder menschlich noch sexuell. Schließlich kann er sie nicht vergewaltigen oder töten, ohne dass die Ermittlungen nach dieser Show zu ihm führen würden. Sie war nur die Trophäe, die er von der Bühne tragen wollte – mehr nicht.
Rodney hat allerdings noch einen weiteren Grund, hinter der Bühne sein wahres Gesicht zu zeigen: Damit kann er sich selbst noch mehr beweisen, wie viel Macht er wirklich hat. Denn Macht ist jedem Psychopathen extrem wichtig. Macht über andere Menschen zu haben bedeutet, sie wie Marionetten steuern zu können. Damit beweist sich der Psychopath, dass er ihnen überlegen ist.
Rodney weiß, wie sehr er die anderen verstört, wenn er hinter den Kulissen seine Maske ablegt, wenn er plötzlich ohne jeden Grund bösartig und rücksichtslos auftritt, wo er sich doch gerade noch freundlich und humorvoll gab. Normale Menschen haben für eine solch plötzliche, grundlose Veränderung keine Erklärung. Es wirkt einfach gruselig auf sie und schüchtert sie ein. Genau dies will Rodney erreichen. Für ihn ist es das Dessert nach dem Hauptgericht.
Rodney will bei den anderen schlechte Gefühle hinterlassen – was diesen Abend, vor allem aber seine Person angeht. Sie sollen ihn nie vergessen und sich für immer vor ihm fürchten, ohne je zu verstehen, wie eine solch krasse »Verwandlung« möglich ist. Indem er ihnen auf diese Weise in Erinnerung bleibt, beeinflusst er sie für den Rest ihres Lebens, wie sein Mitkandidat Mills 32 Jahre später in einem Interview bestätigt:
»Damals bin ich Teil eines Albtraums geworden … Je mehr Zeit vergangen ist, umso unheimlicher wird mir die Sache, denn sie sickert langsam immer weiter in mich ein. Was dieser Kerl getan hat, ist schwer auszudrücken. Er verfolgt mich irgendwie ein wenig. Wenn ich nur darüber rede, zieht sich mir der Magen zusammen.«
Rodrigo Jacques Alcala-Buquor kommt am 23. August 1943 in Texas zur Welt. San Antonio, seine Geburtsstadt, ist die siebtgrößte Stadt der USA und eine Einwanderermetropole. Rodrigos Eltern, Raoul und Anna Maria, waren aus Mexiko nach San Antonio gezogen, um ein besseres Leben in den USA zu finden. Als er geboren wird, haben die Eltern bereits die einjährige Tochter Marie Therese und den zweijährigen Sohn Raoul Jr. Mit ihnen zusammen lebt auch die Großmutter mütterlicherseits.
Seine Schwester Marie Christine wird vier Jahre nach ihm geboren. Die Eltern schicken Rodrigo in einen katholischen Kindergarten und eine katholische Grundschule. Kurzfristig zieht die Familie nach Mexiko, als er acht Jahre alt ist. Dies ist der letzte Wunsch seiner inzwischen kranken Großmutter, die vor ihrem Tod noch einmal in ihrer Heimat leben möchte. Im selben Jahr stirbt sie, doch die Familie bleibt für drei Jahre in Mexiko.
Als er elf Jahre alt ist, verlässt Rodrigos Vater die Familie. Seine Mutter zieht mit den Kindern zurück in die USA, diesmal nach Los Angeles in Kalifornien. Sie schickt ihren Sohn erneut auf eine katholische Schule und ein Jahr später auf eine private, katholische High School. In seinem letzten Schuljahr, als er siebzehn Jahre alt ist, lehnt es Rodrigo ab, weiter eine katholische Einrichtung zu besuchen. Daraufhin wechselt er auf eine öffentliche High School, wo er seinen Abschluss macht.
Im selben Jahr meldet sich Rodrigo – der sich inzwischen Rodney nennt – freiwillig für die US-Armee. Dort will er eigentlich Fallschirmjäger werden. Stattdessen wird ihm für die nächsten vier Jahre ein Bürojob zugeteilt. Als er neunzehn ist, stirbt sein Vater überraschend. Obwohl er seit acht Jahren von der Familie getrennt lebte, besuchen seine Kinder und seine Ex-Frau die Beerdigung. Ein Jahr später flieht Rodney vom Armeegelände und fährt fast fünftausend Kilometer per Anhalter, bis er vor dem Haus seiner Mutter steht. Daraufhin wird er ins Militärkrankenhaus eingeliefert, wo man einen Nervenzusammenbruch und eine schwere Antisoziale Persönlichkeitsstörung feststellt. Deshalb wird er aus medizinischen Gründen aus der Armee entlassen. Rodney zieht zu seiner Mutter nach Los Angeles.
Mit einundzwanzig versucht Rodney sein Leben in Los Angeles neu auszurichten. Er zieht in ein Apartment auf der De Longpre Avenue in Hollywood – wo zur gleichen Zeit auch der bekannte Schriftsteller Charles Bukowski lebt. Ob die zwei sich jemals begegnen, ist unbekannt. Beide führen unstete, getriebene Leben, mitten in Hollywood, der »Stadt der Träume«. Rodneys weitere Geschichte ist jedoch so abenteuerlich, dass sie einem der Bücher Bukowskis entsprungen sein könnte.
Er schreibt sich an der »University of California« in Los Angeles ein und erlangt 1968 den »Bachelor der bildenden Künste«. Im September desselben Jahres – er ist fünfundzwanzig Jahre alt – spricht er die achtjährige Tali Shapiro auf dem berühmten Sunset Boulevard an, während sie unterwegs zur Schule ist. Sie lässt sich von ihm überreden, in sein Auto zu steigen und ihn in sein Apartment zu begleiten. Zufällig beobachtet dies ein Motorradfahrer, dem die Sache verdächtig vorkommt. Er verfolgt das Auto und sieht, wie Rodney mit dem Mädchen im Apartment verschwindet. Daraufhin benachrichtigt er die Polizei.
Der Polizeibeamte Chris Camacho erinnert sich noch viele Jahre später lebhaft an den Tag, als er Rodney Alcala begegnete:
»Ich klopfte an die Tür und sagte: ›Hier ist die Polizei. Öffnen Sie die Tür. Ich muss mit Ihnen reden.‹ An das Gesicht dieses Mannes an der Tür werde ich mich für immer erinnern. Ein sehr bösartiges Gesicht. Er sagte: ›Ich stand grad unter der Dusche. Muss mich nur kurz anziehen.‹ Ich erwiderte: ›O. k. Sie haben zehn Sekunden. Öffnen Sie die Tür. Ich muss mit Ihnen sprechen.‹ Dann trat ich die Tür ein. Was ich da erblickte, wird mich für immer verfolgen. Wir konnten sehen, dass auf dem Küchenboden ein Körper lag, in einer großen Blutlache. Sie war vergewaltigt worden und schien nicht mehr zu atmen. Ich dachte, sie sei tot. Wir alle dachten, sie sei tot.«
Auch dem Staatsanwalt Matt Murphy bleibt der Tatort für immer in Erinnerung: »Es gibt ja den Spruch: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Dieses Bild der kleinen Mädchenschuhe auf dem Boden und der Metallstange, mit der er versucht hat, sie zu ersticken. Diese Blutlache … es sah aus wie viel zu viel Blut, als dass es aus diesem kleinen, achtjährigen Mädchen hätte kommen können.«
Camacho wird auch nie den Augenblick vergessen, der den Polizeibeamten wie ein Wunder erschien: »Plötzlich begann sie zu würgen und nach Luft zu ringen, und ich dachte: Ein Punkt für die Guten, sie wird es schaffen.« Tali überlebt nur sehr knapp. Sobald sie körperlich gesund genug ist, verlassen ihre Eltern mit ihr das Land.
Rodney gelingt es in den wenigen Sekunden Vorsprung, die er sich gegenüber der Polizei verschafft hat, durch die Hintertür seines Apartments zu entkommen. Das Chaos und der Schock am Tatort verschaffen ihm noch etwas mehr Zeit. Die Polizeibeamten können nicht mehr ausmachen, wohin er geflohen ist. Sie finden im Apartment immerhin einige Ausweispapiere, darunter seinen Studentenausweis. Und sie machen einen weiteren schockierenden Fund: massenhaft von Rodney aufgenommene und entwickelte Fotos, auf denen kleine Mädchen zu sehen sind.
Rodney scheint sich in Nichts aufgelöst zu haben. Es kommen Gerüchte auf, er sei nach Mexiko, Kanada oder Europa geflohen. Während die Polizeibeamten ermitteln, stellen sie fest: Ihnen ist nicht nur völlig unbekannt, wo er ist, es wird auch zunehmend unklarer, wer er in Wirklichkeit ist. Sie befragen Menschen, die ihn kennen. Seine Professoren und Kommilitonen an der Universität sind überzeugt, Rodney könne nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun. Sie glauben, das müsse ein tragischer Irrtum sein. Keiner von ihnen kann sich vorstellen, dass der freundliche, wortgewandte, gebildete junge Mann, den sie kennen, ein grausamer Sexualverbrecher ist.
Die Polizeibeamten erkennen, dass der flüchtige Täter ein sehr geschickter Schauspieler ist, der problemlos für lange Zeit untertauchen kann. Angesichts der vielen Fotos in seiner Wohnung und der unglaublich brutalen Tat sind sie sicher: Er wird es wieder tun. Deshalb wenden sie sich an das FBI. 1969 setzt das FBI Rodney auf die Liste der zehn meistgesuchten Verbrecher der USA. Zwei Jahre lang gibt es jedoch nicht den geringsten brauchbaren Hinweis.
Rodney hat sich währenddessen eine neue Identität aufgebaut. Viereinhalbtausend Kilometer von Los Angeles entfernt lebt er als »John Berger« in New York. Er zieht ins East Village, ein alternatives Künstlerviertel, und lebt von Aushilfsjobs und als bezahlter Fotograf. Kaum einen Monat nach seiner Flucht beginnt er ein Kunststudium an der New Yorker Universität. Dort besucht er auch einen Filmkurs, den der bekannte Regisseur Roman Polanski leitet. Kurz darauf, in den Semesterferien, wird Rodney Betreuer und Lehrer in einem »Kunst- und Schauspiel-Sommerlager« für Mädchen in New Hampshire. So vergehen drei Jahre, in denen er seiner ganz persönlichen Liebe für Kunst auf verschiedenste Weise nachgeht.
Außerhalb seines Studiums und seiner Nebenjobs verbringt er viel Zeit damit, mit seiner professionellen Kamera durch New Yorks Straßen zu flanieren. Er spricht Hunderte junger Frauen und Mädchen an, stellt sich als professioneller Fotograf vor und bittet sie charmant, für ihn Modell zu stehen. Sehr viele der Angesprochenen fühlen sich geschmeichelt und willigen begeistert ein. Einige fotografiert er an den Orten, an denen er ihnen begegnet, andere kommen in seine Wohnung. Dort kann er viele davon überzeugen, sich für ihn auszuziehen und als Akt fotografieren zu lassen. Hat er sie erst so weit, versucht er sie zu verführen. Viele können dem attraktiven, charmanten jungen Künstler nicht widerstehen.
Die New Yorker Weinkritikerin Alice Feiring erinnert sich über vierzig Jahre später an ihre Begegnung mit Rodney. Er spricht die damals 13-Jährige in einer Buchhandlung am St. Marks Place an, mitten im Künstlerviertel East Village. Sie hat ein Buch des französischen Philosophen Albert Camus in der Hand. Rodney verwickelt Alice in ein Gespräch über philosophische Theorien und bringt sie dazu, mit ihm durch das Viertel zu spazieren. Während des Gesprächs sammelt er unauffällig Informationen über sie, mit denen es ihm immer besser gelingt, sie zu beeinflussen. Das Mädchen ist nervös, weil der gutaussehende, gebildete Fotograf so viel älter ist als sie selbst. Doch er lässt ihr keine Zeit, zu erfassen, wie merkwürdig die Situation ist. Als sie an einem jüdischen Restaurant vorbeikommen, erwähnt er wie zufällig, dass er auch Jude sei, ebenso wie sie. Dies ist einer von vielen Tricks, die er anwendet, um ihr Vertrauen zu gewinnen.
Plötzlich bleibt er vor einem Haus stehen und sagt: »Hier wohne ich.« Dann fügt er ganz selbstverständlich hinzu: »Ich würde dich unglaublich gerne fotografieren.« Alice wird misstrauisch, denn sie hält sich nicht für eine besondere Schönheit. Rodney bemerkt dies sofort und hat gleich eine schlüssige Erklärung für seinen Wunsch. Er sagt, dass er das farbliche Zusammenspiel ihrer roten Haare mit den leuchtend roten Knöpfen ihres schwarzen Regenmantels vor dem momentan herrschenden Nebel für ein sehr gutes Fotomotiv hält. Inzwischen weiß er, dass Alice selbst begeistert malt und dieses Argument ihr aus künstlerischer Sicht vollkommen schlüssig erscheint. Dennoch bleibt Alice unsicher, sodass er ihr vorschlägt, sie müsse ihn ja nicht in seine Wohnung begleiten. Ein solches Bild ließe sich sehr gut auf dem Dach seines Hauses machen. Das scheint ihr eine gute Lösung zu sein, denn dort fühlt sie sich sicher. Einer der Hausbewohner wird sicher hören, sollte sie um Hilfe rufen, also schätzt sie die Gefahr nicht allzu groß ein.
Während Rodney die Fotos mit ihr auf dem Dach macht, verwickelt er sie immer weiter in freundliche, interessante Gespräche. Als alles vorbei ist, empfindet Alice ihn als vollkommen harmlosen, sympathischen jungen Studenten, dem sie nichts Böses zutraut. So folgt sie ihm schließlich auch in sein Apartment, eine typisch unaufgeräumte Studentenbude, in der zwischen vielen anderen Dingen einige Frauenkleidungsstücke herumliegen. Er zeigt ihr einen seidenen Kimono und fragt: »Würdest du den anziehen?« Alice ist verunsichert und kichert nur. Rodney drängt sie nicht weiter und reicht ihr stattdessen einen Stapel Fotos, wobei er erklärt: »Das sind meine Arbeiten.« Dann verschwindet er ins Bad und lässt Alice die Fotos betrachten.
Die 13-Jährige ist schockiert, denn was sie sieht, sind Fotos nackter, junger Frauen in sexuellen Posen und bei sexuellen Handlungen. Sie bekommt Angst und versucht zur Wohnungstür hinauszurennen, doch die ist verschlossen. Rodney kommt nackt aus dem Bad, er hat eine Erektion. Alice schreit, er solle sie rauslassen, sie schafft es, die Tür aufzubekommen und durch das Treppenhaus zu fliehen. Was sie dann tut, schockiert sie auch über vierzig Jahre später noch in ihrer Erinnerung. Während sie durchs Treppenhaus rennt, fällt ihr ein, dass sie das eben gekaufte philosophische Buch in Rodneys Wohnung hat liegen lassen. Sie rennt wieder hoch, hämmert an die Tür und ruft: »Mein Buch, bitte!« Rodney öffnet, reicht Alice das Buch, bleibt in der Tür stehen, während sie schon wieder nach unten hastet, und ruft ihr bettelnd hinterher: »Lass mich nur masturbieren!«
Alice ist so schockiert und durcheinander, dass sie über den Vorfall nur mit ihrem älteren Bruder am Telefon spricht. Sie versucht alles zu verharmlosen und sagt, das sei wohl »einfach ein Perverser« gewesen. Ihr Bruder bleibt gelassen und rät ihr, bloß nichts davon ihrer Mutter zu erzählen. Den Mann anzuzeigen, kommt Alice nie in den Sinn, sie macht die Sache mit sich selbst aus. Über vierzig Jahre später sieht sie sein Gesicht wieder: In den Nachrichten, wo über seinen Prozess als angeblicher Serienmörder berichtet wird. Erst da begreift sie, welch unglaublich großes Glück sie hatte.
Niemand weiß, wie viele Frauen Rodney während dieser Zeit in seine Wohnung lockt und wie viele von ihnen er mit Überredungskunst oder Gewalt dazu bringt, seine sexuellen Wünsche zu erfüllen. Jene, bei denen mehr als Worte nötig sind, werden wie Alice aus Entsetzen und Scham keine Anzeige erstatten. Drei Jahre lang lebt er so unentdeckt im New Yorker Künstlerviertel, schließt sein Kunststudium erfolgreich ab und betreut während der Semesterferien weiter die Mädchen des Sommerlagers in New Hampshire, als ihr Kunst- und Schauspiellehrer.
Doch seine sexuellen Abenteuer mit jungen Frauen und minderjährigen Mädchen reichen ihm irgendwann nicht mehr. In Los Angeles ist er mit der Vergewaltigung und dem versuchten Mord an der achtjährigen Tali nur um Haaresbreite davongekommen. Dieses Erlebnis schreckt ihn hinreichend ab, um sich einige Jahre zurückzuhalten und keinen weiteren Mordversuch zu begehen. Rodneys ultimative sexuelle Phantasie geht jedoch weit über das hinaus, was er mit seinen Fotomodellen tut. Einen wirklichen sexuellen Kick verschafft ihm nur die ultimative Macht: das Töten.
Am 12. Juni 1971 – er ist inzwischen achtundzwanzig Jahre alt – bricht seine Lust zu töten wieder durch. Wahrscheinlich begegnet er der Stewardess Cornelia Michel Crilley, als sie gerade dabei ist, Möbel in ihr neues Apartment in Manhattan zu tragen. Der attraktiven 23-Jährigen Hilfe anzubieten, ist eine allzu einladende Möglichkeit, um schnell und unauffällig mit ihr in die neue Wohnung zu kommen. Cornelia ist neu in dem Haus, den Nachbarn wird also nicht auffallen, dass sie mit einem völlig Fremden ihre Möbel hineinträgt. Außerdem ist dieser Wohnblock dafür bekannt, dass alleinstehende Stewardessen und Sekretärinnen häufig ein- und ausziehen. Das Möbelschleppen zieht also sicherlich keine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Das sind die perfekten Rahmenbedingungen für Rodney, um seine ultimative sexuelle Phantasie endlich auszuleben. Sobald er mit ihr in der Wohnung ist, vergewaltigt er Cornelia und stranguliert sie mit ihren Nylonstrümpfen. Unbemerkt verlässt er die Wohnung. Der Mord bleibt für die nächsten vierzig Jahre unaufgeklärt.
Zwei Monate später unterrichtet Rodney wie auch in den letzten Sommern die Mädchen im »Kunst- und Schauspiel-Sommerlager«. Zwei der Teilnehmerinnen werden während eines Spaziergangs von einem plötzlichen Sommergewitter überrascht und suchen Schutz im Postamt der Kleinstadt George Mills. Um sich die Zeit zu vertreiben, schauen sie sich das FBI-Plakat mit den zehn meistgesuchten Verbrechern der USA an. Was sie sehen, verschlägt ihnen den Atem: Ihr Kunst- und Schauspiellehrer John Berger sieht genauso aus wie der flüchtige Sexualstraftäter Rodney Alcala. Sie berichten davon dem Leiter des Sommerlagers. Dieser hat nach einem Blick auf das Foto keinen Zweifel daran, dass sein Mitarbeiter John Berger der flüchtige Sexualstraftäter ist, und informiert sofort das FBI.
Rodney wird von FBI-Agenten noch im Sommerlager festgenommen. Seine Fingerabdrücke beweisen, dass es sich um keinen Irrtum handelt. Er wird nach Los Angeles gebracht und wegen des Verbrechens an Tali Shapiro angeklagt. Polizeikommissar Steve Hodel hat in Los Angeles drei Jahre auf diesen Tag gewartet. Er war es, der das FBI um Hilfe in dem Fall gebeten hatte. Hodel spricht mit Rodney, als dieser in Untersuchungshaft sitzt. »Erzählen Sie mir von dem Vorfall mit Tali Shapiro«, fordert er Rodney auf. Dessen Antwort erstaunt den erfahrenen Polizeibeamten: »Oh, ich will alles, was damit zu tun hat, vergessen. Ich will nicht über Dinge sprechen, die Rod Alcala getan hat.« Der Polizeibeamte begreift nicht, wie dieser Mann über sich selbst sprechen kann, als sei er eine andere Person.
Doch in Rodneys Kopf ist dies kein Widerspruch. Was er gerade tut, hat er schon sein ganzes Leben lang getan: verschiedene Figuren darstellen, indem er sich unterschiedliche Masken aufsetzt. Es ist kein Zufall, dass er sich für Schauspiel interessiert und darin sogar Kurse gibt. Die verschiedenen Rollen, die er im Laufe seines Lebens entwickelt, nutzt er, um nicht aufzufallen oder um andere für sich zu gewinnen. Sein ganzes Leben wird eine Aneinanderreihung dieser Rollen, die er bis zur Perfektion einstudiert hat. Er kann sie schneller wechseln als andere Menschen ihre Kleidung. All diese Rollen verbergen sein tiefstes Inneres – es würde jeden normalen Menschen zu Tode erschrecken.
Normale Erwachsene haben ganz selbstverständlich eine konkrete Vorstellung davon, wer sie sind, was ihre Persönlichkeit ausmacht. Sie wissen, welche Eigenschaften sie haben, welche Werte sie vor sich selbst vertreten, welche Menschen ihnen etwas bedeuten, was sie in ihrer Vergangenheit geprägt hat und welchen Weg sie in Zukunft gehen wollen. Psychopathen ändern ihre Meinungen und die Wertvorstellungen, die sie nach außen vertreten, sie tauschen die Menschen aus, die in ihrem Leben vorkommen, ihre Zukunftspläne, oft auch die Geschichten über ihre Vergangenheit – und das immer wieder. Deshalb benutzen viele von ihnen im Laufe ihres Lebens auch unterschiedliche Namen. Je nach dem, was ihnen in einer bestimmten Situation oder Lebensphase nützt, stellen sie eine komplette Figur dar. Diese muss mit der Figur, die sie zwei Stunden später an einem anderen Ort spielen, nicht das Geringste zu tun haben.
Sie haben allerdings keine »gespaltene Persönlichkeit«, bei der die Betroffenen Erinnerungslücken haben und selbst nicht wissen, woher ihre unterschiedlichen »Persönlichkeiten« kommen. Psychopathen erinnern sich an alles, wenn sie es wollen, und erfinden die Figuren, die sie spielen, ganz bewusst. Es ist ähnlich wie bei Menschen, die in ihrer Freizeit an Live-Rollenspielen teilnehmen: Sie ziehen sich ein Kostüm an, geben sich einen anderen Namen, erfinden, was für eine Figur – oft auch ein Phantasiewesen – sie sind und welche Lebensgeschichte, Eigenschaften und Fähigkeiten diese Figur hat. Dann spielen sie diese Rolle einige Tage lang innerhalb einer Gruppe von Mitspielern. Während dieser Zeit denken, sprechen und verhalten sie sich als die Figur, die sie darstellen. Ist das Rollenspiel vorbei, sind sie wieder sie selbst.
Für Psychopathen ist das ganze Leben ein solches Spiel. Sie haben verschiedene »Spielcharaktere«, die je nach Situation und Lebenslage, mal für länger, mal nur kurz die Handlung übernehmen. Das erklärt auch, warum »Wahrheit« für einen Psychopathen etwas völlig anderes ist als für alle anderen Menschen. Wahr ist für den Psychopathen das, was er in diesem Augenblick – je nach Rolle und Situation – als wahr empfindet. Um es mit einem »normalen« Live-Rollenspieler zu vergleichen: Würde man diesen beispielsweise mitten im Spiel fragen, ob er tatsächlich der Magier Nemo aus dem Land Nusquam ist, der andere mit Flüchen belegen kann, so würde er dies bejahen. In dieser Situation spielt er gerade Nemo, und für Nemo ist dies die Wahrheit.
Rodney spielte drei Jahre lang die meiste Zeit über die Figur »John Berger«. John Berger, ein jüdischer Kunststudent, Fotograf und Schauspiellehrer, der sich auch fürs Filmemachen und für Philosophie interessiert und ein sexuell freizügiges Leben im New Yorker Künstlerviertel führt. In dieser Rolle hatte er mit seiner Vergangenheit als Rod Alcala, Sohn mexikanischer Einwanderer aus einer kaputten Familie, der zurückgezogen in Hollywood lebt und heimlich Fotos kleiner Mädchen sammelt, nicht mehr viel zu tun. Seine sexuelle Zielphantasie, brutal zu vergewaltigen und zu töten, blieb zwar gleich. Ebenso sein großes Interesse für Kunst. Doch John Berger war besser, selbstsicherer, erfolgreicher als der alte Rod Alcala. Daher hat Rodney keine große Lust, sich mit dieser »Figur« aus seiner Vergangenheit näher zu beschäftigen.
Es ist für ihn sehr unangenehm, sich nun doch in Los Angeles vor den Justizbehörden für sein Verbrechen an Tali Shapiro verantworten zu müssen. In dieser Situation interessiert ihn nur, wie er sich mit möglichst wenig Schaden aus der Affäre ziehen kann. Dabei kommt ihm ein Zufall sehr gelegen: Die Staatsanwaltschaft will ihn wegen Entführung und Vergewaltigung der damals achtjährigen Tali anklagen. Aus juristischen Gründen wird in diesem Fall von vornherein ausgeschlossen, dass man ihn zusätzlich wegen versuchten Mordes belangen kann. Doch auch die geplante Anklage steht auf wackligen Beinen, da Talis Familie bereits vor drei Jahren das Land verlassen hat. Und die Eltern wollen ihrer Tochter nicht zumuten, im Prozess auszusagen. Damit fehlt die Aussage der wichtigsten Zeugin.
Dies bringt die Staatsanwaltschaft in die unangenehme Situation, Rodney einen juristischen Deal anbieten zu müssen, um überhaupt sicherzugehen, dass er verurteilt wird. Rodney erkennt sofort, dass dies die bestmögliche Lösung für ihn ist. Er handelt aus, dass er nicht wegen Entführung und Vergewaltigung, sondern nur wegen sexuellem Kindesmissbrauch angeklagt wird. 1972 bekennt Rodney sich dieses Deliktes schuldig – wie mit der Staatsanwaltschaft ausgehandelt. Dafür wird bei ihm das damals in Kalifornien noch geltende Gesetz der »unbestimmten Strafzumessung« angewendet. Das bedeutet, die Bewährungskommission und nicht der Richter entscheidet, wie lange er tatsächlich in Haft bleibt. Aufgrund dieses Gesetzes wird er wegen Kindesmissbrauchs zu einer Haftzeit zwischen einem und zehn Jahren verurteilt.
Im Gefängnis benimmt sich Rodney vorbildlich. Er spielt perfekt die Rolle des freundlichen, einsichtigen und reumütigen Täters, dessen Verbrechen ein einmaliger, schwerer Fehler war. Da er intelligenter, gebildeter und charmanter ist als die meisten seiner Mithäftlinge, ist es für ihn leicht, dem Gefängnispersonal positiv aufzufallen. Der Gefängnispsychiater fällt auf das perfekte Schauspiel herein und glaubt, dass Rodney tatsächlich große Fortschritte macht. Nach fast drei Jahren Haft bescheinigt der Psychiater, dass er Rodney nicht mehr für gefährlich hält. Die Bewährungskommission entscheidet daraufhin im August 1974, dass Rodney nach vierunddreißig Monaten in Haft auf Bewährung entlassen wird. Als Bedingung muss er sich nur von der örtlichen Polizei als Sexualstraftäter erfassen lassen.
Diese absolute Fehleinschätzung des Gefängnispsychiaters ist einer der Fälle, die viele Menschen daran zweifeln lassen, ob forensische Gutachter schwere Straftäter wirklich richtig beurteilen können. Doch ich bin mir sicher, dass Rodney mit den heutigen wissenschaftlichen Methoden rechtzeitig als Psychopath erkannt worden wäre. Während der letzten fünfzig Jahre ist das Wissen der Psychologie und Psychiatrie durch sehr viel internationale Forschung unglaublich gewachsen, vergleichbar mit dem Fortschritt vom Mittelalter in die heutige Zeit.
In den 70er Jahren wissen Psychologen und Psychiater noch viel zu wenig darüber, was vor allem kriminelle Psychopathen ausmacht. Es ist die Zeit, als der kanadische Psychologe Robert Hare intensiv am Thema Psychopathie forscht. Er will kriminelle Psychopathen wissenschaftlich richtig beschreiben. Erst dadurch gelingt es ihm, die »Psychopathie-Checkliste« zu entwickeln. Dies ist der erste wissenschaftliche Test, mit dem Psychologen und Psychiater kriminelle Psychopathen sicher von anderen Straftätern unterscheiden können. Dass dieser Test tatsächlich funktioniert, haben jahrzehntelange Untersuchungen bestätigt. Rodneys Gefängnispsychiater hatte dieses Wissen nicht. Ihm fehlte also das Werkzeug, um überhaupt erkennen zu können, dass er es mit einem Psychopathen zu tun hatte.
Im August 1974 wird Rodney aus dem Gefängnis entlassen. Er bekommt einen Job als Fotograf für eine Foto-Firma und macht in deren Auftrag professionelle Aufnahmen von Geschäften. Zwei Monate nach seiner Entlassung spricht er die 13-jährige Julie an einer Bushaltestelle in Huntington Beach, Kalifornien, an. Sie wartet auf den Schulbus, und Rodney bietet ihr an, sie mitzunehmen. Als Julie merkt, dass Rodney nicht Richtung Schule fährt, bekommt sie Angst und will aussteigen. Das erlaubt er ihr nicht, stattdessen fährt er mit ihr zum Strand. Dort zwingt er sie, mit ihm zu den Klippen zu gehen und Marihuana zu rauchen, bevor er sie küsst.
Ein Parkaufseher bemerkt den Marihuana-Geruch und beschließt, der Sache nachzugehen. Er greift Rodney mit dem Mädchen an der Klippe auf. Julie erklärt, sie sei entführt worden. Daraufhin kommt Rodney in Untersuchungshaft und wird wegen Verstoßes gegen die Bewährungsauflagen und Abgabe illegaler Drogen an Minderjährige verurteilt. Zwischen Dezember 1974 und Juni 1977 sitzt er wieder im Gefängnis. Erneut ist er ein vorbildlicher Gefangener, der sogar freiwillig an Wiedereingliederungsprogrammen teilnimmt. Deshalb wird er schon nach zweieinhalb Jahren auf Bewährung entlassen. Er bekommt lediglich die Auflage, sich einmal wöchentlich bei seinem Bewährungshelfer zu melden.
Nur einen Monat nach seiner Entlassung beantragt der inzwischen 34-jährige Rodney bei seinem Bewährungshelfer, nach New York reisen zu dürfen. Er wolle dort Verwandte besuchen, gibt er vor. Der Bewährungshelfer erlaubt ihm die Reise; ein Fehler, der mindestens eine junge Frau das Leben kosten wird. Ellen Jane Hover ist Teil der New Yorker High Society. Ihrem Vater Herman Hover gehörte zwischen 1942 und 1957 der legendäre Nachtclub Ciro’s am Sunset Boulevard in Hollywood. Ciro’s war ein bekannter Treffpunkt für Prominente wie Cary Grant, Judy Garland, Humphrey Bogart, Frank Sinatra, Marilyn Monroe, Marlene Dietrich und Ronald Reagan. So kommt es, dass Ellen die Patentochter von Dean Martin und Sammy Davis, Jr., ist.
Wo Rodney die 23-jährige Ellen kennenlernt, wird nie geklärt. Wahrscheinlich spricht er sie, wie so viele andere Frauen auch, einfach auf der Straße an. Rodney stellt sich ihr als John Berger vor und erzählt, er sei professioneller Fotograf. Gebildet und charmant, wie er ist, schafft er es, Ellen zu überreden, einen Termin für ein Fotoshooting mit ihm zu vereinbaren. Den Ort, zu dem er sie dafür bringt, kennt er gut, da er in dieser Gegend bereits früher Fotos von Frauen gemacht hat. Es ist das Rockefeller-Anwesen in North Tarrytown. Was genau dort passiert, ist bis heute nicht mit Sicherheit bekannt. Wahrscheinlich macht Rodney Fotos von Ellen, bevor er sie vergewaltigt und tötet. Ihre Leiche verscharrt er auf dem Grundstück. Auch mit dieser Tat kommt er viele Jahre davon.
Ellen wird am 16. Juli 1977 vermisst gemeldet. Kurz vor ihrem Verschwinden erzählt sie einem Freund, dass ein Fotograf, den sie kennengelernt hat, unbedingt eine Fotosession mit ihr machen will. Am 15. Juli wird Ellen das letzte Mal in ihrer Wohnung in der reichen Upper East Side gesehen, danach fehlt jede Spur von ihr. In ihrem Terminkalender findet die Polizei eine Notiz, dass sie am Tag ihres Verschwindens ein Treffen mit »John Berger« vereinbart hatte. Doch wer dieser Mann ist, kann die Polizei zunächst nicht ermitteln. Ellens wohlhabende Familie heuert einen Privatdetektiv an, um selbst die Ermittlungen voranzutreiben. Außerdem bittet die Familie über eine Anzeige in der »New York Times« um Hinweise darauf, wer »John Berger« ist. Dies blieb eine ganze Weile erfolglos.
Dass wieder nach ihm gesucht wird, beunruhigt Rodney nicht allzu sehr. Er bleibt noch zwei Monate nach dem Mord in New York. Im September 1977 kehrt er nach Los Angeles zurück und bekommt eine Stelle als Schriftsetzer bei der »Los Angeles Times«. Nur einen Monat später kann er dem Drang zu töten wahrscheinlich nicht mehr widerstehen. Obwohl er für den Mord an Pamela Jean Lambson wegen mangelnder Beweise nie vor Gericht gestellt wird, sind sich die Ermittler in dem Fall sicher: Auch sie ist eines von Rodneys Opfern.
Die 19-jährige Sekretärin in einer Computerfirma träumt von einer Karriere als Schauspielerin und Sängerin. Als ein unbekannter Fotograf ihr anbietet, professionelle Fotos von ihr zu machen, ist sie sofort begeistert. Einem Freund erzählt sie, dies könnte ihre große Chance sein. Mit dem Fotograf verabredet sie ein Shooting am 8. Oktober 1977. Die beiden wollen sich vorher in Fisherman’s Wharf, einem Hafenviertel von San Francisco, treffen. Pamela fährt zum verabredeten Treffpunkt und kehrt nie mehr nach Hause zurück.
Ihre Leiche wird am nächsten Tag an einem Wanderweg auf dem Mount Tamalpais in der Nähe von San Francisco gefunden. Sie wurde – wie auch alle späteren Opfer Rodneys – vergewaltigt, geschlagen und stranguliert, bevor der Mörder die nackte Leiche in einer entwürdigenden Haltung zurückgelassen hat. Pamelas Ohrringe nimmt er mit.
Einen Monat nach dem Mord an Pamela fällt Rodney die 18-jährige Jill Barcomb als Anhalterin auf dem Sunset Boulevard ins Auge, derselben Straße, auf der er neun Jahre zuvor Tali Shapiro überredet hatte, in seinen Wagen zu steigen. Jill ist von zu Hause weggelaufen. Rodney ist klar, dass dies für ihn eine perfekte Gelegenheit ist, seine Phantasie ohne großes Risiko erneut auszuleben. Es gibt keine Verbindung zwischen ihm und Jill. Das nur einsfünfzig große, dünne, unerfahrene Mädchen ist ein allzu leichtes Opfer. Sie ist mit zehn Geschwistern aufgewachsen, arbeitete freiwillig als Helferin im Krankenhaus und spielte im Schulorchester Trompete. Rodney weiß, dass es ihn nicht die geringste Mühe kosten wird, auch im Freien die Kontrolle über sie zu behalten.
Er fährt mit Jill zu den bewaldeten Hollywood Hills, wo wenige Wochen zuvor das erste Mordopfer der Hillside Stranglers gefunden wurde. Dort vergeht er sich sexuell an ihr, würgt sie mehrmals mit ihrer Unterhose und ihrem Gürtel bewusstlos, bevor er sie mit ihrer Bluejeans stranguliert. Dann schlägt er Jills Gesicht mit einem großen Stein ein und bringt ihre Leiche in eine möglichst entwürdigende Haltung. Ihr nackter Körper wird am 10. November 1977 an einer Nebenstraße des bekannten Mulholland Drive entdeckt, kniend mit dem Gesicht im Schlamm. Die Polizei geht lange Jahre davon aus, dass Jill den Hillside Stranglers zum Opfer gefallen ist.
Einen Monat später, am 14. Dezember 1977, wird Rodney von der Polizei in Los Angeles zum Verhör geholt. Anlass ist der Mord an Ellen Hover in New York. Das FBI hat inzwischen herausgefunden, dass John Berger, Ellens letzte Verabredung, der Tarnname von Rodney Alcala ist. Rodney sagt aus, er habe Ellen flüchtig gekannt und sie tatsächlich am Tag ihres Verschwindens getroffen. Doch was mit ihr passiert sei, wisse er nicht. Da ihre Leiche noch nicht gefunden wurde, kann die Polizei ihm nichts nachweisen, sie muss ihn laufen lassen.
Schon am nächsten Tag tötet Rodney die attraktive 27-jährige Krankenschwester Georgia Wixted in Malibu. Sie fällt ihm in einer Disco auf, die sie mit einer Freundin besucht. Er baggert sie stürmisch an, doch Georgia lässt ihn abblitzen. Sie erklärt ihm, dass sie ihre Freundin nun heimfahren müsse, und verlässt mit dieser die Disco. Rodney folgt ihr mit seinem Auto und bricht in ihr Apartment ein.
Dort vergewaltigt er sie brutal, bevor er sie mit einem Hammer sexuell missbraucht. Anschließend stranguliert er Georgia mit ihren Nylonstrümpfen und schlägt ihr mit demselben Hammer, mit dem er sie missbraucht hatte, den Schädel ein. Ihre nackte Leiche hinterlässt er wieder in einer entwürdigenden Haltung auf ihrem Schlafzimmerboden. Als Georgina am nächsten Morgen nicht wie üblich einen Kollegen auf dem Weg zur Arbeit abholt, meldet dieser sie als vermisst. Die Polizei fährt zu ihrem Apartment, entdeckt Einbruchspuren an der Tür und findet ihre Leiche.
Der Modus Operandi, also die Art, wie Rodney die Taten begeht, ist bei Jill und Georgia auffällig ähnlich und entspricht auch der Tat an Pamela Jean Lambson. Dies fällt den Polizisten damals allerdings nicht auf, weshalb sie die Taten nicht in Zusammenhang bringen. Im März 1978 befragt die Polizei in Los Angeles vorbestrafte Sexualstraftäter, im Rahmen der Ermittlungen im Fall der Hillside Stranglers. Als sie auch Rodney deswegen aufsuchen, finden die Polizisten eine kleine Menge Marihuana bei ihm. Daraufhin kommt er kurz in Haft.
Am 24. Juni 1978 wird die attraktive 32-jährige Rechtsanwaltssekretärin Charlotte Lamb im kalifornischen El Segundo Rodneys nächstes Opfer. Er vergewaltigt und schlägt sie, dann stranguliert er Charlotte mit einem ihrer Schnürsenkel. Auch ihre nackte Leiche bringt er in eine entwürdigende Haltung. Es erregt ihn, sie so noch nach ihrem Tod zu erniedrigen. Gleichzeitig gibt es ihm ein Gefühl von Macht, die Menschen, die sie finden, zu schockieren. In diesem Fall will er, dass Hausbewohner die Leiche finden. Deshalb hinterlässt er Charlottes Leiche in der Waschküche der Apartmentanlage, in der sie wohnte. Als Trophäe nimmt er ihre Ohrringe mit.
Dass auch dieser Mord den nur ein halbes Jahr zurückliegenden Taten an Jill Barcomb, Georgia Wixted und Pamela Lambson sehr ähnelt, fällt der Polizei nicht auf. Zunächst bleibt unklar, wer die Tote aus der Waschküche überhaupt ist. Charlotte wird erst vier Tage nach der Auffindung ihrer Leiche als vermisst gemeldet. Drei Monate vergehen, bis im September 1978 geklärt wird, dass sie die unbekannte Tote ist. In diesem Monat tritt Rodney in der Fernsehsendung »The Dating Game« auf.
Während Rodney in Los Angeles den Mord an Charlotte begeht, arbeitet die Polizei in New York weiter am Fall der vermissten Ellen Hover. Ebenfalls im Juni 1978, fast ein Jahr nach ihrem Verschwinden, finden Polizisten endlich ihre Leiche. Obwohl Rodney der Mord an Ellen nicht nachgewiesen werden konnte, ist er der Hauptverdächtige in dem Fall geblieben. Deshalb befragten die Polizeibeamten Menschen aus seinem New Yorker Bekanntenkreis. Dabei fanden sie heraus, dass Rodney öfter Frauen für Fotoshootings in die Umgebung des Rockefeller-Anwesens in North Tarrytown gebracht hatte. Da es sonst keine brauchbaren Hinweise in dem Vermisstenfall gibt, leitet die Polizei in diesem Gebiet eine Suchaktion ein, bei der Ellens Leiche gefunden wird.
Rodney ist klar, dass sein Risiko, überführt zu werden, wächst, wenn er weiter so häufig tötet. Außerdem reicht es ihm eine Weile aus, sich an die Morde des Jahres 1978 zu erinnern, während er sich selbst befriedigt. Er versucht seinen Drang, Frauen zu töten, zu unterdrücken. Acht Monate nach dem letzten Mord, am 13. Februar 1979, entdeckt er im Riverside County die 15-jährige Anhalterin Monique Hoyt. Er ruft ihr aus dem Auto zu: »Hey, willst du für ein paar Fotos Modell stehen? Es ist für einen Wettbewerb. Wir könnten die Gewinner sein!«
Monique ist begeistert und steigt in sein Auto, in dem sie eine Menge Foto-Gerätschaften sieht. Er stellt sich mit seinem echten Namen vor und sagt, er müsse erst noch weiteres Zubehör holen. Als er mit Monique am Haus seiner Mutter ankommt, wo er derzeit wohnt, wird es bereits dunkel. Rodney erklärt, dass sie für die Fotos aber Tageslicht brauchen, und bietet ihr an, bei ihm zu übernachten, damit sie die Aufnahmen am nächsten Morgen machen können. Monique nimmt das Angebot an.
Am nächsten Morgen – es ist zufällig Valentinstag – lässt sie sich von ihm in die Berge fahren. Dort gehen sie noch eine Viertelstunde zu Fuß, bis sie mitten in den Wäldern mit den Aufnahmen beginnen. Nach einer Weile fragt Rodney, ob er Monique auch nackt fotografieren darf. Sie willigt ein. Irgendwann währenddessen wird sein Verlangen, ihr Schmerzen zuzufügen, sie bewusstlos zu würgen und brutal zu vergewaltigen, übermächtig. Er verliert die Kontrolle über sich. In seinem späteren Geständnis sagt er: »Das war so nicht geplant, die Dinge sind schiefgelaufen.«