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Peter und Paul sind als siamesische Zwillinge unzertrennlich miteinander verbunden. Doch als Peter sich in die faszinierende Sabine verliebt, wird die Nähe der Brüder zueinander zur fast unüberwindbaren Grenze. Schliesslich schlägt Liebe in Betrug und Schuld um, die Lage eskaliert – und endet in einer Tat mit furchtbaren Folgen. Ein Drama über Sehnsucht, Grenzen und die Abgründe menschlicher Verstrickungen.
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Seitenzahl: 85
Veröffentlichungsjahr: 2025
Hans Herrmann
Auf ewig
Ein düsteres Protokoll von Liebe, Eifersucht und Schuld
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Impressum neobooks
Dienstag, 4. März 1986. Ich sitze im Bett und schreibe mit der linken Hand – nur diese steht mir zur Verfügung – an diesem Bericht. Ich hoffe, ihn zu Ende zu bringen, bevor mich mein eigenes Ende ereilt.
Jetzt, da ich mich anschicke, die schicksalshafte Geschichte von meinem Bruder und mir aufzuzeichnen, breitet sich Modergeruch aus, der süsslich widerliche Odem der Verwesung: Ein Teil von mir, oder doch wenigstens halbwegs von mir, ist abgestorben und zersetzt sich langsam. Wie lange dauert es wohl noch, bis nicht nur besagter Teil, sondern ich selbst, ganz und gar, von Fäulnis ergriffen werde und einem qualvollen Tod entgegenmodere?
Nicht mehr lange, fürchte ich; das Übel hat bereits meine rechte Schulter erfasst. Aber ich will nicht klagen. Verdient habe ich dieses Ende wahrlich, denn ich habe mich mit einer grossen Missetat befleckt, mit einem Verbrechen, das nur durch schwerste Sühne Vergebung finden kann, wenn überhaupt.
Dienstag, 4. März 1986. Ich schreibe, wenn es mir auch schwerfällt.
Meine Geschichte ist nicht nur meine, sondern ebenso die meines Bruders. Er heisst Paul, ich heisse Peter. Wir beide erblickten das Licht dieser Welt, wie es so schön heisst, in derselben Nacht, aber nicht am gleichen Tag. Das hört sich ein bisschen konfus an, aber was ich meine, ist dies: Ich bin einige Minuten vor, mein Bruder einige Minuten nach Mitternacht geboren, also sind wir nicht am Tag desselben Datums zur Welt gekommen. Mein Geburtstag ist der 11., der meines Zwillingsbruders Paul der 12. April 1961.
Wir beide waren von Beginn an unzertrennlich. Lag mein Bruder in der Wiege, so lag ich in derselben Wiege neben ihm. Stärkte sich mein Bruder an der einen Brust unserer Mutter, sog ich gleichzeitig an der anderen. Wurden wir gebadet, dann zur selben Zeit und in derselben hellblauen Plastikwanne. Es ging nämlich nicht anders, so unzertrennlich waren wir. Eine Trennung, und wäre es auch nur für eine Sekunde gewesen, hätte uns riesige Schmerzen bereitet und sogar, bitte glauben Sie mir, den Tod gebracht.
In dieser Unzertrennlichkeit ging es weiter. Paul verspürte zwar eher den Drang als ich, sich in den ersten Gehschritten zu versuchen, aber er konnte dies nicht in die Tat umsetzen, weil ich dagegen war, einfach nicht in der Stimmung, es ebenfalls zu probieren. Paul musste warten, bis auch ich in der entsprechenden Verfassung war.
Im Kindergarten sassen wir immer nebeneinander, und wenn einer auf die Toilette musste, ging der andere mit – eine andere Lösung gab es nicht, es musste so sein. Dass wir dann auch in der Schule immer zusammen waren, unzertrennlich, versteht sich nach diesen Ausführungen wohl von selbst. Wir sassen nebeneinander. Wenn der eine nach vorn ging, um der Lehrerin sein Heft vorzuzeigen, ging der andere mit. In der Pause trieben wir uns immer Schulter an Schulter herum, und in derselben Weise legten wir den Schulweg zurück – weil es eben nicht anders ging.
Paul und ich, wir waren siamesische Zwillinge, ich an meiner rechten Seite mit ihm, er an seiner linken Seite mit mir verwachsen, von der Schulter an bis ungefähr zur Höhe des Bauchnabels. Ich hatte einen linken Arm, er einen rechten; zusammen hatten wir also zwei Arme und Hände, während jeder von uns über zwei eigene Beine verfügte: Wir waren ein Vierbeiner. Ansonsten aber waren wir keineswegs missgebildet, im Gegenteil. Unsere Körperlichkeit entwickelte sich zum allgemeinen Wohlgefallen.
Die Probleme, die uns unsere Unzertrennlichkeit bescherte, waren ziemlich lästig. Nach und nach gelang es uns aber, damit irgendwie fertigzuwerden. Jeder trug seine eigene Hose; die Hemden und Jacken dagegen teilten wir uns. Es waren enorme Dinger, für zwei Leiber geschneidert eben; ich nahm den linken, Paul den rechten Ärmel in Anspruch. Das Zuknöpfen besorgten wir gemeinsam, ebenso das Binden der Schuhe.
Es brauchte ziemlich viel Übung, die Abläufe dieser Verrichtungen zu koordinieren, schliesslich aber konnten wir es blindlings. Im Alter von sieben Jahren gingen viele von unseren Schulkameraden in die Blockflötenstunde; uns beiden jedoch blieb dieser Unterricht, den wir liebend gerne besucht hätten, verwehrt. Die Flötenlehrerin äusserte nämlich ernste Bedenken. Sie bezweifelte, dass wir es schaffen würden, gemeinsam eine Flöte zu bedienen, einer von uns blasend, beide aber die Grifflöcher drückend. Das sahen wir ein und vorerst von einer musikalischen Karriere ab.
Dann aber, im Alter von neun Jahren, kam Paul auf den Gedanken, dass wir es eigentlich mit dem Klavierspiel versuchen könnten, das ginge bestimmt einfacher – und es ging. Der Klavierlehrer hatte an uns beiden bald einmal seine helle Freude; es war nämlich so, dass meine linke Hand, weil ich ja nur diese hatte, viel flinker war, als es die linken Hände normaler rechtshändiger Pianisten zu sein pflegen, und Pauls rechte Hand stand meiner linken in nichts nach. So war unser Klavierspiel denn das virtuose Zusammengehen zweier rechter Hände, sozusagen. In der Schule wurden wir denn auch regelmässig bei der Jahresschlussfeier als Pianisten ins Programm aufgenommen, sehr zum Vergnügen des Publikums, das uns jeweils mit donnernden Ovationen bedachte.
Die Bewunderung, die man uns auf musischem Gebiet zollte, war unser Ausgleich für die Zurückhaltung, die man uns gegenüber im gewöhnlichen Alltag zeigte. Dass es für den normal gestalteten Menschen Überwindung braucht, mit Sondergeburten, die wir nun einmal waren, zu verkehren, begriffen wir durchaus. Das heisst, wir lernten nach und nach, es zu begreifen; es war uns nicht von Anfang an klar.
Auch auf den Brettern, die die Welt bedeuten, bewährten wir uns trefflich. Unsere Klasse studierte zur Jubiläumsfeier des Gymnasiums ein antik aufgezogenes Barockdrama ein. Darin kam auch der Cerberus vor, der mehrköpfige Hund, der die Unterwelt bewacht. Diese Rolle drängte sich uns geradezu auf, und als wir dann, auf allen Sechsen gehend und mit zwei gebleckten Gebissen den sanften Orpheus verbellten, mit aller Leibeskraft, war die Wirkung beträchtlich. Wir bekamen Szenenapplaus, und im Finale erhob sich das Publikum unter anhaltenden Bravorufen.
Die Lokalpresse jedoch sprach in ihrer Rezension von einer "Geschmacklosigkeit". "Die Zeit der barocken Raritätenkabinette ist vorbei", stellte der Kritiker erbost fest und schrieb, dass es dem Gymnasium wohl anstünde, auf derartige Ausrutscher künftig zu verzichten. unsere Rolle sei in ihrer "tragischen Komik" etwas vom Peinlichsten, vom Menschenunwürdigsten gewesen, was sich an einem modernen Gymnasium nur denken lasse. Wir selber, Paul und ich, dachten darüber zwar anders, verzichteten aber dennoch darauf, uns weiterhin als angeblich monströse Schauspieler zu produzieren.
Schon recht früh stellte sich heraus, dass mein Bruder und ich unterschiedlichen Temperaments waren – auch daraus erwuchsen uns natürlich Probleme. Paul war ein lebhafter, den praktischen Dingen zugewandter Bursche, während ich sehr still und in mich gekehrt war, den geistigen, kontemplativen und spekulativen Dingen zugetan. Damit jeder seinen Neigungen nachgehen konnte, mussten wir uns arrangieren. Wollte ich zum Beispiel lesen, dann musste sich auch mein Bruder geistig beschäftigen, was ihm nicht immer leichtfiel. Am liebsten löste er bei solchen Gelegenheiten Kreuzworträtsel.
Wenn Paul hingegen basteln wollte, musste ich ihm dabei helfen. Das war einerseits unabdingbar, denn er bedurfte ja zwingend meiner linken Hand. Andererseits fiel es mir recht beschwerlich, weil ich die nötige Begeisterung nicht aufbringen konnte.
Das waren vielleicht Bastelnachmittage! Zum Beispiel, als Paul an einem alten Radioapparat herumflickte. Er gab mir Anweisungen, wohin ich den Draht zu halten hatte, damit er ihn verlöten konnte, und welche Schraube ich an welche Stelle zu führen hatte. Und weil ich nur mit halbem Herzen bei der Sache war, ich, der Schöngeist, ging manches daneben, was meinen energischen Bruder bisweilen dazu veranlasste, mir Schimpfwörter oder sogar Fausthiebe auszuteilen. Beides, Wort wie Hieb, blieb ich ihm nie schuldig.
Solche Streitereien arteten manchmal in erbitterte Ringkämpfe aus, die allerdings in ihrer Starrheit, bedingt durch unsere körperliche Verbundenheit, wohl recht seltsam ausgesehen haben mussten. Sieger konnte es bei derartigem Kräftemessen keinen geben, war es doch keinem von uns möglich, sich rittlings auf den niedergeworfenen Gegner zu setzen. Das war recht unbefriedigend, aber nicht zu ändern. Wir ertrugen auch das.
Den Kindergarten, die Primarschule und die Sekundarschule besuchten wir gemeinsam. Probleme gab es dann zur Zeit des Übertritts ins Gymnasium. Es zeigte sich nämlich, dass mein Bruder nicht über den nötigen Notendurchschnitt verfügte, um den Übertritt prüfungsfrei zu bewerkstelligen, während ich den Durchschnitt bei Weitem hatte. Mein Bruder musste also zum Test antreten, die er aber nicht bestand. Er hätte es sicher geschafft, wenn ich Gelegenheit gehabt hätte, ihm beizustehen. Leider war dies aber nicht möglich, obwohl ich ja mit ihm zusammen antreten musste und wir dicht an dicht, Schulter an Schulter nebeneinandersassen.
Der Austausch wurde uns dadurch verunmöglicht, dass die längste Zeit ein eigens dazu bestelltes Aufsichtsorgan hinter uns sass und genauestens achtgab, dass es zu keinen Schummeleien kam.
Um mir die humanistische Bildung dennoch zu ermöglichen, setzten unsere Eltern schliesslich bei der Erziehungsdirektion eine Sonderregelung durch: Mein Bruder und ich besuchten beide das Gymnasium, allerdings mit der Einschränkung, dass nur ich zur Abschlussprüfung würde antreten dürfen – sofern ich nicht wegen mangelnder Leistung schon vorher vom Institut flöge, selbstverständlich.
Plötzlich aber, nach etwa anderthalb Jahren Gymnasium, tat mein Bruder wie durch ein Wunder den Knopf auf und wurde einer der Besten. Das hatte eine neue Sonderregelung zur Folge, nämlich die, dass mein Bruder nun auch zur Matura antreten durfte, obwohl er ja die Eintrittsbedingungen ins Gymnasium seinerzeit gar nicht erfüllt hatte.
Wir beide bestanden die Matura glänzend – es wurmte mich allerdings ein bisschen, dass mein Bruder sogar zwei Punkte mehr erzielt hatte als ich, und zwar wegen guter Leistungen in Mathematik, von der ich ungefähr so viel Ahnung hatte wie ein Thermometer vom Trompetenspiel.
Dienstag, 4. März 1986. Das Schreiben in dieser Fehlhaltung, die sich nun einmal nicht vermeiden lässt, strengt mich an, aber ich beisse auf die Zähne und fahre fort.