Auf, preiset die Tage! - Meinrad Walter - E-Book

Auf, preiset die Tage! E-Book

Meinrad Walter

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Beschreibung

Musik gehört dazu, wenn es Weihnachten werden soll! Für keine andere Zeit des Jahres wurde über die Jahrhunderte hinweg so viel vokale und instrumentale Musik komponiert: gottesdienstliche und konzertante Werke, andächtige Hausmusik und große Werke für Soli, Chor und Orchester. Viele Klänge bringen die adventliche Erwartung zum Ausdruck, andere widmen sich der Freude über die Menschwerdung Gottes. Um diese besonderen Tage intensiver zu erleben, erschließt dieses Buch adventliche und weihnachtliche Stücke mit Blick auf deren Worte und Musik. Zum klingenden Begleiter wird das Buch, wenn Tag für Tag ein Musikstück präsentiert wird und jeweils auch ein QR-Code zu hervorragenden Einspielungen im Internet führt. So ergänzen sich Hören und Bedenken in gegenseitiger Inspiration. 

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© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: Gaudenzio Ferrari, Das Konzert der Engel, Fresko, 1532–1534, Santuario della Beata Vergine dei Miracoli, Saronno, Italien

© akg-images / Ghigo Roli

E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISBN Print: 978-3-451-39372-3

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-82972-7

Inhalt

Zur Einstimmung

Advent

1. Woche im Advent

Johann Sebastian Bach: »Nun komm, der Heiden Heiland«

Ambrosius: »Veni redemptor gentium«

Georg Friedrich Händel: »Comfort ye« – »Ev’ry valley«

Philipp Nicolai: »Wachet auf, ruft uns die Stimme!«

Michael Praetorius: Choralkonzert »Wachet auf!«

Jochen Klepper / Johannes Petzold: »Die Nacht ist vorgedrungen«

Max Reger: »Macht hoch die Tür, die Tor macht weit«

2. Woche im Advent

Johannes Brahms: »O Heiland, reiß die Himmel auf«

»Rorate coeli« / »Tauet Himmel, den Gerechten«

Johann Sebastian Bach: »Seligster Erquickungstag«

Johann Ludwig Bach: »Wir wissen, so unser irdisches Haus«

Krzysztof Penderecki: »Lauda, Jerusalem«

Helga Poppe: »O Herr, wenn du kommst, wird die Welt wieder neu«

Franz Schmidt: »Seht, ich mache alles neu!«

3. Woche im Advent

Georg Friedrich Händel: »Tochter Zion, freue dich!«

»Wir sagen euch an den lieben Advent«

Johann Hermann Schein: »Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten«

»Es kommt ein Schiff geladen«

»Bereite dich, Zion«

Die sieben O-Antiphonen

Arvo Pärts chorische Antiphonen

4. Woche im Advent

Heinrich Schütz: »Sei gegrüßet, Maria, du Holdselige!«

Heinrich Ignaz Franz Biber: Verkündigung Mariens

Anton Bruckner: »Ave Maria«

»Maria durch ein Dornwald ging«

Olivier Messiaen: »Première communion de la Vierge«

Jan Dismas Zelenka: »Magnificat« in D-Dur

Weihnachtszeit

Heilige Nacht und Weihnachtsoktav

»Stille Nacht, heilige Nacht!«

Johann Sebastian Bach: »Jauchzet, frohlocket!«

»Vom Himmel hoch, da komm ich her«

Fanny Hensel: »Vom Himmel hoch, da komm ich her«

Wolfgang Amadeus Mozart: »Et incarnatus est«

Benjamin Britten: »A Ceremony of Carols«

Felix Mendelssohn Bartholdy: »Hark! The Herald Angels sing«

Dietrich Bonhoeffer: »Von guten Mächten«

Arnold Schönberg: »Friede auf Erden«

2. Januar bis Taufe des Herrn

Michael Praetorius: »Es ist ein Ros entsprungen«

Johann Sebastian Bach: »Sie werden aus Saba alle kommen«

»Gottes Stern, leuchte uns«

Théodore Dubois: »Marche des trois Mages«

Peter Cornelius: »Die Könige«

Paul Gerhardt: »Ich steh an deiner Krippe hier«

Heinrich Schütz: »Also hat Gott die Welt geliebt«

»O du fröhliche«

Francis Poulenc: »O magnum mysterium«

Johann Sebastian Bach: »Nein, nein!« – »Ach, ja!« – »Ja, ja!«

»In dulci jubilo«

Johann Sebastian Bach: »Christ, unser Herr, zum Jordan kam«

Heinrich Schütz: »Herr, nun lässest du deinen Diener« / »Selig sind die Toten«

Register

Über den Autor

Über das Buch

Zur Einstimmung

Musik gehört dazu, wenn es Weihnachten werden soll! Viele vokale und instrumentale Werke sind für diese kostbare Zeit des Jahres entstanden: für Gottesdienste und Konzerte, als stimmungsvolle Hausmusik oder in großer Besetzung für Soli, Chor und Orchester. Manche Klänge bringen die adventliche Erwartung zum Ausdruck, andere widmen sich der weihnachtlichen Freude über die Menschwerdung Gottes.

Für alle, die diese besonderen Tage intensiv mit Musik erleben wollen, erschließt dieses Buch viele adventliche und weihnachtliche Stücke. Zum klingenden Begleiter wird das Buch, weil jeweils auch QR-Codes zu hervorragenden Einspielungen im Internet führen: zum innig-mystischen Adventslied „Es kommt ein Schiff geladen“ ebenso wie zu Johann Sebastian Bachs „Oratorium auf die heilige Weihnacht“ mit dem fulminanten Beginn „Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage!“

Wer bringt uns dieses Konzert dar, bei dem Hören und Bedenken sich gegenseitig inspirieren? Ein illustres Ensemble aus Textautoren und Komponisten ist am Werk. Bei den Worten spannt sich der Bogen vom biblischen Propheten Jesaja über die Weihnachtsgeschichte in den Evangelien nach Lukas und Matthäus bis zur Lyrik der Gegenwart. Musikalisch reicht das Spektrum von der Gregorianik über Barock, Klassik und Romantik bis zu Arnold Schönbergs chorischer Vision „Friede auf Erden“ und Benjamin Brittens „Ceremony of Carols“. Ausschnitte aus Georg Friedrich Händels „Messias“ dürfen ebensowenig fehlen wie Mozarts „Et incarnatus est“ aus der großen Messe in c-Moll. Mit dabei sind zudem bekannte Lieder wie „Stille Nacht, heilige Nacht!“, „O du fröhliche“ und „Es ist ein Ros entsprungen“.

Immer wieder sind neue Entdeckungen zu machen: etwa, wenn Fanny Hensel geb. Mendelssohn das von Martin Luther stammende Weihnachtslied „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ als virtuos-romantisches Klavierstück komponiert, oder wenn Heinrich Ignaz Franz Biber die adventlich-biblische Szene mit dem Engel Gabriel und Maria aus dem ersten Kapitel des Lukasevangeliums in eine barocke Sonate für Violine und Generalbass „übersetzt“.

Mit allen Musikstücken dieses Buches verbindet sich dieser Wunsch: Mögen die vielen klingenden Variationen über das Thema der Menschwerdung Gottes mit dazu beitragen, die Advents- und Weihnachtszeit tiefer zu erleben, bewusster zu gestalten und Tag für Tag hörend zu begehen – im spirituellen „Dreiklang“ von emotionalem Hören, rationalem Verstehen und religiösem Glauben.

Freiburg, im Sommer 2022

Meinrad Walter

1. Woche im Advent

Johann Sebastian Bach: »Nun komm, der Heiden Heiland«

Festliche Ouvertüre zum Ersten Advent

1. Sonntag im Advent

Nun komm, der Heiden Heiland,der Jungfrauen Kind erkannt,des sich wundert alle Welt,Gott solch Geburt ihm bestellt.

Was ist der Advent? Eine große Ouvertüre! So jedenfalls dachte wohl Johann Sebastian Bach (1685–1750), als er seine festliche Musik für den Ersten Advent des Jahres 1714 komponiert hat. Und wer wäre nicht gern dabei gewesen, als diese Klänge in der Weimarer Schlosskirche, die auch „Himmelsburg“ genannt wurde, erstmals von der Empore herab in den Kirchenraum strömten? Bereits damals haben manche der adligen Hörerinnen und Hörer es gewiss bemerkt: Eine Französische Ouvertüre ist das! Also eine typische und zudem moderne Gattung der instrumentalen Barockmusik. „Unser kaum dreißigjähriger höfischer Konzertmeister Bach kennt sich eben bestens aus in den internationalen Stilen der Musik!“, so mögen einige Liebhaber der Tonkunst bei dieser denkwürdigen Uraufführung am 2. Dezember 1714 gedacht haben.

Die kundigen Ohren mancher Kenner könnten zugleich bemerkt haben, dass gleich in den ersten Takten dieser festlichen Instrumentalmusik – etwas versteckt im Bass – die Melodie eines Kirchenliedes erklingt: „Nun komm, der Heiden Heiland“. Gut vorstellbar ist, dass in jenem Gottesdienst die Gemeinde diesen Choral bereits zu Beginn gesungen hat. Schließlich waren die acht Strophen damals das Hauptlied für den Ersten Advent. Martin Luther schuf das Lied zum Advent 1523 in Wittenberg, als er dort Professor der Theologie war. Mit „Heiden“ sind alle Völker gemeint. Die lateinische Vorgeschichte mit dem Wortlaut „Veni redemptor gentium“ – wörtlich: Komm, Erlöser der Völker – wird uns morgen näher beschäftigen.

Versetzen wir uns in jenen Gottesdienst in der Weimarer „Himmelsburg“. Nach der Lesung des Evangeliums vom Einzug Jesu in Jerusalem (Matthäus 21,1–9) greift Bachs Kantate das Thema des adventlichen Kommens des Erlösers auf. Neben dem Orchester waren ein vermutlich kleinbesetzter Chor und vier Vokalsolisten zu hören. Sie singen stellvertretend für alle. Worum geht es Bach? Er will nicht nur adventlich besingen, dass Jesus kommen wird. Es geht ihm um das Wie dieses Kommens! Das will er mit seiner Musik „inszenieren“.

Gleich in den ersten Takten finden zwei musikalische Klangwelten zueinander: der zum Schreiten bestens geeignete majestätisch-punktierte Rhythmus der Ouvertüre und die Melodie des Liedes „Nun komm, der Heiden Heiland“. Dann singen die vier Vokalstimmen – in der Reihenfolge Sopran, Alt, Tenor, Bass – jeweils die erste Zeile des Chorals wie eine adventliche Erkennungsmelodie, die sich wirklich alle aneignen sollen. Im vierstimmigen Satz und ganz einmütig hören wir gleich darauf das Bekenntnis: „der Jungfrauen Kind erkannt“. Der kommende Gottessohn will nicht nur begrüßt, sondern auch „erkannt“ werden, wobei mit zu bedenken ist, dass dieses Wort „Erkennen“ bereits im biblischen Sprachgebrauch einen weiten Horizont eröffnet: Es meint Anerkennen, aber auch Lieben.

Nun wäre in jeder Ouvertüre ein rascher Mittelteil an der Reihe. Choräle kennen aber nur ein einziges Singtempo. Wie löst Bach dieses Problem? Er verlässt nur für die Worte „des sich wundert alle Welt“ den majestätischen Duktus und die Melodie des Chorals. Ein aufgeregtes Durcheinander aller Stimmen ist jetzt zu hören, eine Musik des Erstaunens: So wundert sich die ganze Welt! Dann geht es zurück zu den feierlich schreitenden Klängen, nun mit der letzten Choralzeile. Sie nennt das Wichtigste: „Gott solch Geburt ihm bestellt“.

Später in dieser Weimarer Kantate verschafft Bach dem kommenden Heiland noch einen ganz besonderen Auftritt mit den Worten „Siehe, siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an“. Advent heißt: Jesus klopft an. Vom ersten bis zum letzten Ton dürfen die Streicher das mit ihren Pizzicato-Klängen ausführen, indem sie nicht mit dem Bogen über die Saiten streichen, sondern fast geräuschhaft zupfen. Auf Jesu Wort folgt die Antwort des Glaubens: „Öffne dich, mein ganzes Herze, Jesus kömmt und ziehet ein.“ Bach führt die Melodie immer wieder nach oben: „Öffne dich!“ Danach steht in den Noten jeweils eine erwartungsvolle Pause. Auch das Innehalten und Durchatmen gehören mit dazu. Und nicht nur um Musik und um Klänge geht es, sondern immer wieder auch um die kostbaren Momente der Stille. Dieses Buch will mit dazu anregen, die adventlichen und weihnachtlichen Tage musikalisch auszukosten – klangvoll und in Stille.

Das Ensemble der Bachstiftung St. Gallen unter Leitung von Rudolf Lutz präsentiert im Rahmen der Einspielung sämtlicher Vokalwerke Bachs hier die Kantate BWV 61, deren Eingangssatz „Nun komm, der Heiden Heiland“ auch die Ouvertüre dieses Buches ist.

Ambrosius: »Veni redemptor gentium«

Aus Mailand stammt das älteste Adventslied

1. Woche im Advent – Montag

Veni redemptor gentium, ostende partum virginis;Miretur omne saeculum: talis decet partus Deum.

Procedens de thalamo suo, pudoris aula regia,Geminae gigans substantiae alacris ut currat viam.

Egressus eius a Patre, regressus eius ad Patrem;Excursus usque ad inferos, recursus ad sedem Dei.

Komm, du Heiland aller Welt; Sohn der Jungfrau, mach dich kund.

Darob staune, was da lebt: Also will Gott werden Mensch.

Er ging aus der Kammer sein, dem königlichen Saal so rein,Gott von Art und Mensch, ein Held; sein’ Weg er zu laufen eilt.

Von dem Vater kam er her, und zum Vater kehrt’ er heim;Er stieg nieder bis zur Höll und fuhr auf zu Gottes Thron.

Gestern waren wir zu Gast in der barocken „Himmelsburg“ am Weimarer Hof in Thüringen. Heute führt uns der adventlichmusikalische Weg in die spätantike Stadt Mailand. Auf den Spuren des Liedes „Nun komm, der Heiden Heiland“ – die neuere Übersetzung im katholischen Gebet- und Gesangbuch Gotteslob (2013) lautet „Komm, du Heiland aller Welt“ – reisen wir gedanklich und musikalisch gen Süden. Und tief in die Vergangenheit, um die ältesten Strophen zum Advent kennenzulernen, die weltweit bis heute gesungen werden.

Diese „originalen“ lateinischen Worte hat der aus einer stadtrömischen Adelsfamilie stammende und in Trier geborene Kirchenlehrer Ambrosius um 380 nach Christus gedichtet. Damals war eine Blütezeit des geisterfüllten Singens! Ambrosius erzählt aber auch von kritischen Stimmen: „Man sagt, das Volk sei verhext von den Zauberweisen meiner Hymnen, und ich leugne dies gewiss nicht.“ Er dreht den Spieß jedoch einfach um und spricht vom Zauber des Gesangs: „Das ist eine gewaltige Zauberweise, mächtiger als sonst etwas. Denn was ist mächtiger als das Bekenntnis zur Dreifaltigkeit, wie es Tag für Tag durch den Mund des ganzen Volkes besungen wird?“

Für die Mailänder Gemeinde des Ambrosius ist das Singen eine musikalische Sprache des Glaubens, mit der sich alle gegenseitig überbieten wollen: „Wetteifernd sind alle dabei, ihren Glauben zu bekennen und so den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist in gesungenen Versen zu verkünden.“ Ursprünglich war „Veni redemptor gentium“ ein weihnachtlicher Hymnus! Warum? Zur Zeit des Ambrosius hat man bereits die Geburt Christi liturgisch gefeiert. Es gab jedoch damals im Kirchenjahr noch keine Adventszeit. Wie schön, dass es sie heute gibt!

Welche Melodie wurde damals in Mailand gesungen? Das bleibt ungewiss. Um der Musik dennoch auf die Spur zu kommen, machen wir auf unserer Liederreise eine Zwischenstation im Schweizer Kloster Einsiedeln in der Nähe von Zürich. Dort begegnet uns erstmals die bis heute gesungene, vermutlich um 900 entstandene Melodie zu den acht Strophen. Sie ist ein wenig komplexer als ihre vereinfachte Fassung aus Martin Luthers Feder, die wir gestern in Bachs Vertonung gehört haben.

„Veni“, komm! Das ist der Grundimpuls. Großartig verbindet Ambrosius Theologie und Dichtkunst. Er betont den göttlichen Ursprung Jesu ebenso wie sein Menschsein. Genau darüber wurde damals nämlich heftig gestritten. Ambrosius schärft seiner singenden Gemeinde ein, dass Jesus Christus „wahrer Gott und wahrer Mensch“ ist, wie es das Konzil von Nicäa im Jahr 325 formuliert hat. Er beschreibt sogar den ganzen Weg des „heldenhaften“ (lateinisch „gigans“) Gottessohnes: wie er vom Vater ausgeht, in die Welt kommt und sogar in die Unterwelt hinabsteigt, um dann österlich zum Vater zurückzukehren.

Das ist die rationale Seite des Glaubens. Wie sehr solche ambrosianischen Gesänge die Singenden und Hörenden damals auch emotional bewegt haben, erfahren wir vom heiligen Augustinus. In seinen berühmten „Bekenntnissen“ schreibt er: „Wie weinte ich bei den Hymnen und Gesängen auf dich, mächtig bewegt vom Wohllaut dieser Lieder deiner Kirche! Die Weisen drangen an mein Ohr, und die Wahrheit flößte sich ins Herz.“

Vom Ohr ins Herz! Dieser innere Weg ist entscheidend. Viele erleben das heute besonders intensiv mit gregorianischen Klängen, die bei aller Bewegtheit eine große Ruhe ausstrahlen. Wie das letztlich gelingt, bleibt ein großes Rätsel. Der estnische Komponist Arvo Pärt (geb. 1935) hat versucht, es so in Worte zu fassen: „Der gregorianische Gesang hat mir gezeigt, dass hinter der Kunst, zwei, drei Noten zu kombinieren, ein kosmisches Geheimnis verborgen liegt.“ Hoffentlich nähern wir uns in dieser Advents- und Weihnachtszeit noch vielen ähnlichen großen und kleinen Geheimnissen. Aber es ist heute ja erst der zweite Tag.

Das Tübinger ensemble officium unter Leitung von Wilfried Rombach stellt die gregorianische Melodie in einen „mittelalterlichen“ Klangraum: mit zusätzlichen instrumentalen Klangfarben, früher Mehrstimmigkeit und strophischer Abwechslung.

Vollständiger Text des Hymnus „Veni redemptor gentium“ mit deutscher Übersetzung.

Georg Friedrich Händel: »Comfort ye« – »Ev’ry valley«

Adventliches „Entertainment“ über den kommenden Messias

1. Woche im Advent – Dienstag

Comfort ye, comfort ye My people, saith your God. Speak ye comfortable to Jerusalem, and cry unto her, that her warfare is accomplish’d, that her iniquity is pardon’d. The voice of him that cried in the wilderness; prepare ye the way of the Lord; make straight in the desert a highway for our God.

Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Redet freundlich, Boten, mit Jerusalem, und prediget ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist. Vernehmt die Stimme des Predigers in der Wüste: Bereitet dem Herrn den Weg, und ebnet durch Wildnis ihm Pfade, unserm Gott.

Ev’ry valley shall be exalted and ev’ry mountain and hill made low; the crooked straight and the rough places plain.

Alle Tale macht hoch erhaben, und alle Berge und Hügel tief, das Krumme grad, und das Raue macht gleich.

In der Erzählung „Händels Auferstehung“, einem Kapitel seiner berühmten „Sternstunden der Menschheit“ (1943), beschreibt der Dichter Stefan Zweig phantasievoll, wie es gewesen sein könnte, als der von Misserfolgen deprimierte Händel (1685–1759) das Messias-Textbuch seines Freundes Charles Jennens aufgeschlagen und widerwillig zu lesen begonnen hat: „Beim ersten Wort fuhr er auf. ‚Comfort ye‘, so begann der geschriebene Text. ‚Sei getrost!‘ – wie ein Zauber war es, dieses Wort – nein, nicht Wort: Antwort war es, göttlich gegeben, Engelsruf aus verhangenen Himmeln in sein verzagendes Herz. Und schon, kaum gelesen, kaum durchfühlt, hörte Händel es als Musik, in Tönen schwebend, rufend, rauschend, singend. O Glück, die Pforten waren aufgetan …“

Zu den Worten „Comfort ye, My people“ – Tröstet mein Volk! – hören wir in den instrumentalen Begleitstimmen der Streicher eine pulsierende Musik. Immer wieder öffnet sie sich, um den Gesang vorzubereiten, fast zärtlich. Den Tenorsolisten macht Händel zur Verkörperung des Heilspropheten Jesaja. Seine Gestik ist zugewandt und ernst. Doch bald wechselt er gleichsam sein Gewand und wird zum Bußprediger Johannes, dem energischen „Rufer in der Wüste“. Berichtet der Tenor nur von all dem? Oder schlüpft er in diese Rollen, wie auf einer Opernbühne? Die Grenzen verschwimmen. Schließlich ist die Gattung des Oratoriums ja mit der Oper sozusagen verschwistert, weil sie zweifach verwurzelt ist: textlich in der Predigt, klanglich im Musiktheater.

Der Schluss des Rezitativs ist eine Aufforderung: Bereitet den Weg für den kommenden Messias! Die Arie wird das sogleich bravourös einlösen: „Ev’ry valley shall be exalted“ – Alle Tale macht hoch erhaben. Das biblisch-adventliche Bild wird klingende Gegenwart! Wie sollen der Weg des Messias gebahnt und seine Ankunft bereitet werden? In einer Umkehr des Vertrauten: Die Täler rücken in die Höhe und die Berge senken sich in die Tiefe. All diese Bilder inspirieren Händel zu einer höchst virtuosen musikalischen „Berg-und-Talfahrt“, deren „Kurven“ jeweils in einen langen Halteton münden. So geradlinig sollen alle sich verhalten, die den Messias erwarten.

Händel „verflüssigt“ gleichsam das adventliche Bild, indem er es dramatisch in einen Vorgang „übersetzt“. Das ist ja eine der wichtigsten Möglichkeiten der Musik: Sie bleibt nicht statisch, sondern sie bringt alles in Bewegung. Auch ihre Hörerinnen und Hörer nimmt sie mit, wenn diese „mitgehen“ wollen. Und ein zweites Charakteristikum der Musik wird hier erlebbar: Wenn die Worte etwas ankündigen, was erst noch geschehen soll, wie hier das Erhöhen der Täler und das Erniedrigen der Berge, dann ist das in der Musik bereits Gegenwart.

Vom eigenwilligen Juristen und Hobby-Theologen Charles Jennens, dem Librettisten dieses „Oratoriums aller Oratorien“, stammen zwei treffende Charakterisierungen. Zum einen beschreibt er die Hauptperson des Werkes mit dem Satz „Subject is Messiah“. Zum anderen nennt er das Werk „a fine musical entertainment“. Bei der Uraufführung war das Interesse an dieser geistlichen Unterhaltung so überwältigend und der Platz so knapp, dass per Zeitungsannonce die Damen gebeten wurden, ohne Reifröcke zu erscheinen, wohingegen die Herren möglichst auf das Tragen von Säbeln verzichten sollten.

Auch wir wollen uns heute mit dieser Musik die unterhaltsamen Aspekte des Advents nicht entgehen lassen! Hierzu gehören in der über den QR-Code erreichbaren Aufnahme auch die geschmackvollen Verzierungen des Sängers, mit denen etwa in der Arie die gleichen Worte immer wieder neu erklingen, so wie der Advent sich von Tag zu Tag mit immer neuen Aspekten zeigt.

Eine Aufnahme aus der New England Conservatory’s Jordan Hall in Boston (Massachusetts) mit dem Tenor Thomas Cooley und dem Orchester Boston Baroque unter der Leitung von Martin Pearlman.

Philipp Nicolai: »Wachet auf, ruft uns die Stimme!«

Der Advent ist die Zeit des „Nicht-Verpassens“

1. Woche im Advent – Mittwoch

„Wachet auf“, ruft uns die Stimmeder Wächter sehr hoch auf der Zinne,„wach auf, du Stadt Jerusalem!

Mitternacht heißt diese Stunde“,sie rufen uns mit hellem Munde:„Wo seid ihr klugen Jungfrauen?

Wohlauf, der Bräut’gam kommt,steht auf, die Lampen nehmt!Halleluja!

Macht euch bereitzu der Hochzeit,ihr müsset ihm entgegengehn.“

Jemandem „den Spiegel vorhalten“, das verheißt oft nichts Gutes. Wer das tut, der will sagen, wie es wirklich ist. Ganz ungeschminkt. So war es auch kurz vor den Jahr 1600 in der Stadt Unna. Ohnmächtig muss der lutherische Pastor Philipp Nicolai (1556–1608) miterleben, wie die Pest viele Menschen dahinrafft. Zwischen den Beerdigungen, die er zu halten hat, verfasst er eine Trostschrift. Als Thema wählt er die himmlischen Verheißungen der Bibel. Sie geben seinem Protest gegen Krankheit und Leid eine Stimme. Ob sie auch Hoffnung schenken können?

Philipp Nicolais Thema ist das ewige Leben. Diesen „Spiegel“ will er seinen Zeitgenossen zum Trost und der Pest als Protest vorhalten. Deshalb heißt sein Buch „Freuden-Spiegel des ewigen Lebens“ (1599). Wer in diesen Spiegel schaut, der erkennt und erlebt, wie Gottes Liebe stärker ist als jede zeitliche Macht. Nicolai weiß, dass die grassierende Seuche ihm vieles nehmen kann. Sein Glauben, Hoffen und Lieben aber will er sich nicht rauben lassen.

Da kommt ihm eine großartige Idee. Was er auf über 400 Seiten ausgeführt hat, soll in eine prägnante Zusammenfassung münden. Als Fazit wäre eine Art von Thesenpapier denkbar. Aber sind nicht Lieder viel geeigneter? So nämlich lässt sich die Quintessenz des Buches ja sogar singen – am besten auswendig! Nicolais Rechnung geht auf: Die beiden Lieder „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ (zu Psalm 45) und „Wachet auf, ruft uns die Stimme!“ (über Matthäus 25), die auf den letzten Seiten seines Buches stehen, erklingen bis heute.

Um das Wächterlied noch besser zu verstehen, schlagen wir die Bibel auf. In Gleichnissen erzählt Jesus vom Gottesreich, das „adventlich“ mit ihm angebrochen ist. Eine dieser Geschichten handelt von den klugen und törichten Jungfrauen. Als Brautjungfern sollen sie den Bräutigam zur Hochzeit geleiten. Die klugen haben dafür Lampen und genügend Öl. Den törichten jedoch geht, als der Bräutigam sich verspätet, das Öl aus. Deshalb verpassen sie die Hochzeit. Advent ist sozusagen die Zeit des „Nicht-Verpassens“.

Die drei Strophen sind klar aufgebaut. Der Weg führt von außen nach innen und dann nach oben. Zunächst sind wir außen, wo die Wächter überraschend ein Signal vom Turm blasen (Strophe 1). Ein adventlicher Weckruf! Die zweite Strophe beschreibt, wie die gläubige Seele darauf reagiert. Ihre Antwort kommt von innen, aus dem Herzen. Und ein Ziel kommt in Sicht: das Abendmahl. Die dritte Strophe weist dann himmelwärts, von innen nach oben. Die menschlichen Stimmen wollen sich mit jenen der Engel vereinen, musikalisch begleitet von Harfen und Zimbeln, die Nicolai dem 150. Psalm entnimmt. Vor lauter innerer Freude gelingt ihm nicht nur der Text, sondern auch die sich weit ausschwingende und gleich zu Beginn fanfarenhafte Melodie. Nicolai gibt sogar die gewohnte Sprache auf und wechselt am Ende zum ekstatischen Ausruf „Io, io“, den er mit dem Liedzitat „ewig in dulci jubilo“ (siehe Strophe 3 hier auf der rechten Seite) gerade noch bändigen kann.

Eine Einspielung des berühmten vierstimmigen Satzes von Johann Sebastian Bach aus dem Dom zu Fulda mit dem dortigen Jugendkathedralchor unter Leitung von Domkapellmeister Franz-Peter Huber und mit Hans-Jürgen Kaiser an der Hochchororgel.