Befiehl du deine Wege - Meinrad Walter - E-Book

Befiehl du deine Wege E-Book

Meinrad Walter

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Beschreibung

Keine Zeit im Jahr ist so spannungsvoll wie die sieben Wochen von Aschermittwoch bis Ostern. Um ein Loslassen von Gewohntem geht es und um das Entdecken neuer Perspektiven, um irdische Vergänglichkeit und aufkeimende Hoffnung. Auch klanglich steht die Fasten- und Passionszeit in einer Spannung: Neben festlicher Musik wie etwa Bachs Passionswerken steht auch die Fastenzeit als "stille Zeit" und insbesondere die Karwoche, in der vielerorts auf Instrumental- und Orgelmusik verzichtet wird. Tag für Tag wird in diesem Buch ein Musikstück vorgestellt aus einer breiten Auswahl vokaler und instrumentaler Stücke von Händel, Mozart und Buxtehude bis hin zu moderner Filmmusik. Auch bekannte Kirchenlieder wie "O Haupt voll Blut und Wunden" oder "Christ ist erstanden" dürfen natürlich nicht fehlen. Das Buch lädt dazu ein, den Weg vom Aschermittwoch bis zum Osterfest Schritt für Schritt im "Rhythmus" musikalischer Meisterwerke mitzugehen. QR-Codes führen zu sorgfältig ausgewählten Aufnahmen der vorgestellten Stücke. Meinrad Walter präsentiert alle Werke so, dass weder musikalische noch theologische Vorkenntnisse nötig sind. Wichtig ist vielmehr, dass die historischen Informationen immer wieder in Impulse für ein vertieftes Hören und Verstehen übergehen.

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© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv und Abbildungen im Innenteil: Orlando di Lasso 1532–1594 [Komponist] / Hans Mielich [Illuminator/Illustrator] / Jean Pollet [Schreiber]: 4 Sacred songs [Bußpsalmencodex] – Bayerische Staatsbibliothek, München, Signatur BSB Mus.ms. A I(1

Layoutkonzept: dtp studio eckart Jörg Eckart

Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg

E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISBN Print 978-3-451-39725-7

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83275-8

Zur Einstimmung

Keine Zeit im Jahr ist so spannungsvoll wie die sieben Wochen von Aschermittwoch bis Ostern. Um ein Loslassen von Gewohntem geht es und um das Entdecken neuer Perspektiven, um irdische Vergänglichkeit und aufkeimende Hoffnung. Überdies steht die Fasten- und Passionszeit auch in einer Spannung, was die Klangwelt angeht: Da gibt es zum einen durchaus festliche Musik wie etwa Johann Sebastian Bachs Passionswerke, wenngleich immer ohne „Pauken und Trompeten“; zum anderen steht die Fastenzeit und insbesondere die Karwoche als „stille Zeit“ vielerorts im Zeichen des Verzichts auf jegliche Instrumental- und Orgelmusik. Beides hat seinen Reiz und wird uns in diesem Buch begegnen. In vokalen und instrumentalen Werken wird sogar deutlich, dass der Verzicht auf quantitative Opulenz für viele Komponisten ein Anreiz ist, höchste Qualität mit anderen Mitteln zu erreichen.

Das thematische Spektrum dieser besonderen Zeit ist geradezu vielfarbig. Wir hören von Lebenslust und Sterbekunst, von Trauer und Trost, von bitterer Enttäuschung und tragfähigem Vertrauen. Nur wenige Aspekte mögen zur Einstimmung genügen: Leid und Leidenschaft prägen die Passionsmusik als Musica Crucis. Ostern kommt zur Geltung, wenn etwa Georg Friedrich Händel in seinem „Messias“-Oratorium das Wort des Apostels Paulus „Wie durch einen Menschen der Tod gekommen ist, so kommt durch Einen auch die Auferstehung der Toten“ (1 Korinther 15,21) geradezu musikalisch-gegensätzlich inszeniert. An weiteren Beispielen fehlt es nicht. Die urmenschliche Bitte „Erbarme dich, mein Gott!“ erklingt in ergreifenden Bußpsalmen, und von den Tränen der Jüngerin Maria Magdalena, die nach dem Zeugnis der Bibel Jesu Leidensweg miterlebt hat, handelt ein barockes Oratorium von Antonio Caldara. Auf Jesu Ruf in die Nachfolge „Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Markus 1,15) reagiert nicht nur die Arie „Ich folge dir gleichfalls“ in Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion, sondern auch der Popsong „I will follow him“ aus dem erfolgreichen Kinofilm „Sister Act“. Das Abendmahl des Gründonnerstags wird ebenso in Musik „übersetzt“ wie die Sieben Worte Jesu am Kreuz.

Dieses Buch will dazu anregen, den Weg von Aschermittwoch bis Ostern Schritt für Schritt im „Rhythmus“ von Musikstücken mitzugehen. Die ausgewählten Werke weiten den Horizont des musikalischen Erlebens und geben diesen vierzig Tagen eine besondere „Note“. Indem sie die spirituellen „Tonarten“ der Bibel und der Liturgie aufgreifen, ergänzen sie sich zu einem „Ensemble“ von Themen und Gesten. Auch bekannte Kirchenlieder wie „O Haupt voll Blut und Wunden“ oder „Christ ist erstanden“ fehlen nicht. Doch auch weniger Bekanntes darf entdeckt werden: eine ausdrucksstarke Salzburger Passionsmusik des elfjährigen Wolfgang Amadeus Mozart und Dietrich Buxtehudes musikalische Andacht an das Herz des Gekreuzigten auf einen mittelalterlich-mystischen Text, ein Konzert für Bratsche und Orchester über die Verleugnung des Petrus aus der Feder der englischen Komponistin Sally Beamish und russische Musik zur orthodoxen „Ganznächtlichen Vigil“ von Sergej Rachmaninow.

Alle Musikstücke werden so vorgestellt, dass beim Lesen weder musikalische noch theologische Vorkenntnisse nötig sind. Wichtig ist vielmehr, dass die historischen Informationen immer wieder in Impulse für ein vertieftes Hören und Verstehen übergehen. Zum klingenden Begleiter wird dieses Buch, weil jeweils auch QR-Codes zu hervorragenden Einspielungen im Internet führen. Das Sich-Zeit-Nehmen für das Hören der Musik ist ohnehin das Wichtigste. Ähnlich wie bei dem bereits vorliegenden Buch „Auf, preiset die Tage!“, dem musikalischen Begleiter durch die Advents- und Weihnachtszeit (Herder 2022), hat der Verfasser nur diesen Wunsch: Mögen die vielen klingenden Variationen zur Fasten- und Passionszeit bis zum österlichen Höhepunkt mit dazu beitragen, diese sieben Wochen tiefer zu erleben, bewusster zu gestalten und Tag für Tag hörend zu begehen – im spirituellen „Dreiklang“ von emotionalem Hören, rationalem Verstehen und religiösem Glauben.

Freiburg, im Sommer 2023

Meinrad Walter

Aschermittwoch bis Samstag vor dem 1. Fastensonntag

»Man fühlt recht innerlich die Gewalt der Musik«

Der berühmte Bußpsalm »Miserere«, vertont von Gregorio Allegri

Aschermittwoch

Miserere mei, Deus, secundum magnam misericordiam tuam.

Et secundum multitudinem miserationum tuarum dele iniquitatem meam.

Amplius lava me ab iniquitate mea, et a peccato meo munda me.

Quoniam iniquitatem meam ego cognosco, et peccatum meum contra me est semper.

Psalm 50 (lateinische Zählung der Vulgata), Verse 3–5

Erbarme dich meiner, o Gott, nach deiner großen Barmherzigkeit.

Und in der Fülle deines Erbarmens tilge mein Vergehen.

Wasch meine Schuld von mir ab, von meinen Sünden reinige mich.

Denn mein Vergehen erkenne ich, und meine Sünde steht immer vor mir.

deutsche Übersetzung (Psalm 51)

In den ersten vier Tagen der Fastenzeit hören und bedenken wir Musik zu den Psalmen. Die thematisch geradezu „polyphonen“ 150 Psalmen des Alten Testaments haben für Juden und Christen eine mehrfache Bedeutung. Sie sind ein erfahrungsgesättigtes Lebensbuch und ein unerschöpfliches Glaubensbuch. Zugleich ist der Psalter ein großes „Inspirationsbuch“, denn zu seinen Gebeten entstanden im Lauf der Jahrhunderte zahllose spirituelle und künstlerische „Resonanzen“. Auch die Musikgeschichte wäre ohne diese biblischen Lieder um einige Kapitel kürzer! In unserem musikalischen Begleiter durch die Fasten- und Passionszeit soll der Bußpsalm „Miserere“ am Anfang stehen, der heutzutage liturgisch in ökumenischer Gemeinsamkeit am Aschermittwoch erklingt.

Ein besonders berühmtes „Miserere“ stammt aus dem 17. Jahrhundert. Diese Klänge führen uns in die Sixtinische Kapelle und in die Karwoche, die auch „Heilige Woche“ genannt wird. Der Komponist heißt Gregorio Allegri. 1582 in Rom geboren, wird er im Dezember 1629 von Papst Urban VIII. in das Collegium der päpstlichen Sänger aufgenommen. Nach 22-jährigem Wirken findet er seine letzte Ruhestätte im Grab der päpstlichen Sänger in Santa Maria in Vallicella. Dort zeigt bis heute eine Marmorplatte die Noten seines fünfstimmigen Kanons „Cantabimus Canticum Novum“ (vgl. Psalm 96 und 98) – „wir werden das Neue Lied singen“. Das ist ein biblisch fundierter „Oberton“ vieler komponierter Gebete und ein gutes Motto für die Fastenzeit als Zeit der Erneuerung!

Allegris Musik zum Psalm „Miserere“ wurde auch deshalb so berühmt, weil sie im 18. und 19. Jahrhundert viele Italienreisende fasziniert hat. Johann Wolfgang von Goethe etwa nennt unser Chorstück zum Aschermittwoch „undenkbar schön“. Und Felix Mendelssohn Bartholdy schreibt:

Ja, wenn man immer von der besonderen Art des Vortrags sprechen hört, und wenn die Leute erzählen, die Stimmen klängen nicht wie Menschen-, sondern wie Engelstimmen aus der Höhe, so meinen sie immer diese eine Verzierung. Wie nun der Sopran das hohe C recht rein und sanft fasst und lange ausklingen lässt und dann langsam herabgleitet, während der Alt immerfort sein C hält, so dass ich im Anfange sogar getäuscht war und glaubte, das hohe C bleibe während dessen oben liegen, und wie sich die Harmonie so nach und nach auseinanderwickelt, das ist wirklich ganz prächtig.

Mendelsohn berichtet auch, wie die Kardinäle kurz vor dem Erklingen dieses Psalms beim Erlöschen der Kerzen mit den Füßen scharrten. Ein eindrucksvoller Ritus, der ins Schweigen mündet. „Nach der Stille“ aber kommt „ein schön gelegter Akkord; das tut ganz herrlich, und man fühlt recht innerlich die Gewalt der Musik“, so Mendelssohns Bericht. Auch das hohe C des Soprans findet er höchst eindrucksvoll, wenngleich dieser Ton gar nicht in den originalen Noten steht, sondern sich der sängerischen Tradition des päpstlichen Chores verdankt.

Mit diesem „Miserere“, das der Chor im Dunkeln und auswendig gesungen hat, fordert Allegri alle Sinne seiner Hörerinnen und Hörer heraus. Manches war damals mehr zu erahnen, als deutlich zu sehen: wie der Papst, ohne Mitra übrigens, in der mit schwarzem Tuch verhängten Sixtinischen Kapelle seinen Thron verlässt und sich vor dem Altar niederwirft, wie die Kerzen nacheinander gelöscht werden. Und noch eine weitere Besonderheit trug zur Berühmtheit dieses Stückes bei: Jedem, der die Noten abschreiben und außerhalb des Vatikans bringen wollte, drohte die Exkommunikation. Umso spektakulärer wirkt es, wenn Leopold Mozart im Jahr 1770 nach Salzburg schreibt: „Wir haben es schon!“ Sohn Wolfgang hat die nicht allzu komplexe Musik nach mehreren Besuchen in der Sixtinischen Kapelle aus dem Gedächtnis niedergeschrieben. Bestimmt hat er sogleich erkannt, was auch für das heutige Hören hilfreich sein mag, dass nämlich drei verschiedene Weisen der Vertonung versweise abwechseln: fünfstimmig, einstimmig-gregorianisch, vierstimmig und ganz am Schluss sogar neunstimmig. Der letzte Vers krönt gleichsam diesen Bußpsalm, mit dem der Komponist Gregorio Allegri für immer in die Musikgeschichte eingegangen ist.

Das britische Vokalensemble The Sixteen singt Gregorio Allegris „Miserere“ in einer BBC-Aufnahme unter der Leitung von Harry Christophers und in mehrchöriger Aufstellung.

Hier der Wortlaut dieses Bußpsalms hebräisch, lateinisch und deutsch.

»Frömmigkeit, die zur Andacht stimmt«

Psalm 23 »Gott ist mein Hirt« von Franz Schubert

Donnerstag nach Aschermittwoch

Gott ist mein Hirt, mir wird nichts mangeln.

Er lagert mich auf grüne Weide,

er leitet mich an stillen Bächen,

er labt mein schmachtendes Gemüt,

er führt mich auf gerechtem Steige

zu seines Namens Ruhm.

Und wall’ ich auch im Todesschattentale,

so wall’ ich ohne Furcht,

denn du beschützest mich,

dein Stab und deine Stütze

sind mir immerdar mein Trost.

Du richtest mir ein Freudenmahl

im Angesicht der Feinde zu,

du salbst mein Haupt mit Öle

und schenkst mir volle Becher ein;

mir folget Heil und Seligkeit

in diesem Leben nach,

einst ruh’ ich ew’ge Zeit

dort in des Ew’gen Haus.

Psalm 23, übersetzt von Moses Mendelssohn

Dieser Psalm zählt zu den bekanntesten Gebeten der Bibel, ja der Weltliteratur! Zwei Bilder von Gott sind im Spiel: Er ist fürsorglicher Hirte und königlicher Gastgeber. Und doch fragen sich heute manche, ob sie diesem Gebet noch trauen können. Wirkt es nicht allzu idyllisch, fast kitschverdächtig? Dagegen lässt sich einwenden, dass die Bibel keine heile Welt „malt“. Die „Theo-Poesie“ (Erich Zenger) des Psalms stellt sich den Gefährdungen, etwa im Bild der „Todschattenschlucht“, die zu durchqueren ist. Um den vertrauten Worten neu nachzuspüren, hören wir heute die Vertonung von Franz Schubert (1797–1828). Und warum soll sie nicht zu einer kleinen Andacht anregen? Mit einer Lesung und dem Vaterunser, einem Morgen- oder Abendlied …

Franz Schubert gibt uns sogar einen Hinweis, was „Andacht“ – auch in diesen vierzig Tagen vor Ostern – bedeuten könnte: keine Selbstüberforderung und keine religiöse Sonderwelt, sondern ein „gesunder“ Aspekt des Lebens und Glaubens, mitten in der Welt. In einem Brief an seinen Vater und seine Stiefmutter vom 25. Juli 1825 schreibt er: „Auch wunderte man sich sehr über meine Frömmigkeit, die die Gemüter ergreift und zur Andacht stimmt. Ich glaube, das kommt daher, weil ich mich zur Andacht nie forciere, und, außer wenn ich von ihr unwillkürlich übermannt werde, nie der gleichen Hymnen und Gebet komponierte, dann aber ist sie auch gewöhnlich die rechte und wahre Andacht.“

Bald singen auch größere Frauen- und Mädchenchöre diesen für Solostimmen komponierten Psalm. Im Herbst 1826 etwa bitten die Damen des Cäcilien-Vereins Lemberg den Komponisten um eine Abschrift der Noten. Schubert schickt ihnen das Gewünschte. Und später lesen wir im Brief einer Chorsängerin: „Der herrliche Psalm, den wir im Singverein besitzen, gehört auch zu dem Rührendsten, was ich noch hörte. Er wurde sehr gut gegeben.“ Sehr gut – und überdies in neuem klanglichen Gewand – wurde der Psalm im Dezember 2016 zum 80. Geburtstag des Dirigenten und Komponisten Hans Zender (1936–2019) gegeben. Dieser hat das Stück in seinen „Schubert-Chören“ für Frauenchor und Orchester bearbeitet. An die Stelle des Klaviers treten nun neue Klangfarben. Wir hören nicht nur Streicher und Bläser, sondern auch so exquisite Instrumente wie Marimba, Glockenspiel, Harmonium und Mandoline. Alt und neu verschmelzen. Und Franz Schubert hätte sich darüber bestimmt gefreut!

Hans Zenders Bearbeitung des Schubert-Psalms aus dem Jahr 1986 hat der Südwestrundfunk in der Liederhalle Stuttgart aufgenommen. Unter der Leitung von Cornelius Meister sind die Damen des SWR Vokalensembles und das SWR Symphonieorchester zu hören.

Hier eine Aufnahme des Originals für Frauenstimmen und Klavier mit dem St. Stanislav Girls Choir aus Ljubljana, Slowenien, unter der Leitung von Helena Fojkar Zupančič.

»Meine Seele harret und ich hoffe auf sein Wort«

Johann Sebastian Bachs Kantate »Aus der Tiefen« (Psalm 130)

Freitag nach Aschermittwoch

Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir.

Herr, höre meine Stimme, lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens!

So du willst, Herr, Sünde zurechnen, Herr, wer wird bestehen?

Denn bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte.

Ich harre des Herrn, meine Seele harret, und ich hoffe auf sein Wort.

Israel hoffe auf den Herrn;

denn bei dem Herrn ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm.

Und er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden.

Psalm 130 (Verse 1–4.7b–9)

Im Spätsommer des Jahres 1707 ist diese Kantate vermutlich erstmals erklungen. Und zwar im thüringischen Mühlhausen, wo damals der zweiundzwanzigjährige Johann Sebastian Bach (1685–1750) als Organist gewirkt hat. Vielleicht sollten die biblischen Worte und Bachs Klänge in jenem Gottesdienst all denen eine Stimme geben, die wenige Wochen zuvor so viel verloren hatten. Die Stadtchronik berichtet von einer „schrecklichen Feuersbrunst“, die ein Drittel der Häuser und Höfe „jämmerlich in Asche gelegt“ hatte. Eine Stadt trauert. Trost kam vielleicht aus der Bibel und aus der Musik von Johann Sebastian Bach.

„De profundis clamavi ad te“ – Aus der Tiefe rufe ich zu dir! Unzählige Male wurde dieser Ruf schon gebetet und im Ton der Klage gesungen, ja verzweifelt geschrien. Bach beginnt seine Kantate mit einer instrumentalen Einleitung. Sie soll die Hörenden innerlich sammeln und auf die Worte vorbereiten, die gleich erklingen werden. Das dialogische Wechselspiel zwischen Violine und Oboe will wohl auch besagen, dass keiner ganz allein ist. Wenn der Chor einsetzt, könnte dessen melodische Anfangsgeste jedoch befremdlich wirken: „Aus der Tiefen“ weist nicht nach oben, sondern nach unten. Aber vielleicht meint Bach damit ja: In diese Tiefe muss ich euch zunächst hinabführen mit meiner Musik. Das ist der „Ort“, von dem aus dieser Psalm den Höchsten anruft und ihm das Leid klagt.

Dass die Gnade Gottes das letzte Wort hat, hören wir im Vers „So du willst, Herr, Sünde zurechnen, Herr, wer wird bestehen …“. Dieses „Zurechnen“ trägt der Bassist psalmodierend vor. Die Antwort der menschlichen Logik heißt: „Keiner kann bestehen!“ Aber zum Gesang des Basses erklingt simultan eine Choralstrophe, die alles in Gottes Hände legt:

Erbarm dich mein in solcher Last,

nimm sie aus meinem Herzen,

dieweil du sie gebüßet hast

am Holz mit Todesschmerzen,

auf dass ich nicht mit großem Wehin meinen Sünden untergeh,

noch ewiglich verzage.

Bartholomäus Ringwaldt 1588

Bach inszeniert geradezu das Glaubensdrama von Sünde und Vergebung, von Gebet und Erhörung. Gott hat die alte Logik längst überwunden mit seiner Gnade, die gerade dann nicht ausbleibt, wenn Menschen versagen. Die hoffnungsvolle Botschaft „Denn bei dir ist die Vergebung“ setzt sich immer mehr durch.

Insgesamt berücksichtigt Bachs Musik zwei „Qualitäten“ der Worte. Da ist zunächst der Gesamtsinn eines Textes, etwa der Affekt des Verses „Meine Seele harret …“, den man bei der barocken Rede und Klangrede den „Skopus“ nennt. In diesem Sinne komponiert Bach eine sanfte Begleitung mitsamt Fuge: „Vor dem Hintergrund dieses milden Klangteppichs entfaltet sich die vokale Fuge mit ihren klagenden Tönen“ (Jean-Claude Zehnder). Hinzu kommt, zweitens, die Hervorhebung einzelner Worte im Sinne ihres „Sensus“. Das „Flehen“ etwa vergegenwärtigt Bach durch Seufzer, die mit Pausen durchsetzt sind, weil es den Klagenden die Sprache verschlagen hat. Dem inneren Auge bietet sich vielleicht das Bild einer langsam schreitenden Bußprozession.

Bach lässt sich von den Worten dieses Bußpsalms zu immer neuen Klängen und Gesten inspirieren. Für die Hörenden ist es deshalb gut, wenn sie bei diesem frühen Bach-Werk von vornherein mit einer „unschematischen Formenfülle“ (Friedhelm Krummacher) rechnen. Einige Beispiele: „Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens“ wirkt eindringlich. Ja, wir dürfen Gott mit den Psalmen an sein Versprechen erinnern, dass er ein Ohr für die Menschen und ihre Nöte hat. Der letzte Satz „Und er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden“ wird zum Höhepunkt, musikalisch wie spirituell. Bach komponiert nicht weniger als drei Themen, die sich miteinander verbinden lassen: „Und er wird Israel“ (1) als knapp bestätigende Formel, was man „Kadenz“ nennt. Für das zentrale Wort „erlösen“ (2) erfindet er eine weiträumigschwungvolle Koloratur, mit der die erhoffte Erlösung jetzt schon dankbar begrüßt wird. Und die Worte „aus allen seinen Sünden“ (3) setzt er in eine chromatisch-enge Folge von Halbtönen, was in der Barockmusik Schmerz bedeutet. All dies klingt in dieser vielleicht frühesten Bach-Kantate „symphonisch“ zusammen.

J. S. Bachs frühe Psalmkantate „Aus der Tiefen“ in einer Einspielung mit der Netherlands Bach Society unter der Leitung von Jos van Veldhoven.

Musikalisches Teamwork zweier Komponisten

»Hear my prayer, o Lord« von Henry Purcell und Sven-David Sandström

Samstag nach Aschermittwoch

Hear my prayer, o Lord, and let my crying come unto thee.

Höre mein Gebet, o Gott, und lass mein Schreien zu dir kommen.

Psalm 102,2

Teamwork gibt es in der Musik sehr oft: beim Chorsingen ebenso wie in jedem Streichquartett, und nicht zuletzt im Orchester. Am wenigsten jedoch beim Komponieren! Aber dieses Stück macht eine Ausnahme, denn zwei Tonsetzer sind am Werk, auch wenn etwa 300 Jahre zwischen ihnen liegen. Henry Purcell (1659–1695) begann seine musikalische Laufbahn als Chorknabe in der „Royal Chapel“. Auch sein Vater und sein Onkel haben als „Gentlemen“ dieses Musikinstituts am englischen Hof gewirkt. Nach einer soliden Ausbildung nicht nur im Gesang, sondern auch an Streich- und Tasteninstrumenten sowie in der Komposition wird Purcell im Alter von 20 Jahren Organist der Westminster Abbey, später auch der Royal Chapel. Zu den Werken dieses „Orpheus Britannicus“ zählen die Oper „Dido and Aeneas“ sowie zahlreiche Instrumentalstücke und – im Bereich der Kirchenmusik – die sogenannten „Anthems“. Das sind polyphone Chorwerke mit und ohne Instrumentalbegleitung, jedoch meistens mit Orgel.

Mit dem Anthem „Hear my prayer, o Lord“ hat es eine besondere Bewandtnis: In der Handschrift des Komponisten fehlt am Ende nicht nur der übliche Doppelstrich, sondern es folgen auch noch etliche leere Seiten. Wollte Purcell hier weitere Abschnitte anfügen, wozu es dann aus unerfindlichen Gründen nicht mehr gekommen ist? Der schwedische Komponist Sven-David Sandström (1942–2019) nimmt das so an. Und deshalb hat er Purcells Werk im Jahr 1985 nachträglich vollendet. Sandström ist 1942 in Motala geboren. Er hat zunächst Kunstgeschichte und Musikwissenschaft studiert, anschließend Komposition. Mit Chormusik war er vertraut, weil er zwanzig Jahre im Hägerstens Motettkör gesungen hat. Immer wieder hat er an alten „Themen“ weiter komponiert. Nicht nur Händels „Messias“-Oratorium, sondern auch die Texte der Motetten von Johann Sebastian Bach gibt es in seinen Neuvertonungen.

Was hören wir im komponierten Psalmgebet „Hear my prayer, o Lord“? Gleich zu Beginn betont Henry Purcell den emotionalen Klagelaut „o“ mit einer Rufterz. Nur für dieses „o“ erhebt sich die Melodie über den Grundton, auf dem alle anderen Silben erklingen. „Betendes Rufen“ ist die kompositorische Idee für den Anfang. Die nächste Inspiration heißt dann „Schreien“ im Sinne des Klagens. Die musikalische Vokabel hierfür ist die in Halbtönen fortschreitende Chromatik, wie wir sie gestern bereits bei Johann Sebastian Bach erlebt haben. Aus diesen beiden „Vokabeln“ formt Purcell seine ausdrucksvolle Klangrede. Dazu braucht er aber noch eine Art von musikalischer Grammatik, und das ist die polyphone Durchgestaltung des gesamten achtstimmigen Gefüges. So entsteht ein intensiv-dichtes „Geflecht des Schmerzes“ (Bernd Stegmann). Voraussetzung hierfür ist, dass die beiden „Vokabeln“ variabel sind und auf verschiedenen Tonstufen erklingen können. Vor allem können sie gleichzeitig gesungen werden. Was in jedem liturgischen Gebet mit den Worten „Herr, erhöre mein Gebet – und lass mein Rufen zu dir kommen“ sukzessiv geschieht, ereignet sich in Purcells Musik beständig simultan. Ein guter Impuls für die Aufmerksamkeit ist es, die beiden Motive hörend zu verfolgen.

Nun aber macht sich Sven-David Sandström ans Werk des Komponierens. Er beginnt auf dem Höhepunkt von Purcells Dissonanzen. Zunächst dünnt er die Klänge aus. Sie wirken so fahl, dass das Anthem fast in sich zusammenbricht. Dann aber gelingt der Übergang von einer Klangwelt in die andere, was man zunächst kaum bemerkt, zumal es ja keine Zäsur oder Generalpause zwischen den beiden Teilen gibt. Wenn aber aus dem Chor keine klar artikulierten Töne mehr zu hören sind, sondern ein tiefes Grummeln wie ein Stammeln, zu dem alle Sängerinnen und Sänger ihren tiefstmöglichen Ton beitragen, dann meldet sich unwillkürlich die Frage: Ist das denn noch „Alte Musik“ aus dem 17. Jahrhundert? Die alttestamentliche Klage wird bei Sandström zum neuen Schrei! Deshalb trifft er für den von ihm neu komponierten Abschnitt, der etwa die zweite Hälfte des gesamten Stückes ausmacht, zwei Grundentscheidungen: Die Lautstärke legt einen enormen Weg von pianissimo-pianissimo (pppp) über forte-fortissimo (fff) bis zum pianopianissimo (ppp) der Schlusstakte zurück. Zugleich wird das Tempo immer langsamer (diminuendo). All das wirkt sehr emotional und zugleich monumental. Edvard Munchs berühmtes Bild „Der Schrei“ scheint nicht mehr fern. Am Ende kommt das Stück in Sven-David Sandströms Klangsprache wie mit einem letzten Hauch zur Ruhe. In C-Dur, wie auch das Original von Henry Purcell.