Auferstehen aus Ruinen - Gerhard Matzig - E-Book

Auferstehen aus Ruinen E-Book

Gerhard Matzig

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Beschreibung

Regelungswahn, Bürokratie, politische Manipulation: Die Misere ist hausgemacht Deutschlands Infrastruktur und Deutschlands Häuser bröckeln. Deutschland verliert an Wettbewerbsfähigkeit und erreicht die Klimaziele nicht. Deutschland säuft ab und Deutschland überhitzt.  Das gebaute Deutschland ist in die Jahre gekommen und in erheblichen Teilen nicht zukunftsfähig. Warum das so ist, was wir tun müssen und tun können, um das Land, seine Straßen, Fabriken, Wohnhäuser und Deiche zu ertüchtigen oder neu zu bauen, das erklärt Gerhard Matzig, Feuilletonredakteur der ›Süddeutschen Zeitung‹. Er rechnet mit einer verfehlten Politik aller Parteien über 35 Jahre hinweg ab. Was jetzt zu tun ist, was das kostet und wie es anzupacken ist, legt er in dieser so kundigen und klaren Streitschrift dar.

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Seitenzahl: 249

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Deutschlands Infrastruktur und seine Bauten bröckeln. Deutschland verliert an Wirtschaftskraft, Wettbewerbsfähigkeit und Substanz. Made in Germany? Marode in Germany. Das gebaute Deutschland ist in die Jahre gekommen und nicht zukunftsfähig. Tausende Brücken, Straßen und Gleise sind kaputt, Hunderttausende Wohnungen fehlen, der Digitalausbau ist rückständig und die Innenstädte sind in der Krise, während das Land verkümmert. Großprojekte scheitern an Terminen und Kosten. Wir machen uns lächerlich. Die deutsche Infrastruktur- Krise ist zugleich eine politische Vertrauens-Krise. Die gesellschaftliche Mitte erodiert. Genau wie die Bauten. Gerhard Matzig, Leitender Redakteur der ›Süddeutschen Zeitung‹, rechnet mit einer verfehlten Politik ab und skizziert Wege aus dem Dilemma.

Gerhard Matzig

Auferstehen aus Ruinen

Warum Deutschland zerfällt – und wie wir wieder zukunftsfähig werden

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Marode in Germany: Einstürzende Altbauten

2 Infrastruktur: Politik und Polis – und eine Zahl mit elf Nullen

3 Realer Irrsinn: Bürokratie, Kosten und Termine am Bau

4 Friedliche Koexistenz mit Ziegenmelkern und Nimbys

5 Architektur und Stadtplanung: Jobs für Superhelden

6 Vom Bauhaus über Oberjammergau bis Dubai

7 Suche kleines Zimmer, biete große Brüste: Wohnen als sozialer Sprengstoff

8 Mobilität: Heute auf Gleis neundreiviertel

9 Die Krise der Stadt zwischen Klimawandel, Pandemie und Amazon

10 E wie einfach: Tausendundeine Idee für ein neues Bauen

Vorwort

Vom König erbaut, von Bomben zerstört. Auf dem Münchner Siegestor steht etwas, das mich schon lange berührt: »Dem Sieg geweiht, vom Krieg zerstört, zum Frieden mahnend«. Pathetisch, aber gut. Als Architekturstudent der TU München musste ich das mal im Seminar »Schrift am Bau« durchbuchstabieren. »Lesbarkeit« ist der Begriff, an den ich mich erinnere. Lesbarkeit ist die Klammer meiner Interessen: im Satzbau und im Hochbau. Ich bin gern Journalist. Und ich mag das Bauen und die Bauten. Für die »Süddeutsche Zeitung« schreibe ich als Architekturkritiker seit mehr als 30 Jahren über Architektur und Stadtplanung – über schöne Häuser, mittelschöne Häuser und hässliche Häuser. Mein Eindruck: Letztere gibt es immer öfter. Schöner werden die Städte nicht. Daran ändern auch die pseudoklassizistischen Godzilla-Villen in XXL nichts. Sie gibt es in München-Bogenhausen, in Hamburg-Blankenese und in Berlin-Dahlem. Und sonst so? Wohnregale, die wie Würfelhusten aussehen, Neubauviertel ohne jede Chance, zur Heimat zu werden.

Es gibt Bilder vom Siegestor, wie es gerade noch stehen kann. 1945 kann man von hier aus bis zur Stadtgrenze schauen. Weil so viele Häuser zerstört sind nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Straßen voller Schutt, die Trümmerfrauen schuften, die Straßenbahn kriecht. Es herrschen Wohnungsnot, Typhus und Tuberkulose. Die halbe Infrastruktur ist im Eimer. Keine gute Zeit. München ist das, was Hamburg, Berlin, Köln und viele andere deutsche Städte auch sind: ruiniert.

Das ist heute nicht mehr so. Aber trotzdem: Wer im Jahr 2025 in München am Hauptbahnhof ankommt und Richtung Marienplatz spaziert, fühlt sich an Schwarz-Weiß-Bilder der Nachkriegszeit erinnert. Der Bahnhof ist ein tiefes Loch, eine Dauerbaustelle, seit man unter dem Titel »München 21« in den 1990er Jahren einen Umbau beschlossen hat, der einem Umbau folgte, der ein Umbau war. Fertig könnte der Bahnhof 2035 werden. Eine Zahl für Optimisten.

Dem unfertigen Bahnhofsloch folgen auf dem Weg ins Zentrum die Benko-Ruinen. Das sind Kaufhäuser eines Pleite-Imperiums, die wie faule Stummel im Gebiss der Stadt herumstehen. Hinter dem Marienplatz könnte man in ein weiteres großes Loch am Marienhof fallen: Das ist die Baustelle des zweiten S-Bahn-Tunnels, dessen Fertigstellung für 2026 vorgesehen war. Dann für 2028. Dann für 2032. Heute hofft man, 2035 oder 2037 könnte es klappen. Für dann womöglich sieben, acht Milliarden Euro. Vor 25 Jahren dachte man noch an eine Milliarde. In D-Mark. Alles lange her. So lange warten die S-Bahn-Pendler in München schon darauf, dass sich was ändert. Und jetzt warten sie noch mal bis mindestens 2037. Dann sehen wir weiter.

In Berlin, wo die Brücken bröseln und die Autobahn gesperrt wird, ist es kaum besser. Oder in Stuttgart, wo die Sanierung der Oper wie viel kosten könnte? Zwei Milliarden Euro? Nur für die Sanierung. Seid ihr eigentlich noch bei Trost?

500 Milliarden: Das ist das Sondervermögen der neuen Regierung. Für eine Infrastruktur in Deutschland, die einmal Weltspitze war – und jetzt bankrott ist, siehe Deutsche Bahn, siehe Brücken und Straßen, siehe Wohnungsnot und kaputte Schulen. Die Fristen werden nicht eingehalten, die Kosten explodieren, die Städte bestehen aus infrastrukturellen Löchern und einer ganzen Menge architektonischer Erbärmlichkeit. Was ist da los? Haben wir das Bauen verlernt im Bauhausland?

Was die 500 Milliarden angeht: Ich bin froh, dass endlich was getan wird, um dieses eigentlich sehr schöne und eigentlich sehr tüchtige und eigentlich sehr lebenswerte Land wieder in das zu verwandeln, was es mal war – ein Land wie ein Versprechen. Infrastruktur ist ein sperriges Wort, aber die Infrastruktur entscheidet über den Alltag der Menschen. Infrastruktur ist ein kollektives Wollen. Ein Politikum.

Das »Sondervermögen Infrastruktur« ist der Euphemismus des Jahres. Es ist in Wahrheit eine Sonderschuld. Wir pumpen uns das Geld unserer Kinder und Kindeskinder. Ich bin nur ein Vater und habe kein Mandat, mich im Namen Deutschlands zu entschuldigen. Ich tue es trotzdem. Bei meinen drei Kindern. Und allen anderen, die noch in Jahrzehnten für die Ruinen bezahlen, die wir zu verantworten haben.

Also: sorry, ihr Lieben. Wir können euch entweder ein marodes und dysfunktionales Land voller Bröselbrücken und Schlaglöcher, ohne Kitas und Wohnungen hinterlassen. Oder Schulden. Wenn es schlecht läuft, machen wir beides – und das ist dann euer Erbe: Land kaputt, Kasse leer.

Es könnte aber auch ganz anders laufen.

1Marode in Germany: Einstürzende Altbauten

Beginnen wir mit dem Erdbeben. Fangen wir an mit dem 11. September 2024. Es ist etwa drei Uhr. Mitten in der Nacht. In unserem Fall ist das Erdbeben aus dem alten Hollywood-Rezept von Sam Goldwyn eine Brücke, die zu einem Drittel in die Elbe stürzt. Das Goldwyn-Rezept ist eines für Suspense im Kino. Es lautet: Fange mit einem Erdbeben an und steigere dich langsam. Nur geht es nicht um Popcorn und Spannung auf der Leinwand, sondern um Stahlbeton und die Realität in Dresden. Wobei das Sich-langsam-Steigern zum schnellen Niedergang wird. Es geht um dieses Land, um Deutschland.

In Dresden stürzt die Carolabrücke ein. Wie durch ein Wunder kommt dabei niemand ums Leben. Aber Deutschland hat sein »9/11«. Zwar ist das kein Anschlag mit Tausenden von Toten, aber es ist eine Erkenntnis, die schlagartig bestätigt, was Experten schon lange als kritisches Moment hierzulande beschreiben: Deutschland verfällt. Auch ohne Feindeinwirkung. Die Infrastruktur in diesem Land leidet an selbst verschuldeter Vernachlässigung. Terror ist das nicht. Wahnsinn aber schon. Und ein Politikum genau deshalb. Politische Instabilität ist manchmal eine direkte Folge von konstruktiver Instabilität.

Im Juni 2025 erscheint in der britischen Tageszeitung »The Guardian« ein Artikel unter dem wortspielerischen Titel »Rust in Peace«. Ruhe und roste in Frieden, armes, totgesagtes Deutschland. Untertitel: »Warum verfallen Deutschlands Brücken und Schulen?« Und weiter: »Die extreme Rechte nutzt die durch Unterinvestition verursachten Probleme als Beweis für ein ›Staatsversagen‹.« Abgesehen davon, dass auch das stolze und große Britannien selbst einige veritable Roststellen pflegt, etwa im Gesundheitswesen und im Bereich jener öffentlich zugänglichen Bildungsinstitutionen, die nicht Oxford oder Cambridge heißen, ist zu sagen: Ja, es stimmt, eine Partei wie die AfD nutzt aktuell den »Verfall der Schulgebäude« oder »das marode Schienennetz« im Geiste ihrer Agenda. Nur heißt das leider keineswegs, dass es das fraglos instrumentalisierte Staatsversagen auf dem Terrain der Infrastruktur nicht gibt. Oder wie es im »Guardian« heißt: »Deutschland, jahrzehntelang Europas Wirtschaftsmotor, gilt auch als Land der geschickten Ingenieure und der Effizienz. Was ist schiefgelaufen?« Zum Beispiel in der Verwaltung? Einiges.

Die Stadt Köln will ausweislich einer Mitteilung unter der Nummer 1980/2025 vom 24. Juni 2025 mit der Signatur »Stadt Köln / Die Oberbürgermeisterin« (Verfasser ist der Jugendhilfeausschuss) künftig das Wort »Spielplatz« aus dem Sprachgebrauch streichen und von den Spielplatzschildern. Knapp ein Jahr hat die Jugendverwaltung am neuen »Schild für alle« gearbeitet. Mit Umfragen, Beteiligungsverfahren und »interaktiven Methoden«. Plus Designagentur.

Ergebnis: Statt »Spielplatz« soll der Spielplatz künftig »Spiel- und Aktionsfläche« heißen. Kommt, Kinder, wir gehen auf die Aktionsfläche? Genau. Dafür soll es 2000 neue Schilder geben. Die Kosten: 38000 Euro. Mindestens. Bisher. Das Motiv? Laut der Mitteilung der Stadt: »Die aktuellen Designs der vorhandenen Schilder (…) sind veraltet und entsprechen nicht der kommunalen Strategie, dass alle stadtweit mehr als 700 Spiel-, Bewegungs- und Aktionsflächen dem geschützten Aufenthalt von Kindern und Jugendlichen im öffentlichen Raum dienen (…) und verschiedenen Alters- und Zielgruppen zahlreiche Nutzungsmöglichkeiten bieten.« Insbesondere müsse dem »erweiterten Inklusionsgedanken«, der »die Diversität der Nutzer*innen im Rahmen ihres Alters, ihrer kulturellen Hintergründe und möglicher Behinderungen berücksichtigt«, Rechnung getragen werden.

Jochen Ott (SPD), Oppositionsführer im NRW-Landtag, sagt dazu: »Ich frage mich ernsthaft, ob der Name auf dem Schild wirklich das größte Problem ist, das wir haben.« Nun gibt es auch noch folgendes Problem: Das neue Schild hätte ohne den unerwünschten, weil zu sehr als Kinder-Zuschreibung lesbaren Begriff »Spiel« keine planungsrechtliche Bedeutung. Denn das Ordnungsamt hätte sonst rechtlich keine Möglichkeit mehr einzuschreiten, wenn die Anlagen anders genutzt werden. Daher soll es »Spiel- und Aktionsfläche« heißen in Zukunft. Wenn also zum Beispiel Drogendealer*innen im Rahmen ihrer kulturellen Hintergründe und aufgrund verschiedener Alters- und Zielgruppen die pure Aktionsfläche für Aktionen jenseits irgendwelcher Spiele nutzen wollen: Dann wäre es theoretisch erschwert, sozusagen vom Schild her, dagegen vorzugehen. Deshalb darf das »Spiel« bleiben auf dem Spielplatz, der aber zur Spiel- und Aktionsfläche umgewandelt wird. Ein Jahr Nachdenken im Amt. Das ist das Ergebnis. Ein Armutszeugnis der Verwaltung? Auch. Aber eigentlich lacht die ganze Welt über Deutschland als Moralweltmeister für immer. Der Kölner Comedian Guido Cantz dazu: »Herzlichen Glückwunsch, jetzt ist Köln auch offiziell die Hauptstadt der Bekloppten.«

In Köln gibt es, sagt Ott, »Spielplätze, die wirklich in einem sauschlechten Zustand sind – ungepflegt, Spielgeräte abgebaut, keinerlei Sonnenschutz, zu viel Beton«. Das ist schade. Aber dafür gibt es jetzt neue Inklusionsschilder, die nicht mehr ausgrenzen. Nach einem Jahr Wokeness. Oder wie Friedrich Schiller meint: »Der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er spielt.«

Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) sagte nach Bekanntwerden der Posse um die Schilder: »Ich persönlich finde die Bezeichnung ›Spielplatz‹ klar und verständlich und habe angesichts der Herausforderungen, vor denen Köln steht, kein Verständnis dafür, dass sich die Verwaltung mit der Neugestaltung von Spielplatzschildern beschäftigt.« Außerdem könne das nicht die Verwaltung entscheiden. Sondern nur der Stadtrat. Der soll sich am 4. September 2025 mit der Angelegenheit befassen. Die Posse geht bis dahin als Groteske weiter. Typisch deutsch wäre es nun: Die Sache zu bedenken und zu vertagen.

Genau das ist ein zentrales Problem in Deutschland. Erstens: die Priorisierung. Und zweitens, was tut eigentlich die Verwaltung? Was versteht sie unter Arbeit? Man könnte sich um das Defizit an intakten Spielplätzen kümmern. Um die vielen Brennpunkte in unseren Städten. Um die zunehmende Kriminalität, die auch vor Spielplätzen nicht Halt macht. Aber das ist mitunter schwierig. Also wird ein Arbeitskreis gebildet, der nach einem Jahr Arbeit neue Spielplatzschilder mithilfe einer Designagentur anbietet.

Die Agentur heißt »sons of ipanema«. Es wurde auch Zeit, dass der Song »The Girl from Ipanema«, 1962, vom einseitigen Sexismus befreit wird. Der Arbeitskreis der Stadt Köln könnte sich fragen, warum die etablierte Politik derzeit so übel beleumdet ist in Deutschland. Warum es Populismus gibt. Warum man »die da oben« satthat. Es liegt am Arbeitskreis. Bessere Spielplatzschilder statt besserer Spielplätze. Kann man Deutschland im Jahr 2025 besser beschreiben? Köln ist Schilda. Aber Schilda ist überall.

Das Problem ist weit größer als ein einzelner Spielplatz, denn Spielplätze gehören zur sozialen Infrastruktur. Auch dafür wurde wenige Wochen vor der Absurdität um Spielplatzschilder eine halbe Billion Euro als »Sondervermögen« beschlossen. Also Schulden, die die spielenden Kinder von heute morgen und übermorgen zurückzahlen müssen. Experten fürchten zudem, dass diese Summe im Sumpf bürokratischer Exzesse untergeht, statt klug ausgegeben zu werden, um das Land voranzubringen. Köln hat für das Überhandnehmen eines Sumpfes an staatspolitischer, rein ideologisch motivierter Idiotie den Beweis erbracht, falls es dessen noch bedurft hätte. Die Verwaltungen haben zu wenig Geld und zu wenig Personal? In Köln von beidem zu viel.

Vom Spiel, das ernst ist, zum Ernst, der ernst ist: Es gibt Hunderte von wichtigen Brücken in Deutschland, die schon aufgrund der Baugleichheit so gefährdet sind wie die Brücke in Dresden. Und Tausende, die aus anderen Gründen baufällig sind. Über deren Statik ist nachzudenken. Aber es gibt womöglich irgendwann Arbeitskreise, die darüber nachdenken, ob die Brücken inklusiv genug sind. Oder ob die Namen der Brücken moralisch vertretbar sind. Designagenturen können da helfen. Doch eigentlich braucht man Ingenieure, die auch Ingenieur*innen sein können. Das ist doch nicht das Problem.

Suspense gibt es aber auch in Stuttgart, wo unter anderem der neue Hauptbahnhof bis 2019 fertig sein sollte, dessen Eröffnung nun für frühestens Ende 2026 avisiert wird. Die Differenz beträgt sieben Jahre – und vielleicht muss man sich in Stuttgart darüber freuen, dass der Flughafen in Berlin sogar neun Jahre später als geplant fertig wurde. Wobei aus den ursprünglich veranschlagten zweieinhalb Milliarden Euro mindestens elf Milliarden werden. In Stuttgart. In Berlin betrug die Kostensteigerung dagegen »nur« fünf Milliarden.

Fazit: Der Hauptstadtflughafen hat seine Kosten vervierfacht. Bauzeit: 14 Jahre. Und Stuttgart 21? 17 Jahre Bauzeit, mindestens. Kosten vervierfacht. Mindestens. Man könnte noch den S-Bahn-Ausbau in München dazunehmen in die Galerie deutscher Übergrößen: Mit einer Bauzeit von vielleicht 20 Jahren – und Kosten, die niemand genau kennt. Übrigens geht es um Steuermittel. Es ist unser Geld. Unsere Zeit. Unser Land. Das alles ist kein Kino und auch kein Kinderspielplatz. Die deutsche Infrastrukturkrise ist real.

»Warten auf Godot«, das Bühnenstück von Samuel Beckett, gilt als Inbegriff des absurden Theaters. Als Inbegriff deutscher Absurdität kennt man: Warten auf die Bahn. Es gibt noch andere Probleme bei der Bahn. Etwa: Personalmangel, kaputte Bahnhöfe, defekte Züge, geschlossene Toiletten, geschlossene Bordbistros, schadhafte Gleise … aber nach einer aktuellen Umfrage der Bundesnetzagentur wären 80 Prozent der Fahrgäste schon glücklich, wenn die Züge halbwegs verlässlich verkehrten. Und das tun sie so selten wie nie zuvor.

Auch das Warten auf den Bau ist ein bekanntes Phänomen: In Berlin verzögert sich der Bau von 250 preisgünstigen Wohnungen um ein halbes Jahr, weil es einen Streit gibt über drei Bäume, die gefällt werden müssten – auf einem Grundstück, auf dem Hunderte von Bäumen stehen. In München kostet ein 400 Meter langer Radweg, auf den man lange gewartet hat zwischen Ludwigs- und Corneliusbrücke, absurde 1,7 Millionen Euro. Und in Erfurt verzögert sich der Ausbau einer Schule, weil die Kosten des vorgeschriebenen Ersatzhabitats für die auf dem Baugrund lebenden 39 Feldhamster hoch sind. Es geht um rund 2,5 Millionen Euro. Die »Bild«-Zeitung hat die notwendige Umzugshilfe für die Hamster ausgerechnet: Es sind 64102 Euro – je Hamster. Was soll man sagen? Es stimmt.

Die Schulen sind ein Brennpunktthema eigener Art. Das Gymnasium am Europasportpark in Pankow, Berlin, ist so kaputt, dass ein neuer Name unter den Schülerinnen und Schülern zirkulierte: »Trümmerschule«. Auf dem Schulhof musste eine Art Tunnel gezimmert werden, zum Schutz vor herabfallenden Bauteilen. Inzwischen laufen die Sanierungen, es geht um Dutzende von Millionen Euro. Über die genaue Summe gibt es unterschiedliche Angaben, einmal ist von 40 Millionen Euro die Rede, ein anderes Mal von 54 Millionen Euro. Erfahrungsgemäß ist es nicht falsch, von der höheren Summe auszugehen.

Der Schulbetrieb wird zurzeit in einem ehemaligen Umspannwerk durchgeführt. Der »Tagesspiegel« schreibt über den alten Standort, der jetzt saniert wird: »Vernagelte Fenster, Stromausfälle, Rohrbrüche: Erst vor acht Jahren wurde das Gymnasium am Europasportpark in Pankow gegründet, doch schnell galt das Schulgebäude als das marodeste Schulhaus Berlins.« Bis 2027 soll jetzt die Sanierung abgeschlossen werden. Nach Angaben des für die Umsetzung verantwortlichen Bezirksstadtrats liegt die Betonung aber auf »soll«. Deutsche Bauroutine: Aus »soll« wird »später«. Zum Glück gibt es in Berlin alte Umspannwerke.

Die »Zeit« schreibt im Juni 2025 zum Thema: »Das ist typisch für Deutschland: 55 Milliarden Euro umfasst der bundesweite Investitionsrückstand allein bei Schulen laut dem Deutschen Institut für Urbanistik. Damit machen Schulen den größten Anteil des gesamten Rückstands von 186 Milliarden Euro in den Kommunen aus.«

Alles geht zu langsam. Gleichzeitig zu schnell. Ein Dilemma. Die Globalisierung, vorangetrieben durch Technologie und Handel, erscheint vielen Menschen suspekt in ihrer Rasanz. Und weil jeder Trend seinen janusköpfigen Gegentrend hervorbringt, gibt es nun statt Beschleunigung und Raserei die Slow-Bewegung. Leider auch auf dem Bau, unfreiwillig.

Es gibt Slow Food statt Fast Food, Slow Parenting, Slow Living und Slow Travel statt, zum Beispiel, Deutsche Bahn. Manchmal, und das sind die besseren Augenblicke, hat man das Gefühl, Deutschland hat sich als Nation in einen großen, alles überwölbenden Kurs für Achtsamkeit und Entschleunigung verwandelt. In Sachen Work-Life-Balance: gute Sache. In Sachen Wirtschaftskraft, Technologie und einige weitere Basics moderner Gesellschaften: dumm gelaufen.

In Nordrhein-Westfalen gibt es das Projekt »Narwali«. Es geht um Ersatz-Planschbecken auf Rädern. Hintergrund: Im Zuge des »Bädersterbens« – eine Analogie zum Turnhallensterben – werden in ganz Deutschland nach Angaben der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft DLRG jährlich etwa 70 bis 80 öffentliche Bäder geschlossen. Begründet werden die Schließungen mit finanziellen Schwierigkeiten der Kommunen und hohem Sanierungsbedarf. Zudem mit Fachkräftemangel (im Jahr 2023 fehlen rund 2500 Mitarbeiter im Badewesen) und immer höheren Energiepreisen.

Außerdem ist es offenbar unmöglich geworden, manche Frei- oder Hallenbäder innerhalb von Jahrzehnten zu sanieren. Nur kurz zum Vergleich: Sankt Petersburg wurde 1703 gegründet – und war 1712 Hauptstadt des russischen Reiches. Ähnlich fix (und mit deutlich weniger Toten) ging es zu in Teilen von Paris. Aber auch in Teilen von Berlin und München. In München war Bogenhausen einmal nichts anderes als spekulativer Baugrund, weit weg vom Zentrum. Dann, in kürzester Zeit, wurde Bogenhausen als ganzes Viertel aus dem Acker gestampft. Heute ist es ein beliebter Stadtteil – unter anderem wegen seiner behaglich antiquierten Gründerzeitbauten, die aber einmal wie am Fließband hergestellt wurden. Die Gründerzeit war nicht betulich, sie war rasant. Heute sehnen wir uns nach ihrer angeblichen Behaglichkeit.

Apropos Sehnsucht. Das »Basso« in Bad Schmiedeberg, Sachsen-Anhalt, wurde 1993 eröffnet. Es war das erste »Spaßbad« nach der Wende. Der Spaß ist vorbei. 2003 musste der Betreiber Insolvenz anmelden. 2009 wurde die Anlage geschlossen. Sogar der Strom wurde gesperrt. Seither: Leerstand, Vandalismus, Verfall, ein »Lost Place«. Von 2009 bis heute wird über die Zukunft des Areals nachgedacht in der Politik. 16 Jahre Nachdenken für ein Spaßbad. Das sind exakt sieben Jahre mehr, als Sankt Petersburg brauchte, um aus einem Sumpfgelände an der Newa zur Hauptstadt eines Reiches zu werden. Aber leider geht es nicht voran in Bad Schmiedeberg.

In den letzten 25 Jahren hat das gesamte Land einen erheblichen Teil seiner Bäder eingebüßt. Zugleich können immer weniger Kinder schwimmen, im Grundschulalter ist es mittlerweile jedes fünfte Kind. Die tödlichen Unfälle an Gewässern nehmen zu. Als man klein war und ein unbeschwertes Kind in einer kleinen Stadt in Niederbayern, lernte man das Schwimmen (wie mutmaßlich alle anderen Kinder auch) im Freibad. Im Winter gab es ein Hallenbad. Nicht schön, kein Spaßbad, nur eine Kiste, Waschbeton, Flachdach. Aber beheizt und groß genug für das Tauchen. Doch, man kann auch Spaß in Bädern haben, die nicht als Spaßbäder, sondern als Bäder erdacht wurden.

Vor den Umkleidekabinen gab es einen funktionierenden Föhn. Das war kein Luxus. Das alles war Standard bald nach dem Krieg. Die Leistung eines Landes, das sich quer durch fast alle Schichten befreit hatte aus Armut und Elend. Dass Kinder nicht schwimmen lernen, weil nicht genug öffentliches Geld dafür da ist: Damals, in den 1960er und 1970er Jahren, war das unvorstellbar. Die Spaßbäder und Thermenlandschaften waren noch nicht mal erfunden.

Narwali, begrifflich vom Zahnwal abgeleitet, ist nun was genau? Ein neun mal 13 Meter großes mobiles Schwimmbecken, gewonnen aus umgebauten Überseecontainern. Mit kleinen Fenstern unter der niedrigen Stahldecke. Zur Hälfte Lösung, zur Hälfte Not. Wenn das Freibad abgerissen wird, kommt eventuell die große Badewanne ins Städtchen. Es geht jedenfalls »um eine bezahlbare Alternative zu teuren Schwimmbädern«.

In Deutschland werden Frei- und Hallenbäder ersetzt durch Badewannen auf Rädern. Optimisten sagen dazu: besser als nichts. Pessimisten denken: ein Armutszeugnis. Und Realisten wie Ministerpräsident Hendrik Wüst, der im September 2023 die ersten mobilen Schwimmcontainer vorgestellt hat, meint: »Sicher schwimmen macht nicht nur Spaß, es kann überlebenswichtig sein.« Spaß? In einem umgebauten Schwimmkasten aus Stahl? Kann man Spaß nennen, ist auch besser als nichts – aber im Grunde ist es: ein Armutszeugnis.

Es gibt im öffentlichen Raum der Mangelverwaltung mittlerweile fahrende Bibliotheken (besser als nichts), fahrende Schwimmbäder (besser als nichts) – und bald vielleicht auch fahrende Schulen (besser als nichts) und fahrende Turnhallen (besser als nichts). Deutschland könnte wieder zu einem nomadisch geprägten Land werden, Infrastruktur und öffentliche Daseinsvorsorge auf Rädern.

Zurück an Land und zu vermeintlich festeren Dingen, die leider auch Geld kosten. Einige Monate nach dem Einsturz der Carolabrücke, deren Wiederaufbau mit mehr als 150 Millionen Euro angegeben wird, veröffentlicht der europäische Verband Transport & Environment einen Bericht, wonach rund 16000 Brücken, gemeint sind Autobahn- und Bundesstraßenbrücken, »baufällig« seien. Das Bundesverkehrsministerium bestätigt mindestens 4000 Brücken, die vollständig neu gebaut werden müssen.

Wieder geht es um Milliarden. Allerdings gibt es inzwischen das hoffnungsfrohe »Brückenmodernisierungsprogramm« des Bundesverkehrsministeriums: Bis zum Jahr 2032 sollen demnach alle maroden Brücken modernisiert werden. Inzwischen hat der Bundesrechnungshof den Stand der Umsetzung geprüft und kommt zu diesem desaströsen Ergebnis: »Das BMDV« – gemeint ist das Bundesministerium für Digitales und Verkehr – »hat deutlich gemacht, wie prekär die Lage bei der Brückenmodernisierung ist. Es hat aber auch den Anschein erweckt, dass es die Situation im Griff habe und die Modernisierung von Brücken im Zuge von Bundesfernstraßen bis zum Jahr 2032 im Wesentlichen abgeschlossen sei. Dies wird aber nicht der Fall sein.« Um das Ziel zu erreichen, müssten jährlich 590 Teilbauwerke saniert werden. Im Jahr 2024 waren es 69. Bundesbauministerin Verena Hubertz nennt das »krass«.

Im Jahr des Carolabrückendesasters ist es der 17. Mai, der zum staureichsten Tag wird. Aus den 24 Stunden dieses Tages werden 2500 Staustunden auf 5200 Staukilometern. Die Gesamtdauer aller Staus beträgt 2024 laut ADAC448000 Stunden. Mehr als eine halbe Million Staus auf 859000 Kilometern werden gemeldet. Vergeudete Zeit. Vergeudetes Geld.

Mehr als 7000 Autobahnkilometer sind sanierungsbedürftig. Bei den kommunalen Straßen sind es über 200000 Kilometer, die als »mangelhaft« eingestuft werden. Das ist ein Drittel des gesamten Straßennetzes. Deutschland, ein Paradies für Autofahrer? Lange her.

Nicht berücksichtigt ist bei all diesem Horror in einem Kreislauf, der eine ähnlich existenzielle Bedeutung für die Ökonomie und den sozialen Austausch in einem auf Mobilität angelegten gesellschaftlichen System hat wie der Blutkreislauf im menschlichen Organismus: die Brücke in Dresden. Ohne dem ADAC vorgreifen zu wollen: 2026 wird es in Dresden und um Dresden herum mehr Staus geben als 2025. Das gilt für ganz Deutschland. Und 2025 werden es mehr Staus sein als 2024, als es mehr Staus gab als 2023. Und so weiter.

Zu erzählen ist die Geschichte eines rasanten Niedergangs: Es geht seit Jahrzehnten bergab in einem Land, das nicht nur den Dichtern und Denkern, sondern auch den Ingenieurinnen und Ingenieuren zu verdanken ist. Und der Wirtschaft, die ohne Infrastruktur nicht funktionieren kann. Im »Baukulturbericht 2024/25« heißt es: »Leistungsfähige und für alle verfügbare Infrastrukturen sind eine Basis unseres Zusammenlebens.« Diese Basis ist mittlerweile ähnlich stabil wie es die Spannglieder der Carolabrücke waren, die Opfer einer »wasserstoffinduzierten Spannungsrisskorrosion« wurden. Dass eine am 4. Juli 1971 eröffnete und für viel weniger Verkehr geplante, stark beanspruchte Brücke, der man lange Zeit zu wenig Aufmerksamkeit zukommen hat lassen, irgendwann den Geist aufgibt: Das hätte man sich auch ohne wasserstoffinduzierte Spannungsrisskorrosion denken können. Es gibt viele Fachleute, die genau das auch laut gedacht haben in einem Land, dessen Verkehrsinfrastruktur zu großen Teilen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg stammt. »Die« Politik hätte es hören können. Nein, sie hätte es hören und daraus rechtzeitig Konsequenzen ziehen müssen.

Steffen Marx ist ein Experte, der das Brückenproblem in Deutschland besonders gut kennt, er ist Direktor des Instituts für Massivbau an der Technischen Universität in Dresden. In einem Fernsehinterview erklärt er den Umgang der Deutschen mit ihren Brücken so: »Bauen und vergessen.« Hierzulande würde man Brücken bauen, dann regelmäßig die in jedem beanspruchten Bauwerk auftretenden Schäden dokumentieren – und dann »jahrelang nichts tun«. Sein Fazit: Wir warten in der Regel so lange, bis die Schäden zu groß sind, um repariert zu werden, dann reißen wir ab und bauen neu. Nur, so Marx, »das ist die teuerste Art und auch die unsicherste Art.«

Die Carolabrücke, über deren Zukunft noch Unklarheit herrscht, während Teile von ihr noch immer in der Elbe liegen, soll »möglichst schnell«, wie es in Dresden auch schon länger heißt, wiederaufgebaut werden. Zu hören sind aber unterschiedliche zeitliche Erwartungen. Es gibt Streit über den Wiederaufbau, Optimisten sprechen von 2030, Pessimisten gehen von 2035 aus. In Genua wurde die viel größere Morandi-Brücke, eingestürzt am 14. August 2018, nur zwei Jahre später als »Ponte San Giorgio« wiedereröffnet. Die reine Bauzeit inmitten der Coronapandemie betrug zehn Monate. Seither wird Genua als Modell bezeichnet »für das Italien, das wieder aufsteht.«

Wohin man blickt in Deutschland, dem man ein italienisch effizient organisiertes Aufstehen und weniger deutsches Bedenkenträgertum mit Vollkaskogesinnung und Bürokratiebremse wünscht: Die Infrastruktur dieses Landes spielt zunehmend die Hauptrolle in einem germanischen Film noir, der zwischen Tragödie und Komödie angesiedelt ist. Auch der Horror und der Dadaismus spielen hinein. Und nein, lustig ist das nicht. Es ist, wo es um die langatmige, bisweilen delirierende Baubürokratie geht, schockierend satirisch, ansonsten beklemmend ernst. Deutschland verwandelt sich als Land, dessen wirtschaftlicher Wohlstand auf einer intakten und modernen Infrastruktur basiert, in eine Ruine seiner selbst.

Dieses Land wurde zur drittgrößten Wirtschaftsnation der Welt auch durch seine einst vorzügliche Infrastruktur. Jahrzehnte später, das Wirken etlicher Parteien quer durch das politische Spektrum an der Spitze der Ignoranz inklusive, ist festzustellen: Diese Infrastruktur ist von der Lösung zum Problem geworden. Marode in Germany. Das gilt für den lahmen Netzausbau und hört bei abenteuerlichen Fernwärmekosten, Stromkosten, Energiekosten oder dem Genehmigungschaos auf dem Terrain der Windkraft nicht auf. Der Wohnungsbau? Ein Absurdistan für sich. Über Infrastruktur in Deutschland nachzudenken heißt, über immer mehr Ruinen nachzudenken.

Zugegeben, Deutschland ist kein Entwicklungsland. Aber wenn die Infrastruktur als Fundament nicht nur des Verkehrlichen und Baulichen, sondern auch als Basis der Wirtschaft und des sozialen und kulturellen Miteinanders nicht sehr bald und sehr grundlegend ertüchtigt sowie am Ende auch im Wortsinn modernisiert wird, hört dieses Land auf, erfolgreich zu sein. Es wird dysfunktional.

Damit wird das Problem bröselnder Infrastruktur und das Fiasko einer Baubürokratie im Amok zum wichtigsten Politikum. Das geschieht in einem Alltag, in dem die Demokratie in ihrer Mitte nicht allein aufgrund mangelnder Migrationssteuerung und auffälliger Ungereimtheiten mit dem Bürgergeld im übertragenen Sinn, sondern auch im direkten Sinn der alltäglichen Bausubstanz porös wird. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung vom Juli 2025 kommt zum Ergebnis, dass die jüngsten Wahlerfolge der AfD als Folge der immer dünner werdenden »Daseinsvorsorge« zu werten sind. Die Krise der Infrastruktur wird zur Krise des politischen Systems.

Ja, wir haben ein Problem mit Migration, ja, wir haben ein Problem mit Integration, ja, wir haben ein Problem mit zugezogenem (und gewachsenem) Antisemitismus und importierter (und hausgemachter) Kriminalität – aber wir haben obendrein auch noch ein Problem mit dem ganz normalen deutschen Alltag. Mit Wohnungen. Mit Bildung. Mit Mobilität. Mit Gesundheit. Mit Armut. Mit Gerechtigkeit. All das ist eine Gemengelage der Brisanz. Ein Land am Rande des Zusammenhalts. Das kann man ändern. Das beste Mittel gegen die Fliehkräfte politischer Polarisierung? Das ist ein funktionierendes und starkes Gemeinwesen auf dem Fundament intakter Infrastruktur. Die Chance auf einen Neuanfang ist so günstig wie lange nicht mehr. Die Ampel ist Geschichte, die Schulden sind aufgenommen, Geld liegt bereit.

Ein Bus, der nicht fährt, oder jedenfalls nicht am Mittwoch. Eine Straßenbahn, die im Depot bleibt. Aus »Personalmangel«. Eine S-Bahn, die nicht ausrückt. Wegen »Schnee«. Eine Bahn, die irgendwann ankommt. Manchmal steht man am Bahnhof und fühlt sich so verloren wie in der Anfangsszene des Films »Spiel mir das Lied vom Tod«. Am tödlich stillen, heruntergekommenen Bahnhof von Cattle Corner. Die meisten Bahnhöfe auf dem Land, wenn es denn überhaupt noch welche gibt, sind ähnlich menschenfreundlich und ähnlich modern. Cattle Corner ist überall – von Flensburg bis Garmisch-Partenkirchen, von Aachen bis Görlitz.

In München-Daglfing muss man bei Regen den S-Bahnhof, der alles andere als unwichtig ist auf der Strecke zum Flughafen, oft über Planken oder in Gummistiefeln durchqueren. Daglfing erinnert dann nicht an Cattle Corner, sondern an Venedig. An acqua alta, hohes Wasser, weil der S-Bahnhof immer wieder überschwemmt wird. Dass es auch bei gutem Wetter keinen Lift gibt für gehbehinderte Menschen, Radfahrer oder Leute, die auf die seltsame Idee kommen, auf dem Weg zum Flughafen, Gepäck mit sich zu führen? Ohnehin klar. Vor den Gleisen gibt es dafür ein Werbeplakat der Bahn. Zu sehen ist ein großes Herz. Zu lesen ist: »Wir modernisieren unsere Bahnhöfe.« Das Plakat ist rissig, es löst sich bereits vom Holzrahmen, der aus der Nachkriegszeit stammen könnte.

Es gibt Schulen, in denen es durch das Dach regnet; Schüler, die sich vor dem Klo grausen und in der Pause lieber gegenüber bei McDonald’s einkehren. Nicht um zu essen, sondern weil sie mal müssen. Ärztinnen und Ärzte warnen vor Hygiene- und Gesundheitsproblemen in Bildungseinrichtungen.

Kitas, die kein Geld für einen Sandkasten haben; Krankenhäuser, die abgewickelt werden – oder die wie in Tübingen jahrelang nicht erweitert werden können, weil im Planungsgebiet ein einziges Exemplar eines Ziegenmelkers gesichtet wird. Der Ziegenmelker ist ein kleiner Vogel. Niemand weiß, ob dieses einzelne Exemplar, das auch nur ein einziges Mal gesichtet wurde, überhaupt noch lebt. Aber die Baustelle kommt trotzdem lange nicht voran. Erst muss das Ersatzhabitat des Ziegenmelkers geplant werden. Das kostet Millionen.

Man möchte in Deutschland nicht krank, ein Schulkind, ein Kleinkind, eine Studentin, eine Rentnerin, ein Autofahrer, eine Radlerin, ein zu Fuß über eine Brücke in Dresden gehender Mensch, ein Wohnungssuchender oder einfach nur jemand sein, der ein offenbar unstatthaft exotisches Interesse am schnellen Internet pflegt.

Mach mal langsam, ruft einem Deutschland zu. Drinnen im Zug verröchelt das lahme Internet gerade endgültig, während sich vor der defekten Toilette eine kleine Schlange bildet. Es ist gut, dass das Bordbistro geschlossen hat, weil die Klimaanlage nicht geht. Stoffwechsel ist ein Manko, wenn man mit dem Zug unterwegs ist. Draußen zieht die beschauliche Landschaft vorbei. Wie im Heimatfilm. Der Zug stoppt außerplanmäßig. Technische Probleme. Menschen im Gleisbereich. Sommer. Winter. Irgendwas ist immer. Man wäre gern ein Ziegenmelker in Tübingen. Oder ein Feldhamster in Thüringen.