Aufgefressen - J.P. Conrad - E-Book

Aufgefressen E-Book

J.P. Conrad

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Beschreibung

Im Keller einer Londoner Grundschule werden die Leichen von zwei Frauen und einem Mann gefunden. Ihre Gesichter sind durch Säure entstellt. Die perfekte Story für Skandalreporter Jack Calhey! Allerdings kommt er bei seinen Nachforschungen dem "Säurekiller" näher, als ihm lieb ist. Und der hat sein Werk längst noch nicht vollendet ...

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Titelblatt

Impressum

»Aufgefressen«

© 2015 J.P. Conrad, alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung und Satz: Perpicx Media Design, www.perpicx.de

Veröffentlichung:

© 2022 Suspense Verlag

Höhenstraße 18, D-61267 Neu-Anspach

E-Mail: [email protected]: 978-3-910463-05-9

Prolog

Loise erhielt einen kräftigen Hieb gegen die Brust; den ersten an diesem Tag. Er nahm ihr die Luft.

»Du bist so was von ungeschickt!«, polterte ihr Mann aufgebracht und stapfte in seinen ausgetretenen Hausschlappen zur Kammer. Er kam mit Schaufel und Besen zurück.

»Feg es auf!«, befahl er und drückte ihr mit einem kurzen, harte Blick die Reinigungsutensilien in die Hand. Dann setzte er sich wieder an den Küchentisch, um weiter in seiner Morgenzeitung zu lesen.

Loise blieb einen Moment benommen stehen. Er hatte es wieder getan; sie geschlagen und gedemütigt. Dabei war er es gewesen, der die Kaffeebüchse vom Tisch geschubst hatte, nicht sie; und das mit voller Absicht. Aber das war im Grunde egal. In diesem Hause hatte nur einer Recht, und das war Herman. Sie wusste, dass er diesen Kick brauchte; so wie andere Sport trieben, Alkohol tranken oder Drogen nahmen, um sich gut zu fühlen.

Resignierend begab sich Loise in die Hocke und fegte lethargisch das braune Pulver zu einem Haufen zusammen. Früher hatte sie in solchen Momenten angefangen zu weinen. Aber das tat sie schon lange nicht mehr. Wie in einer ›normalen‹ Ehe, in der sich irgendwann die Routine einstellte, so hatte sich auch ihre, in jeder Hinsicht schmerzvolle Beziehung, im Laufe der letzten fünf Jahre entwickelt. Aber ihre Routine bestand darin, dass ihr jähzorniger Ehemann Herman sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit schikanierte und in vielen Fällen auch vor physischer Gewalt nicht zurückschreckte. Wenn dies passierte, verhielt sich Loise immer gleich: Sie nahm es hin, schluckte ihren Frust und ihre Verzweiflung trocken herunter und machte dann einfach weiter.

Es war nicht immer so gewesen; ganz im Gegenteil. Als Loise Herman kennen gelernt hatte, war er sehr charmant, witzig und liebevoll gewesen. Auch noch in den zwei Jahren, die sie verlobt waren und ebenfalls in den ersten Ehejahren. Doch dann war mit Hermans Karriere als Versicherungsmakler auch sein Charakter den Bach runter gegangen. Immer öfter war er mit schlechten Tagesabschlüssen und dementsprechend mieser Laune nach Hause gekommen. Loise, wie der Fels in der Brandung fest an ihrem Mann glaubend, hatte immer zu ihm gehalten, ihn aufgemuntert und alles getan, was eine gute Ehefrau nur hatte tun können. Aber es war am Ende vergebens gewesen. Irgendwann hatte er in einem Streit das erste Mal die Hand gegen sie erhoben. Und er hatte Gefallen daran gefunden.

Herman schlug Loise nie so, dass sie äußerliche Blessuren davon trug. Nein, denn er war nicht nur jähzornig, sondern auch clever. Und er wusste, dass sie ihn niemals verlassen oder ihn bei der Polizei anzeigen würde. Dafür hatte er sie viel zu sehr eingeschüchtert und ihr mit schmerzvollen Konsequenzen gedroht. Und außerdem, das erschreckte sie neben den Beschimpfungen und Schlägen am meisten, liebte sie ihn nach wie vor. Und das wusste auch Herman. Sie war sich darüber im Klaren, dass es ganz und gar falsch war, für dieses Monster noch Gefühle zu haben. Aber es war so. Sie hatte sogar einmal in der Stadtbibliothek etwas darüber gelesen. Es war keineswegs ungewöhnlich, was ihr widerfuhr; sie war nicht verrückt oder abnorm. Nur helfen konnte ihr diese Erkenntnis nicht. Sie saß in einer mehr als heimtückischen Falle aus biederem Wohlstand, Liebe und Gewalt gefangen. Trotz alledem hatte sie ihre Verzweiflung nie über die Türschwelle ihres kleinen Reihenhauses getragen. Sie hatte sie Zuhause gelassen, wenn sie zur Arbeit, in den Kindergarten gegangen war. Der Kindergarten war ihre Zuflucht, ihre Burg gewesen. Mit den Kindern als die Ritter, die sie verteidigten. Loise liebte Kinder über alles und ihr Job als Betreuerin machte ihr viel Freude. Die Arbeit bot ihr einen friedlichen Gegenpol zu der häuslichen Gewalt durch ihren Mann. Die dunklen Gedanken, die sie so oft hatte, wurden durch sie zu einer honigsüß duftenden Wolke aus Zuckerwatte.

Aber seit einigen Tagen bemerkte Loise mit Sorge, dass ihr das nicht mehr reichte. Ein Kinderlachen hatte plötzlich nicht mehr den Wert, die dunklen Gedanken aufzuwiegen. Es fiel ihr immer schwerer, einfach nur den Schalter umzulegen, ihr freundliches Gesicht aufzusetzen und mit den Kindern zu spielen, wie sie es so lange getan hatte. Aggressionen hatten sich in ihr aufgestaut; Aggressionen, die wesentlich mehr waren, als nur dunkle Gedanken, die sie hätte ignorieren können.

Es gab keine Ablenkung mehr von ihnen. Loise wusste, dass der Druck, der sich in ihr schleichend langsam aufbaute, irgendwann entweichen musste; das Ventil musste geöffnet werden. Aber wie? Natürlich wäre Herman, in dem sie auch die Ursache all ihrer Aggressionen vermutete, das naheliegende Ziel gewesen. Aber das ging nicht. Dafür hatte sie, auch wenn sie es sich nur ungern selbst eingestand, zu viel Angst vor ihm und den Konsequenzen, die ihr gedroht hätten; allen voran, ihn zu verlieren.

Sieh es ein, du bist eine schwache, armselige Kuh, dachte sie bei sich, während sie ins Leere starrte.

Jemand legte ihr sanft die Hand auf die Schulter und sie fuhr erschrocken hoch.

»Loise, alles klar?«, fragte Lucinda und lächelte sie an.

Mit einem Mal war Loise wieder im hier und jetzt, hörte das Lachen der Kinder und das Klirren des Geschirrs. Sie saßen im Kindergarten mit ihrer Gruppe um den niedrigen Tisch herum beim Frühstück.

»Ja, alles in Ordnung. Ich bin nur etwas müde heute«, spielte sie ihren Gemütszustand herunter.

»Schlecht geschlafen?«

Loise nickte nur stumm und sah dann in die Runde. Die Kleinen hatten ihr Obst aufgegessen und ihren Tee getrunken.

»So, Kinder«, sagte sie und zeitgleich mit einem Händeklatschen setzte sie wieder ihr fröhliches Gesicht auf. »Räumt bitte alle eure Tassen und Teller auf die Tabletts.«

Loise und Lucinda gaben den Kleinen Hilfestellung. Es waren fünf Tabletts mit dreckigem Geschirr; Lucinda nahm zwei davon und ging in die Küche. Loise folgte ihr mit zwei weiteren.

»Ich räume sie schon ein«, sagte Lucinda und begann, die Teller und Tassen in den Geschirrspüler zu laden.

Loise ging wieder zurück in den Gruppenraum, um das letzte Tablett zu holen. Als sie dort ankam, sah sie, wie ein kleiner Junge eben dieses Tablett, das noch mit aufgetürmten kleinen Tassen und Tellern zum Abräumen bereit auf dem niedrigen Tisch stand, zu sich heran zog. Er zog daran, bis es nach einer halben Drehung mit einem lauten Klirren vor ihm auf den Boden krachte. Mehrere Tassen zerbrachen, andere rollten davon und Reste des Tees flossen über die Holzdielen.

Es war genau dieser eine Moment, der Loise dazu brachte, ihr Ventil zu öffnen. Ohne darüber nachzudenken, stürzte sie zu dem Jungen, packte ihn fest am Arm, riss ihn nach oben und zog ihn dann von den anderen Kindern weg in Richtung der Schlafstube. Es ging so schnell, dass der Kleine nicht einmal Gelegenheit hatte, zu schreien. Dann hatte sie auch schon die Tür hinter sich geschlossen.

Lucinda hockte vor der geöffneten Spülmaschine und wartete. Sie rieb sich den Tee an ihren Fingern mit einem Spültuch trocken und verzog dann ungeduldig das Gesicht. Loise kam nicht. Sie seufzte und erhob sich aus ihrer Hocke.

Loise, Schätzchen. Wo bleibst Du denn? Sie ging in den Gruppenraum, um das letzte Tablett selbst zu holen. Sie fand es auf dem Kopf liegend, mit den Tassen, Tellern und Scherben auf dem Boden verteilt und einigen Kindern, die wie aufgescheuchte Hühner wild umher liefen. Aber das taten sie oft, wenn sie keine konkrete Aufgabe hatten. Von ihrer Kollegin war allerdings nichts zu sehen.

»Loise?«, rief Lucinda und ging sofort zurück in die Küche, um Schaufel und Besen zu holen. Sie dachte sich nichts dabei. Entweder war Loise mit einem Kind auf die Toilette gegangen oder eines der Kleinen hatte sich tatsächlich verletzt, als das Tablett runtergefallen war und sie holte gerade den Erste-Hilfe-Kasten. Als Lucinda mit Besen und Kehrblech bewaffnet wieder zurückkam, war alles unverändert.

»Passt auf Kinder, tretet etwas zurück!«, sagte sie und ging auf die Knie, um die Scherben aufzusammeln. Plötzlich hörte sie einen spitzen Schrei. Den eines Kindes. Sie fuhr erschrocken hoch. Er war aus dem Schlafraum gekommen. Lucinda wusste sofort, dass dieser Schrei nicht von einer kleinen Schnittwunde herrühren konnte. Es war ein durchdringender, von Angst erfüllter Schrei gewesen.

»Loise?« Sie stand auf und lief schnell, mit pochendem Herzen, zur Tür des Schlafraums. Als sie sie öffnete und sah, was sich dahinter abspielte, umklammerte sie unwillkürlich fest das kleine Kruzifix, das an ihrem Hals hing.

I.

Im Allgemeinen empfinden die Menschen den Montag als den schlimmsten Tag der Woche. Und auch für Mitchell Liberman konnte er kein Glückstag sein, denn es war ein Montag, als er die drei Leichen fand. Sie lagen nebeneinander aufgereiht auf dem Boden eines Lagerraums im Keller der St. Marys Primary School. Man hatte ihnen die Gesichter bis zur Unkenntlichkeit mit Säure verätzt.

Das war Jack Calheys Wissensstand, als er den Hörer in die Hand nahm und seinen Kontakt beim Yard, Detective Inspector Hubert Macintosh, anrief.

»Das ging ja schnell«, war die Begrüßung des Beamten, die Jack sofort ein Grinsen ins Gesicht brachte. »Wie haben Sie davon erfahren?«

»Ich habe so meine Quellen«, tat Jack geheimnisvoll. In Wirklichkeit war es Steven Highsmith gewesen, Macintoshs Kollege und Jacks guter Freund, der ihm die wenigen Infos per E-Mail hatte zukommen lassen. Sie hatten wie rohe Fleischfetzen gewirkt, die man einem hungrigen Hund vorgeworfen hatte.

»Können Sie schon näheres sagen?«

Macintosh schnaubte in den Hörer. »Es sind zwei Frauen und ein Mann. Ihre Gesichter wurden mit Dihydrogensulfat, also Schwefelsäure, sehr stark verätzt. Die Identifizierung von zwei der drei Leichen dauert noch an.«

»Und die dritte?«

»Der Schuldirektor hatte sich die ganze Bescherung angesehen. Er sagte, es könnte sich möglicherweise um eine Lehrkraft handeln.«

Jack machte sich flink Notizen auf seinem Block. »Und?« Er war aufgeregt wie ein kleines Kind, das seine Weihnachtsgeschenke unter dem Christbaum entdeckt hatte und es nun nicht erwarten konnte, sie auszupacken.

Der Inspektor zögerte einen Moment, dann sagte er: »Sie wissen schon, dass ich das hier nur tue, weil Sie noch was gut haben bei mir?«

»Ja, weiß ich«, entgegnete Jack. »Und ich bin Ihnen auch sehr dankbar dafür.« Es war diese unglaubliche Geschichte vor knapp zwei Jahren, als sich ihre Wege das erste Mal gekreuzt hatten. Damals hatte sich Jack, aus persönlichem Interesse und beruflichem Ehrgeiz, als Lockvogel für eine im Nachhinein äußerst fragwürdige Polizeiaktion zur Verfügung gestellt. Unterm Strich war er nur knapp mit dem Leben davon gekommen; aber auch mit der Story seines Lebens.

»Also, haben Sie die Frau identifizieren können?«, bohrte er nach.

»Ja. Es war tatsächlich eine Grundschullehrerin. Sie war erst vor einem Monat in Rente gegangen.«

»Hm«, brummte Jack nachdenklich. »Dann hatte sie wohl ihren Ruhestand nicht wirklich auskosten können.«

Macintosh räusperte sich. »Allerdings.«

»Haben Sie einen Namen für mich?«, fragte Jack weiter, obwohl er wusste, dass er Gefahr lief, seinen Bonus beim Inspektor auszureizen.

»Dazu kann ich nichts sagen«, kam auch prompt die knappe Antwort.

»Verstehe. Sonst noch was? Wie haben sich die Täter Zutritt verschafft?«

»Es gibt eine Tür, die vom Schulhof direkt zum Tatort führt. Der Hausmeister hat uns erklärt, dass in dem Raum Bänke und Tische für Sommerfeste lagern. Die werden durch diesen Zugang auf den Hof gebracht.«

»Aha. Und die Tür war aufgebrochen worden«, schlussfolgerte Jack und war schon versucht, das Wort ›Einbruch‹ auf seinen Block zu schreiben. Doch der Inspektor entgegnete:

»Nein, eben nicht. Die Spurensicherung hat keinerlei entsprechende Hinweise gefunden.«

Jack runzelte die Stirn. »Woher wissen Sie dann, dass sie durch diese Tür gekommen sind?« Er ging aufgrund der Tatsache, dass es drei Leichen waren, von mehreren Tätern aus und sprach daher immer von ›die‹. Natürlich hätte es auch eine einzelne Person sein können.

»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen soll«, entgegnete der Inspektor zögernd.

Das machte Jack natürlich nur umso neugieriger. »Es wird mir schon keine angeknacksten Rippen und Blutergüsse einbringen, wie beim letzten Mal«, sagte er provozierend und appellierte damit auf gemeine Weise an Macintoshs Gewissen, was meistens auch funktionierte.

Der Mann im Hörer grummelte etwas Unverständliches. Dann sagte er: »Auf der Innenseite der Tür war eine Nachricht hinterlassen worden.«

Jack schluckte. »Was für eine Nachricht?«

»Calhey, Sie dürfen das nicht veröffentlichen! Ich komme in Teufels Küche, wenn das rauskommt«, mahnte Macintosh.

»Noch habe ich nichts, das ich veröffentlichen könnte«, sagte Jack. »Sie kennen mich doch, Hubert. Ich mache keine halben Sachen. Und auf Gerüchte gebe ich nichts. Ich möchte lediglich einen kleinen Vorsprung haben, bevor Scotland Yard offiziell Stellung nimmt.«

Die kleine regionale Tageszeitung Loughton Courier, für die er schrieb, hatte es, dank Jack, bereits einmal geschafft, durch eine exklusive Berichterstattung die großen Zeitungen, allen voran die Times, auszustechen. Das hätte er nur zu gerne noch einmal geschafft. Und drei verätzte Leichen waren ein guter Aufhänger.

Doch der Inspektor blieb hart. »Tut mir leid, ich muss das ablehnen. Ich riskiere hier schon Kopf und Kragen für Sie.«

»Hm.«

Macintosh seufzte demonstrativ. »Aber leider kann ich Sie ja schlecht daran hindern, ihr Büro zu verlassen ...«.

Jack glaubte, sein Augenzwinkern förmlich durch den Hörer bemerkt zu haben. »Ich verstehe«, sagte er zufrieden. »Danke, Hubert.«

»Aber Calhey: Machen Sie keinen Unsinn!« Ein leises Stöhnen. »Ach was, hat ja sowieso keinen Sinn bei Ihnen.«

Sie verabschiedeten sich. Nachdem er aufgelegt hatte, betrachtete Jack sich seine Notizen; sie füllten nicht einmal die Hälfte des Blattes. Das war nicht gut. Mehr als eine kurze Randnotiz war das nicht wert. Er brauchte mehr. Insbesondere interessierte ihn brennend, was dort an die Kellertür der Schule gekritzelt worden war. Aber wo konnte er ansetzen? Beim Schuldirektor? Nein, das hätte zu Problemen führen können. Aber vielleicht beim Hausmeister.

Jack sah auf seinen Block: Mitchell Liberman; den Namen hatte er von der Webseite der Schule. Er hatte ihm dort, nebst den Lehrkräften und anderen Bediensteten, freundlich entgegen gelächelt. Bei ihm konnte er sicher anklopfen, ohne mit den Beamten vom Yard in Konflikt zu geraten. Liberman war ein kleines Rädchen im Schulgetriebe und vielleicht für ein paar Pfund bereit, Jack mehr Details zu verraten. Er bewohnte ein kleines Appartement auf dem Schulgelände, wie Jack schnell in Erfahrung bringen konnte. Dort würde er ihn am Spätnachmittag aufsuchen.

Bis dahin waren es aber noch ein paar Stunden, in denen unter anderem auch eine Redaktionskonferenz anstand. Aber Jack würde zu den Morden in der Schule noch keine Ankündigung machen; es war ja gut möglich, dass bei seinen Recherchen nichts herauskam. In keinem Fall wollte er falsche Erwartungen wecken und insbesondere den langjährigen Chefredakteur Butterworth, der ihm wie ein Vater war, enttäuschen. Stattdessen würde er die Berichterstattung zum Treffen der Oldtimerfreunde in Loughton als sein aktuelles Thema aufs Tableau bringen. Daran hatte er auch tatsächlich fast eine halbe Stunde lang gearbeitet.

II.

Normalerweise sprang Jack auf Mord nicht sofort an. Im Großraum London starben fast jeden Tag Menschen durch Gewalteinwirkung; durch Messerstiche und Kugeln in Kopf oder Brust.

Aber das hier war anders. Hier ging es sicher nicht um Mord im Affekt, um keinen Bandenkrieg und auch nicht um einen Denkzettel des organisierten Verbrechens; die arbeiteten nicht mit Schwefelsäure. Nein, hier deutete alles auf einen Ritualmord hin. Und bei einem so gearteten Verbrechen gab es für Jack zwei Dinge, die ihn in seiner Arbeit antrieben. Zum einen das Motiv: Es musste mehr dahinter stecken als Eifersucht, Geld oder sonstiger Standard. Hier hatte jemand mit Leidenschaft gemordet und eine Botschaft hinterlassen. Das interessierte die Leser des Loughton Courier natürlich mehr, als ein simpler Raubmord. Zum anderen empfand Jack den Wettlauf mit der Polizei um neue Informationen als eine Art Sport; es gab ihm einen Kick und brachte die nötige Würze in seinen Job.

Als er über den verwaisten Schulhof der St. Marys Grundschule lief, wehten ihm ein paar braune Blätter der nahe stehenden Eiche vor die Füße und tanzten über den Boden. Eine kühle Brise streifte sein Gesicht. Der Herbst war da, es gab keinen Zweifel daran. In diesem Moment spürte er ihn in dieser Saison zum ersten Mal bewusst und er zog den Reißverschluss seiner Jacke noch weiter hoch.

Wo war nun diese Hausmeisterwohnung? Jack sah sich um und sein Blick fiel auf einen Mann, der gerade mit einem elektrischen Laubbläser und einer Kabeltrommel unter dem Arm um die Ecke kam. Er trug einen grauen Kittel.

»Hey, vielleicht hast du Glück.«

Als er näher kam, und der Mann ihn entdeckte, hielt dieser inne. Jack erkannte ihn wieder: Es war Mitchell Liberman, der Hausmeister der Schule. Auf dem Foto im Internet hatte er wesentlich vorteilhafter ausgesehen. Sein Gesicht wirkte eingefallen und blass. Er trug einen Dreitagebart und machte insgesamt einen fertigen Eindruck. Das konnte man ihm aber nach dem, was er gestern im Keller der Schule hatte sehen müssen, nicht verübeln.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er argwöhnisch, als Jack geradewegs auf ihn zukam.

»Guten Tag. Ich suche Mitchell Liberman.«

»Und wer sind Sie?«

Jack zückte schnell seine Visitenkarte. »Jack Calhey vom Loughton Courier.«

Er sah sie nur kurz an, aber nahm sie nicht an sich. Stattdessen begann er, die Kabeltrommel abzurollen. »Ich kann mir denken, was Sie wollen. Und die Antwort lautet nein!«

»Ich habe nur ein paar Fragen.«

»Und ich habe keine Zeit«, erwiderte Liberman grantig und ging mit dem einen Kabelende zum Treppenaufgang.

»Wann passt es Ihnen besser? Ich komme gerne noch mal wieder.«

Der Mann öffnete die Tür, schob einen Keil unter den Türflügel, damit er offen blieb, und verschwand kurz mit dem Kabel im Haus. Dann kam er wieder zurück und hob den Laubbläser an.

»Es ist besser, wenn Sie jetzt gehen«, sagte er, setzte den Gehörschutz auf, der um seinen Hals hing und schaltete das Gerät ein. Der ohrenbetäubende Krach, den der Laubbläser verursachte, machte eine weitere Unterhaltung unmöglich. Demonstrativ wandte sich Liberman von Jack ab und begann, die Blätter auf dem Boden vor sich her zu wehen.

Aber Jack wollte nicht aufgeben. Wenn er schon hier scheiterte, würde er gar nichts zu dem Verbrechen herausbekommen, bevor die Polizei damit an die Presse ging. Er konnte ein recht hartnäckiger Mensch sein, insbesondere, wenn er sich wie ein Terrier in eine gute Story verbiss. Und diese hier war gut, daran gab es für ihn keinen Zweifel.

Er sprintete die Treppe rauf, folgte dem Kabel bis zur Steckdose und zog den Stecker raus. Unvermittelt verstummte die Turbine des Laubbläsers. Als er wieder ins Freie trat, traf ihn bereits Libermans finsterer Blick.

»Was soll das, verdammt? Verschwinden Sie!«

Jack ignorierte es und trat ihm mit in den Hosentaschen versenkten Händen wieder entgegen. »Sie sind mich umgehend wieder los. Das verspreche ich Ihnen. Ich möchte lediglich ihre Version der Geschichte hören!«

Wie er es erwartet hatte, sah Liberman ihn nun stirnrunzelnd an.

»Meine Version? Was soll das heißen? Ich habe der Polizei meine Aussage zu Protokoll gegeben. Punkt.«

»Natürlich. Aber wenn die ganze Sache in Kürze in der Presse breitgetreten wird, was denken Sie, was Sie davon haben?«

Er schnaubte. »Nichts, natürlich.«

»Eben. Aber wenn Sie sich dazu entschließen könnten, über Ihren Schatten zu springen und mir ein paar Fragen beantworten, dann…« Er machte eine Pause, die ihre Wirkung nicht verfehlte.

Der Mann konnte Geld gut gebrauchen, das sah man ihm an. Außerdem war er ein einfacher Hausmeister; was konnte so ein Mensch schon verdienen?

»Was dann?«

»Dann sorge ich dafür, dass Sie von meiner Zeitung ein angemessenes Honorar erhalten«, bluffte Jack. Mehr als fünfzig Pfund unterm Tisch würden es wohl nicht werden. Und mit denen wollte er ihn locken. Er holte sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche und zog einen roten Schein hervor. Wedelnd hielt er ihn Liberman vor die Nase.

Der Mann schnaubte abfällig und sah zur Seite. Aber Jack merkte, dass es in seinem Hirn begonnen hatte, zu rattern. Das gute Engelchen lieferte sich gerade einen Kampf mit seinem bösen Pendant.

»Was wollen Sie wissen?«, fragte er dann widerstrebend.

Jack machte innerlich einen Freudensprung. »Wollen wir das nicht vielleicht in Ruhe besprechen? Kommen Sie, ich lade Sie auf einen Kaffee ein.«

Liberman schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht. Ich habe zu arbeiten, wie Sie sehen.«

»Dann gegen acht im Café Olé um die Ecke?« Jack hatte den Laden zufällig gesehen, als er zur Schule gefahren war.

Nach kurzem Zögern willigte Liberman ein. »Na schön. Aber ich verspreche nichts.«

»Gut, ok. Dann bis um acht.«

Jack wollte ihm die Hand geben, doch der Mann ging einfach davon, um den Stecker wieder in die Dose zu stecken. Mit einer Mischung aus Zufriedenheit und Vorfreude verließ Jack den Schulhof und ging wieder zu seinem Auto.

III.

Joseph Heir war kein wirklich guter Schüler. Seine Talente lagen eher in der ›Unterhaltung‹, so zumindest hatte es seine Klassenlehrerin einmal vorsichtig gegenüber seinen Eltern während eines Gesprächs ausgedrückt. In der Tat war Joey, wie er von allen genannt wurde, der Klassenclown. Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit gab er seine teils dummen, teils ironischen Kommentare ab; sehr zum Leidwesen seiner Lehrer und auch seiner Eltern, die deshalb regelmäßig in der Schule vorstellig werden durften.