Ort des Bösen - J.P. Conrad - E-Book

Ort des Bösen E-Book

J.P. Conrad

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Beschreibung

Skandalreporter Jack Calhey glaubt nicht an Geister und Dämonen. Und doch scheint in dem abgelegenen Dorf Gleann Brònach in den schottischen Highlands eine dunkle Kraft am Werk zu sein. Was ist mit Jacks Freund Felix passiert, der dort während seiner Recherchen plötzlich verschwunden ist? Und warum kam es in den letzten fünfzig Jahren in Gleann Brònach immer wieder zu tödlichen Unfällen? Auf seiner Suche nach Felix muss Jack feststellen, dass der vermeintlich idyllische Ort ein grausiges Geheimnis birgt.

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Impressum

»Ort des Bösen«

© 2015 J.P. Conrad, alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung und Satz: Perpicx Media Design, www.perpicx.de

Veröffentlichung:

© 2022 Suspense Verlag

Höhenstraße 18, D-61267 Neu-Anspach

E-Mail: [email protected]

ISBN: 978-3-910463-09-7

Titelblatt

Prolog

Jack Calhey konnte nicht behaupten, unvermittelt in diese ausweglose Situation geraten zu sein. Er war mehrfach gewarnt worden; mit subtilen Hinweisen, mit deutlichen Worten und, vor allem, mit erschreckenden Taten. Doch er hatte sie alle ignoriert. Er hätte nach Hause fahren sollen, wie Grace es gesagt hatte; spätestens nach dem Tod des Jungen. Aber wie schon so oft zuvor, hatte er nicht auf die ihm wohl gesonnenen Stimmen gehört und stattdessen seinen Dickkopf durchgesetzt.

Nur diesmal würde er für seine Sturheit mit dem Leben bezahlen. Und dabei war es ihm nicht einmal, wie sonst, um eine Story für seine Zeitung gegangen. Hätte er nicht seinen Wagen eingebüßt, wäre er in weniger als einer Stunde in Wick gewesen, hätte sich dort ein Zimmer nehmen und mit einem einzigen Telefonat dem Spuk ein Ende machen können. Aber der Land Rover war ja auf den Felsen vor den Klippen zerschellt; genau wie der Junge.

Zu Fuß hatte Jack seinen motorisierten Verfolgern im Schutz der Dunkelheit und dank des unwegsamen Geländes zwar entkommen können, aber der Gewittersturm hatte ihm jede Hoffnung genommen, sein Ziel noch in dieser Nacht zu erreichen. Diese Feststellung hatte ihn unvorsichtig werden und ihn der Verlockung des Dämons erliegen lassen. Jack war ihm geradewegs in die Arme gelaufen, hatte sich vom wärmenden Schafspelz, den der eiskalte Wolf trug, täuschen lassen. Aber wie hätte Jack wissen können, dass es ihn wirklich gab? Wie hätte er ahnen können, dass er schon längst in der Falle gesessen war, während er noch glaubte, in Sicherheit zu sein?

Egal; das Schicksal hatte entschieden, die Würfel waren gefallen. Leben oder Tod? Tod! Diese unumstößliche Erkenntnis hatte ihn spätestens in dem Moment getroffen, als die fünfzehn Zentimeter lange Klinge des Messers die Fasern des Hemdes des toten Mannes, das er trug, durchtrennt und im nächsten Augenblick seine Bauchdecke durchstoßen hatte. Es war die zweite Verletzung, die man ihm zugefügt hatte. Und es würde die Letzte sein.

Mit einem Schlag war ihm eiskalt, schwindelig und übel geworden. Der Schmerz selbst hielt sich in Grenzen und Jack war sich nicht sicher, ob das ein gutes Zeichen war. Als die Klinge wieder aus ihm heraus geglitten war, wollte er nach der Wunde tasten. Aber wie hätte er das mit hinter dem Rücken gefesselten Armen schaffen sollen? Mit verschwommenem Blick sah er das Blut, das sich ringförmig um die Wunde in den Stoff des Hemdes saugte und mit dem aus der vorherigen Verletzung vereinigte.

Er kniff die Augen zusammen. Du darfst jetzt nicht sterben! Du darfst jetzt nicht sterben! Doch es war wie der Anfeuerungsruf eines Trainers an seine Mannschaft, die das Spiel längst verloren hatte. Die Arme spannten sich hinter ihm, als man erneut seine Kunststofffesseln überprüfte. Sie waren unnachgiebig fest um seine Handgelenke geschlungen. Dann verschwanden der Dämon und sein unfreiwilliger Helfer. Das Licht ging aus. Das Einrasten des Schlosses am großen Tor war gleichbedeutend mit dem Siegel auf Jacks Schicksal. Den Gestank um sich herum nahm er schon längst nicht mehr wahr; auch nicht die erdrückende Wärme und die Insekten, die neugierig einen Abstecher zu ihm machen, ihn umkreisten, und sich dann wieder interessanteren Dingen zuwendeten. Alles, was jetzt noch existierte, war der Schmerz, der allmählich Jacks Körper und Geist paralysierte. Er biss sich auf die Lippen, versuchte, seinen Oberkörper angespannt zu halten und weiter auf den Knien zu hocken. Wenn er umkippte, wäre es vorbei; er würde das Bewusstsein verlieren und dann würden sie kommen und ihn sich holen. Mehr als noch ein paar Sekunden gab er sich selbst nicht mehr, das zu verhindern. Wenn er großes Glück hatte, war er verblutet, bis sie über ihn herfielen.

Unweigerlich entfuhr ihm ein heiseres Lachen. Glück? Das wäre also Glück? Vorher zu verbluten? Wie relativ doch alles war, das Leben und der Tod. Mit dem Leben hatte er nun abgeschlossen; seine einzigen Optionen lagen darin, wie ihn der Tod ereilen würde.

Nichts wird von mir übrig bleiben. Nichts! Jack schaffte es nicht mehr, die von den Schmerzen zugekniffenen Augen zu öffnen. Sein Geist driftete einfach dahin. Er fiel nach vorne in den Dreck.

01 - Samstag, 23. Mai 1992

Der Raum war erfüllt vom Geruch kalten Zigarettenrauchs und dem des spartanischen Dosengerichts vom Mittag, der sich hartnäckig in der seit Tagen ungelüfteten Wohnung hielt. Der Fernseher plärrte in unangenehmer Lautstärke, welche die staubigen Gläser in der Schrankwand leicht vibrieren ließ und warf die Bilder des Teleshoppingkanals in Richtung eines verwaisten Sofas. Überlagert wurden die Dialoge der überschwänglich chargierenden Moderatoren nur von dem verzweifelten Schreien des kleinen, sieben Monate alten Kindes, das mit hochrotem Kopf und sich vor Hunger krümmend, in der schmucklosen Holzliege auf einer fleckigen Babymatratze lag. Es hätte schon vor über einer Stunde seine Flasche kriegen müssen; doch diese stand, die Milch darin mittlerweile kalt, unerreichbar für das Kind, auf dem Wohnzimmertisch. Sie reihte sich dort in eine Sammlung von leeren Gläsern, einer angebrochenen Weinflasche und einem überfüllten Aschenbecher ein.

Niemand konnte in diesem Augenblick das Drehen eines Schlüssels im Türschloss und die sich öffnende Wohnungstür hören. Der Neuankömmling schlug sie, als Ankündigung seiner Ankunft, mit einem lauten Knall hinter sich zu. Er wartete einen Moment, doch nichts rührte sich. Das Geschrei des Babys scherte ihn dabei nicht einen Deut. Sein Blick fiel auf den Flurboden; dort lagen eine noch ungeöffnete Rotweinflasche und ein Päckchen Marlboro.

»Iris!«, schrie der Mann laut und voller Zorn. Es dauerte ein paar Sekunden, dann erschien die junge Frau in der Tür des Schlafzimmers. Sie band sich gerade hektisch ihren nikotingelben Morgenmantel zu. Ihr Blick war verschlafen, die rotbraunen, ungewaschenen Haare ,zerzaust. Sie trug, völlig unpassend für ihren Aufzug, knallroten Lippenstift, der aber deutlich verschmiert war.

»Du bist schon da?«, fragte sie, leicht lallend und mit belegter Stimme. Sie kniff die Augen ob des hellen Lichts zusammen. »Wie spät ist es denn?«

Er kam mit festen Schritten auf sie zu, den Schlüsselbund in seiner geballten Faust haltend. Er baute sich vor ihr auf und sah sie mit vor Wut rotem Kopf aus dünnen Augenschlitzen an. »Er ist wieder hier, oder?« Es war eigentlich mehr eine Feststellung, als eine Frage. »Seine Dreckskarre steht unten.«

Iris fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und gähnte mit geschlossenen Augen, bevor sie reagierte. »Was soll das? Ich dachte, du wolltest eine Tour machen?«

»Scheiß auf die Tour!«, polterte er los und ergriff ihren linken Arm. Er packte schmerzhaft fest zu und zog sie zu sich heran. Sie roch nach Alkohol und Sex. »Lässt du dich immer noch von diesem Arschloch ficken?« Er erhielt weder eine Antwort, noch machte Iris Anstalten, sich aus seinem Griff zu befreien. Sie hing dort wie ein nasser Sack. Er ließ den Schlüsselbund fallen und hielt sie nun mit seinen breiten Händen an beiden Oberarmen. Mit einem Ruck drückte er sie gegen die Wand, wobei eines der gerahmten Bilder mit den Hundebabys, die sie aus Zeitschriften ausgeschnitten hatte, zu Boden fiel. Das Glas zersprang.

»Und wenn schon? Ich bin ein freier Mensch!«, geiferte Iris nun. Sie spuckte leicht beim Reden und ihr Atem roch eindeutig nach Alkohol.

Für einen Moment schaute er zur halb geöffneten Schlafzimmertür; dahinter war es dunkel. Sicher würde der Kerl dort im Bett liegen und pennen. Er hätte jetzt einfach dort rein gehen und ihn im Schlaf erschlagen können; mit seinen bloßen Fäusten. Was ihm vor knapp einem halben Jahr schon beinahe einmal gelungen wäre, hätte er sich im letzten Moment nicht selbst gezügelt, würde er sicher hier und heute zu Ende bringen können. Zumindest war er in genau der richtigen Stimmung dafür. »Ich will, dass du dich nicht wie eine Hure benimmst«, zischte er sie an, sein Gesicht dicht an ihres gepresst. »Ich will, dass du dich wie ein richtiger Mensch aufführst und, dass du dich um dein Balg kümmerst!«

Erst jetzt drang das Babygeschrei bewusst an Iris‘ Ohr. »Scheiße! Ich muss Evie füttern!« Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, doch er hielt sie fest.

»Du bleibst hier! Wir klären das jetzt ein für alle Mal!« Er zerrte sie an ihrem Arm hinter die nächste Tür, in die Küche.

Die Neonröhren flackerten auf. Als sie den unaufgeräumten und dreckigen Raum mit ihrem kalten, weißen Licht erhellten, kniff Iris stöhnend die schmerzenden Augen zusammen.

»Komm zu dir, du verdammte Hure!«, schrie er und schleuderte sie gegen den mit leeren Pizzakartons und Weinflaschen zugestellten Esstisch. Zwei Flaschen fielen zu Boden und rollten vor die Heizung.

Iris konnte sich gerade noch mit den Armen an die Tischkante klammern. »Lass mich in Ruhe! Ich mache, was mir passt. Das habe ich dir schon oft genug gesagt! Und wenn dir das nicht gefällt, dann hau doch einfach ab!«, sagte sie schniefend und mit Tränen in den Augen. Ihr zitternder, mit rotem Plastiknagel dekorierter Zeigefinger deutete zum Ausgang.

Er schloss die Küchentür und lehnte sich mit verschränkten Armen dagegen. »So kannst du mit mir nicht reden! Mit mir nicht! Du bekommst jeden Monat einem Haufen Geld von mir, und das, obwohl du weißt, dass ich es für meinen Lebenstraum sparen will. Und was machst du damit? Du versäufst und verkiffst es! Du spülst mein Geld das Klo runter! Und du vögelst mit allem, was dir zwischen die Beine kommt! Du bist nichts weiter, als eine billige Schlampe!« Er schüttelte den Kopf. »Ich dachte, ich könnte dich ändern. Da hab ich mich wohl gründlich geirrt!«

Benommen torkelte Iris auf ihn zu. »Ich muss jetzt mein Baby füttern«, murmelte sie, als ob sie die Vorwürfe und Beleidigungen gar nicht wahrgenommen hätte. Doch das hatte sie. Aber im Moment überwog die Sorge um ihr Kind, das sie stundenlang vernachlässigt hatte. Das Kind, dem sie gerade hatte seine Milch geben wollen, als Danny vor der Tür gestanden war. Er hatte eine Flasche Wein und ein Päckchen Zigaretten dabei gehabt und war schon leicht angeheitert gewesen. Anstatt nun aber trotzdem zuerst ihr Baby zu füttern, war sie ihm gleich um den Hals gefallen. Das Verlangen zwischen ihren Schenkeln war größer gewesen, als die Sorge um ihr eigenes Kind. Keuchend, erregt und sich heftig küssend waren sie ins Schlafzimmer gegangen. Der Rotwein und die Zigaretten waren ebenso schnell auf dem Boden gelandet, wie ihre Klamotten.

Nach einer halben Stunde voll heftigem Sex waren beide dann eingeschlafen. Erst, als Iris ihren Namen über den Flur brüllen gehört hatte, war sie wieder zu sich gekommen. Was hatte ihr armes Baby inzwischen durchgemacht? Es schrie nach wie vor ohne Unterlass. Natürlich, es hatte seit Stunden großen Hunger.

Iris versuchte, sich an ihm vorbei zu drängen, doch er ließ sie nicht gewähren. Er hielt seine Arme verschränkt und blieb unnachgiebig vor der verschlossenen Küchentür stehen.

»Lass mich durch, du Schwein! Ich muss zu meinem Kind!«,

»Fällt dir herzlich früh ein.« Blitzschnell holte er mit seiner rechten Hand aus und schlug ihr damit so heftig ins Gesicht, dass sie rückwärts taumelte und zu Boden fiel. »Das war für das Schwein!«

Sie rieb sich ihre schmerzende Wange. Etwas Blut tropfte ihr auf den Bademantel. Sie tastete nach ihrer Nase und hatte daraufhin auch welches an ihren Fingern. »Danny ist tausendmal besserer als du!«, zischte sie gehässig. »Der hat es nicht nötig, mich zu schlagen, damit er sich wie ein richtiger Mann fühlt. Du bist ein erbärmlicher Schlappschwanz!« Das war ein Wort zu viel. Den Kopf vor Benommenheit und Schmerzen gesenkt, sah sie durch ihren Haarschopf, wie ihr Gegenüber sich ruckartig aus seiner Position löste, kurz zur Anrichte ging und dann mit einem solchen Ruck die Küchentür aufriss, dass die Klinke eine Delle in der Wand hinterließ.

Was hatte er jetzt vor? Iris wusste es nicht und es interessierte sie auch nicht wirklich. Sie wollte, nein, sie musste sich jetzt endlich um ihr Kind kümmern! Mit zitternden Händen stützte sie sich am Boden ab und richtete langsam ihren Oberkörper auf. Ihr Kopf dröhnte, wie nach einer durchzechten Nacht; zumindest zu der Zeit, als sie noch nicht so sehr an den Alkoholkonsum gewöhnt war, wie heute. Sie stemmte sich an der Anrichte nach oben, auf der sich das dreckige Geschirr türmte, das in der Spüle keinen Platz mehr gefunden hatte. Als sie nach einer der Saugflaschen greifen wollte, die ebenfalls dort standen und so ziemlich das einzig Saubere in diesem Raum waren, fiel ihr Blick auf den Messerblock.

Eines der Messer fehlte. Sie wusste es genau, denn sie benutzte sie nie. Sie kochte ja auch nie, sondern ernährte sich von Fertiggerichten oder dem, was diverse Lieferdienste ihr brachten, wenn sie mal Geld hatte. Wo war das Messer? In derselben Sekunde, in der sie sich diese Frage stellte, hörte sie einen quälenden Schrei, der aber sofort wieder verstummte.

Oh, Gott! Was hatte er getan? Iris‘ Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie verharrte einige Sekunden in ihrer halb aufgerichteten Position und starrte zur Tür. Nichts passierte. Sie vernahm das Geschrei ihres Kindes und den Fernseher, die, so schien es ihr, sich in ihrer Lautstärke zu überbieten versuchten.

Dann plötzlich stand er in der Tür. Seine Hände, sein T-Shirt und die Lederjacke waren rot beschmiert. Es gab keinen Zweifel, es war Blut!

Iris wurde übel. »Was … hast du gemacht?«, fragte sie mit bebender Stimme.

»Jetzt ist er kein Mann mehr!«, sagte er nur außer Atem und wischte sich mit der Hand, die das Messer hielt, über die Nase. Mit der anderen hielt er etwas hinter seinem Rücken verborgen. Iris fragte sich bang, was es wohl war. Im nächsten Moment klatschte er es ihr vor die Füße. Sie wich sofort entsetzt zurück und spürte unvermittelt, wie sich die Galle ihren Weg die Speiseröhre hinauf bahnte. Reflexartig drehte sie sich um und spie das halb verdaute Essen vom Vorabend in die Spüle und über die verkrusteten Teller. Noch während sie würgte, zog er sie fest an ihren Haaren. Er zerrte sie von der Anrichte weg und warf sie auf den Boden.

»Du hast ihn umgebracht!«, wimmerte sie. »Du hast ihn umgebracht!« Sie musste husten und spie dabei noch etwas Galle auf das ausgetretene PVC.

»Nein, habe ich nicht. Aber er hat jetzt seine Lektion gelernt«, erwiderte er nüchtern, gefolgt von einem dreckigen Lachen. »Der wird dich auf jeden Fall nicht mehr ficken!«

Iris sah, wie er nun mit dem Absatz seines Stiefels das Geschlechtsteil von Danny auf dem Boden zertrat.

»Du elendes, perverses Schwein!«, schrie sie. Mehrfach. Sie hörte gar nicht mehr damit auf, bekam einen regelrechten Schreikrampf. Erst in dem Moment, als er mit dem blutigen Küchenmesser auf sie zu stürmte, vor ihr auf die Knie fiel und es ihr in die Brust rammte, verstummte sie. Mit einem leisen Gurgeln aus ihrem mit Erbrochenem und Lippenstift beschmierten Mund sank sie in seine Arme. Doch er hielt sie nicht fest, sprang stattdessen auf und ließ ihren leblosen Körper unsanft auf den Küchenboden fallen. Das Messer landete direkt neben ihrem Kopf mit den weit aufgerissenen Augen.

Er blieb mehrere Sekunden regungslos und schwer atmend stehen und starrte auf sein Werk. Dann überkam ihn augenblicklich die Ernüchterung: Er hatte sie getötet! Aus reiner, rasender Eifersucht und seiner latenten Gewaltbereitschaft, die ihn schon so oft zuvor in Schwierigkeiten gebracht hatten, hatte er ihr Leben unwiederbringlich ausgelöscht. Es hatte keine fünf Sekunden gedauert. Der grausame Höhepunkt seiner Karriere als Raufbold und Taugenichts war somit erreicht. Er spürte, wie Panik allmählich von ihm Besitz ergriff. Nicht einmal wegen der Taten an sich, die er begangen hatte.; nein, mit einem Mal sah er sein wertvollstes Gut, seine Freiheit, in Gefahr, sah sich für Jahrzehnte im Zuchthaus sitzen. Eingesperrt in einer nicht einmal zehn Quadratmeter messenden Zelle, die für ihn fortan bestimmen würde, wo es lang ging: nirgendwo hin. Unvorstellbar. Soweit durfte es nicht kommen!

Aufgewühlt schaute er sich um. Er ging zur Kammer und suchte nach brauchbaren Putzutensilien. Er fand Eimer, Scheuermittel und auch Gummihandschuhe; alles selten genutzt oder fabrikneu. Dann begann er, akribisch seine Spuren zu beseitigen und sich nach und nach aus dem Ort des Geschehens und Iris‘ Leben auszuradieren. Nichts sollte mehr darauf hinweisen, dass er je dort gewesen war. Glücklicherweise hatte er, außer ein paar Klamotten, keine persönlichen Sachen bei ihr gehabt. Er stopfte sie in eine Plastiktüte und hing sie zum Mitnehmen an die Wohnungstür. Dann nahm er sein Foto, das er ihr vor Monaten geschenkt hatte, aus ihrem Portemonnaie und vergewisserte sich, dass auch sonst keines von ihm irgendwo zu finden war. Alles, was er anfasste, wischte er anschließend sorgsam mit einem feuchten Lappen ab.

Nach getaner Arbeit schlich er sich, schweißnass und völlig erschöpft, aus der Wohnung und reinigte beim letzten Schließen der Tür noch die Klinken. Das Baby ließ er schreiend zurück.

02 - Sonntag, 05. Oktober 201420:39 Uhr

Jack Calheys Finger trommelten nervös neben dem Touchpad des Notebooks, während die letzten Mails abgerufen wurden. Seine Anspannung wich sofort Ernüchterung, als der Ladevorgang abgeschlossen war. Es war wieder keine Nachricht von Felix dabei; erneut kein Lebenszeichen von seinem guten Freund.

Grace, die gerade ins Wohnzimmer kam, hatte den zunächst gespannten und dann sichtlich enttäuschten Gesichtsausdruck ihres Mannes bemerkt. »Wieder nichts?«, fragte sie mitfühlend, stellte ihre dampfende Teetasse auf den Couchtisch und setzte sich neben ihn.

»Nein«, antwortete er zerknirscht.

Sie zog die Beine an und ließ sie unter ihre Decke mit dem Kilt-Muster schlüpfen. Anschließend legte sie ihren Kopf auf seine Schulter und sah auf den Bildschirm. »Von wem ist denn die Mail mit ›Hat das jetzt endlich mal geklappt?‹?«

Jack lachte trocken und rieb sich die müden Augen mit Daumen und Zeigefinger. »Von meinem Dad. Er hat einen neuen Provider und ist mit dem Einrichten der E-Mail Zugangsdaten hoffnungslos überfordert.«

»Aber jetzt scheint es ja geklappt zu haben. Schreib ihm das doch zurück«, schlug Grace vor.

»Nicht jetzt. Das artet nur in eine endlose Debatte mit ihm über den Sinn und Nutzen von modernen Kommunikationsmitteln, wie dem Internet, aus. Dann mischt sich noch meine Mutter ein und am Schluss hänge ich sowieso wieder für mindestens eine Stunde am Telefon.«

Grace brummte verstehend und nahm die Tasse vom Tisch. Sie pustete hinein, so dass die kleinen Dampfwölkchen sich im Raum auflösten. Jack spürte ihren besorgten Blick auf sich ruhen. Sie wusste, dass er beunruhigt war und sie wusste auch, warum: Sein Freund Felix Byrne war vor dreizehn Tagen zu einer eigentlich nur kurzen Recherchereise in die schottischen Highlands aufgebrochen. Außer einer Mail, die er unmittelbar nach seiner Ankunft von seinem Handy aus geschickt hatte, hatte Jack seitdem kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten. Das passte weder zu Felix noch war es so verabredet gewesen. Eigentlich hätten sie sich vor drei Tagen, an Graces Geburtstag, sehen wollen.

»Wie lange ist er jetzt weg?«, fragte sie.

»Dreizehn Tage.« Jack war überhaupt nicht wohl in seiner Magengrube. Er scrollte im Mailprogramm etwas nach unten und suchte diese letzte Nachricht von Felix; sie stammte vom dreiundzwanzigsten September. Er öffnete sie und las erneut den Text, in der Hoffnung, darin irgendeine versteckte Botschaft oder sonst einen Anhaltspunkt für das ungewöhnliche Verhalten seines Freundes zu finden. Der Betreff war: ›Bin angekommen‹. Dann folgte der knapp formulierte Inhalt:

Hi Jack. Gleann Brònach liegt landschaftlich schön, aber ziemlich isoliert. Ein Netz zu kriegen ist Glückssache. Die Leute sind schräg drauf, komme mir wie ein Alien vor. Zimmer ist okay, aber zu teuer. Morgen dann der große Tag, bin gespannt optimistisch. Bis später. Gruß, Felix

»Was wollte er da?«, fragte Grace, die über Jacks Schulter mitgelesen hatte.

»Für ein neues Buch recherchieren, was sonst. Er jagt wieder Geistergeschichten und ähnlichem Gruselkram hinterher, aber diesmal aus der Neuzeit.« Die Thematik hatte auf ihn selbst nie einen so faszinierenden Reiz ausgeübt, wie auf seinen Freund. Jacks Interessen lagen, schon alleine bedingt durch seinen Job als Reporter für den Loughton Courier, in nüchternen Fakten. Das Plakatieren von Skandalen, das Bloßstellen von politischen und wirtschaftlichen Verfehlungen und das Aufzeigen von Missständen waren sein Beruf und zugleich seine Berufung. Meistens nicht eben ruhmreich und sehr oft auch mit großer Antipathie ihm gegenüber verbunden, aber einträglich und befriedigend. Und vor allem: Seine Arbeit machte ihm Spaß.

Felix Byrne, der sechs Jahre älter war als Jack, war hauptberuflich Automechaniker mit Spezialisierung auf Motorräder. Durch diesen Umstand hatten sie sich auch kennen gelernt: Auf Empfehlung eines Bekannten hatte Jack seine Yamaha mit einem Kupplungsschaden zu ihm gebracht; das war vor über sieben Jahren gewesen. Man war ins Gespräch gekommen, hatte gefachsimpelt und sich schnell angefreundet. Das war noch zu einer Zeit gewesen, als Jack keine feste Freundin, geschweige denn eine Ehefrau gehabt hatte. Er war damals ständig mit dem Motorrad unterwegs und fast jeden zweiten Tag in Felix‘ Werkstatt gewesen; zum Schrauben und quatschen. Oder sie hatten sich abends auf ein Ale im Pub getroffen.

Was anfänglich Felix‘ Hobby gewesen war, nämlich Geschichten über Geister, Sagengestalten und sonstige mysteriöse Phänomene, hatte er irgendwann, dank seiner fundierten Kenntnisse, zu einem zweiten Standbein ausbauen können. Bereits zwei Bücher hatte er inzwischen zu diesem Thema veröffentlicht und sie verkauften sich erstaunlich gut. Zunächst beschrieb Felix die Ereignisse an sich: Die Sichtung von Toten und Geistern, schauerliche Vorkommnisse wie Massensuizid oder blutende Wände, Selbstentzündungen und ähnliches. Er belegte anhand der von ihm akribisch recherchierten Quellen, wie die Menschen auf diese Geschehnisse reagierten. Es war zu Hexenprozessen gekommen, zur Aufgabe ganzer Dörfer und Landstriche oder zu plötzlichem, religiösem Wahn. Dann erläuterte Felix die verschiedenen Theorien aus vorhandenen Dokumentationen und von führenden Experten auf den jeweiligen Gebieten, die er selbst interviewt hatte. Alles in allem eine Menge Arbeit für zweimal knapp dreihundert Seiten.

Felix‘ neuestes Projekt befasste sich nun mit neuzeitlichen Phänomenen, die sich oftmals viel leichter entmystifizieren ließen, da ihre Dokumentation wesentlich weniger Lücken aufwies. Im Rahmen seiner Recherchen hatte er Jack zum Beispiel von einer Zahnarztpraxis in der Oberpfalz in Deutschland erzählt, in der es Anfang der achtziger Jahre gespukt haben soll: Immer wieder waren Patienten von einer körperlosen, unheimlichen Stimme belästigt und beleidigt worden. Angeblich hatte es aus Spucknäpfen und Kloschüsseln gequäkt. Es gab ein großes Medieninteresse an diesem Phänomen. Des Rätsels Lösung war, dass eine junge Zahnarzthelferin, wohl aus Geltungsbedürfnis, Patienten, Polizei, Medien und auch Parapsychologen mit Stimmakrobatik zum Narren gehalten hatte.

Das Kapitel, für das Felix aktuell recherchierte, hatte es ihm besonders angetan. Es ging dabei um die angebliche Präsenz eines Dämons, der in den Neunzehnhundertfünfzigern in einem abgelegenen Dorf in den schottischen Highlands sein Unwesen getrieben haben soll. Felix hatte Jack bereits bei mehreren Gelegenheiten davon erzählt. Bei ihrem letzten Treffen hatte er ihm dann eröffnet, dass er zu einer dreitägigen Tour in eben dieses Dorf mit dem Namen Gleann Brònach aufbrechen würde, um vor Ort Nachforschung zu betreiben. Aus der dreitägigen Exkursion waren inzwischen dreizehn Tage geworden. Davon zwölf ohne ein Lebenszeichen von Felix. Mehrfach hatte Jack vergeblich versucht, seinen Freund auf dem Mobiltelefon zu erreichen, doch eine automatische Ansage hatte ihm immer wieder stur ›Der gewünschte Teilnehmer ist zur Zeit nicht erreichbar‹ geantwortet.

Einen Moment lang betrachtete Jack gedankenversunken die letzten, in Form der E-Mail an ihn verfassten Worte, klickte dann auf ›Antworten‹ und schrieb:

He, du Rumtreiber!Wo steckst du? Melde dich mal!Jack

Es war bereits die vierte Nachricht, die er an ihn schrieb und er befürchtete, dass sie ebenfalls unbeantwortet bleiben würde. Die Situation war frustrierend für Jack; aber ganz sicher ging es nicht nur ihm so.

Vielleicht hatte seine Lebensgefährtin Alice ja inzwischen ein Lebenszeichen von Felix erhalten? Jack seufzte innerlich. Okay, dann muss es halt sein. Er klappte das Notebook zu und legte es auf den Couchtisch. Dann stand er auf, ging stumm aus dem Raum und holte im Flur das schnurlose Telefon. Er tippte bereits Felix‘ Privatnummer ein, als er wieder zu Grace ins Wohnzimmer kam.

»Wen rufst du an?«

»Alice.«

»Alice? Ich dachte, ihr könntet euch nicht ausstehen?«

Genau genommen war es Felix‘ langjährige Freundin, die Jack nicht leiden konnte und es ihm bereits beim ersten Zusammentreffen deutlich, wenn auch nicht mit Worten, zu verstehen gegeben hatte. Auslöser war eine Freundin von Alice gewesen, Tamara, mit der Jack mal etwas gehabt hatte und die er, wie eine heiße Kartoffel, hatte fallen lassen. Seitdem war er das ultimative Feindbild für Alice. Aber jetzt, ungeachtet der Antipathie, die sie gegen ihn hegte, war sie sicher in der gleichen Situation wie er: Sie sorgte sich um Felix.

Es klingelte. Und klingelte. Jack glaubte schon, dass sie nicht Zuhause sei, als es im Hörer knackte.

»Hallo?«

»Hallo, Alice? Hier ist Jack. Jack Calhey.«

Ein genervtes Stöhnen am anderen Ende; nichts anderes hatte er erwartet. Aber er ignorierte es; ebenso wie all ihre Sticheleien und unterschwelligen Beleidigungen zuvor. Er hatte sich nie auf dieses Niveau begeben und würde es auch weiterhin nicht tun.

»Was willst du?«, fragte sie barsch.

»Hast du was von Felix gehört?«

Ein Schniefen. War sie erkältet? Oder hatte er Alice gerade tatsächlich dabei erwischt, wie sie sich aus Sorge um ihren Lebensgefährten in die Kissen weinte?

»Nein, du?«

Jack setzte sich wieder neben Grace auf die Couch. »Nein, leider nicht. Ich mache mir, ehrlich gesagt, langsam Sorgen. So gar kein Lebenszeichen von ihm, seit fast zwei Wochen …«

Alice brummte missmutig. »Ich hab schon vor über einer Woche bei der Polizei angerufen.«

»Und?«

Sie seufzte. »Alles Scheiße! Die sagten mir, dass sie nicht zuständig wären, weil er in Schottland verloren gegangen ist und haben mich an die Kollegen dort verwiesen«, erklärte sie entnervt. »Also habe ich dort angerufen und durfte anschließend ein Onlineformular ausfüllen. Dann haben sie mich kontaktiert und gesagt, sie würden sich darum kümmern und sich bei mir melden.«

Jack war doch leicht erstaunt. »So? Und, gab es schon was?«

Alice lachte verächtlich. »Quatsch! Das sind doch alles Hinterwäldler da! Keiner hat was von ihm gehört oder gesehen. Keine Einlieferung ins Krankenhaus.« Nach einer Pause füget sie noch, wesentlich kleinlauter, hinzu: »Keine unbekannten Leichen.«

»Hey, ich bin mir sicher, dass sich bald alles aufklären wird. Wahrscheinlich steht er morgen schon wieder lachend vor uns und schwärmt von seinem verlängerten Highlands-Urlaub.« Jack glaubte selbst nicht an die Worte, die er sprach, und das konnte man hören.

»Blödsinn«, entgegnete Alice auch sofort. »So verantwortungslos wie du ist er nicht; jedenfalls nicht mehr, seit wir zusammen sind.«

Jack rollte mit den Augen. Wieder die alte Leier. Er wusste über die Vergangenheit seines Freundes Felix nicht allzu viel, außer, dass er ein ziemlicher Raufbold gewesen sein soll. Das hatte er selbst jedenfalls immer wieder behauptet und von diversen Jugendsünden gesprochen. Und auch Alice hatte in diesem Zusammenhang wiederholt und mit vor Stolz geschwellter Brust darauf hingewiesen, dass sie es gewesen war, die ihn schließlich geläutert hatte.

»Hast du denn mal bei der Unterkunft angerufen, die er dort hatte?«, fragte Jack.

»Nein. Er hat mir keine Adresse dagelassen, wo er übernachten wollte. Er wollte sich ja auch regelmäßig melden und sowieso nur drei Tage weg sein. Ich weiß nur, dass es ein kleines Bed and Breakfast war, das von einer älteren Frau betrieben wird.«

Jetzt war es Jack, der missgestimmt brummte. Hatte nicht einmal die Polizei es für nötig gehalten, Alice diese Information zu geben? Oder hatten sie gar nicht erst soweit gefahndet? Vielleicht war hier doch sein Spürsinn gefordert; dieser gut trainierte Muskel, der ihm schon so oft bei der Jagd nach Schlagzeilen geholfen hatte. »Soll ich mich mal ein bisschen umhören?«, fragte er.

Grace hob, hellhörig geworden, den Kopf.

Ein paar Sekunden blieb es still am anderen Ende der Leitung. Aber Jack glaubte, erneut ein Schniefen vernommen zu haben.

»Ja, klar. Mach nur. Aber was soll das groß bringen? Die Polizei ist ja schon eingeschaltet.«

»Hörte sich aber nicht danach an, als ob sie wirklich eine Spur hätte. Alice, ich verspreche dir, ich werde mich darum kümmern. Ich versuche, Felix zu finden!« Er schielte zu seiner Frau, deren Augen immer größer wurden.

»Okay, Danke.«

Das ›Danke‹ hatte Alice deutlich Überwindung gekostet, was Jack mit einem innerlichen Schmunzeln zur Kenntnis nahm. Sie verabschiedeten sich und Jack legte das Telefon auf den Tisch. Wortlos starrte er für einen Moment, seinen Gedanken nachhängend, ins Leere. Dann sah er zu seiner Frau. Ihrem Blick konnte er entnehmen, dass sie genau wusste, was hier gerade vor sich ging. Er hatte dieses besondere Funkeln in den Augen, das er immer dann bekam, wenn er eine Witterung aufnahm; die Witterung nach einer Story. Sie hasste diesen Blick, denn er bedeutete für gewöhnlich, dass sie sich Sorgen machen musste. Nur diesmal würde Jack eben keiner brisanten Story nachjagen, sondern versuchen, Felix Byrne zu finden. Wie gefährlich konnte das schon werden?

»Was hast du jetzt vor?«, fragte Grace, fast ängstlich.

»Hast du doch gehört.« Er nahm das Notebook auf seinen Schoß und ging ins Internet.

»Du bist weder Polizist noch Privatdetektiv«, stellte sie, zu Recht, fest. »Also was soll der Blödsinn? Lass doch die Profis ihre Arbeit machen und misch dich nicht immer ein!« Sie schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Gott, ich klinge wie meine Mutter!«

»Aber wenigstens siehst du nicht aus wie sie, das macht einen Vorteil von mindestens fünfzig Prozent für mich aus«, antwortete er trocken, den Blick konzentriert auf das Display seines Computers gerichtet.

Grace beugte sich in sein Sichtfeld und ihre blonden Haare fielen ihr vors Gesicht.

»Du bist ein sturer Vollidiot«, sagte sie, aber ein Hauch von Ironie schwang in ihrer Stimme mit. »Was machst du denn da jetzt?«

Eine Antwort erhielt sie nicht, Jack war gerade viel zu sehr beschäftigt. Allerdings verriet ihr ein Blick auf den Bildschirm, was er vorhatte, denn er war dabei, die Flugverbindungen von Heathrow nach Schottland zu checken.

03 - Montag, 06. Oktober 201409:40 Uhr

Der Hörer flog auf die Gabel und Detective Chief Inspector Hubert Macintosh kratzte sich mit unzufriedener Miene am Kopf. »Tja«, war sein erster Kommentar, der nicht gerade von Enthusiasmus triefte.

Jack hatte dem für ihn einseitigen und recht kurzen Gespräch keinerlei hilfreiche Informationen entnehmen können. Ungeduldig rutsche er auf seinem Stuhl etwas weiter nach vorne. »Und?«

»Also, gesucht wird wohl nach ihm. Der zuständige Beamte ist allerdings gerade nicht da.«

Jacks Mundwinkel wanderten nach unten. »Klingt ja super professionell.«

»Ich habe vollstes Vertrauen in die Kollegen da oben«, erklärte Macintosh und hob besänftigend die Hand. »Sie befolgen ihre Vorschriften für die Suche nach vermissten Personen. Es ist schließlich ihre Pflicht.« Er hielt kurz inne, als ginge ihm etwas durch den Kopf, das mit dem Telefonat zusammen hing. Jack bemerkte das.

»Was?«

Der Inspektor machte eine herunterspielende Geste. »Nichts.« Er bedachte sein Gegenüber mit einem eindringlichen Blick. »Und diese Miss Spencer hat Ihnen keine weiteren Anhaltspunkte geben können?«

»Nicht mehr, als er mir selbst gesagt und geschrieben hat. Er wollte drei Tage fortbleiben und sich bei Alice zwischendurch telefonisch melden.«

»Und das hat er nicht getan«, vervollständige Macintosh den Satz nickend. Er fuhr sich mit den Fingern durch seinen ergrauten Schnauzbart. Dann sah er auf seine Armbanduhr und ließ angestrengt etwas Luft aus seinem Mund entweichen.

Jack kannte den Inspektor nun seit fast vier Jahren; seit sie sich bei den Ermittlungen im Mordfall des Industriellen Byron Moore zum ersten Mal begegnet waren. Der schlanke, hoch gewachsene Mann war ein Kriminaler der alten Garde, der stets Anzug und Krawatte trug und, sehr zum Leidwesen seiner Frau, voll in seinem Beruf aufging. Er war ein oft mürrisch wirkender Charakter, insbesondere wenn es um die mit seiner Arbeit einhergehende Bürokratie ging, dafür aber umso geschärfter in seiner Ermittlungsarbeit. Er hatte Jack einmal überredet, in einem mehr als waghalsigen Einsatz als Lockvogel zu fungieren, was dieser fast mit dem Leben bezahlt hätte. Seitdem gab es zwischen den beiden ein stilles Abkommen: Man half sich hier und da gegenseitig bei Ermittlungen, beziehungsweise Recherchen ein wenig auf die Sprünge – sofern es gesetzlich vertretbar war. Macintosh war an der Einhaltung der Vorschriften viel gelegen, so schien es zumindest. Aber Jack wusste, dass auch er diese hin und wieder zu seinen Gunsten auslegte, um ein Verbrechen aufzuklären. Dies hatte ihm und seinem Kollegen Steven Highsmith sogar einmal, wenn auch nur kurzzeitig, eine Suspendierung eingebracht. Jetzt stand der Inspektor, der schon jenseits der Sechzig war, kurz vor seiner Pensionierung. Highsmith, den Jack ebenso lange kannte, war ihm inzwischen ein guter Freund und Vertrauter geworden. Auch er hatte ihm schon mehr als einmal wertvolle Informationen zu laufenden Ermittlungen zukommen lassen, was er aber aus rein freundschaftlichem Antrieb heraus getan hatte. Es war ein Glücksfall für Jack, diesen ›Verbündeten‹ bei Scotland Yard zu haben.

Sie schwiegen einen Moment. Jacks Blick fiel auf die Wand mit den Informationen zu einem aktuellen Fall, der jüngst in London für Aufsehen gesorgt hatte.

»Wie kommen Sie mit der ›Behind the Door‹ Geschichte voran?«, fragte er im Plauderton. Er erntete sofort einen strafenden Blick des Kriminalen und machte daraufhin eine abwehrende Handbewegung. »Keine Angst, ich bin nicht an dem Fall interessiert!«

Macintosh sah zur Ermittlerwand und seufzte. »Vier Leichen, laut Videoüberwachung zwei Täter, wobei einer eindeutig eine Frau ist.«

»Eine Frau? Wow.«

Der Inspektor hob drohend den Finger. »Calhey, ich warne Sie! Wenn ich auch nur eine Zeile darüber in Ihrem Käseblatt lese …«

Detective Inspector Highsmith betrat den Raum, was für die beiden Wartenden einer Erlösung gleich kam. Jack konnte im Gesicht seines guten Freundes jedoch nicht das von ihm erhoffte, zufriedene Lächeln entdecken.

»So leid es mir tut, aber das Mobiltelefon ist nicht zu orten.«

»Okay«, sagte Macintosh direkt, als ob er mit diesem Ergebnis bereits gerechnet hätte. »Danke, Steve.«

»Er hat es also tatsächlich ausgeschaltet?«, fragte Jack zweifelnd und fügte sofort hinzu: »Das würde er nie tun, das weiß ich. Er kann nicht ohne das Ding sein, das hat er mir selbst mal gesagt. Er muss immer erreichbar sein und vor allem seine Mails abrufen können.«

»Eine Volkskrankheit«, murrte Macintosh, der selbst ein Smartphone besaß, von dem Jack aber wusste, dass er es fast ausschließlich als Ersatz für einen Notizblock benutze.

»Es muss es nicht zwangsläufig ausgeschaltet haben«, erklärte Highsmith. »Der Akku kann beispielsweise leer sein.«

»Was allerdings bedeuten würde, dass Felix nicht mehr in der Lage war, ihn zu laden oder zu wechseln«, brummte Jack grübelnd. An den Inspektor gewandt, der bereits den Mund zu einem Kommentar geöffnet hatte, sagte er: »Das Ladekabel hatte er eingepackt. Alice hat es selbst gesehen!«

»Zudem setzt eine erfolgreich Ortung auch voraus, dass das Gerät Satellitenkontakt hat und sich in keinem Funkloch befindet«, fuhr Highsmith fort. »In den Highlands kann das allerdings durchaus passieren.«

Jack winkte ab. »Ach komm, Steve. Ihm muss etwas zugestoßen sein. Sonst hätte er schon auf irgendeine andere Art versucht, sich zu melden. Über ein Festnetztelefon zum Beispiel.«

»Das ist wohl wahr«, pflichtete Macintosh ihm überraschend bei. »Vierzehn Tage ohne ein Lebenszeichen sind eine lange Zeit.« Unausgesprochen im Raum standen seine Worte, dass Felix etwas zugestoßen sein musste. »Aber trotzdem müssen Sie den Kollegen da oben mehr Zeit geben. Ich kann nicht Scotland Yard in diese Angelegenheit einschalten, nur weil wir uns schon so lange kennen. Es fällt nicht in unseren Zuständigkeitsbereich. Das verstehen Sie doch?«

Jack nickte widerstrebend. Natürlich verstand er das, ebenso wie die Tatsache, dass er jeden Monat Steuern zahlen musste. Die Frage war, ob ihm das auch gefiel. Und die Sache mit Felix gefiel ihm ganz und gar nicht. Er spürte immer deutlicher, dass er hier nur seine Zeit vergeudete. Die Handyortung war negativ verlaufen und vom Inspektor konnte er wohl gerade nicht mehr erwarten. Er sah auf seine Uhr und stand auf. »Okay, dann mache ich mich mal wieder auf den Weg. Ich danke Ihnen trotzdem für Ihre Mühe.« Er reichte Macintosh die Hand.

»Keine Ursache. Für jeden anderen hätten wir sicher noch weniger tun können.«

Beim Herausgehen klopfte Jack Steven Highsmith freundschaftlich auf die Schulter.

»Halt die Ohren steif!«, flüsterte dieser und lächelte aufmunternd.

Jack hatte ihn bereits darüber ins Bild gesetzt, was er als nächsten Schritt unternehmen wollte. Er war schon fast aus der Tür, als Macintosh fragte:

»Nur aus reiner Neugier, Calhey - was haben Sie jetzt vor?«

Ein hintergründiges Grinsen. »Na, was denken Sie?«

Mit einem verstehenden, aber missbilligenden Gesichtsausdruck ließ sich der Inspektor wieder auf seinen Stuhl sinken. Er wusste genau, was das bei Jack Calhey für gewöhnlich bedeutete: Ärger.

Kurz, nachdem sein Kollege und er alleine waren, stand Macintosh wieder auf, trat vor das Fenster und starrte mit in die Hüften gestemmten Armen hinaus. Highsmith wollte gerade nach nebenan gehen, als der Inspektor sagte:

»Steve, bleiben Sie noch!«

Dieser machte kehrt und trat vor den Schreibtisch. Ein besorgter Blick traf ihn. »Ist noch was?«

»Ich habe das vor Calhey nicht erwähnt, aber irgendetwas Seltsames geht da oben vor.«

»Da oben?«

Macintosh seufzte. »In diesem Kaff. Gleann Sowieso. Der Kollege hat mir gesagt, dass dort vor kurzem zwei Menschen eines unnatürlichen Todes gestorben sind. Ein alter Mann und eine junge Frau.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Und beides passierte, nachdem Mister Calheys Freund dort aufgetaucht war.«

04 - Montag, 08. Oktober 199917:48 Uhr

Evie und ihre beste Freundin Lynn räumten das Spielbrett und die bunten Steine sorgsam wieder in die Schachtel.

»Wollen wir noch die Barbies neu frisieren?«, fragte Evie, während sie den flachen Karton, auf Zehenspitzen stehend, wieder an seinen Platz im Regal schob.

»Nein, es ist gleich sechs«, stellte Lynn mit einem Blick auf ihre rosafarbene Armbanduhr fest und stand vom Teppich auf. »Ich muss nach Hause. Wenn ich zu spät komme, gibt’s Ärger.«

Evie murrte enttäuscht. »Na, dann. Aber morgen nach der Schule machen wir wieder zusammen Hausaufgaben, oder?«

»Klar. Bei dir oder bei mir?«

»Ist mir egal.«

»Okay, dann bei mir. Immer abwechselnd, das ist fair!«

»Das ist fair«, wiederholte Evie und öffnete die Zimmertür. Der Geruch des Abendessens, der von der Küche über den Flur kroch, stieg ihr in die Nase. Sie gingen zur Garderobe, wo Lynn sich ihre Sandalen und die Strickjacke überzog.

Der Kopf von Evies Mutter erschien in der Küchentür. »Mach’s gut, Lynn!«, sagte sie freundlich winkend.

»Auf Wiedersehen, Mrs Marshall. Und danke für die Cookies, die waren echt lecker.«

»Mums Cookies sind die Besten!«, sagte Evie mit erhobenem Zeigefinger, woraufhin Lynn den Kopf schüttelte.

»Meine Mum macht mindestens genauso gute!«

Ihre beste Freundin zuckte mit den Schultern und öffnete Lynn die Wohnungstür. »Bis morgen dann. Denk dran, wir haben die ersten zwei Stunden Sport!«

»Ja, ich weiß. Bis morgen!«

Evie schloss die Tür und hüpfte zur Küche. »Wann gibt’s Essen?«, fragte sie ihre Mutter, die inzwischen wieder am Herd stand und in einer dampfenden Pfanne rührte.

»Wenn dein Vater kommt. Also um sieben«. Sie sah über ihre Schulter. »Habt ihr Spaß gehabt heute?«

Evie nickte eifrig. »Ja, wir haben ein paar Sachen aus der Spielesammlung gespielt. Ich hab fast bei allem gewonnen. Nur im Pferderennen war Lynn besser.«

»Ich freue mich, dass ihr zwei euch so gut versteht. Und, dass Lynn direkt im Nebenhaus wohnt, ist doch praktisch, oder?«

Evie nickte und rollte die Spitze der blauen Decke, die auf dem Esstisch lag, mit dem Finger auf. »Das ist toll. Und in der Schule sitzen wir nebeneinander.«

»Ich hatte schon Angst, dass dir der Sprung vom Kindergarten in die Grundschule Probleme machen würde. Aber du gehst doch gerne hin, wie’s aussieht«, stellte ihre Mutter fest und probierte etwas Soße vom Kochlöffel.

»Na ja, Schule geht so. Sport ist cool und Mathe. Aber sonst …«

»Na ja, es kann ja nicht alles immer gleich super sein«, relativierte ihre Mutter.

»Ich geh dann noch lesen, bis es Essen gibt, okay?«

»Okay.«

Evie ging zurück in ihr Kinderzimmer und schloss die Tür. Sie schnappte sich das Buch über den kleinen Vampir, das sie gerade erst zu lesen begonnen hatte und warf sich auf ihr Bett. Nachdem sie in der Schule lesen gelernt hatte, war es eines der ersten Bücher überhaupt, das sie las, das fast ausschließlich aus Text und nur wenigen Bildern bestand. Es war spannend; das Lesen können an sich und natürlich die Geschichte über den kleinen Vampir, der sich mit einem Menschenjungen anfreundet.

Evie lag auf dem Rücken, den Kopf auf ihr Kissen gestützt, und las ein paar Seiten. Dann ließ sie das Buch sinken und schaute aus dem Fenster. Es war bereits dunkel. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn tatsächlich plötzlich ein Vampir draußen auf dem Fenstersims säße. Ob sie Angst hätte? Nein, sicher nicht, wenn es so ein netter und witziger Vampir wäre, wie in dem Buch.

Ein Klopfen holte sie aus ihrem Tagtraum. »Ja?« Sie schaute zur Tür. Diese ging einen Spalt auf. Ihr Vater lugte hindurch und grinste.

»Na, meine Hübsche?«

Evie lachte freudig, klappte das Buch zu, sprang vom Bett und fiel ihrem Dad in die Arme. Sie liebte ihren Vater Andrew über alles. Er war gütig, fürsorglich und immer gut aufgelegt. Sie spielten zusammen, gingen in die Stadt oder ins Schwimmbad oder schauten gemeinsam Evies Videos mit den Zeichentrickfilmen und machten lustige Kommentare dazu.

In letzter Zeit allerdings, seit sie in die Schule ging und dort Lynn kennen gelernt hatte, verbrachte sie nicht mehr so viel Zeit mit ihm, wie früher. Evie empfand den Umgang mit einem Mädchen, das in ihrem Alter war, inzwischen als normaler. Und da ihr Dad keine Anzeichen von Enttäuschung oder Vernachlässigung zeigte, glaubte sie, dass ihm das auch nichts ausmachte.

Evies Verhältnis zu ihrer Mutter war da etwas schwieriger. Nicht, dass sie sie nicht ebenso sehr liebte. Aber ihre Mutter hatte Probleme, wie ihr Vater ihr einmal erklärt hatte; Probleme im Kopf. Er hatte auch ein Fremdwort gebraucht, das Evie nicht gekannt hatte: Depressionen. Was immer das war, es tat ihrer Mutter nicht gut, das wusste Evie und das merkte sie ihr auch an. Es hatte vor knapp zwei Jahren begonnen, eigentlich aus heiterem Himmel. Seit dieser Zeit wurde sie immer schnell müde, verlor leicht die Geduld und zog sich dann ins elterliche Schlafzimmer zurück. Manchmal, wenn ihr Vater nicht da war, hatte Evie an der Tür gelauscht und ihre Mutter weinen gehört. Bis ihr Dad sie über die Probleme ihrer Mutter aufgeklärt hatte, war sie noch in dem Glauben gewesen, dass sie selbst vielleicht etwas falsch gemacht hatte. Aber dem war nicht so gewesen. Ihre Mutter war krank. Wie, wenn man Masern bekam; nur eben komplizierter. Und man brauchte, um gesund zu werden, viel mehr Medizin. In dem kleinen Arzneischrank im Badezimmer standen viele Döschen mit kleinen, bunten Pillen. Sie nahm mehrere davon; morgens, mittags und abends.

»Wie war dein Tag?«, fragte Evies Vater, als er auf das Mädchen herab schaute, das ihre Arme um seine Hüfte geschlungen hatte. Er wuschelte ihr durch die langen dunkelbraunen Haare.

»Lustig. In der Schule haben wir ein Buchstabenquiz gemacht. Und Lynn und ich haben jeder drei Wörter erraten.«

»Toll. Du bist eine richtig große ABC-Schützin! Du verstehst dich gut mit Lynn, oder?«

»Ja, sie ist total lustig und macht immerzu Quatsch.«

»Lass dich aber nicht zu sehr davon anstecken, okay? Habt ihr zusammen Hausaufgaben gemacht?«

Sie nickte. »Ja. Und Mum hat kontrolliert.«

Evies Vater machte ein zufriedenes Gesicht.

»Morgen gehe ich zu Lynn nach Hause und wir machen da die Hausaufgaben. Mrs Glendale hat versprochen, dass sie sich auch alles anschaut.«

»Klingt doch super.« Die Zufriedenheit im Gesicht ihres Vaters wich plötzlich einer ernsten Miene. Er machte noch einen Schritt ins Kinderzimmer und schloss die Tür. Dann hob er Evie auf seine Arme. »Hör zu, bleibst du bitte noch einen Moment hier? Ich muss mit deiner Mum etwas Wichtiges besprechen.«

Evie sah ihn fragend an, sagte dann aber »Okay.«

Er setzte sie ab, tätschelte ihr den Kopf und verließ das Zimmer.

Sofort presste Evie ihr Ohr gegen die Tür. Diese Geheimniskrämerei, das konnte doch sicher nur mit ihrem Geburtstag im nächsten Monat zusammen hängen. Gebannt lauschte sie den Stimmen ihrer Eltern.

»Lois, wir müssen was besprechen«, sagte ihr Vater.

»Können wir das nach dem Essen machen, hm?«, fragte ihre Mutter, wenig begeistert.

»Nein, das kann nicht warten. Ich muss das jetzt loswerden.«

Evie gelangte zu der Erkenntnis, dass es wohl doch nicht um ihr Geburtstagsgeschenk ging.

»Ist was passiert?«, fragte ihre Mutter.

»Setz dich!«

»Aber ich muss den Tisch …«

»Setzt dich, bitte!«

Ein Stuhl wurde gerückt.

»Also, was ist es? Warum schaust du so ernst?«, fragte Evies Mutter.

»Mir ist heute gekündigt worden«, sagte ihr Vater gerade heraus.

Evie hielt sich die Hand vor den Mund. Oh, nein. Dad hat keine Arbeit mehr? Ihr Dad arbeitete in einem Verlag; er machte dort irgendwas mit Geld. Buchhalter hieß wohl der Job. Weiterhin lauschte sie dem Gespräch ihrer Eltern. Ihr Vater sagte etwas von Stellenabbau. Und dann hörte sie ein Schluchzen; es kam von ihrer Mutter.

»Bitte, reg dich nicht auf, Lois«, bat Evies Dad ruhig.

»Reg dich nicht auf? Natürlich rege ich mich auf! Wie sollen wir denn jetzt überleben? Wie sollen wir die Miete bezahlen? Du weißt, dass ich nicht arbeiten gehen kann!«

Evies Mutter hatte bis vor zwei Jahren, bis sie krank geworden war, halbtags als Verkäuferin in einem Juweliergeschäft gearbeitet. Aber dann war sie so traurig geworden und musste Tabletten nehmen. Seitdem war sie eigentlich immer Zuhause; bis auf die zwei Vormittage in der Woche, an denen sie zu einem Doktor ging, mit dem sie über ihre Krankheit sprach.

»Wir werden schon eine Lösung finden«, versuchte Evies Vater ihre Mutter zu beruhigen. »Ich werde die Stellenanzeigen wälzen, mich umhören und zum Jobcenter gehen.«

»Das ist doch alles sinnlos«, wimmerte die Mutter. »Wir werden auf der Straße sitzen! Mit einem siebenjährigen Kind!«