Aufgeputscht - Horst Eckert - E-Book
SONDERANGEBOT

Aufgeputscht E-Book

Eckert Horst

0,0
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 0,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Zwischen Machtkämpfen, Sucht und Korruption: Der fesselnde Polizei-Thriller »Aufgeputscht« von Bestseller-Autor Horst Eckert jetzt als eBook bei dotbooks. Als der ehrgeizige Kommissar Thann von Kripochef Sonntag den Auftrag bekommt, seine Kollegen genau unter die Lupe zu nehmen, weiß er genau, dass ihn dies nur ins Unglück stürzen kann: Die meisten Ermittler der Kripo haben alles andere als eine reine Weste. Da ist zum einen Rolf Nowak, dessen dunkle Vergangenheit ihn leicht den Job kosten könnte. Auch Ben Engel, der sich mit fragwürdigen Geschäften regelmäßig etwas dazuverdient, bewegt sich auf dünnem Eis. Während die Stimmung im Dezernat zum Reißen gespannt ist, bricht auch in der Düsseldorfer Unterwelt die Hölle los, als zwei der größten Drogenbarone der Stadt auf bestialische Weise ermordet werden. Gegen ihren Willen müssen Thann, Nowak und Engel zusammenarbeiten, um den Täter hinter Gitter zu bringen … »Ein hervorragender Roman mit interessanten Persönlichkeiten, gutem Plot und packender Handlung.« Buchreport Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Kriminalroman »Aufgeputscht von Horst Eckert ist Band 3 der fesselnden Thriller-Serie »Kripo Düsseldorf ermittelt«. Alle Romane können unabhängig voneinander gelesen werden. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 546

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch:

Als der ehrgeizige Kommissar Thann von Kripochef Sonntag den Auftrag bekommt, seine Kollegen genau unter die Lupe zu nehmen, weiß er genau, dass ihn dies nur ins Unglück stürzen kann: Die meisten Ermittler der Kripo haben alles andere als eine reine Weste. Da ist zum einen Rolf Nowak, dessen dunkle Vergangenheit ihn leicht den Job kosten könnte. Auch Ben Engel, der sich mit fragwürdigen Geschäften regelmäßig etwas dazuverdient, bewegt sich auf dünnem Eis. Während die Stimmung im Dezernat zum Reißen gespannt ist, bricht auch in der Düsseldorfer Unterwelt die Hölle los, als zwei der größten Drogenbarone der Stadt auf bestialische Weise ermordet werden. Gegen ihren Willen müssen Thann, Nowak und Engel zusammenarbeiten, um den Täter hinter Gitter zu bringen …

Über den Autor:

Horst Eckert wurde 1959 in Weiden in der Oberpfalz geboren. Er studierte Politikwissenschaften in Erlangen und Berlin. 15 Jahre lang arbeite er als Fernsehreporter für verschiedene Sendungen, unter anderem bei der Tagesschau. Heute ist Horst Eckert freiberuflicher Schriftsteller: Für »Die Zwillingsfalle« erhielt der Autor den renommierten Friedrich-Glauser Preis. Der Autor lebt heute in Düsseldorf.

Von Horst Eckert erscheint bei dotbooks die Thriller-Reihe »Kripo Düsseldorf ermittelt« mit den Einzelbänden:

»Annas Erbe«, »Bittere Delikatessen«, »Aufgeputscht«, »Finstere Seelen«, »Die Zwillingsfalle«, »Ausgezählt«, »Purpurland«, »617 Grad Celsius« und »Königsallee«.

Die Website des Autors: www.horsteckert.de/

***

eBook-Neuausgabe April 2022

Copyright © der Originalausgabe 1997 by GRAFIT Verlag GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Kristin Pang, unter Verwendung eines Motivs von Cara-Foto / shutterstock.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ah)

ISBN 978-3-98690-199-8

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Aufgeputscht« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.instagram.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Horst Eckert

Aufgeputscht

Thriller

dotbooks.

Danksagung

Ohne kritische Begleitung und Anregungen durch zahlreiche Freunde wäre dieser Roman nicht zu dem geworden, was er ist. Mein Dank gilt allen Tipgebern und Beratern aus Polizeibehörden und der »Szene« sowie zahlreichen Helfern in Fachfragen, ob in musikalischer oder medizinischer Hinsicht.

Allen voran danke ich meiner Frau und meinem Bruder.

PROLOG

Das Tageslicht schmerzte, als Nicole die Augen aufschlug. Zwölf Uhr, sagte die grün leuchtende Anzeige des Videorecorders. Toto mußte mitbekommen haben, daß Nicole wach geworden war. Schwanzwedelnd und leise japsend, jagte er zwischen ihr und dem Flur hin und her. Aus dem Nebenraum drang ein Stöhnen.

Nicole schälte sich aus dem Schlafsack. Ihr T-Shirt war naßgeschwitzt, und sie fühlte sich, als habe sie Muskelkater in jeder Faser ihres Körpers. Unter dem Tisch fand sie ihren Pullover. Er stank und war voller Hundehaare, aber daran hatte sich Nicole gewöhnt. Schlimmer waren die Schmerzen, zu denen jetzt ein Zittern kam.

Toto sah sie an, legte den Kopf schief und winselte. Das Vieh mußte auf die Straße, aber Herbie und Trixi, die dafür zuständig waren, kümmerten sich nicht darum. Die dachten immer nur an das eine.

In einer der versifften Tassen auf dem Küchentisch fand Nicole einen Rest Kaffee von gestern. Eßlöffelweise schaufelte sie Zucker hinein. Energie – so konnte sie auf die Ausgaben für Essen verzichten. Der letzte Schluck war süßer Brei. Sonst gab es nichts an Genießbarem: Der grüne Schimmelfleck auf dem angeschnittenen Brotlaib war seit gestern noch weiter aufgeblüht.

In Herbies Jacke fand Nicole statt Geld nur ein halbvolles Päckchen Tabak, das sie in ihre Jeanstasche schob – der Preis dafür, daß der Typ sie gestern angefaßt hatte, als Trixi weg war zum Amt. Widerlich. Für einen Moment hatte Nicole daran gedacht, ihre Penntüte zu nehmen und abzuhauen. Aber was blieb ihr übrig? Sich am Büdchen einen einsamen Opa anlachen? Der würde es nicht beim Grabschen belassen. Platte machen? Jetzt, wo es trotz des Frühlingsanfangs immer noch Frost geben konnte? Hier war es warm, das Sozialamt zahlte für Herbie und Trixi die Miete, und immerhin hatte Nicole den geklauten Videorecorder dafür hergegeben, daß sie auf dem Küchenboden ihren Schlafsack ausbreiten durfte.

In das Stöhnen mischte sich jetzt ein tiefes, langgezogenes Grunzen. Türen gab es nicht – das Pärchen hatte sie bis auf die Wohnungstür an den Bosnier verkauft, der manchmal zum Kartenspielen kam. Genauso die Lampenschirme, den Badezimmerspiegel und die Waschmaschine, die das Sozialamt spendiert hatte. Nicole schlich in das Zimmer der beiden – irgendwo im Chaos zwischen Bierdosen und Tellern voller Kippen lag ihre Bomberjacke. Sie wollte nicht stören, doch der Köter fegte hechelnd um ihre Beine und jaulte.

»Ey, bring Kohle mit, wenn du wiederkommst«, sagte Trixi heiser und ein wenig stockend, während Herbie unter der Bettdecke schwer atmend weitermachte. »Für deine vierzehn Jahre frißt du nicht wenig. Denk dran, ey, Haushaltsgeld.«

Nicole machte, daß sie rauskam. Sogar beim Liebemachen dachte die Alte nur an Kohle. Ekelhaft. Mit einem Tritt hinderte Nicole den Hund daran, ihr hinterherzulaufen, und knallte die Wohnungstür ins Schloß. Sollte Toto den beiden doch aufs Bett pinkeln, wenn sie ihn nicht Gassi führten. Nicole checkte die Jackentaschen: Spritze, Löffel, Feuerzeug – alles war noch da.

Ein kalter Ostwind blähte ihre Jacke auf, und Nicole preßte sich in einen Hauseingang, um sich eine Zigarette zu drehen. Die besten Schnorrplätze auf der Kö und der Schadowstraße waren von den Edelbettlern mit Leierkasten und Flohzirkus belegt. Ohne einen Pfennig in der Tasche suchte sie die Punks vor dem Carsch-Haus auf, doch die waren selbst auf Turkey und hatten keinen Schuß übrig. Mit der U-Bahn fuhr sie zum Hauptbahnhof, doch keiner der Dealer gab ihr etwas umsonst, so sehr sie auch auf kleines Mädchen machte: heulend und flehend. Inzwischen tat ihr jede Bewegung weh, die Kälte ließ sie schlottern. Sie wärmte sich für ein paar Minuten in der Bahnhofsmission auf, wo eine Frau ihr einen Apfel schenkte. Beim Hinausgehen ließ Nicole ihn in einem Papierkorb verschwinden – von dem Ding würde sie nur Zahnfleischbluten bekommen. Außerdem steckte die Schale sicher voller krebserregender Chemie.

Vor der Fassade der Stadtbibliothek kauerten ein paar Leute aus ihrer alten Gang im Schutz des Vordachs auf Decken und stinkenden Matratzen. Atze schlief, er sah gar nicht gut aus, und seine Freundin Carola, die zum zweiten Mal schwanger war, heulte, als Nicole sie ansprach. Blümchen hatte sich gerade die Pumpe angesetzt. Als er fertig war, schenkte er Nicole im Tausch gegen eine Selbstgedrehte seinen gebrauchten Filter. Let the end begin, stand auf Blümchens Sweatshirt.

Da sie wegen ihres Alters Angst vor den Bullen hatte, ging sie zurück zum Bahnhof und schloß sich auf dem Klo ein. Früher war sie zum Drücken auf die saubere Toilette der Stadtbibliothek gegangen, doch im blauen Licht, das sie vor zwei Wochen installiert hatten, konnte kein Junkie mehr seine Venen finden. Für die Normalos waren Menschen wie sie Abschaum, dachte Nicole bitter. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie die alte Gang vom Bertha-von-Suttner-Platz verjagen würden.

Der geflieste Boden des Bahnhofsklos war dreckverschmiert, aus der Kabine nebenan drang ein rasselnder Husten. Nicole drückte die Spülung, schöpfte Wasser aus der Kloschüssel und kochte mit der Flamme ihres Feuerzeugs Blümchens Filter, einen kleinen, bräunlich verfärbten Wattebausch, in ihrem Löffel auf.

Die Brühe, die sie sich in eine Armvene drückte, war viel zu dünn: Sie spürte kaum einen Flash.

Auf dem Konrad-Adenauer-Platz klönten zwei Bullen in Zivil mit einer Gruppe türkischer Dealer. Nicole machte einen großen Bogen und stieg in die Straßenbahn Nummer 708. Die Drogenlinie, so nannte sie die Zeitung. Ein Schwarzer lachte Nicole an und zeigte ein winziges Stanniol-Pac, das ihr wie die Verheißung des Paradieses auf Erden erschien. Doch als sie ihm klarmachte, daß sie nicht zahlen konnte, ließ auch er das Pac wieder verschwinden. Zwei Stationen weiter stieg Nicole aus.

Es dämmerte bereits. Ihre letzte Hoffnung war die Charlottenstraße. Vor dem Sexshop stand Chrissie, die damals in Iserlohn in die gleiche Penne gegangen war, zwei Klassen über Nicole. Das ausgemergelte Mädchen mit den strähnigen Haaren hatte noch keinen Freier gemacht und war völlig abgebrannt. Sie quatschten über Chrissies Lieblingsthema, den Nuttenmörder von Berlin, als ihnen ein weißer Volvo-Kombi auffiel: Der Fahrer kreiste dreimal um den Block, bis er sich endlich entschließen konnte.

Chrissie schob ihre dürren Glieder auf den Beifahrersitz. »Ich schreib die Nummer auf und warte auf dich«, rief Nicole hinterher. Doch sie hatte nichts zum Schreiben dabei, und nach einiger Zeit stellte sie fest, daß sie die Nummer vergessen hatte.

Der Turkey wurde immer heftiger. Nicole fischte einen gebrauchten Plastikbecher aus dem Papierkorb neben dem Imbißstand und begann wieder zu schnorren. Die Leute kotzten sie an: nichts als arme Nutten, schmierige Freier, Bullen, die es umsonst bekommen wollten, und Fixer, die noch kaputter waren als Nicole. Als Chrissie nach neunzig Minuten endlich auftauchte, lagen vier Mark fünfzig in Nicoles Becher – und ein Zehnlirestück, das irgendein Witzbold hineingeworfen hatte.

»Wieviel hast du?« fragte Nicole.

»Fünfzig«, antwortete ihre Freundin.

»Nicht mehr?«

»Kannst ja selber anschaffen. Dann merkst du, wie scheiße das läuft. Wenn du wüßtest, was der Typ auch noch alles dafür wollte.«

Chrissie war sauer und selbst ganz kribbelig, doch von dem Viertelgramm-Pac, das sie gegen den braunen Schein eintauschte, zweigte sie eine Prise für Nicole ab.

In einem Hauseingang kochten sie ihr Dope mit Spucke auf. Nicole setzte sich die Pumpe zwischen zwei Abszesse an der linken Armbeuge. Sie saugte etwas Blut aus der Vene an, dann drückte sie die rosa Sauce langsam in den Kreislauf – auch dieser Schuß brachte nicht viel. Der Stoff war viel zu oft gestreckt worden.

Chrissie hatte keine Lust, weiter für zwei anzuschaffen. Nicole schlug den Kragen ihrer Jacke hoch und tappte weiter. Nieselregen hatte eingesetzt.

Es war kurz nach halb zehn. Auf der Straße stand eine Gruppe Araber und pfiff Nicole hinterher. Sie jammerte ihnen etwas von ihrem Turkey vor – die jungen Männer begannen, sie zu betatschen. Einer versprach ihr fünf Mark für einen Zungenkuß. Sein Dreitagebart kratzte, und der Typ ließ sich Zeit. Nicole entdeckte eine Rolex an seinem Handgelenk und verfluchte, daß sie nicht so geschickt im Klauen war wie Blümchen oder Atze aus der Gang hinterm Bahnhof.

Ein zweiter Araber bot ihr ein halbes Gramm, falls sie mit ihm nach Hause ginge, doch Nicole lehnte ab.

»Verpiß dich, du Drecksnutte!« zischte der Schwarzhaarige. Als Nicole ihre fünf Mark einforderte, erntete sie nur Gelächter und weitere Schimpfworte.

Nicole erreichte die Immermannstraße. Sie schlang die Arme um ihren zitternden Leib und lehnte sich gegen das Schaufenster eines japanischen Lebensmittelladens, der längst geschlossen hatte – die Münzen klapperten im Becher. Vielleicht hätte sie das Angebot des Arabers nicht ablehnen sollen, dachte sie.

Sie brüllte los – kein Arsch drehte sich um. Dreimal nahm sie Anlauf, eine Zigarette zu drehen: Sie konnte das Papier nicht ruhig halten und verlor den Tabak.

Ein Typ kam die Straße entlang – ganz automatisch streckte Nicole ihm den Becher hin. Er war noch keine dreißig, und in seinem hellen Anzug unter dem legeren schwarzen Mantel sah er nach Geld aus.

»’ne Mark für was zu Essen?«

»Hey, Kleines! Bist du so fertig oder tust du nur so, als ob du mich nicht kennst?«

»Pit?«

Er grinste breit und strich ihr übers Haar. »Na, endlich.«

»Ich brauch ’nen Schuß. Hast du was?« fragte Nicole ungeduldig – ernsthaft glaubte sie nicht daran. Pit hatte irgend etwas mit Musik zu tun. Sie hatten sich in einer Disco kennengelernt, und sie hatte ihn ein paarmal in seinem Plattenladen besucht. Das war, als sie noch nicht an der Nadel hing, vor vielleicht einem halben Jahr – einer Ewigkeit. Sie hatten gemeinsam Pillen genommen und waren zu Jungle-Klängen kichernd durch den Laden geflogen. Ihr erster Trip – kein schlechter. Dann war er zärtlich geworden, aber als sie sagte, daß sie nicht wolle, hatte er das respektiert. Trotz seiner Pillen war er im Kern ein Spießer, den an Designerdrogen vor allem eins faszinierte: daß man damit mehr Kohle machen konnte als mit Platten.

Er machte große Augen. »Mensch, Mädchen, ich kann’s gar nicht glauben.«

»Dann gib mir wenigstens Geld.«

Irgendwo waren Schritte, Pit sah sich um. »Du mußt runter von dem Zeug, Kleines. Du bist zu jung für die Nadel.«

»Deine Belehrungen kannst du dir an die Backe nageln.« Für die Nadel war jeder zu jung oder keiner.

»Du zitterst. Bist du krank?«

»Hau ab, du nervst.«

»Ich könnte dir Kodein besorgen.«

So ein Quatsch. Mit Hustensaft konnte man allenfalls ein paar schlimme Stunden überbrücken. Ein Ersatz war das nicht. Sie wandte sich zum Gehen.

»Ich will dir doch nur helfen, Kleines.«

»Ich weiß genau, was du willst.« Sie strauchelte und konnte sich gerade noch fangen. Sie wehrte Pits Arm ab, der ihr zu Hilfe kommen wollte, und schlurfte weiter.

»Willst du runter von der Nadel, oder nicht?« fragte Pit, neben ihr herlaufend.

Sie blieb stehen. »Rate mal.« Ihre Geste war zu heftig: Die Münzen landeten im Rinnstein. Pit bückte sich. Er machte sich die Finger schmutzig, sein Mantel hing im Dreck – und das für lumpige vier Mark und fünf Groschen.

»Du kannst vorübergehend bei mir wohnen«, sagte er mit einem Blick über die Schulter. »Wir machen eine Kur mit Kodein oder Methadon. Ich komm da ran. Ich hab das schon einmal gemacht, für einen Freund. Wenn du wieder fit bist, besorg ich dir einen Job. Mein Freund ist jetzt Tontechniker und mischt die heißesten Platten ab. Du kannst es genauso schaffen. Du mußt nur wollen.«

»Du bist doch selbst ein alter Drogenheini.«

»Meine Pillen sind etwas ganz anderes. Die hast du im Griff und nicht umgekehrt. Die erweitern das Bewußtsein und bringen dir Kraft. H lullt dich doch nur ein. Du mußt teilhaben am Universum, nicht abschalten. Peace and harmony heißt die Parole.«

Sie wog ab: Pits Gesülze gegen Herbies Gegrabsche. »Und die Gegenleistung?« Niemand gab ihr etwas umsonst. Niemand außer Chrissie.

»Nichts. Die Kosten für die Kur und die Miete behalte ich vom Lohn ein, später, wenn du arbeitest. Ich hab ’ne Idee. Ich bring dir bei, wie man Cocktails mixt.«

Tolle Aussicht: Thekensklave in einer Technodisco. Wahrscheinlich würde sie seine Bewußtseinspillen verkaufen müssen. Aber das Wort Kodein gab den Ausschlag – ausbüchsen konnte sie immer noch. »Okay. Ich muß nur rasch meine Sachen holen. Wo wohnst du?«

»Äh – so schnell geht es nicht.«

»Was soll das jetzt bedeuten?«

»Ich muß für ein paar Tage weg. Ins Ausland. Neue Geschäfte auftun. Samstag in einer Woche bin ich wieder zurück. Dann kannst du zu mir kommen.«

»Und bis dahin?«

»Okay, ich kann dir schon mal was geben. Vorausgesetzt, du wirst wirklich für mich arbeiten. Versprochen?«

»Klar. Kann ich nicht schon mal bei dir einziehen? Ich kann die Wohnung hüten, solange du weg bist.«

Ein Geräusch ließ Pit zusammenfahren. »Das geht leider nicht. Ein, äh, Verwandter wohnt in der Zeit da.« Nicole sah ihm an, daß er log. Für Pit war sie ein Sicherheitsrisiko. Wahrscheinlich glaubte er, sie würde alles ausräumen, was sich zu Geld machen ließ – zu recht.

»Ich hab aber meine Entzugserscheinungen jetzt, ey!«

»Komm mit, ich hab ein paar Beruhigungsmittel im Auto. Du kannst die Kur schon mal beginnen und bist sauber, wenn ich zurückkomme.« Er nahm Nicoles Arm und setzte sich in Bewegung.

Auf einmal waren es nur Beruhigungspillen – Medis im Szenejargon. Keine Rede mehr von Kodein. Vielleicht waren es genügend Tabletten, um dafür einen anständigen Schuß einzutauschen. Ein Auto rauschte vorbei.

»Was ist eigentlich mit dir los?« fragte Nicole. »Du machst mich total fertig mit deinem Umgegucke.«

Pit lachte – nervös.

Sie spürte, daß da nichts Spaßiges war. »Bist du auf der Flucht, oder was?«

»Unsinn. Da sind nur, ich meine, da gibt es ein paar Leute, denen ich im Moment lieber nicht begegnen würde. Geschäftspartner. Mißverständnisse. Ich regel das, wenn ich zurück bin. Im Grunde kein Problem.«

Nicole hatte davon gehört, daß Ecstasy im Übermaß Paranoia auslösen konnte. Von wegen Kraft und Teilhabe am Universum. »Ist es noch weit?« fragte sie.

»Mein Porsche steht gleich um die Ecke im Parkhaus.«

Pit verschwand in der Einfahrt. Sie folgte dem Knirschen seiner eleganten Halbschuhe. Der Geruch von Auspuffgasen hing unter der niedrigen Betondecke. Nicole mußte an den Nuttenmörder von Berlin denken, an Chrissies Horrormärchen. Wieso war hier keine richtige Beleuchtung?

Sie ertappte sich dabei, wie sie selbst nach fremden Schritten lauschte – und vernahm tatsächlich ein leises Echo, das ihnen folgte. Ihr wurde unheimlich zumute. Das alles wegen ein paar Tranquilizern und der vagen Aussicht auf Pits Hilfe.

Plötzlich flammte keine zwanzig Meter vor ihr ein Scheinwerferpaar auf. Wie ein Reh an der Autobahn erstarrte die Vierzehnjährige. Sie sah zu, wie ein Lederjackentyp aus einem schwarzen Mercedes sprang, Pit mit gezogener Pistole stoppte und zum Einsteigen aufforderte. Eine weitere Person saß hinterm Steuer.

Nicole erschrak und wich in den Schatten zwischen zwei parkende Autos zurück. Sie hatte keine Lust, in den Film hineingezogen zu werden, der vor ihr ablief.

Pit sträubte sich und rief: »Wir können doch über alles noch einmal reden!«

Der Mann in der Lederjacke holte mit der Pistole aus. Pit riß die Arme hoch, doch der Griff traf den Kopf. Pit taumelte. Der Fremde trat ihm mit dem Knie in den Leib und schlug ein zweites Mal mit der Pistole zu. Pit stöhnte und sackte gegen das Auto.

Nicole sank zitternd auf den ölverschmierten Boden nieder. Ihr Blick verschwamm. Mit Mühe konnte sie verfolgen, wie der Fremde den reglosen Körper auf den Beifahrersitz hievte und festschnallte – von innen half der Fahrer. Dann hielt der Lederjackentyp inne und sah sich um.

Nicoles Zähne klapperten, sie duckte sich gegen einen Kotflügel.

Langsam kam der Mann näher, zwischen die Fahrzeugreihen spähend.

Ein Scharren zerriß die Stille: Eine Gestalt löste sich von den Autosilhouetten und rannte Richtung Ausfahrt. Etwas Metallisches fiel zu Boden, die Schritte tappten weiter und verschwanden nach draußen.

Der Unheimliche sah ein, daß der Vorsprung des anderen zu groß war. Mitten im Lampenstrahl seines Autos blieb er stehen – Nicole hätte ihn fast berühren können. Sie biß die Kiefer aufeinander und zwang sich, nicht zu atmen. Ein gemeines Gesicht, fand sie und wünschte sich, daß alles nur ein Traum sei, ein übler Trip.

Aus dem Mercedes kam ein Ächzen, und der Gemeine lief zurück. Nicole sah im Schimmer der Innenbeleuchtung, wie sich Pit bewegte. Die Türen schlossen mit einem satten Plopp, der Motor heulte auf.

Die Reifen quietschten kurz, als fühlten sie einen überraschenden Schmerz, und für einen Moment hüllten die Scheinwerfer das Mädchen in blendendes Weiß. Nicole schloß die Augen. Dann war das große, dunkle Auto verschwunden, nichts als eine Abgasfahne zurücklassend.

Mist, dachte die Vierzehnjährige und ließ sich kraftlos zu Boden gleiten. Gleich war es Mitternacht, und sie brauchte einen Schuß, der sie über den Berg brachte. Pits Beruhigungsmittel konnte sie vergessen. Der Reifen, an dem sie lehnte, stank. Der kalte Betonboden ließ sie schlottern.

Sie nahm ihre Kräfte zusammen und wankte zur Ausfahrt. Ihr Fuß stieß gegen das Kästchen, das der Typ, der ihnen nachgeschlichen war, beim Weglaufen verloren hatte: ein Walkman. Sie drückte die Play-Taste, und es knirschte. Das Laufwerk begann zu arbeiten.

Nicole steckte die Stöpsel in die Ohren. Sie hörte das Knurren eines großen Hundes und fuhr zusammen. Sie sah sich um: Das einzige Lebewesen in diesem Parkdeck war sie. Das Knurren kam vom Band.

Ein zweiter Köter stimmte ein: ein schnelles, heiseres Kläffen von einer Aggressivität, die Nicole schaudern ließ. Eine ganze Meute antwortete. Von rechts, von links, aus unmittelbarer Nähe und von weiter weg zugleich. Sie stand mitten in einem Rudel abscheulicher Bestien, die nur auf ein Kommando warteten, um auf sie loszustürzen.

Endlich fand sie den Knopf, der die Kassette anhielt. Ihr Herz raste.

Sie riß sich die Stöpsel angewidert vom Kopf und wollte den Walkman auf den Boden schleudern, als ihr einfiel, daß er ein Geschenk des Himmels war: Sie konnte das Gerät eintauschen – auch wenn man sie übers Ohr hauen würde, sprang sicher ein ordentlicher Schuß dabei heraus. Sie würde den Turkey um mindestens zehn Stunden aufschieben können.

Das Leben kotzte sie an.

Teil IPARANOIA

Samstag, 30. März. Blitz, Lokalteil:

HILFE! DROGENWELLE ÜBERROLLT

DÜSSELDORF

Von Alex Vogel.

Wie können Eltern ihre Kinder noch vor harten Drogen bewahren? Eine tödliche Welle bricht über die Stadt herein. Kripo und Zoll sind hilflos. Zwar wurden am Niederrhein im letzten Jahr mehr Dealer festgenommen denn je (6852) und mehr Rauschgift sichergestellt als im Jahr zuvor. Doch die Beamten hinken der dramatischen Entwicklung nur hinterher. Die Zahl der Kuriere explodiert. Ein Zollfahnder: »Die Dämme brechen.« Die Bilanz des letzten Jahres: 118 Kilo Kokain und 136 Kilo Heroin beschlagnahmt, Zunahme um 248 Prozent. Eine Rauschgiftwelle schwappt auf die Landeshauptstadt zu. Hauptkommissar Fröhlich, oberster Drogenfahnder der Düsseldorfer Kripo: »Die Stadt hat eine magnetische Anziehungskraft. Immer stärker drängen Türken und Nordafrikaner ins Geschäft.« Die weichen Drogen werden von den harten verdrängt. Dazu zählt die Polizei auch die lange als Glückspille verharmloste Designerdroge Ecstasy. Was Fachleute besonders beunruhigt: Das Geschäft wird immer brutaler, im Konkurrenzkampf schrecken Dealer vor nichts zurück. Mordermittler Kriminaloberkommissar Benedikt Engel: »Von zehn Tötungsdelikten geht eins aufs Konto der Rauschgiftbanden.«

Kapitel 1

Er hörte das Rascheln und Knacken ganz deutlich und hatte keinen Zweifel mehr. Die Schritte des Verfolgers kamen aus Richtung der schiefgewachsenen Birkenzwillinge genau auf ihn zu. Und sein Gegner hetzte nicht mehr blindlings durchs Dickicht, sondern ging zielstrebig, als könne er die Spuren lesen, die Yannick bei seiner Flucht hinterlassen hatte.

Yannick duckte sich noch tiefer unter den blattlosen Strauch und verfluchte die knallrote Farbe seines Anoraks. Blöde Signalfarbe. Beim Überqueren einer Straße hatte sie vielleicht Sinn, aber hier war sie verhängnisvoll. Er sah auf den Colt in seiner Hand und zitterte, mehr noch wegen der Kälte als vor Angst. Seine Finger waren fast starr. Sicher würde der andere ihn erledigen, bevor Yannick auch nur abdrücken konnte. Ein idiotisches Spiel, auf das er sich eingelassen hatte.

Jetzt war sein Verfolger höchstens noch zwanzig Meter entfernt, schätzte Yannick. Er verwarf den Impuls, einfach die Augen zu schließen und das Schicksal über sich ergehen zu lassen. Vielleicht, ja, vielleicht war das noch nicht das Ende. Wieder musterte er die Mauer aus Gestrüpp und Stacheln zu seiner Rechten. War da nicht ein Durchschlupf hinter den Brennesseln, rund dreißig Zentimeter Luft zwischen der schlammigen Erde und den Dornen?

Als hinter ihm ein toter Ast knackte, wußte Yannick, daß er keine andere Wahl hatte.

Er warf sich in die Brennesseln und robbte, die Finger fest um den Colt geklammert, unter der wilden Brombeerhecke durch. Er ignorierte die Kratzer an seinen Händen. Er achtete nicht auf das Rascheln, das er verursachte.

»Halt!« rief sein Verfolger. »Ich seh dich!«

Weiter. Das Gestrüpp schien kein Ende zu haben, der Durchschlupf wurde immer enger. Yannick kämpfte, riß sich von den Stacheln los, die sich in seinen Anorak krallten, grub sich mit letzter Kraft unter die Hecke. Endlich konnte er sich ins Freie schieben. Er keuchte und spürte, wie sein durchschwitztes T-Shirt am Leib klebte.

»Hey!« schrie die Stimme des Gegners von der anderen Seite. Ein Schuß knallte hinterher.

Yannick rappelte sich auf. Auf dieser Seite war das Unterholz nicht ganz so dicht. Er lief los, ohne sich umzusehen.

Ein zweiter Schuß, Yannick schlug einen Haken. Er hatte nicht viel gewonnen. Sein Gegner konnte um das Gestrüpp herumlaufen und ihm den Weg abschneiden. Yannick wußte, daß der andere schneller war. Größer und stärker.

Unmittelbar vor ihm war plötzlich ein lautes Flattern. Yannick erschrak und schimpfte sich gleich darauf einen Angsthasen. Es war nur eine blöde Krähe, die er aufgescheucht hatte. Er blieb stehen und lauschte – nichts, nur das Plätschern des nahen Bachs. Vielleicht tat der andere gerade das gleiche – peilte nach ihm, nach dem Opfer.

Yannick verwarf zum x-ten Mal den Gedanken, sich bis ans Ende des Unterholzes durchzuschlagen, übers Feld zu fliehen und bei den Neubauten des Altenheims dahinter Zuflucht zu suchen. Der andere würde ihn mit Sicherheit einholen. Statt dessen zog Yannick den Anorak aus und breitete ihn über einen Strauch. Ein Trick, mit dem er wertvolle Sekunden zu gewinnen hoffte.

Los, den Hang hinunter zum Bach, wo das Gestrüpp wieder dichter sein würde. Er brauchte ein Versteck, doch er konnte nichts finden. Zu wenige dicke Stämme, kein Laub an den Zweigen. Er fror wieder – schlimmer als zuvor.

Als er einen Aufschrei hörte, wußte Yannick, daß sein Gegner schneller als erwartet die rote Jacke erreicht hatte. Zitternd kauerte sich Yannick nieder, machte sich klein. Um ihn herum bedeckten Massen grauer, welker Blätter den Boden. Sie hatten den Effekt von Alarmsirenen, wenn man drauftrat.

Und genau dieses Rascheln hörte er jetzt näherkommen. Die Schritte hatten den Rhythmus seines eigenen Herzschlags. Yannick sprang auf, nahm Anlauf und setzte über den Bach, rutschte aus, holte sich nasse Füße und schlammverschmierte Knie, hastete weiter, quer durch hohes Gras und Brennesseln, doch schon nach wenigen Sätzen stolperte er über ein Hindernis und schlug hin.

Blitzschnell kam er wieder auf die Beine, bückte sich nach dem Colt und wollte zu einem neuen Spurt ansetzen, doch etwas veranlaßte ihn, sich umzusehen.

Yannick fuhr zusammen. Er sah einen glänzenden, schwarzen Mantel und erkannte den Körper einer Person, die sich eng an den Boden preßte und ihn lauernd ansah. Hatte sein Gegner einen Komplizen?

Friß Blei, Mann!

Yannick riß seinen Revolver hoch, nahm die Linke zu Hilfe und feuerte panisch die gesamte Trommel leer.

Hau ab, befahl seine innere Stimme, doch Yannicks Beine gehorchten nicht mehr. Er vergaß seinen Verfolger, dachte nicht daran, nachzuladen oder sich umzusehen. Er starrte auf den Mann, der vor ihm lag.

Das Gesicht bestand nur noch aus Fetzen und Knochen. Der Mann war tot, kein Zweifel. Ein schauriger Gedanke jagte durch seinen Kopf: Ich habe einen Erwachsenen erschossen. Der Spielzeugrevolver entglitt Yannicks klammen Fingern.

Sein Bruder hatte ihn endlich eingeholt und legte einen Arm um Yannicks Schultern. Dem Kleinen wurde klar, daß er es nie im Leben schaffen würde, sich auch nur für eine Viertelstunde vor Marvin in diesem blöden Wäldchen zu verstecken.

Yannick nieste und begann zu schluchzen. Er hatte schon wieder verloren, und die Klamotten, die Mutti ihm erst vor einer Woche gekauft hatte, waren völlig verdreckt. Und vor ihm lag ein häßlicher, toter Mann. Das würde Ärger geben.

Doch Marvin war offensichtlich anderer Meinung.

»Cool, ey«, sagte der ältere Bruder. »Eine echte Leiche. XY ungelöst! Ey, Yannick, du hast ’ne Leiche entdeckt. Du kommst garantiert ins Fernsehen!«

Kapitel 2

Schneeregen hatte eingesetzt, und als Nowak durch die schiefen Lamellen der Jalousie hinunter auf die Straße sah, erschien ihm die Stadt grauer denn je zuvor in dem langen Winter, der nach dem Kalender seit einer Woche zu Ende sein sollte.

Vor dem Tapetenladen auf der gegenüberliegenden Seite kauerte ein Penner, dicht gegen die Hauswand gedrückt. Sein Kopf war auf die Brust gesunken, und sein struppiges Haar glänzte vor Nässe. Der Filzhut vor ihm bettete nur die wenigen Münzen, die der Penner selbst vor einer Stunde hineingelegt hatte – die Passanten ignorierten die Gestalt.

»Jetzt machen sie sich auch schon in dieser Gegend breit«, stellte der Reporter fest, der neben Nowak am Fenster stand. Mit den Fingern mußten sie die vergilbten Plastikstreifen auseinanderdrücken, aber solange sie kein Licht machten, würde dort unten keiner auf sie aufmerksam werden.

»Wahrscheinlich ist auf der Kö die Konkurrenz zu groß geworden.«

Rolf Nowak zog die Mundwinkel nach unten. »Sieht fast so aus«, erwiderte er. »Manni, hast du mal ’ne Zigarette für mich?« rief er nach hinten, wo im Halbdunkel sein Kollege Manfred Bönte auf dem einzigen Stuhl des Hotelzimmers kauerte und gelangweilt mit dem Schlüsselbund die Fingernägel reinigte. Bönte unterbrach die Operation und kramte umständlich nach der Schachtel, während Nowak weiter durch sein Fernglas spähte.

Keine drei Meter neben dem Bettler stand in einer Parkbucht ein alter, weißer Viertürer – derselbe wie gestern und wie die ganze Woche zuvor. Eine typische Prolokarre, dachte Hauptkommissar Nowak: übergroße Hi-Fi-Lautsprecher im hinteren Fenster, drei DEG-Aufkleber, Heckspoiler. Seit sie im zweiten Stock des Hotel Monopol an der Brunnenstraße den Observationsposten eingerichtet hatten, war der Wagen keinen Zentimeter von der Stelle bewegt worden. Und doch hatte sich das Bild heute entscheidend verändert: das Schiebedach stand dem Wetter zum Trotz einen Spalt weit offen, und drinnen saß ein Kerl in brauner Lederjakke und qualmte Zigaretten in Kette.

»Sehen Sie den Mann im weißen Pkw?« fragte Nowak den Reporter und angelte einen Glimmstengel aus der Schachtel, die Bönte ihm hinhielt. Wie der Typ dort unten war er süchtig. Um den Konsum gering zu halten, kaufte Nowak keine Zigaretten mehr – er war zum Schnorren übergegangen. Seine Kollegen behaupteten, er rauche nicht weniger als zuvor.

Vogel preßte das Teleobjektiv zwischen den Lamellen hindurch gegen die Scheibe und drückte auf den Auslöser: klick, klick.

Ausgerechnet Alex Vogel hatte der Blitz geschickt, ging es Nowak durch den Kopf, als er sich über die Flamme aus Böntes Feuerzeug beugte. Von allen Reportern ausgerechnet schon wieder diesen Affen. Bönte winkte Vogel kurz mit der Zigarettenschachtel zu, nur die Andeutung eines Angebots, das Manni nicht ernst meinte.

»Und?« fragte Vogel, die Augen am Sucher.

Unter den Leuten, die draußen mit ihren Wochenendeinkäufen vorbeihetzten, fiel Nowak ein Mann mit Vollbart auf, der der Prolokarre einen prüfenden Blick schenkte, dann vor dem Penner stehenblieb und ein paar Münzen in dessen Hut fallen ließ. Auch wenn die Jacke des Mannes so geschnitten war, daß keine Ausbeulung ein Schulterholster verriet, hatte Nowak einen Blick für Waffenträger. So einer lief anders: die Waffe wurde zum Schwerpunkt, die Bewegungen verlagerten sich – wie bei dem Bärtigen, der jetzt im Hauseingang Nummer 25 verschwand.

Vogel hatte nichts davon mitbekommen. »Spannen Sie mich nicht auf die Folter! Was ist mit dem Typen in dem weißen Auto?«

Scheißreporter. Anordnung von Kripochef Sonntag: Nehmen Sie die Presse mit. Ziehen Sie eine gute Show ab. Nowak ahnte, warum: Die Festung, wie sie das Präsidium nannten, hatte gute Presse nötig. Seit Tagen verdichteten sich die Gerüchte, daß das Landeskriminalamt wegen Korruptionsverdachts gegen Beamte des Präsidiums ermittelte – angeblich ging es nicht nur um die Beschaffungsstelle. Keiner wußte etwas Genaues, die Nerven der Obermuftis lagen blank. Und deshalb hatte er, der K 3-Leiter, bei dieser Aktion den Pressefritzen am Hals.

Ungeduldig sah Vogel ihn an. Wie ein Affe, der auf Erdnüsse lauert, dachte Nowak.

»Das ist der Aufpasser«, erklärte er. »Und sehen Sie den Hauseingang neben dem Antiquitätenladen dort links? – Genau. Da ist es. Nummer 25. Im Keller.«

Es war die Idee des Pressesprechers gewesen, nur den Blitz zu verständigen. Die Exklusivgeschichte würde das Boulevardblatt groß in der Sonntagsausgabe herausbringen – weit effektvoller als ein Fünfzeiler auf allen Lokalseiten. Nowak war gespannt, ob die Rechnung aufgehen würde – und was der Zeitungsfritze über ihn schreiben würde.

»Verraten Sie mir, wie Sie dahintergekommen sind?« fragte Vogel.

Auch nach all den Wochen löste der Reporter in Nowak noch Haßgefühle aus, aber sein Verstand befahl ihm, das Theater durchzuziehen. Eine Stunde nur, dann war es überstanden.

»Tips aus der Szene. Man kommt an die illegalen Veranstalter nur noch, wenn einer petzt.« Nowak strich seinen Schlips über dem Jeanshemd glatt. Auch so eine Anweisung von Sonntag. Ich will, daß Sie und Ihre Jungs ordentlich aussehen, wenn Sie in die Zeitung kommen. Manchmal hatte sie der alte Korinthenkacker nicht alle. Nowak haßte Krawatten. Sein Blick streifte Oberkommissar Böntes roten Kopf. Der junge Kollege hatte seinen Knoten offensichtlich zu eng gebunden.

»Das heißt, die Dunkelziffer ist groß?« folgerte Vogel, das Auge wieder an den Sucher der Nikon gepreßt. Nowak war immer noch erstaunt, wie schmächtig der Zeitungsmann unter seiner weiten, wattierten Weste wirkte. Er hatte sich den Mann, dessen Artikel ihn damals so fertiggemacht hatten, ganz anders vorgestellt – irgendwie größer, kräftiger.

Aus dem Hintergrund meldete sich Bönte. Er konnte sich den Kommentar nicht verkneifen: »Scheißgewerbeordnung. Da haben sich die Politiker selbst ins Knie gefickt.«

»Mein Kollege will sagen, das war nicht immer so«, erläuterte Nowak. »Früher haben die Betreiber ihr Roulette zum Geschicklichkeitsspiel erklärt, das Ordnungsamt hat ein Auge zugedrückt, und wir kannten jeden Laden und hatten unsere Leute dort sitzen. Eine Zockerbude ist so etwas wie ein Biotop des organisierten Verbrechens, und wir wußten Bescheid über das, was dort abging. Vor zwei Jahren kam die neue Verordnung, und jetzt ist das Zocken illegal. Über eine Dunkelziffer kann ich nichts sagen, aber wir kommen nur noch sehr schwer ran. Die Politik hat uns tatsächlich nicht geholfen. Das können Sie gerne schreiben.«

Vogel legte seine Affenstirn in Falten. »Sie meinen also, man sollte diese Biotope dulden? Nachgeben, statt endlich durchzugreifen?«

Nowak fragte sich, ob er sich den spöttischen Ton des Reporters nur einbildete. Wieder schluckte er den Zorn, der in ihm hochdrängte. Daß Vogel so mickrig war, machte es nur noch schlimmer. Der Hauptkommissar inhalierte eine ganze Lungenfüllung aus Kondensat und Nikotin und beschloß, nicht zu reagieren.

Vor der Nummer 25 blieb es ruhig, kein weiterer Pistolenträger.

Vogel versuchte, das Gespräch wieder in Gang zu bringen: »Woran arbeiten Sie noch, außer dieser Geschichte? Was liegt noch in Ihrem Aufgabenbereich?«

Das K 3 war die Dienststelle, die für Betrug und Glücksspiel zuständig war. Nowak dachte an die Fälle, die auf seinem Schreibtisch lagen, große und kleine: Die Dortmunder Polar-Invest, die auch im Raum Düsseldorf Hunderten von Kleinanlegern das Geld aus der Tasche geschwindelt hatte – Nowak erstickte fast im Papierkram. Dann gab es die neuen Blüten, gutgemachte Hundertmarkscheine, die in einigen Banken der Umgebung aufgetaucht waren und deren Herkunft noch im dunkeln lag.

Am weitesten war Nowak im Fall Zecke: Peter Wittezeck, Veranstalter von Techno-Parties, war mit einer halben Million offener Forderungen im Nacken und mindestens ebenso großen Einnahmen in der Tasche vor neun oder zehn Tagen untergetaucht. Nowaks Leute hatten die Spur des jungen Mannes bis nach Ibiza verfolgt, und er hatte über das BKA die Auslandsfahndung ausgelöst. Ein Fall von Unterschlagung, der außerdem nach Drogen roch, nach Ecstasy und Speed. Dafür hatte Nowak eine Nase.

Das alles ging ihm durch den Kopf – aber auf eine Plauderei mit dem Blitz-Reporter hatte er wirklich keine Lust.

»’ne ganze Menge«, sagte Nowak, warf die Zigarette aufs Linoleum und trat sie aus. Ein Heer toter Kippen verschiedener Marken scharte sich um seine Füße – Überbleibsel aus sieben Tagen Observation.

Es wurde Zeit.

»Die Straße ist jetzt ziemlich leer«, stellte er fest, nickte seinem Stellvertreter Bönte zu und sprach in sein Funkgerät: »Okay, Gruppe Schlecker für Leitung.«

»Hier Schlecker«, krächzte es aus dem Lautsprecher.

»Putzt den Aufpasser!«

»Verstanden.«

Zwei Männer in Anzug und Schlips verließen den Drogeriemarkt auf der rechten Seite des Blickfeldes. Auch sie hatten sich für Vogels Foto feingemacht und wirkten auf Nowak so falsch wie die Typen aus Miami Vice. Der Reporter begann, den Auslöser zu bearbeiten. Vor seiner schmalen Brust baumelte eine weitere Kamera in Wartestellung.

Die Razzia begann.

Vor dem Tapetengeschäft sprang der falsche Penner auf. Er hatte den kürzeren Weg. Aus seinen Lumpen zog er die Dienstwaffe, riß die Beifahrertür auf und hielt den erschreckten Aufpasser in Schach, bis ihn die beiden anderen entwaffnen konnten. Vogel pfiff leise durch die Zähne und ließ die Apparate klicken.

Unterdessen hatte Nowak seine Bleiweste übergestreift. Sie war extraschwer, er hatte sie privat auf eigene Kosten besorgt. Dem Kommissar vom Beschaffungswesen hatte er mißtraut, lange bevor das LKA den Schmiergeldskandal aufdeckte: Die Standardwesten, die die Verwaltung all die Jahre bei ihrem Lieblingshersteller zu überhöhten Preisen eingekauft hatte, taugten nichts. Einem Fahnder hatten sie trotz Weste eine Kugel aus der Leber schneiden müssen – das war es, was Nowak ärgerte, nicht die illegalen Provisionen, die der korrupte Kommissar kassiert hatte.

»Sie bleiben hier oben«, wies er den Pressemenschen an. »Bei meinem Kollegen. Ich sag Bescheid, wenn Sie nachkommen können.« Er nickte Bönte noch einmal zu.

Als Nowak auf die Straße trat, lag der Aufpasser mit dem Gesicht nach unten und mit im Nacken verschränkten Fingern auf dem feuchten Pflaster. Ein Beamter blätterte in den Wagenpapieren, ein anderer beruhigte die Passanten.

»Alles klar«, meldete der falsche Penner, dem Festgenommenen die Handschellen anlegend. Wieder so ein Machotyp, der Gelassenheit vortäuschte, dachte Nowak. Einer dieser jungen Polizisten, die noch nicht richtig erwachsen waren, sich aber unbesiegbar glaubten, weil sie eine Dienstpistole am Gürtel hatten. Nowak kannte das Gefühl – er war selbst einer von dieser Sorte gewesen.

»Setzt ihn ins Auto. Wie sieht das denn aus!« knurrte er. »Du paßt auf ihn auf, und ihr zwei Hübschen haltet uns die Passanten vom Leib.«

Er hob das Funkgerät an die Lippen: »Einsatzgruppe für Leitung. Es kann losgehen!«

Nowak ging auf den Eingang zur Nummer 25 zu, das Holster an seiner Hüfte öffnend. Auch nach zwanzig Jahren Polizeidienst war der Job für Adrenalinschübe gut. Er registrierte den Schweiß auf seinen Handflächen und das Kribbeln, das von den Fingerspitzen ausging: Zur Anspannung, die zu einer Razzia gehörte, kam das Gefühl, das die Waffe seit damals in ihm auslöste, seit das geschehen war, was er den ›Vorfall‹ nannte – andere, deutlichere Bezeichnungen vermeidend, um sein mühevoll wiedererlangtes Gleichgewicht nicht zu gefährden. Nach der kriminaltechnischen Untersuchung hatte er die Sig-Sauer P6 zurückerhalten und in seinem Büro weggeschlossen. Er hatte sie seitdem nicht mehr angefaßt.

Frank Brauning, sein alter Kumpel, hatte ihn deshalb verspottet: Ohne deine Knipse wirst du noch zum Pisser. Komm, Junge, häng sie dir an den Arsch, damit du rasch wieder der Alte bist. Vergiß den Scheiß vom letzten Jahr. Typisch Brauning.

Heute trug er das Ding. Zum ersten Mal seit dem ›Vorfall‹. Er schloß die Hand um den schwarzen Griff.

Rasch wieder der Alte sein. Nowak war sich nicht sicher, ob er das überhaupt wollte – und es waren nicht nur die Artikel des Blitz-Reporters Alex Vogel, die ihn verunsichert hatten. Er schob die P6 ins Holster zurück und ließ es geöffnet.

Er hörte das kreischende Bremsen der Einsatzfahrzeuge: Es ging los.

Zwei grüne Transit und ein grün-weißer Streifenwagen hielten, zehn Turnschuhbeamte des Sondereinsatzkommandos und zwei Schutzpolizisten in grüner Kutte sprangen heraus. Sie stürmten wortlos in den Hausflur, Nowak voran. Eine Frau mit Kopftuch stand am Briefkasten – sie ließ die Post fallen und schrie auf. Die Schutzpolizisten blieben zurück und sicherten die Kellertreppe – laut Tipgeber der einzige Zugang. Nowak stolperte als erster die Stufen nach unten und einen schlecht beleuchteten Gang entlang.

Die Tür am Ende war aus Stahl. Ein Blick auf Wände und Decke – keine Kamera. Der Vorraum wurde nicht überwacht. Offenbar vertrauten die Zocker allein dem Aufpasser auf der Straße.

Die SEK-Leute starrten auf den grauen Stahl, ihre Dienstpistolen in vorschriftsgemäßer Grundhaltung: schußbereit und mit ausgestrecktem Arm auf den Boden gerichtet. Nowak zog es vor, seine Waffe stecken zu lassen.

Aus einem Fleck unverputzten Zements ragte ein kurzes Kabel, an dem eine einfache, weiße Klingel hing. Nowak griff nach dem Plastikding.

Der Moment, der alles entschied: Hoffentlich hatte der Informant ihn nicht geleimt.

Lang-kurz-kurz-lang. Elf Männer hielten den Atem an.

Der Türöffner summte.

Nowak flog ins Innere – ein fensterloser, verqualmter Raum.

Blitzschnelles Erfassen: ein alter Schrank, nackte Glühbirnen über zwei Spieltischen. Karten, Chips und grüner Filz. Haufenweise Zockergeld. Und fünfzehn Augenpaare, die den Polizisten entgegenstarrten.

Nowaks Stimme überschlug sich: »POLIZEI! KEINER RÜHRT SICH! KEIN WIDERSTAND, SONST MÜSSEN WIR GEWALT ANWENDEN!«

Hände schossen in die Luft, ließen Zigaretten fallen, noch mehr Chips, weitere Scheine. Die SEK-Beamten stießen die Zocker gegen die Wand und begannen, sie abzutasten. Neben dem Bärtigen stand ein nervöser Junge mit dunklen Locken. Er trug einen senfgelben Blouson, und Nowak hatte ihn schon einmal irgendwo gesehen. Ein anderer Spieler wimmerte, seine Hose färbte sich im Schritt dunkel. Nowak starrte auf das Geld.

Handschellen klapperten – keine Gegenwehr. Die Nervosität fiel von den Kollegen ab. »Guckt mal, der hat sich tatsächlich in die Hose gemacht!« lachte einer.

Plötzlich polterte es, ein Spieltisch schlug hart gegen Nowaks Schienbein. Gläser zerklirrten auf dem nackten Estrich, und der Junge in der gelben Jacke riß den Schrank auf und sprang hinein.

Das war kein Schrank.

Nowak nahm die Verfolgung auf. Ein zweiter Gang, stockfinster, die Luft roch modrig. Der Flüchtige keuchte keine drei Meter entfernt. In geduckter Haltung hetzte Nowak hinterher. Er ignorierte die Stiche in seiner Brust – zuviel Junk-food, zuviel Speck um die Hüften, zu hoher Blutdruck. Er stieß sich den Kopf an der Decke und verdrängte auch diesen Schmerz.

Er hörte, wie sich Klang und Rhythmus der Schritte vor ihm änderten – eine zweite Treppe. An ihrem Ende wurde es hell, und etwas Senfgelbes wollte ins Freie huschen. Doch Nowak war schneller, packte die Jacke und zerrte den Burschen ins Haus zurück. Die Tür führte auf den Parkplatz des Tapeten- und Teppichladens: Männer schoben Einkaufswagen voller Farbeimer und Tapetenrollen, eine Frau stapelte Musterbücher in einen R5.

Nowak ließ die Tür ins Schloß krachen – keine Zeugen. Mit der freien Hand tastete er nach dem Schalter. Fahles Licht flackerte auf.

Sie sahen sich in die Augen, im Gleichtakt nach Luft hechelnd. Nowak legte sein ganzes Gewicht in die Rechte, die er dem Zocker in den Magen schlug.

Im Haus war es still, bis auf das Summen der Neonröhre und das Japsen des Kerls im gelben Blouson. Nowak versuchte, ihn einzuordnen: ein schmaler Junge, etwa zwanzig Jahre alt, dunkle Locken, Haß in den Augen. Auffällig war die kurze Stupsnase – man sah ihm direkt in die Nasenlöcher.

»Wie heißt du?« fragte Nowak, doch der Kerl stöhnte nur.

Der Hauptkommissar drehte den Zocker um, preßte ihn gegen die Wand und durchsuchte ihn mit raschen Griffen. Keine Waffe, kein Ausweis, nur ein stattliches Bündel Banknoten und ein Röhrchen mit Tabletten. Nowak öffnete es: weiße Pillen mit Smiley-Prägung – eine neue Sorte, die er nicht kannte.

Von unten kamen Schritte und Stimmen, dann ein Aufschrei – noch jemand, der sich im niedrigen Kellerflur eine Beule geholt hatte.

Nowak behielt das Geldbündel, stieß die Tür auf, und schob den Jungen hinaus auf den Parkplatz. Augenblicklich vergaß Stupsnase seine Atemnot, knurrte eine Drohung und verschwand.

Zwei SEK-Männer kamen die Treppe hochgestiegen. Der größere rieb sich den Kopf und starrte Nowak an. »Du blutest«, sagte er.

»Du auch«, antwortete Nowak, faßte auf seine Stirnglatze und hatte klebriges Naß an seinen Fingern. Erst jetzt spürte er das schmerzende Pochen im Schädel sowie im rechten Schienbein, wo der Tisch ihn getroffen hatte.

»Isser wech?« fragte der Kleinere.

Der Hauptkommissar nickte und spielte in der Hosentasche mit den Geldscheinen.

»Und? Haste ihn erkannt, Nowak?«

Noch einmal wühlte der Hauptkommissar im Dschungel seiner Erinnerungen, um dem schmalen Gesicht und der Stupsnase einen Namen zuzuordnen, einen Ort, irgendein Ereignis. Statt dessen kamen die Bilder hoch, die er am wenigsten sehen wollte: bunte Lichter, Gedränge, aufblitzendes Metall, ein Schrei – das Echo eines Schusses.

Für einen Augenblick fühlte sich Nowak, als rase er im freien Fall an den Kollegen vorbei. Er schüttelte den Kopf. »Hab ihn nur von hinten gesehen.«

»Zweiter Ausgang is immer Scheiße, wenn man nichts von weiß«, sagte der Kleinere.

»Was ist? Soll ich vielleicht vor der Razzia das Haus durchsuchen? Mir vom Eigentümer Pläne geben lassen, damit jeder merkt, was los ist?«

»Schon gut, Nowak. War doch nicht so gemeint«, beschwichtigte der andere.

Zwei weitere Transit trafen mit Blaulicht und Sirene ein, um die Festgenommenen zur Festung zu bringen. Der Kellerraum leerte sich. Nowak schloß das, was wie ein ausrangierter Kleiderschrank ausgesehen hatte, stellte den Tisch auf die Beine und drapierte Plastikmünzen und das, was vom echten Geld übrig war, auf dem grünen Filz. Futter für Vogels Kamera. Ziehen Sie eine gute Show ab. Er griff nach seinem Funkgerät und sagte Bönte Bescheid.

Um nicht weiter an den Schuß von damals zu denken, konzentrierte Nowak seine Gedanken auf bevorstehende Arbeit, legte sich den Plan für die nächsten Tage zurecht: Den Mieter des Kellers mußte er ermitteln, Vernehmungsberichte zum Fall Polar-Invest nach Dortmund schicken, Banken vor den falschen Hundertern warnen. Und auf die Rückmeldung der Spanier warten. Eigentlich müßten sie Disko-Zecke längst gefunden haben.

Vogel tat aufgeregt, als sei er zum ersten Mal in einer Zockerstube. Er knipste und stellte Fragen. Eigentlich gab es dafür den Pressesprecher, dachte Nowak. Er ließ sich von Bönte eine neue Zigarette geben und erfreute sich daran, den Zeitungsfritzen einzuqualmen, der offensichtlich Nichtraucher war.

»Was haben die da gespielt?« Klick.

Erdnüsse für den Affen: »Black Jack.«

»Wie viele waren es?« Klick, klick – und ein trockenes, demonstratives Hüsteln.

»Fünfzehn. Zwölf Spieler und zwei Bankhalter hier unten plus der Aufpasser im Pkw draußen. Die Creme der Düsseldorfer Unterwelt, ein erfolgreicher Schlag.« Sonntags Worte: Hauen Sie richtig auf den Putz, Nowak. Die vom LKA sollen schäumen, wenn sie lesen, wie gut wir sind.

Vogel ließ die Augen am Sucher. »Schwere Jungs?« Klick, klick.

»Und wie. Schätzungsweise hundert Jahre Knasterfahrung. Aber auch ein paar unbescholtene Bürger, die nur schnell mal ein Monatsgehalt verspielen wollten. Das K 3 hat dem illegalen Glücksspiel in dieser Stadt ein Ende bereitet. Sie sehen: Niemand duldet organisiertes Verbrechen. Wir greifen durch. In dieser Stadt sind die Bürger sicher.« Wenn die Zeitung auf sein Gesülze reinfiel, würde Sonntag ihm die Schlagzeilen von damals vielleicht etwas weniger übelnehmen.

»K 3?«

»Ja, Sie wissen schon, das dritte Kommissariat – Betrug, Glücksspiel, Falschgeld. Aber vergessen Sie diese Abkürzung. Wird sowieso bald ganz anders heißen.«

Strukturreform – so nannten es die Obermuftis. Wahrscheinlich war diese ominöse Reform nur ein Manöver, dem LKA den Wind aus den Segeln zu nehmen. Karrieristen liefen in diesen Tagen mit wichtigem Gesicht und gebügelten Anzügen durch die Gänge des Präsidiums, während altgediente Kommissariatsleiter wie Nowak sich um ihre weitere Laufbahn Sorgen machten. Nur der Optimismus seines Kumpels Brauning schien unverwüstlich: »Festung 2000«, hatte Frank gefeixt, »da spielen sich bloß ein paar Bürokratenheinis auf, und was die in der Birne haben, ist mal wieder für ’n Arsch. Wir bleiben oben, alter Junge, du wirst sehen.«

Nowak registrierte, daß Vogel ihn etwas gefragt hatte. »Bitte?«

Der Reporter deutete auf Nowaks Hüfte. Auf das Holster. »Ob Sie von Ihrer Schußwaffe Gebrauch machen mußten?«

»Nein.«

Die Haßgefühle krochen wieder hoch, stärker als zuvor. »Keiner der beteiligten Beamten mußte das. Wir sind hier nicht im Wilden Westen. Ich glaube, Sie haben jetzt Ihre Fotos gemacht. Weitere Fragen beantwortet die Pressestelle.«

Der Reporter wollte sich nicht abwimmeln lassen. »Sie bluten. Was war los?«

»Sie wollen eine sichere Stadt – und mein Job ist es, den Kopf dafür hinzuhalten.« Nowak rang sich ein Lächeln ab und hielt dem Affen die Tür auf.

»Noch ein letztes Foto, bitte. Können Sie noch einmal so tun, als würden Sie den Raum stürmen? Mit gezogener Waffe – ich weiß, daß Sie sowas gut können.«

Mit einem Mal waren Nowaks Handflächen wieder feucht. Er wandte sich an Bönte. »Sicher schon mal die Spuren, Manni. Ich begleite den Herrn von der Presse nach draußen.«

Er stieg hinter Vogel die Treppe zum Vordereingang hoch – Gewaltphantasien krochen durch sein Gehirn. Im Hausflur stoppte er den Reporter. »Ich mach Ihnen doch hier nicht den Idioten! Was unterstellen Sie mir?«

»Wie? Schon alles vergessen? Ihre Knallerei im Blue Velvet? Sie haben sich einen Ruf erworben. Einer wie Sie ist doch sicher stolz darauf.«

Stolz? Der Affe hatte sie nicht alle. Vergessen? Keinen Augenblick.

RAUBÜBERFALL AUF NACHTCLUB – TÄTER BEI SCHUSSWECHSEL TÖDLICH VERLETZT – so hatten die Schlagzeilen zunächst noch gelautet, am Morgen nach dem ›Vorfall‹. Doch schon in der nächsten Ausgabe war es ein angeblicher Räuber. Und ab dem folgenden Tag zielte der Blitz direkt gegen den Leiter des K 3, Hauptkommissar Rolf Nowak:

3. Dezember: OPFER UNSCHULDIG? UNGEREIMTHEITEN IM PEEP-SHOW-FALL, TODESKOMMISSAR UNTERGETAUCHT

4. Dezember: TODESSCHUSS-AFFÄRE: DAS IST DER PEEP-SHOW-KOMMISSAR – DER RAMBO VON DÜSSELDORF

8. Dezember: NOTHILFE-THESE WACKELT – KILLER-KOMMISSAR NICHT VERNEHMUNGSFÄHIG?

19. Dezember: RAMBO-SKANDAL: GRAS DRÜBER! VERFAHREN ÜBERRASCHEND EINGESTELLT – EMPÖRUNG UNTER DÜSSELDORFS BÜRGERN

Jede Schlagzeile ein Tritt in die Eier. Eine ganze Serie von Tritten – eine Hetzkampagne.

Vogel hatte selbst vor Nowaks Privatleben nicht haltgemacht. Nachbarn hörten auf, ihn zu grüßen, alte Freunde machten sich rar. Nowak wurde zum Wrack. Er litt unter Schlaflosigkeit, traute sich wochenlang nicht unter die Leute. Rufmord kann töten. Wenn Frank Brauning nicht gewesen wäre, hätte Nowak wahrscheinlich Schluß gemacht.

Der Affe grinste und hörte nicht auf zu bohren: »Alles schon verdrängt? So lange ist das doch nicht her.«

Pack ihn an seiner Weste. Schmeiß den mickrigen Medienmacker die Kellertreppe hinunter – Nowak hatte Mühe, sich zu beherrschen. Er lenkte die Faust an Vogels Kopf vorbei und donnerte gegen einen der Blechkästen – der Boden brach heraus, Briefe segelten zu Boden.

»Vier Monate minus ein paar verdammter Stunden! Ihre verdammten Artikel haben mir beinahe das Genick gebrochen!«

»Warum regen Sie sich auf? Sie sind fein raus. Euch Polizisten geschieht doch nie etwas!«

»Sie töten mit der Schreibmaschine. Ihre Opfer haben nicht die geringste Chance!«

»Hatte Ihr Opfer eine Chance?«

Nowak dachte an die toten Augen des Farbigen und schwieg.

»Genau genommen habe ich Sie sogar noch geschont.«

»Sie Rufmörder. Als hätte mir der ›Vorfall‹ nicht schon genug zu schaffen gemacht.«

Das Affengesicht zischte: »›Vorfall‹? Sie seelenloser Beamter!«

»Passen Sie auf, was Sie sagen. Haben Sie schon mal Ihre Zähne mit gebrochenen Fingern aufgehoben?«

»Sie Großmaul, ist das Ihre Vorstellung von Pressefreiheit?«

Nowak mußte aufpassen. Sonntag brauchte das Wohlwollen der Presse – und er brauchte das Wohlwollen des Kripochefs.

»Ich möchte eins klarstellen, Herr Vogel. Der Blitz hat diese Razzia exklusiv. Sie schulden mir einen Gefallen. Hören Sie also auf mit Ihren verdammten Lügen.«

Alex Vogel grinste. »Was würden Sie von folgender Überschrift halten?« Seine Rechte unterstrich imaginäre Großbuchstaben – fettgedruckt, die ganze Titelseite einnehmend: »Waffengeiler Polizist tötet Unschuldigen im Drogenrausch!«

Nowak starrte an Vogel vorbei ins Leere. Nicht ausrasten. Nicht hier.

Er atmete tief durch. »Ich bin nicht waffengeil. Genausowenig, wie dieser Mann unschuldig war. Immerhin hatte er mich angegriffen.«

»Das war nur ein halbes Dementi, Killer. Und schulden tu ich Ihnen gar nichts. Danke trotzdem, das war ein aufschlußreicher Termin.«

Nowak sah dem Reporter nach, der nach draußen verschwand.

Was konnte dieser Schreiberling in der Hand haben? Nach dem Entzug hatte Nowak gehofft, er könnte den ›Vorfall‹ allmählich vergessen, die Sache sei irgendwann abgeschlossen.

Irrtum. Nichts war vorbei.

Nowak war laut geworden – hoffentlich hatte Bönte die Szene nicht mitbekommen.

Er fand den Kollegen in der stickigen Kellerbude: emsig beschäftigt, Jetons und Karten in Plastiksäckchen eintütend, Aufkleber beschriftend. Bönte trug die Plastikhandschuhe der Spurensicherung und ging gründlich vor. Vor einem Monat erst war der Kollege aus der Rauschgiftabteilung ins K 3 versetzt worden, wo er sich um den Posten des stellvertretenden Dienststellenleiters beworben hatte. Soweit Nowak beurteilen konnte, hatte sich Bönte nicht vom übriggebliebenen Zockergeld bedient. Ihm fiel auf, wie wenig er seinen Mitarbeiter als Privatperson kannte. Nowak lieh sich eine Zigarette.

»Gratuliere, Rolf«, sagte Bönte und wischte sich Schweiß von der Stirn. »Saubere Aktion. Wird Eindruck machen bei den Chefs. Dieser Vogel war ganz fickrig. Hast ihn glänzend vergackeiert: dem illegalen Glücksspiel ein Ende bereitet. Dabei war das doch nur eine von zwei Dutzend Zockerstuben.«

Nowak preßte das Taschentuch gegen die pochende Stelle auf seinem Kopf. Er würde die Wunde nähen lassen müssen, damit keine Narbe blieb. Seit sein Haaransatz zurückgewichen war, dachte er an solche Dinge.

»Wahrscheinlich drei Dutzend«, brummte er. »Aber du kennst doch das Sprichwort: Was die Zeitung nicht weiß, macht die Leute nicht heiß.«

Gespielte Zuversicht – dieser verdammte Vogel war nicht zu unterschätzen.

Bönte räusperte sich. »Apropos heiß: Kann ich mir jetzt endlich den Schlips abnehmen?«

Nowak fragte sich, ob er sich den lauernden Blick seines Stellvertreters nur einbildete.

Kapitel 3

»Spielende Kinder sind der Feind des ungestörten Wochenendes«, stellte Benedikt Engel fest. Er lenkte den Zivilwagen über das Feld und stoppte neben dem rotweißen Absperrband, das die Kollegen der Polizeiinspektion Mettmann um das kleine Waldstück diesseits der Düssel gespannt hatten. Neandertal – so hieß die Gegend nach einem evangelischem Pfarrer, der hier einst auch als Dichter gewirkt hatte. Damals rauschte die Düssel noch durch eine Schlucht – der Kalkabbau hatte das Tal seitdem gründlich verändert.

»Spielende Kinder oder Spaziergänger mit Hunden«, ergänzte sein Kollege Schranz brummig, schlüpfte in den weißen Overall aus dünnem Kunststoff und zog die Kapuze über den Kopf. Er hatte sein Joggen unterbrechen müssen und war zur Festung gefahren, ohne vorher duschen zu können.

Engel schloß den Reißverschluß und fluchte über seinen Overall. So ungewöhnlich waren seine Einszweiundneunzig doch gar nicht, aber die Verwaltung hatte es noch immer nicht geschafft, ihm eins der Plastikdinger in halbwegs passender Größe zu besorgen.

»Da haben sie Zeit zum Spielen. Die Kinder. Keine Schule«, kombinierte Andi, der Praktikant.

»Scheißleiche bleibt Scheißleiche. Egal, welcher Tag gerade ist«, knurrte Schranz und steckte eine Zigarette an.

Sie stiegen über das Absperrband und stiefelten Gespenstern gleich durch das trübe Dickicht. Andi stapfte hinterher. Engel hatte beschlossen, auch dem Praktikanten das Wochenende zu verderben. Wozu hatte der Junge seinen Piepser – er sollte etwas lernen.

Noch bis Montag morgen würde Engels Bereitschaft dauern. Laut Dienstplan ging es nur darum, für den Notfall erreichbar zu sein, und für eine Woche Bereitschaft rund um die Uhr waren zwei freie Tage als Ausgleich vorgesehen. Aber es war nun schon das dritte Mal an diesem Samstag, daß die Telefonistin ihn angepiepst hatte, und mit jeder neuen Leichensache sank die Wahrscheinlichkeit, wenigstens einen Tag ausspannen zu können. Vierhundert Überstunden schob er inzwischen vor sich her, und er hatte den Eindruck, daß für jede, die er abfeierte, zwei neue dazukamen.

Seit neun Uhr war er an diesem Samstag auf Achse. Zuerst eine klare Sache in Heiligenhaus: Suizid – eine Verwaltungsangestellte, deren Arzt ihr am Vortag Krebs diagnostiziert hatte. Die Tränen des Ehemanns und der Kinder würden Engel noch eine Weile begleiten. Dann, mitten im idyllischen Zons: ein Stümperpärchen von Notarzt und Landbulle, das einem Rentner mit unübersehbaren Stauungsblutungen im Gesicht um ein Haar einen natürlichen Tod bescheinigt hätte. Engel hatte den Transport des Steifen ins rechtsmedizinische Institut der Uni Düsseldorf veranlaßt, und sobald sich bestätigen würde, was der Mordermittler vermutete, würden seine Kollegen die Witwe in die Mangel nehmen.

Mit dem dritten Fall lag Engel schon am Nachmittag exakt im Tagesdurchschnitt des gesamten K 1. Dabei konnte er sich nicht beschweren: Er lauerte auf große, verzwickte Fälle und hatte der Telefonistin eigens schöne Augen gemacht, damit sie in dieser Bereitschaftswoche zuerst und ausschließlich ihn verständigte.

Und diese Geschichte versprach interessant zu werden. Noch sechs Tage bis Karfreitag – wenn er diesen Fall bis dahin gelöst hatte, wäre er der Beförderung ein Stück näher. Ausspannen konnte er dann immer noch.

Sie erreichten das Stativ einer Halogenlampe, die der Bereitschaftstechniker am Rand der Lichtung aufgebaut hatte. Ein Generator sprang an, und das Gras erstrahlte in kaltem Licht.

»Scheißwetter, was?« sagte Schranz zur Begrüßung. »Wo habt ihr denn unseren Neandertaler?«

Der Techniker erkannte die beiden Kommissare des K 1 und nickte zur Mitte der Lichtung hin, wo der Fotograf stand und die Videokamera an sein Auge hob – mit angewidertem Gesicht.

»Scheußlich«, sagte Engel, als er das graugrün verfärbte Gesicht der Leiche sah.

Die Zunge war vorgetrieben, die Augenlider waren geschwollen. Beide Wangen fehlten, ebenso Teile des Halses – offenbar Tierfraß. Der Tote lag etwas seitlich auf dem Rücken, die Arme nach hinten verdreht. Mantel, Jacke und Hemd waren aufgerissen, die Hose auf die Knöchel gezogen. Fäulnisgase blähten den Bauch, Brust und Beine waren stellenweise bis auf die Rippen abgenagt. Andi musterte die Bäume auf der anderen Seite der Lichtung.

»Schon was entdeckt?« fragte Engel.

»Aussichtslos«, erklärte er. »Keine Spuren außer denen der beiden Kids. Der Monomann sucht drüben im Gestrüpp.« Er wandte sich an den Praktikanten. »Tja, mein Junge. So sieht einer aus, der mindestens eine Woche lang im Freien liegt. Ratten und Wildschweine.«

Andi schluckte und wurde immer blasser.

»Dann hat Abkleben keinen Sinn mehr«, befand Schranz.

»Abkleben vielleicht nicht, aber Ausziehen«, entschied Engel. Er war dran. Es war seine Leiche, sein Fall – das Jagdfieber hatte ihn gepackt. »Vielleicht können die Fasertanten im LKA-Labor etwas finden«, erklärte er. »Du erinnerst dich an den Heidemörder, Andi? Aufgrund von Fasern an den Klamotten konnte man ihm Morde nachweisen, die schon Jahre her waren. Ein großer Fall.«

Andi nickte und studierte noch immer irgendeinen Brombeerstrauch. Gut, daß K 1-Leiter »Rottweiler« Brauning nicht dabei war, dachte Engel. Sensible Neulinge wie den Praktikanten machte der Chef des Mordkommissariats nur zu gern zur Zielscheibe seines Spotts.

»Na, dann wollen wir mal«, sagte Schranz.

Die beiden Ermittler zogen Einweghandschuhe und Mundschutz über, hielten die Luft an und drehten die Leiche um. Die Handgelenke des Toten waren mit Draht verschnürt. Der Beamte mit der Kamera ging nah ran.

Von der weitgehend abgenagten Linken nestelte Engel zwei goldene Ringe und eine modische Designeruhr. Er registrierte, daß Schranz keinen Geschmack an seiner Zigarette mehr fand. Nach kurzem Überlegen drückte der Kollege sie an der Sohle aus und verstaute den Stummel in einer Tasche des Overalls – alles, was man an einem solchen Ort fallen ließ, würde ein Kriminaltechniker aufsammeln und als Beweismittel eintüten.

Engel schnitt den Körper aus dem schwarzen Regenmantel und warf einen Blick aufs Etikett. »Montana«, las er. »Feines Zeug. Oberste Preisklasse.«

In keiner Tasche fanden sie Schlüssel oder eine Brieftasche, weder im Sakko noch in der Hose. Als Schranz die Halbschuhe von den Füßen zog, purzelten Klumpen von Maden heraus – die Tierwelt hatte ihre Freude an der Leiche.

Engel steckte abgerissene Hemdknöpfe in einen Plastikbeutel. Er sah Schmutz unter den Fingernägeln und stülpte Tüten über die Hände, die er mit Gummiringen fixierte.

»Ein Schwuchtelmord. Ein eifersüchtiger Homo hat ihm die Hose runtergezogen«, urteilte Schranz.

Engel schüttelte den Kopf. »Da gibt es tausend Möglichkeiten. Vielleicht wollte ihn der Mörder demütigen. Oder er wollte den Tierfraß beschleunigen, damit der Tote rasch unkenntlich wird.«

»Das ist ihm gründlich gelungen.«

Der Lichtkegel einer Taschenlampe kam näher. Der Monomann, eigentlich zuständig fürs Sichern von Fingerabdrücken, war eine Frau.

»Dort drüben sind Schleifspuren, abgeknickte Äste. Vielleicht hat man ihn von dem Feldweg aus hierher gebracht«, erklärte sie.

»Und? Reifenspuren?« fragte Engel.

Sie schüttelte den Kopf. »Zu lange her. Zuviel Regen.«

Schranz tippte Engel an. »Da kommt Rosenbaum.«

Gefolgt von vier Männern, die einen auswaschbaren Blechsarg trugen, kämpfte sich der Rechtsmediziner durchs feuchte Kraut der Lichtung. Der Professor persönlich.

»Mahlzeit«, grüßte er die Umstehenden, streifte Handschuhe über und beugte sich kurz über die Leiche. »Männlich. Fünfundzwanzig, vielleicht auch vierzig Jahre alt. Leichenstarre gelöst, Verwesung fortgeschritten. Exitus vor ein bis zwei Wochen, näher an zwei, in Anbetracht der kalten Witterung. Ich glaube, das Messen der Mastdarmtemperatur erübrigt sich. Den Rest machen wir morgen. Um zehn bei mir im Institut?«

Engel und Schranz nickten. Zu Eile bestand kein Anlaß. Die vier Träger packten den angenagten und halbverfaulten Unbekannten in die Kiste. Ihre schwarzen Krawatten hatten etwas Feierliches. Rosenbaum winkte stumm und verschwand zwischen den Bäumen.

»Daddy Cool«, murmelte Schranz.

Ein Rest des Verwesungsgestanks hing noch immer über der Lichtung.

»Auf geht’s, Klinkenputzen«, sagte Engel.

»Wo denn?« fragte Schranz und sah sich um. »Bei der bösen Hexe im finsteren Wald?«

Andi grinste. »Knusper, knusper, knäuschen.« Seit die Leiche weg war, hatte sich seine Gesichtsfarbe erholt.

»Als erstes besuchen wir das Altenheim. Seniorenwohnpark Neandertal. Keine dreihundert Meter entfernt. Wir sind vorhin am Schild vorbeigefahren. Du kommst mit, Schranz.« Engel drückte Andi die Beutel mit der Kleidung des Toten in die Hand. »Und das, mein Lieber, muß schleunigst ins LKA-Labor, Völklinger Straße. Abteilung Faserkunde.«

»Aber madenfrei, Kleiner«, ergänzte Schranz.

Der Praktikant glotzte auf den Sack und schluckte schwer.

Kapitel 4

»Völlig durchgeknallt, diese Familie, wenn du mich fragst«, sagte der redseligere der beiden uniformierten Kollegen.

»Ich hab dich nicht gefragt«, antwortete Thann.