Aufholen, ohne einzuholen! - Jörg Roesler - E-Book

Aufholen, ohne einzuholen! E-Book

Jörg Roesler

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Beschreibung

Kein Land in Europa ist in den letzten 50 Jahren so durch den Wettbewerb mit seinem Nachbarn geprägt worden wie Ostdeutschland. Immer wieder wurden Strategien entwickelt, die den Lebensstandard des Ostens an den des Westens angleichen oder gar übertrumpfen sollten. Walter Ulbricht proklamierte das »Überholen, ohne einzuholen«, Erich Honecker verkündete die »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« und Helmut Kohl versprach den Ostdeutschen »blühende Landschaften«. Doch was haben diese Ein- und Aufholprogramme tatsächlich bewirkt? Jörg Roesler durchleuchtet, wie sich die ostdeutschen Wirtschaftsverhältnisse unter den jeweils politisch dominierenden Kräften in DDR und BRD entwickelten. Dabei kommen überraschend andere Ergebnisse zutage als bundesdeutsche Politiker und Medien seit Jahren verbreiten. Das gern gezeichnete Bild von der bis 1989 ständig gewachsenen Diskrepanz des planwirtschaftlich leistungsschwachen Ostens zum marktwirtschaftlich organisierten Westen, dem seit Anfang der 90er Jahre ein kontinuierlicher Aufholprozess gefolgt sei, lässt sich nach Roeslers quellengestützter Analyse nicht aufrechterhalten. Er zeigt für das vergangene halbe Jahrhundert die Phasen der Annäherung ebenso wie die der Stagnation und der Auseinanderentwicklung. Eine fundierte innerdeutsche Wirtschaftsprüfung – für 25 Jahre vor und nach der Wende.

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Jörg

Roesler

Aufholen,

ohne

einzuholen!

Ostdeutschlands

rastloser Wettlauf

1965 – 2015

Ein ökonomischer

Abriss

edition berolina

eISBN 978-3-95841-528-7

1. Auflage

Alexanderstraße 1

10178 Berlin

Tel. 01805 / 30 99 99

FAX 01805 / 35 35 42

(0,14 / Min., Mobil max. 0,42 €/Min.)

© 2016 by BEBUG mbH / edition berolina, Berlin

Umschlaggestaltung: buchgut, Berlin

Umschlagabbildung: © dpa – picture alliance, Peter Heinz Junge

Druck und Bindung: CPI Moravia Books s. r. o.

www.buchredaktion.de

EinleitungWorum es in diesem Buch geht

Zum Thema DDR-Geschichte sind in den zweieinhalb Jahrzehnten, seitdem sie aufgehört hat zu existieren, bereits viele Publikationen erschienen, darunter auch einige Gesamtdarstellungen. Die neuen Bundesländer dagegen entdeckt die deutsche Geschichtswissenschaft gerade erst jetzt als Thema. In diesem Band werden beide Themen unter gleichen Fragestellungen behandelt. Damit wird Neuland betreten. Was wird damit bezweckt? Was ist sonst noch neu an dieser Publikation?

Neu ist die Aufgabe, die sich der Autor gestellt hat: die Leistungen Ostdeutschlands, seine Erfolge und Misserfolge in Wirtschaft und Gesellschaft während der zweiten Hälfte der Existenz eines gesonderten ostdeutschen Staates und während des ersten Vierteljahrhunderts der Existenz der neuen Bundesländer (NBL) nachzuzeichnen und mit denen des anderen deutschen Staates beziehungsweise der alten Bundesländer (ABL) nach einheitlichen wissenschaftlichen Kriterien zu vergleichen und zu beurteilen. Im Zentrum des Vergleichs steht die Entwicklung der Wirtschaftsleistung. Sie stellte sich im Wettbewerb beider Staaten und Systeme als das Feld gesellschaftlicher Entwicklung heraus, auf dem die entscheidenden Schlachten geschlagen wurden. Über längere Zeit betrachtet, haben die Erfolge beziehungsweise Misserfolge im ökonomischen Bereich den Umfang des Konsums und damit das Wohlstandsniveau der Bevölkerung bestimmt, hat die Wirtschaftsentwicklung wesentlichen Einfluss auch auf Gestaltungsmöglichkeiten im Sozialbereich, auf den Ausbau des Gesundheits- und des Erziehungswesens ausgeübt und beträchtliche Auswirkungen auf die mentale Entwicklung der Einwohner, ihr Selbstbewusstsein und ihre Orientierungsbereitschaft gehabt. Das galt für die DDR-Jahre genauso, wie es für die Entwicklung der neuen Bundesländer nach 1990 gilt.

Wodurch unterscheidet sich diese Art des Herangehens von den jüngsten Einschätzungen über die DDR und die neuen Bundesländer? Deren Kernaussagen sind vorrangig beziehungsweise vollständig ideologisch geprägt: Planwirtschaft und Diktatur waren demnach Behinderer, wenn nicht gar Verhinderer des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Voranschreitens im Osten, Marktwirtschaft und Demokratie dagegen wirkten dort nach 1990 als Entwicklungsbeschleuniger. Das Resultat eines Vergleichs der ostdeutschen Entwicklung mit der Westdeutschlands steht für beide Zeiträume damit von vornherein fest: Zu DDR-Zeiten blieb Ostdeutschland wirtschaftlich und gesellschaftlich immer weiter zurück. Mit dem Beitritt zur Bundesrepublik erhielt es die Möglichkeit, aufzuholen und zum westdeutschen Entwicklungsniveau aufzuschließen. Dafür werden jede Menge passende Beispiele aus der DDR- beziehungsweise NBL-Geschichte herausgesucht, daraus verallgemeinernde Feststellungen gefiltert und Entwicklungstrends beschworen. Ein nüchterner, unvoreingenommener und gewiss auch aufwendiger Vergleich anhand aussagekräftiger Kriterien erübrigt sich bei dieser Art des Herangehens, da das Ergebnis des Leistungsvergleichs von vornherein feststeht. Insofern darf es nicht verwundern, dass diejenigen deutschen Zeithistoriker, die der vorherrschenden Ideologie anhängen, sich im letzten Vierteljahrhundert kaum der sorgfältigen Ermittlung der Resultate der Aufholstrategien der Herrschenden gewidmet haben, weder der im Zeitraum vor 1990 verkündeten für die DDR gegenüber der BRD noch der seit 1990 verfolgten für die NBL gegenüber den ABL.

Das bisher Versäumte soll mit dieser Publikation nachgeholt werden. Natürlich kann man sich fragen, ob es gerechtfertigt ist, sich für die Beurteilung der Wirtschaftskraft Ostdeutschlands auf deren Entwicklung im Vergleich mit der Westdeutschlands zu konzentrieren, also nicht auf den absoluten, sondern auf den relativen Fortschritt beziehungsweise Rückschritt der DDR beziehungsweise der NBL. Ein Blick auf den tatsächlichen Geschichtsverlauf lässt erkennen, dass diese Verknüpfung durchaus geboten ist. Die DDR hat sich stets im Vergleich zur Bundesrepublik definiert. Kein Fünf- beziehungsweise Siebenjahrplan wurde dort verabschiedet, ohne dass seine Ziele nicht auch mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung beim westlichen Nachbarn festgelegt wurden, ob das nun – wie in den beiden ersten Jahrzehnten der Existenz der DDR – öffentlich gemacht wurde oder ob dies – ab 1971 – eher intern geschah.

Bereits im Dokument über den ersten Fünfjahrplan der DDR (1951–1955) hieß es einleitend in diesem Sinne: »Dieser Plan gibt das Beispiel für die Entwicklung in ganz Deutschland. Es zeigt allen friedliebenden Menschen in der ganzen Welt das Gesicht eines neuen, wahrhaft friedlichen und demokratischen Deutschland.« Im Mittelpunkt der Deutschlandpolitik der SED-Führung stand immer das Versprechen, bezüglich Wirtschaftsleistung und Wohlstandsniveau den nach 1945 vor allem durch Demontagen und andere Reparationsleistungen eingetretenen Rückstand der DDR gegenüber der Bundesrepublik zumindest aufzuholen. Die SED-Führung wusste, dass Antifaschismus und soziale Gerechtigkeit allein nicht ausreichen würden, die DDR auf Dauer im deutschsprachigen Raum zu verankern. Das Wohlstandsniveau musste irgendwann dem der Bundesrepublik entsprechen. Das zu gewährleisten, verlangte auch eine Wirtschaftsleistung auf »Westniveau«. Dieses Ziel zu erreichen, gelang – wie noch detaillierter in diesem Band beschrieben wird – nicht. Der Erhalt der DDR konnte folglich nicht gesichert werden.

Mit dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik im Jahr 1990 ging die Aufgabe, an der die SED-Führung gescheitert war, auf die Bundesregierung über. Und diese hat sie – worauf in der gebotenen Ausführlichkeit einzugehen ist –, ohne zu zögern, akzeptiert. Die Verpflichtung, nachzuweisen, dass Ostdeutschland im besseren Deutschland angekommen ist, ergab sich für die Regierung von Helmut Kohl und die Nachfolgeregierungen von Gerhard Schröder und Angela Merkel zwangsläufig aus der Geschichte des Zustandekommens der deutschen Einheit 1990: Ohne das Versprechen, den Osten rasch auf das Niveau des ökonomisch leistungsfähigeren, ein höheres Wohlstandsniveau aufweisenden und vor allem deshalb (und weniger durch Freiheit und Demokratie, wie gern behauptet) attraktiveren deutschen Teilstaats zu heben, hätte die Mehrheit der DDR-Bevölkerung im März 1990 nicht für jene ostdeutschen Parteien gestimmt, die sich die Eingliederung Ostdeutschlands in die BRD zum Ziel gesetzt hatten. Ohne bundesdeutsches Aufholversprechen hätte es keinen Anschluss der DDR gegeben.

Tatsache ist also: Seit 1990 gilt in der Bundesrepublik die Angleichung des ostdeutschen an das Westniveau als Maßstab für eine erfolgreiche Entwicklung der neuen Bundesländer. Daher ist es historisch gerechtfertigt, die Entwicklung der Wirtschaft in den neuen Bundesländern nach 1990 anhand der gleichen Kriterien zu messen wie sie für die Beurteilung des ökonomischen Wettbewerbs der DDR mit der BRD in den zweieinhalb Jahrzehnten vor 1990 verwendet werden.

Als das wichtigste Kriterium ist von mir das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner als statistischer Nachweis für die Entwicklung der Wirtschaftskraft ausgewählt worden. Es handelt sich um eine Kennziffer, die auf der Grundlage des von den Vereinten Nationen benutzten und empfohlenen »Systems Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen« über die Entwicklung der Arbeitsproduktivität in einem Land beziehungsweise in einer Region Auskunft gibt.

Eine bekanntere Variante der Messung der Arbeitsproduktivität bezieht den Wert der im Land geschaffenen Erzeugnisse und Dienstleistungen nicht auf die Gesamtbevölkerung, sondern auf die Anzahl der Beschäftigten. Die dabei häufig zur Messung verwendete Kennziff0er »Bruttoinlandsprodukt pro Erwerbstätigen« halte ich für den deutsch-deutschen Vergleich der Produktivitätsentwicklung für weniger geeignet. Sie hat den Nachteil, dass sie weder den in beiden Ländern beziehungsweise Regionen unterschiedlichen Anteil der Nicht-Erwerbstätigen (darunter die Zahl der Arbeitslosen) berücksichtigt noch die Unterschiede in der durchschnittlich geleisteten Arbeitszeit je Beschäftigten. In der DDR gab es im zu behandelnden Zeitraum im Unterschied zur Bundesrepublik keine Arbeitslosen, in den NBL lag und liegt die Arbeitslosenkennziffer signifikant höher als in den ABL. Der Anteil der Teilzeitbeschäftigten war in den siebziger und achtziger Jahren in der DDR größer als in der BRD wegen des deutlich höheren Anteils berufstätiger Frauen. Die aus dem unterschiedlichen Beschäftigungsgrad beider Länder beziehungsweise Regionen resultierenden störenden Einflüsse auf die exakte Messung der volkswirtschaftlichen Produktivität können eliminiert werden, wenn die Arbeitsleistung auf die gesamte Bevölkerungszahl bezogen wird, wie es in diesem Buch geschieht.

Aber lässt sich die Fokussierung der Analyse auf ein (Aufhol-)Kriterium als Ausgangspunkt für die Beurteilung der Gesamtentwicklung rechtfertigen?

Dazu ist zu sagen: Wenn auch die Gegenüberstellung der an der Arbeitsproduktivität je Einwohner gemessenen wirtschaftlichen Leistungskraft Ost- und Westdeutschlands wegen ihrer gesellschaftlichen Bedeutung und exakteren Aussage im Mittelpunkt des Vergleichs der Entwicklung beider deutscher Staaten stehen muss, so ging und geht es doch beim Vergleich der Entwicklung Ost- und Westdeutschlands keineswegs nur um die Angleichung der wirtschaftlichen Leistungskraft. Aber deren Niveau und Entwicklung, das sei noch einmal betont, hat unmittelbaren Einfluss auf die Entwicklung anderer gesellschaftlicher Bereiche, auf das Wohlstandsniveau, die soziale Sicherheit, die Einkommens- und Vermögensentwicklung, auf das Gesundheits- und das Erziehungswesen.

Es muss noch einmal betont werden: Die Aufgabe, zum Leistungs- und Wohlstandsniveau des anderen Teils von Deutschland aufzuschließen, konnten sich die Regierenden weder in der DDR vor noch in der BRD nach 1990 auswählen. Die ostdeutsche Bevölkerung maß die Tatkraft und die Glaubwürdigkeit ihrer jeweiligen Regierungen vor allem daran, ob sie in der Lage waren, das Lebensniveau in Ostdeutschland an das im anderen Deutschland anzupassen. Die Verpflichtung, nachzuweisen, dass die DDR das bessere Deutschland ist, ergab sich für die SED-Führung somit schon aus der Gründungsgeschichte des ostdeutschen Staates: Der ökonomisch leistungsfähigere, ein höheres Wohlstandsniveau aufweisende, sozial gerechtere, das heißt der attraktivere, deutsche Teilstaat würde letztlich das vereinigte Deutschland prägen.

Für die SED-Führung schien der Erfolg des Aufholwettbewerbs mit der BRD, dem sie sich zu stellen hatte – selbst von der unverschuldet ungünstigeren Ausgangs­position der ostdeutschen Wirtschaft im Nachkriegsdeutschland aus –, vorprogrammiert. Diese Gewissheit gründete sich vor allem auf Ideologie. Mit der administrativen Zentralplanwirtschaft glaubte man, das geeignete Mittel für den Sieg im ökonomischen Wettbewerb in der Hand zu halten. Die auf dem Fundament ­gesellschaftlichen Eigentums basierende sozialistische Planwirtschaft wurde der kapitalistischen Marktwirtschaft – schon wegen der mit jener Art des Wirtschaftens verbundenen zyklischen Wirtschaftskrisen – als prinzipiell überlegen betrachtet. Darüber hinaus glaubte man, für die demonstrierte Siegeszuversicht auch Nachweise aus der Wirtschaftsgeschichte zu haben: Die Erfolge sowjetischer Fünfjahrpläne der 1930er Jahre sowie die beachtlichen Leistungen der sowjetischen Kriegswirtschaft 1941–1945 wurden auf das Territorium Ostdeutschlands projiziert und in die Zukunft extrapoliert. Ähnliches galt auch für die sowjetischen Erfolge im Kosmos. Seit 1956 symbolisierte der Sputnik für mehr als anderthalb Jahrzehnte in den Augen der SED-Führung die prinzipielle Überlegenheit der sowjetischen Wirtschaft und Technik gegenüber der der USA.

Auch für die Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl schien 1990, als der Kanzler dem Wunsch einer Mehrheit der Ostdeutschen nach Teilhabe an der DM entsprach, der rasche Wirtschaftsaufschwung der neuen Länder vorprogrammiert. Dafür gab es erstens ideologische Gründe. Mit der »sozialen Marktwirtschaft« – tatsächlich war sie bereits seit einem Jahrzehnt neoliberal geprägt – glaubte Kohl, das geeignete Instrument für ein rasches Aufholen der ostdeutschen Länder in der Hand zu haben. Die Überzeugung, über das effizientere Wirtschaftssystem zu verfügen, ließ die Regierung von Helmut Kohl nicht daran zweifeln, dass der Osten des vereinigten Deutschlands binnen kurzer Zeit zum Westniveau aufschließen würde, sobald dort die planwirtschaftlichen Strukturen beseitigt und durch marktwirtschaftliche ersetzt sein würden. Diese 1990 demonstrierte Gewissheit war also vor allem ideologisch begründet. Darüber hinaus schöpfte man auch aus einem historischen Vergleich diese Zuversicht. Gern wurde seitens bundesdeutscher CDU/CSU- und FDP-Politiker 1990 darauf hingewiesen, dass in Westdeutschland 1948 nach drei Jahren einer als wenig effizient eingeschätzten bürokratisch organisierten »Bewirtschaftung« die Währungsreform das Tor zum »Wirtschaftswunder« aufgestoßen hatte. Genauso würde die propagierte Währungsunion, kombiniert mit der Einführung der Marktwirtschaft, für Ostdeutschland ein »zweites Wirtschaftswunder« einleiten.

Wie wir wissen, und wie im Einzelnen noch nachzuweisen sein wird, haben sich die Konvergenz-Voraussagen weder für die DDR noch in den neuen Bundesländern erfüllt, weder im verkündeten Umfange noch in der vorgesehenen Zeitspanne. Die Schuld daran haben sich allein die Regierenden zuzuschreiben, auch wenn deren deutschlandpolitisches Handeln jeweils der Zustimmung der »Schutzmächte« USA und UdSSR bedurfte. Allerdings kann auf die außenpolitische Einbettung der Aufholpolitik beziehungsweise des Vereinigungsprozesses im Rahmen dieses Buches – schon aus Platzgründen – unmittelbar nur an einigen Stellen eingegangen werden.

Einen gebührenden Platz im Buch nimmt die Beantwortung der Frage ein, wie die Regierenden in der DDR beziehungsweise BRD mit den unbefriedigenden Ergebnissen ihrer Aufholpolitik intern und gegenüber der Öffentlichkeit umgingen. Dabei sind die Überlegungen beziehungsweise Maßnahmen zur eventuellen Korrektur der bald als wenig geeignet erkennbaren Wirtschaftsstrategie innerhalb der Regierungen ebenso im Fokus der Darstellung wie das Bestreben der Politiker und der von ihnen beherrschten beziehungsweise beeinflussten Medien, die Ergebnisse und vor allem die bei der Aufholpolitik auftretenden Probleme der Bevölkerung zu vermitteln beziehungsweise zu verschweigen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Vorgehen der Regierungen der DDR beziehungsweise BRD geben am konkreten Fall auch Hinweise auf die Wirkungsweise und die Folgen der unterschiedlichen politischen Lenkungsstrukturen, das heißt über Diktatur beziehungsweise Demokratie in DDR und BRD.

Einige Hinweise noch zum Aufbau des Buches: Von den auf diese einleitenden Bemerkungen folgenden Kapiteln beziehungsweise Unterkapiteln sind acht dem Zustandekommen, der Verkündung und den Problemen der Realisierung der Aufholprogramme gewidmet. Davon beziehen sich in chronologischer Reihenfolge vier Abschnitte auf die DDR, zwei auf die »Wendezeit« 1989/90 und zwei auf die Entwicklung der neuen Bundesländer im vereinigten Deutschland. Eine Unterteilung auch innerhalb der Zeiträume vor und nach 1989 erschien mir notwendig, da die Bedingungen für die Verwirklichung der Konvergenzstrategien, darunter die eingesetzten Mittel und die Rahmenbedingungen für die Aufholpolitik, sich von Zeitabschnitt zu Zeitabschnitt zum Teil beträchtlich unterschieden. Das gilt sowohl für das Vierteljahrhundert, in dem Ostdeutschland nunmehr Bestandteil der Bundesrepublik ist, als auch für die behandelten 25 Jahre DDR-Entwicklung. Für den Zeitraum 1965 bis 1990 ist eine zeitliche Untergliederung der Entwicklung schon deshalb angebracht, weil sich in den nach dem Ende der DDR von Historikern und auch Wirtschaftshistorikern verfassten Darstellungen zur DDR-Geschichte die Tendenz breitgemacht hat, die Wirtschaftsentwicklung der DDR rückblickend als »aus einem Guss« zu betrachten, als eine – durch die Übernahme der Planwirtschaft bedingte – Fehlentwicklung von Anfang an, die die DDR-Geschichte bestenfalls noch als einen »Untergang auf Raten« darstellen lässt.

Eine Entwicklung »wie aus einem Guss« lässt sich auf den ersten Blick auch für die 25 Jahre nach der Vereinigung zumindest aus den regierungsamtlichen Verlautbarungen zum Aufbau Ost ablesen. Gewiss, es dauere länger als ursprünglich vorgesehen, hieß es. Aber man sei kontinuierlich bemüht gewesen, den »Aufschwung Ost« voranzubringen, und die neuen Bundesländer schlössen immer mehr zu den alten auf. Tatsache ist aber etwas anderes: Wie zu DDR-Zeiten, eigentlich noch ausgeprägter, lassen sich auch für die Zeit ab 1990 anhand der ausgewählten Kriterien bei der Realisierung des Zieles der Angleichung des Wirtschaftsniveaus Zeiten der erfolgreichen Verwirklichung der Aufholstrategie und solche der Stagnation beziehungsweise ihres Misslingens voneinander unterscheiden.

Im 9. Kapitel dieser Publikation werden die Einholversuche vor und nach 1990, unternommen von der SED-Führung beziehungsweise den bundesdeutschen Regierungen, miteinander verglichen hinsichtlich ihrer Erfolge und Probleme, der Ähnlichkeiten und Unterschiede im Herangehen, in der Bereitschaft, die auftretenden Probleme zu erkennen, sie in der Öffentlichkeit zu diskutieren und im Falle problematischer Entwicklungen Änderungen an der verkündeten Strategie vorzunehmen. Abschließend wird anhand des Vergleichs der 1989 beziehungsweise im Jahr 2015 erreichten Ergebnisse bei der Verwirklichung der verfolgten Einholstrategien ein Blick auf die zukünftig zu erwartenden Ergebnisse im deutsch-deutschen beziehungsweise innerdeutschen Aufholwettbewerb geworfen.

1. »Überholen, ohne einzuholen«? – Ulbrichts Aufholpolitik bis 1970

Von den vielen Losungen aus DDR-Zeit gehört »Überholen, ohne einzuholen« zu den bis heute bekannt gebliebenen. Die zum geflügelten Wort mutierte Losung lieferte sogar den Titel für ein 1995 zum Kauf angebotenes »zeitgemäßes Würfelspiel mit historischem Hintergrund«. Der Grund, warum auf diese Losung in der Publizistik immer mal wieder gern Bezug genommen wurde, ist offensichtlich: Sie ist geeignet, Ulbricht und die SED-Führung als Illusionisten, als Hochstapler zu entlarven, gibt deren Glauben daran, dass sich mit der Planwirtschaft Wunder vollbringen lassen, der Lächerlichkeit preis.

Doch analysieren wir das Zustandekommen der Zielstellung ernsthaft! Als Ende der 1960er Jahre in den Planvorlagen der SED, so in der vom Ministerrat der DDR 1970 herausgegebenen »Grundsatzregelung für die Gestaltung des ökonomischen Systems des Sozialismus in der DDR im Zeitraum 1971 bis 1975«, verkündet wurde, dass man sich bei der Realisierung der Planaufgaben vom Prinzip »Überholen, ohne einzuholen« leiten lassen werde, war auch die Sicht des westdeutschen Nachbarn auf die von der SED-Führung herausgegebene Losung noch sachlich. »Das etwas paradoxe Motto von Walter Ulbricht«, befand der auf die DDR spezialisierte Wirtschaftsjournalist Joachim Nawrocki durchaus ernsthaft. In einem in der Zeit im April 1970 erschienenen Artikel zitierte er zur näheren Erläuterung des Prinzips ohne Skrupel aus dem Neuen Deutschland. Dort hatte die Redaktion den Lesern die mit »Überholen, ohne einzuholen« verfolgten Absichten so erklärt: »Wir wollen dem gegenwärtigen Welthöchststand nicht auf bereits mehr oder weniger bekannten Wegen nacheilen, um ihn zu erreichen. Vielmehr wollen wir, gewissermaßen an ihm vorbei, völlig neue Wirk- und Arbeitsprinzipien, neue Technologien erkunden und praktisch beherrschen und auf diese Weise einen neuen Höchststand bestimmen.« Nawrocki verwies im Zeit-Artikel noch darauf, dass die Politik der SED, von Wirtschaftsniveau und -leistung her zum Westen, insbesondere zur Bundesrepublik, aufzuschließen, nicht neu sei, von Ulbricht vielmehr seit mehr als einem Jahrzehnt betrieben werde.

Tatsächlich war im September 1959 vom Parlament der DDR ein Siebenjahrplan (1959 –1965) verabschiedet worden, dessen »ökonomische Hauptaufgabe« lautete: »Die Volkswirtschaft der DDR ist innerhalb weniger Jahre so zu entwickeln, dass die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung gegenüber der Herrschaft der imperialistischen Kräfte im Bonner Staat eindeutig bewiesen wird und infolgedessen der Pro-Kopf-Verbrauch mit allen wichtigen Konsumgütern den Pro-Kopf-Verbrauch der Gesamtbevölkerung in Westdeutschland erreicht und übertrifft.« In seiner Rede zur Begründung der »ökonomischen Hauptaufgabe« äußerte sich Walter Ulbricht präziser hinsichtlich des Zeitraums, in dem das Siebenjahrplanziel erreicht werden sollte: »Wir schlagen vor, durch gemeinsame größere Anstrengungen in den nächsten drei Jahren die ökonomische Hauptaufgabe bis 1961 zu lösen.«

Ohne sich verschulden zu müssen, konnte das Ziel nur erreicht werden, wenn auch das Leistungsniveau der DDR-Wirtschaft an das bundesdeutsche herangeführt wurde. In einer 1960 herausgegebenen Broschüre zur Popularisierung der Siebenjahrplanziele hieß es dementsprechend auch: »Die DDR wird bis 1961 Westdeutschland im Verbrauch der wichtigsten Konsumtionsmittel pro Kopf der Bevölkerung einholen und übertreffen sowie im Verlaufe des Siebenjahrplanes eine höhere Arbeitsproduktivität wie Westdeutschland erreichen.« Überhaupt nicht klar war, mit welchen Mitteln man im Jahr 1961 und den darauffolgenden drei oder vier Jahren, das heißt, solange die Wirtschaftsleistung noch niedriger sein würde als das Konsumtionsniveau, die Differenz ausgleichen würde. Über derartige »Kleinigkeiten« schwieg sich die immerhin 46 Seiten umfassende Propagandabroschüre aus. Dem Leser von heute, der aus der Kenntnis der nachfolgenden Jahrzehnte urteilt, stellt sich vor allem aber die Frage, wie Ulbricht und die anderen Mitglieder der SED-Führung, wenn sie schon aus Opportunitätsgründen – um die Arbeitskräfteabwanderung von der DDR in die BRD zu stoppen – das ehrgeizige Aufholziel verkünden zu müssen glaubten, eine so kurze Frist für die Erreichung dieses Zieles ansetzen konnten. Wenn man die »ökonomische Hauptaufgabe« nicht als Luftnummer, als Agitation, nicht einfach als leeres Versprechen einschätzt, was allerdings angesichts dessen, dass damals noch jeder DDR-Bürger den Lebensstandard vergleichen konnte bei einem Besuch Westberlins, unwahrscheinlich ist, dann bleibt auf den ersten Blick nur die Antwort, dass der proklamierte Wettbewerb mit dem ökonomischen Riesen BRD von gewaltigen Illusionen über die Möglichkeiten der Planwirtschaft gegenüber marktwirtschaftlichen Regelmechanismen getragen wurde. Gemeint war die Planwirtschaft, wie sie damals in der DDR und den Ländern Osteuropas (mit Ausnahme Jugoslawiens) vorherrschte: eine Planwirtschaft, die zen­tral und administrativ betrieben wurde und die sich weitgehend oder vollständig auf Staatsbetriebe gründete. Für einen derartigen Glauben an die Überlegenheit der Planwirtschaft spricht der folgende Abschnitt aus der Präambel des Siebenjahrplangesetzes: »Rund 90 Prozent der Industrieproduktion wird in den volkseigenen Betrieben erzeugt. Damit ist in der Deutschen Demokratischen Republik die kapitalistische Ausbeutung im wesentlichen beseitigt. Das Volk arbeitet nicht mehr für den kapitalistischen Profit, sondern für den eigenen Wohlstand und für das Wohl der sozialistischen Gesellschaft.«

Doch die SED-Führung verließ sich bei der Erarbeitung und Verkündung des ehrgeizigen Aufholzieles keineswegs allein auf die Ideologie. Sie berief sich auch auf die jüngste Geschichte, darauf, dass in der DDR sowohl der Zweijahrplan (1949 –1950) als auch der erste Fünfjahrplan (1951–1955) übererfüllt worden waren; darauf, dass die außerordentlichen wirtschaftlichen Belastungen der Nachkriegszeit aufgehört hatten. Seit Ende 1954 musste die DDR keine Reparationen mehr leisten, seit 1958 keine Besatzungskosten mehr zahlen. Bereits 1957 hatte sich der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow verpflichtet, zukünftig die verarbeitende Industrie der DDR vorbehaltlos mit den benötigten Rohstoffen für ein beschleunigtes Wirtschaftswachstum zu beliefern.

Nicht nur materielle, auch moralische Unterstützung erhielt die SED durch die KPdSU-Führung. Chruscht­schow verkündete, dass der Übergang zum Sozialismus/Kommunismus angesichts der Vermeidbarkeit eines »heißen Krieges« und der gewachsenen Stärke des »sozialistischen Weltsystems« nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in den anderen sozialistischen Ländern des Blocks in »historisch kurzer Frist« abgeschlossen werden könne. Es wäre deshalb möglich, beim Einholen der westlichen Ökonomien – die UdSSR die USA, China Großbritannien und die DDR die BRD – »Zeit zu gewinnen und die Frist zu verkürzen« und im Systemwettbewerb zu siegen.

Ulbricht und die SED-Führung glaubten, noch ein weiteres Argument zugunsten eines raschen Aufholens der DDR in der Tasche zu haben: die zyklischen Krisen des Kapitalismus. Diese hatten die Marktwirtschaften im 19. und 20. Jahrhundert in Abständen immer wieder getroffen. Nach 1945 waren sie bis dato ausgeblieben. Umso wahrscheinlicher war, dass sie bald auftreten würden. Die an der Humboldt-Universität lehrenden Professoren für »Politische Ökonomie des Kapitalismus« sagten sie als bevorstehend voraus. Einer von ihnen, Johann Lorenz Schmidt, veröffentlichte in der vom Zentralkomitee der SED herausgegebenen wissenschaftlichen Monatszeitschrift Einheit 1958 einen Artikel unter der Überschrift »Die Wirtschaftskrise in den kapitalistischen Ländern ist unabwendbar«. Er schloss aus der abflauenden Wachstumskurve des Bruttosozialprodukts mehrerer dieser Länder seit Mitte der 1950er Jahre, dass »eine richtiggehende zyklische Überproduktionskrise« in den USA, aber »auch in verschiedenen anderen hochentwickelten Ländern wie England und Westdeutschland« bevorstände. Der sich dank günstigeren Umfelds beschleunigende Wirtschaftsaufschwung Ost und die gleichzeitig zu erwartende nachlassende Wirtschaftsentwicklung West ließen die SED-Führung mit einer raschen Annäherung der DDR-Wirtschaftsleistung an die der Bundesrepublik rechnen.

In Radiosendungen und Zeitungsartikeln war die SED-Führung bemüht, die historischen Argumente für das Gelingen des wichtigsten Siebenjahrplanzieles der Bevölkerung nahezubringen. Dabei scheuten sich die Propagandisten durchaus nicht, auch Argumente zugunsten des raschen Einholens vorzubringen, die einer seriösen Überprüfung nicht standhalten konnten. In einer von der SED-Bezirksleitung Groß-Berlin, Abteilung Agitation/Propaganda, im ersten Quartal 1960 »für die Berliner Arbeiter« herausgegebenen Broschüre, betitelt »Die große nationale Bedeutung des Siebenjahrplanes der Deutschen Demokratischen Republik«, wurde, um glaubhaft zu machen, dass das Einholen der Bundesrepublik gelingen würde, zum Beispiel so argumentiert: »Nach dem Ersten Weltkrieg betrug der Anteil der Sowjetunion an der Industrieproduktion der Welt etwas mehr als 2 Prozent, 1937 schon 10 Prozent. Heute produziert das sozialistische Lager rund 35 Prozent. Man braucht kein Wirtschaftsfachmann zu sein, um zu verstehen, dass die sozialistische Gesellschaft, die unter den schwierigsten Bedingungen ihren Anteil an der industriellen Produktion der Welt von 2 Prozent auf 35 Prozent erhöhen konnte, nunmehr in der Lage ist, in kurzer Zeit den Anteil von 35 Prozent auf über 50 Prozent zu erhöhen. Dieser Blick auf unsere nahe Zukunft ist wunderbar.«

Selbst wenn man die berechneten Anteilwerte so akzeptiert, fällt auf, dass die unter dem Kapitalismus in den europäischen Ländern des »sozialistischen Weltsystems« aufgebauten Industrien – und die in Ostdeutschland und in der Tschechoslowakei waren bereits hochentwickelt, bevor die Länder »sozialistisch« wurden – einfach dem sozialistischen Aufbau zugerechnet wurden. Es wurde im Interesse der Darstellung eines eindrucksvollen Wachstums unter planwirtschaftlichen Vorzeichen von den Berliner Propagandisten schlichtweg und übel getrickst!

Doch inwieweit kam die Propagierung der »ökonomischen Hauptaufgabe« überhaupt bei den Adressaten, etwa bei den Berliner Arbeitern, an? Meinungsumfragen gab es Ende der fünfziger Jahre in Ostdeutschland noch nicht. Ein Meinungsforschungsinstitut wurde in der DDR erst 1964 gegründet. Wahlen, bei denen die Bevölkerung über die wirtschaftspolitischen Programme der Parteien hätte abstimmen können, gab es ebenfalls nicht. Doch es gab, was bundesdeutsche Politiker und Publizisten seinerzeit als »Abstimmung mit den Füßen« bezeichneten: das Verlassen der DDR in Richtung Westen durch diejenigen ihrer Bürger, die von der Entwicklung in der DDR enttäuscht waren, über die offene Grenze in Berlin. Ein Großteil derjenigen »Zonenflüchtlinge«, die – wie es in der bundesdeutschen Propaganda hieß – dem »SED-Regime den Rücken kehrten«, waren nach unseren heutigen Maßstäben Wirtschaftsflüchtlinge. Der Anteil derjenigen Migranten aus der DDR, die gegenüber den bundesdeutschen Aufnahmebehörden nachweisen konnten, dass sie »wegen einer Gefahr für Leib und Leben oder die persönliche Freiheit« geflohen waren, lag im Durchschnitt der Jahre 1952 bis 1961 bei 14,2 Prozent. Sechs von sieben Ost-West-Wanderern erhofften vom Wechsel von einem deutschen Staat in den anderen eine raschere Steigerung ihres Lebensstandards, als das in der DDR möglich war.

Wie reagierten nun diese potentiellen Abwanderer auf das Versprechen der Regierenden, in der DDR innerhalb weniger Jahre die gleichen Lebensbedingungen zu schaffen wie in Westdeutschland? Glaubten sie Ulbricht und der SED-Führung? Die Antwort lässt sich anhand der Entwicklung der jährlichen Flüchtlingszahlen vor und nach der Verkündung der »ökonomischen Hauptaufgabe« 1958 ablesen: Die Zahl der Abwanderer, die 1957 352000 erreicht hatte, sank noch 1958 auf 216000 und verringerte sich 1959 weiter auf 144