Aufholjagd - Simon Hage - E-Book

Aufholjagd E-Book

Simon Hage

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Beschreibung

Schicksalsjahre für die deutsche Autoindustrie: Haben BMW, Mercedes-Benz, Volkswagen und Co. noch eine Zukunft?

Zu lange haben die deutschen Autohersteller die Bedeutung der Digitalisierung und des Klimawandels unterschätzt − Rivalen wie Tesla, Tech-Riesen wie Google und Apple, aber auch zahlreiche chinesische Hersteller wissen das längst für sich zu nutzen: Sie alle investieren bereits massiv in die klimafreundliche, digital vernetzte Mobilität der Zukunft.

Doch die Aufholjagd hat begonnen: Während Volkswagen und Audi den Frontalangriff auf Elon Musk wagen, Daimler sich wieder auf seinen Markenkern besinnt und BMW die vielversprechendsten Zukunftstechnologien auslotet, schicken sich ambitionierte Start-ups an, massentaugliche Autos zu entwickeln, die noch vor Kurzem als undenkbar galten.

Simon Hage und Martin Hesse dringen vor in die Schaltzentralen der deutschen Autokonzerne, die dramatische Stunden durchleben. Denn die nächsten Jahre werden entscheiden, ob sie es schaffen, die Weltspitze zurück zu erobern – oder ob mit ihnen der wichtigste Wirtschaftszweig Deutschlands abgehängt wird.

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Schicksalsjahre für die deutsche Autoindustrie: Haben BMW, Mercedes-Benz, Volkswagen und Co. noch eine Zukunft?

Zu lange haben die deutschen Autohersteller die Bedeutung der Digitalisierung und des Klimawandels unterschätzt − Rivalen wie Tesla, Tech-Riesen wie Google und Apple, aber auch zahlreiche chinesische Hersteller wissen das längst für sich zu nutzen: Sie alle investieren bereits massiv in die klimafreundliche, digital vernetzte Mobilität der Zukunft.

Doch die Aufholjagd hat begonnen: Während Volkswagen und Audi den Frontalangriff auf Elon Musk wagen, Daimler sich wieder auf seinen Markenkern besinnt und BMW die vielversprechendsten Zukunftstechnologien auslotet, schicken sich ambitionierte Start-ups an, massentaugliche Autos zu entwickeln, die noch vor Kurzem als undenkbar galten.

Simon Hage und Martin Hesse dringen vor in die Schaltzentralen der deutschen Autokonzerne, die dramatische Stunden durchleben. Denn die nächsten Jahre werden entscheiden, ob sie es schaffen, die Weltspitze zurück zu erobern – oder ob mit ihnen der wichtigste Wirtschaftszweig Deutschlands abgehängt wird.

Simon Hage, geboren 1980, war Redakteur beim »Manager Magazin«, bevor er 2015 ins Wirtschaftsressort des SPIEGEL wechselte. Dort schreibt er über die Dieselaffäre, die Transformation der Autokonzerne und die zunehmende Bedeutung von Klimawandel und Digitalisierung für die ganze Industrie.

Martin Hesse, geboren 1969, arbeitete für die »Süddeutschen Zeitung« als Wirtschaftsredakteur in München und als Korrespondent in Frankfurt am Main. 2011 wechselte er zum SPIEGEL, zunächst als Finanzkorrespondent, und berichtet seit 2018 aus München über den Umbruch der Autobranche und anderer Industrien, Wirtschaftskriminalität und den Wirecard-Skandal.

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SIMON HAGE / MARTIN HESSE

AUFHOL JAGD

Der Kampf um Kunden, Ideen und Innovationen –

wie die deutschen Autobauer zurück

an die Weltspitze wollen

Deutsche Verlags-Anstalt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2022 by Deutsche Verlags-Anstalt, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

und SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG,

Ericusspitze 1, 20457 Hamburg

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Coverabbildung: © shutterstock / Paul Craft

Typografische Gestaltung: Andrea Mogwitz/DVA

Satz und E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-28768-9V003

www.dva.de

Inhalt

1Dramatis Personae

2Die Revolution: Deutschlands Schlüsselindustrie in der Defensive

Stunde Null für die Autobranche

Die schwierige Mission des Markus Duesmann

Tesla, Apple und die Nokia-Falle

Die Autoindustrie zwischen den politischen Fronten

3Die Rivalen: Attacke aus Kalifornien und China

Tesla-Schock – Wie Elon Musk die Autobranche wachrüttelt 29

China und seine Selfmade-Milliardäre

Wie Apple und Sony die Autoindustrie attackieren

4Die Reaktion: Wie das Autoimperium zurückschlagen will

Audis geplante Rückkehr zum Hightech-Player

Daimlers Konzentration auf Luxus

BMWs Sonderweg in die Zukunft der Mobilität

Wie Sono Motors zum deutschen Mini-Tesla werden könnte

5Das Risiko: Die Schlachtfelder der Zukunft

Wertschöpfung und Werteverschiebung

Batterietechnik – Operation am Herzen des Elektroautos

Mikrochips – Die Pandemie als Weckruf

Software – Vom Auto zum rollenden Computer

Daten und Plattformen – Mobilität im Wandel

Arbeitsplätze – Bosse, Betriebsräte und das Business der Zukunft

6Die Rahmenbedingungen: Die neue Rolle der Politik

Von der Gesellschaft entfremdet

In der Hand der Lobby – Die Geschichte der Autokanzler 255

Abschied von der Autoindustriepolitik

7Das Resümee: Haben die deutschen Autobauer den Mut zum Wandel?

Treiben, statt getrieben zu werden

»Ein dickes Problem« lösen

Neue Pfade testen, von Apple lernen

Gesellschaftlichen Wandel begleiten

Die Stadt der Zukunft bauen

Schluss: Showdown im Alpenparadies

Danksagung

Quellennachweise

Anmerkungen

Bildteil

1 Dramatis Personae

Markus Duesmann: Der Münsterländer ist keiner jener glatten Excel-Tabellen-Typen, die von Changemanagement reden, aber selbst nicht den kleinsten Bruch in ihrer Biografie haben. Seine Kindheit war hart. Schon mit 13 Jahren musste er sein eigenes Geld verdienen, als der Vater unheilbar an Krebs erkrankte. Vom Motorradschrauber entwickelte sich Duesmann dann zum Motorenexperten, Antriebsexperten und Autoboss. Bei Audi ruhen jetzt alle Hoffnungen auf ihm: Er soll die angeschlagene Premiummarke vom Schmuddelkind der Dieselaffäre zum Technologievorreiter und Tesla-Jäger umbauen. Seine Managementphilosophie lautet, man müsse wie ein Löwe auftreten – mal kuscheln, mal Zähne zeigen, mal zubeißen.

Herbert Diess: Unter den etablierten Herstellern gilt der VW-Konzernboss als Visionär, der früher als andere erkannt hat, wie radikal die deutsche Autobranche umsteuern muss. Ständig warnt er seine Kolleginnen und Kollegen vor der Gefahr, vom kalifornischen Herausforderer Tesla überrollt zu werden. Dabei hat Diess wenig Angst, unsympathisch rüberzukommen. Bisweilen scheint er Konflikte mit Vorstandskollegen oder der Belegschaft sogar regelrecht zu suchen. Mehrfach wurde sein Rauswurf, den die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat gefordert hatten, noch in letzter Minute abgewendet. Selbst enge Mitstreiter bringt Diess mit seiner forschen, undiplomatischen Art immer wieder an den Rand der Verzweiflung.

Silja Pieh: Die Diplomkauffrau und Wirtschaftsgeografin ist die strategische Vordenkerin bei Audi. Sie hat bereits eine beachtliche Laufbahn hinter und womöglich noch eine große Karriere vor sich: Pieh startete beim weltgrößten Zulieferer Bosch, ehe sie nach Ingolstadt wechselte und dort Innovationsprojekte wie das autonome Fahren leitete. Bei Audi startete sie 2020 eine Revolution von unten: Den Masterplan für die Zukunft des Premiumherstellers ließ sie erstmals nicht von oben verordnen, sondern erarbeitete ihn gemeinsam mit Vertretern aus der Belegschaft. Dabei hat Piehs Strategieteam herausgefunden: Laut röhrende Protzkarren mit dicken Auspuffrohren und großen Kühlergrills gelten bei vielen Audi-Fans nicht mehr als sexy.

Oliver Hoffmann: Der Motorenexperte musste sich noch vor wenigen Jahren für Audis Dieselbetrug rechtfertigen, denn er vertrat den Premiumhersteller vor den internationalen Justiz- und Umweltbehörden. In den Verhandlungen erreichte Hoffmann zumindest eins: dass Audi überlebt hat. Mittlerweile ist Hoffmann zum Entwicklungsvorstand aufgestiegen. Als achter Chefingenieur in neun Jahren soll er helfen, den Fortbestand der Traditionsmarke im Zeitalter von Tesla, Apple und Google zu sichern. Dabei agiert Hoffmann mit einer Mischung aus Macher- und Kumpelattitüde: Mit seiner jovialen Art und dem freundlich-rundlichen Gesicht erinnert er an eine junge, drahtige Version des Hollywood-Schauspielers John Goodman.

Elon Musk: Der Chef des Elektroauto-Pioniers Tesla hat sich in wenigen Jahren vom Gespött zur Schreckgestalt der Autobosse in Deutschland entwickelt. Sein Erzrivale, VW-Boss Diess, sagt über den US-Unternehmer, er denke im Vergleich zu seinen Wettbewerbern immer zwei bis drei Schritte voraus. Man könnte Musks Visionen – etwa den Plan, den Mars zu kolonialisieren – für komplett irre halten, wären da nicht seine bahnbrechenden technologischen und wirtschaftlichen Erfolge. Neben dem roten Planeten spielt auch ein anderer Ort eine entscheidende Rolle in Musks Zukunftsplänen: Deutschland. In der Nähe Berlins entsteht die Gigafactory für Teslas Europa-Expansion.

Li Shufu: Unauffällig hat der Gründer und Chef des chinesischen Fahrzeugkonzerns Geely 2018 knapp zehn Prozent an der deutschen Industrieikone Daimler erworben. Seither gilt Li Shufu als unheimliches Phantom der globalen Autoindustrie. Dabei wird längst deutlich, was der Selfmade-Milliardär vorhat: Mithilfe klangvoller Markennamen will er die Weltmärkte erobern. Den einst maladen Hersteller Volvo hat Li bereits zum europäischen E-Auto-Pionier aufgemotzt. Für Daimler, das mittlerweile Mercedes-Benz Group heißt, wird der zurückhaltende Unternehmer nach anfänglichen Berührungsängsten zunehmend zum wichtigen Partner.

William Li: Der chinesische Elon Musk, wie seine Fans ihn nennen, gründete 2014 das Elektroauto-Start-up Nio, eines der vielen Kinder der »New-Electric-Vehicle«-Initiative Pekings. Von seinen Konkurrenten grenzt er sich mit neuartigen Batterien und Wechselstationen ab. An der Börse kommt die Offensive gut an: Zeitweise war Nio mehr wert als BMW. Er selbst begreift sich vor allem als Vordenker der Welt von morgen. Die Geburt seines Kindes habe ihn ins Nachdenken gebracht, sagt Li, wie man die Metropolen sauberer machen könne. Seine Pläne aber sind kaum weniger ehrgeizig als die des exzentrischen Amerikaners Musk: Li, Sohn eines Milchbauern aus der Provinz Anhui, will mit Nio den Weltmarkt erobern.

Oliver Zipse: Während andere Automanager sich mittlerweile gerne in Sneakers und Jeans zeigen, bevorzugt der BMW-Chef den klassischen Dresscode – akkurat gescheitelt, klassisch in dunklen Anzug und weißes Hemd gewandet, formvollendet im Umgang. Seine konservative Strategie, neben E-Autos weiter auf Benzin- und Dieselfahrzeuge sowie Wasserstoffantriebe zu setzen, wirkt im allgemeinen Elektrohype fast schon subversiv. »Bei uns passiert nichts einfach so aus einer Stimmung heraus«, sagt Zipse, der anders als viele seiner Kollegen nicht in die allgemeinen Tesla-Jubelarien einstimmt. Der Mann, der morgens um fünf aufsteht und sich in die Rudermaschine setzt, führt seine Mannschaft mit militärischem Drill und ist von Zweifeln unbeleckt.

Ola Källenius: Auf den ersten Blick wirkt der hoch gewachsene Schwede mit dem braven Konfirmanden-Haarschnitt, der randlosen Brille und seinen Managerfloskeln wie ein steifer Technokrat. Doch es wäre falsch, den Daimler-Chef deshalb zu unterschätzen. Innerhalb weniger Jahre hat er den angeschlagenen Traditionskonzern, dessen Gründerväter den Verbrennungsmotor erfunden haben, auf Elektromobilität getrimmt. Die besorgte Belegschaft befriedete er mit dem Versprechen, wichtige Zukunftstechnologien auch künftig in Deutschland zu produzieren. Gleichzeitig fordert er intern mit hoher Penetranz die Erfüllung seiner Ziele ein: Mercedes soll zur klimafreundlichen Luxusmarke des digitalen Zeitalters aufpoliert werden. Denn der Vater dreier Söhne ist überzeugt, dass auch die jungen Generationen noch teure Autos kaufen werden.

Laurin Hahn und Jona Christians: Wer den beiden Gründern des Münchner Elektroauto-Start-ups Sono Motors zum ersten Mal begegnet, könnte auf die Idee kommen, jemand habe sie für eine Boygroup gecastet. Der eine schwarzhaarig, der andere hellblond. Der eine, Hahn, ein Mats-Hummels-Typ, der andere, Christians, erinnert optisch eher an André Schürrle. Der eine 1,90 Meter, der andere einen knappen Kopf kleiner. Einer beredt, der andere fast schweigsam. Aber der Boygroup-Vergleich hinkt schnell. Hahn und Christians wirken unverstellt und authentisch, kein aufgesetzter Hipsterlook und auch kein gegelter Jung-Manager-Style. Die LinkedIn-Profile sind kurz, »Experience: Sono Motors«, »Interests: Sono Motors«. Ende 2021 haben sie die Firma an die Börse gebracht – und hoffen jetzt, als Solarauto-Pioniere eine Art deutsches Mini-Tesla entwickeln zu können. Dabei gilt es allerdings noch manche Risiken und Hindernisse zu umschiffen.

2 Die Revolution: Deutschlands Schlüsselindustrie in der Defensive

Stunde Null für die Autobranche

Am 1. April 2020 beginnt für Audi eine neue Ära. Markus Duesmann betritt die Firmenzentrale in Ingolstadt, ein helles, freundliches Gebäude mit großem Foyer und gemütlicher Kaffeebar. Gewöhnlich tummeln sich hier Dutzende von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die auf ihren Laptops Präsentationen vorbereiten oder einen Pausensnack einnehmen. Doch an Duesmanns erstem Arbeitstag wirkt die Zentrale wie die Kulisse für einen Katastrophenfilm. Foyer, Flure und Büros: verlassen. Die Kaffeebar: dicht gemacht.

Ganz Deutschland steckt coronabedingt im Lockdown, eine absurde Situation. Formal ist Duesmann neuer Chef von 90000 Audianerinnen und Audianern. Doch die befinden sich überwiegend im Homeoffice oder in Kurzarbeit. Duesmann herrscht über ein weitgehend menschenleeres Reich. Er soll seinen Leuten neuen Kampfgeist einhauchen – ohne die meisten von ihnen überhaupt persönlich treffen zu können.

Nur seine wichtigsten Mitstreiter, Vorstände und Führungskräfte, hat Duesmann an diesem ersten Tag in die Zentrale bestellt. Die Stimmung ist angespannt, was dadurch verstärkt wird, dass die Anwesenden notgedrungen Abstand halten müssen. Bis in den Abend hinein lässt sich der neue Audi-Chef die Pläne für aktuelle und künftige Modelle präsentieren. Vieles missfällt ihm. Teils die mangelnde Profitabilität eines Fahrzeugs, teils das Design. »Wir leben davon,« warnt Duesmann eindringlich, »dass der Kunde unsere Autos wirklich haben möchte.«

Wie ernst er diese Botschaft meint, bekommen die Managerinnen und Manager umgehend zu spüren: Gleich am ersten Arbeitstag feuert Duesmann den Leiter einer Modellbaureihe vor versammelter Mannschaft. Dessen Präsentation erscheint ihm derart unambitioniert, dass er der verdutzten Führungskraft keine zweite Chance mehr geben will. »So was will ich nicht noch mal sehen!«, befindet Duesmann. »Ich brauche keinen, der mir einen halben Tag lang erklärt, warum es nicht besser geht.« Die übrigen anwesenden Topmanager, die trotz Lockdowns in die Zentrale gekommen sind, wirken tief beeindruckt. Genau das hat Duesmann beabsichtigt: »Als Chef muss man gelegentlich wie ein Löwe auftreten«, erklärt er später den Autoren dieses Buches. »Wenn du einmal hart zubeißt, dann haben die Leute ewig Respekt vor dir.«

Duesmann will, wenn nötig, »Zähne zeigen«. Denn sein neuer Arbeitgeber braucht dringend einen Neustart. Der Werbespruch, der schon lange in großen weißen Lettern an der Audi-Zentrale prangt, wirkt zu jener Zeit nur noch wie ein schlechter Witz: »Vorsprung durch Technik«. Schon bei seinem Ex-Arbeitgeber BMW hat Duesmann beobachtet, wie dieser Vorsprung immer weiter schrumpfte. Audis glorreiche Zeit als innovative Speerspitze der globalen Autoindustrie scheint lange vorbei. Einst erfanden Audi-Ingenieure den berühmten Vierradantrieb »Quattro«. An den Standorten Ingolstadt und Neckarsulm entwickelte man Dieselmotoren, forschte aber auch an neuen Antrieben wie Erdgas oder Brennstoffzelle. Den Wandel zur E-Mobilität haben die Audianer jedoch lange versäumt.

Statt frühzeitig neue Technologien zu entwickeln, setzte Audi auf den alten Dieselantrieb – teils mit illegalen Mitteln. Als die Politik dann aber die Abgasregeln verschärfte, programmierten Audi-Ingenieure die berüchtigte »Akustikfunktion«, jene Abgassoftware, die Dreckschleudern auf dem Prüfstand in vermeintlich saubere Ökomobile verwandelte. Duesmanns Vorvorgänger Rupert Stadler saß deshalb zeitweilig in U-Haft, nun muss er sich vor Gericht verantworten. »Vorsprung durch … Betrug« titelte der SPIEGEL2017.

Die fatale Folge: Der Ruf der Dieseltechnologie, erfunden vom deutschen Ingenieur Rudolf Diesel, ist komplett ruiniert. Dabei galt sie unter Autoexperten als relativ effiziente, schadstoffarme Antriebsart. Ohne den Betrug wäre sie womöglich noch heute ein Erfolgsmodell, eine Alternative zur E-Mobilität oder zumindest eine gefragte Übergangstechnologie. Doch schon kurz nach Bekanntwerden des Skandals rauschten die Verkaufszahlen der ehemaligen deutschen Bestseller-Technologie nach unten, getrieben durch Fahrverbote, die Politiker in vielen Innenstädten verhängten.

Dieselgate katapultierte nicht nur Audi, sondern die gesamte deutsche Autoindustrie in eine Vertrauenskrise. Die Regierungen in Berlin und Brüssel, die ihren Job- und Wohlstandsmotor lange vor allzu strengen Regeln verschont hatten, zwingen die Hersteller neuerdings mit strengen CO2-Grenzen zum Umdenken. Aber auch Kunden und milliardenschwere Investoren blicken kritischer als bisher auf die Industrie. Parallel zur Abgasaffäre reifte in der Gesellschaft das Bewusstsein, den Klimawandel deutlich entschlossener bekämpfen zu müssen als bisher. Bewegungen wie die Initiative »Fridays for Future« stellen den Sinn des Autos und der individuellen Mobilität grundsätzlich infrage. Microsoft-Gründer und Multimilliardär Bill Gates warnt die hiesigen Autobauer im »Handelsblatt« vor einer »riesigen Tragödie«. Viele Arbeitsplätze stünden auf dem Spiel, wenn Volkswagen und Co. sich bei der E-Mobilität nicht durchsetzen könnten.

In den vergangenen Jahren erlebte die Branche das, was Wissenschaftler in der angelsächsischen Welt als »perfect storm« beschreiben, einen perfekten Sturm aus Imageproblemen, technologischem Wandel, aggressiveren Wettbewerbern und einer globalen Absatzschwäche, die sich zuletzt noch einmal verschärfte: Die Pandemie führte zu einem Boom der Laptops, Fernseher und Spielekonsolen – und in dessen Folge zu einer Knappheit an Computerchips, unter der die Branche noch mindestens im Jahr 2022 zu leiden hat. Denn Halbleiter stecken heute in fast jedem wichtigen Autoteil, vom Scheibenwischer bis zum elektrischen Fensterheber. Der Engpass legt die technologische Schwäche der deutschen Autohersteller schonungslos offen, auch wenn er ihnen – rein finanziell betrachtet – kurzfristig paradoxerweise sogar hilft: Weil BMW, Audi und Daimler bevorzugt große, teure Fahrzeuge mit den knappen Chips ausstatteten, stiegen ihre Gewinne 2021 auf Spitzenniveaus.

In kurzer Zeit müssen Hersteller wie Audi, BMW oder Daimler einen epochalen Wandel nachholen, den sie jahrelang ignoriert haben. Sie haben den Verbrennungsmotor groß gemacht und mit ihm goldene Jahrzehnte mit immer neuen Rekordgewinnen erlebt.

Doch die Technologien der Zukunft – Batterietechnik, Computerchips, Software, autonomes Fahren und Mobilitätsdienste – werden plötzlich nicht mehr von den Erfindern des Automobils, sondern von Hightech-Konzernen aus den USA oder Asien dominiert. Neulinge wie Tesla haben es besser und schneller als die Platzhirsche geschafft, Megatrends wie Klimawandel und Digitalisierung zu erkennen – und daraus erfolgreiche Geschäftsmodelle zu entwickeln. Aus jahrzehntelangen Vorreitern der Branche sind heute Nachzügler geworden.

In den deutschen Autokonzernen selbst ist indes eine Art Kulturkampf entbrannt. Dass sie sich wandeln müssen, ist mittlerweile unstrittig. Doch die Frage, wie schnell der Umbruch gehen soll und wie alternativlos er tatsächlich ist, entzweit die traditionellen Hersteller – untereinander und auch intern. Während vor allem Audi und Daimler sich in kurzer Zeit zu reinen Elektroauto-Anbietern mit eigener Batterieproduktion und großer Softwareabteilung entwickeln wollen, schlägt BMW einen Sonderweg ein: Die Münchner plädieren für Technologieoffenheit – sie glauben weiterhin an Alternativen wie den Brennstoffzellenantrieb. BMW-Manager warnen die deutsche Autoindustrie davor, im Wettlauf mit neuen Rivalen wie Tesla eigene Kernkompetenzen zu vernachlässigen. Die qualitativ besten und sichersten Autos, glaubt BMW-Chef Oliver Zipse, würden immer noch in Deutschland entwickelt. Auch Zulieferer beklagen, die Autonation lege sich zu schnell und zu radikal auf die E-Mobilität fest.

Bei allem Willen zum Wandel ist die Unsicherheit zu spüren, die er auslöst – in den Chefetagen, aber auch bei einfachen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die damit zurechtkommen müssen, dass nicht mehr Motorenentwickler oder Getriebebauer die Stars der Branche sind, sondern Programmierer und IT-Entwickler.

Wir, die beiden Buchautoren, haben die deutsche Autoindustrie mehr als ein Jahr lang auf ihre Zukunftsfähigkeit hin durchleuchtet und mit vielen ihrer prominentesten Vertreter gesprochen, darunter die Bosse von Volkswagen, BMW und Daimler, aber auch mit Beschäftigten quer durch die Hierarchieebenen. Dazu zählt etwa Audi-Strategiechefin Silja Pieh, die mit den autoritären Gepflogenheiten der Industrie brach – und gemeinsam mit 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern den neuen Masterplan des Premiumherstellers entwickelt hat. Oder Denise Nepraunig, eine junge Programmiererin, die bewusst von einem Softwareunternehmen zu VW gewechselt ist, um in dem Traditionskonzern den Übergang in die digitale Zukunft zu gestalten.

In diesem Buch analysieren wir aber auch Stärken und Schwächen großer Herausforderer. Wir begeben uns auf die Spuren zweier Unternehmer und Multimilliardäre, die für Journalisten kaum zu greifen sind, die aber die Branche in den nächsten Jahren verändern dürften wie kaum jemand anderes: Elon Musk, der Chef von Tesla, sowie Li Shufu, Daimler-Großaktionär und Boss des chinesischen Autoriesen Geely. Und wir beschreiben die Versuche von Auto-Startups wie dem Münchner-Solarauto-Entwickler Sono, mit neuen Mobilitätskonzepten die etablierten Konzerne zu verdrängen.

Besondere Aufmerksamkeit widmen wir dem neuen Audi-Chef, dem in diesem epochalen Wandel eine besondere Rolle zukommt: Markus Duesmann. Ihn haben wir zwischen Frühjahr 2020 und Herbst 2021 eng begleitet. Er gewährte uns Einblicke in seine Pläne, aber auch in Kultur und Psychologie eines Unternehmens, das er aus seiner Lethargie wecken will. Denn Audi, die Keimzelle der Dieselaffäre, steht unter besonderem Druck. Der ehemals größte Premiumhersteller der Welt ist hinter Mercedes und BMW zurückgefallen. Neue Rivalen wie Tesla attackieren gezielt das Premiumsegment, in dem die Ingolstädter einst führend waren. Fast 10000 Jobs müssen in den nächsten Jahren weichen, allein in Deutschland. Alle Hoffnungen ruhen jetzt auf Markus Duesmann, einem Manager, der selbst schon tiefe Krisen durchlebt hat.

Als Wirtschaftsredakteure des SPIEGEL haben wir die Autoindustrie bereits jahrelang intensiv beobachtet. Die schmutzigen Details der Dieselaffäre beschäftigten uns ebenso wie das Bemühen der Konzerne, die Krise als Chance zu begreifen – und einen radikalen Neuanfang zu finden. Lange waren wir skeptisch, ob Volkswagen und Co. das gelingen würde. Doch aus unserer Sicht sind die Chancen der Deutschen im Wettkampf um das Auto der Zukunft in den vergangenen Monaten gestiegen. Erste E-Modelle kommen am Markt gut an, milliardenschwere Initiativen bei IT und Batterieentwicklung wirken vielversprechend. Dennoch bleiben Zweifel, ob es den Konzernen wirklich gelingt, ihre vollmundigen Versprechen tatsächlich in konkurrenzfähige Produkte umzusetzen, die Tesla, Nio, Google oder Apple wieder in ihre Schranken weisen. Unklar ist auch, ob die Kunden die Millionen von E-Autos, die in den kommenden Jahren in den Markt gedrückt werden sollen, tatsächlich kaufen wollen – und zwar auch dann, wenn der Staat seine hohen Kaufprämien eines Tages wieder reduziert. Selbst prominente Vertreter der deutschen Autoindustrie warnen davor, sich bereits wieder in Sicherheit zu wiegen.

Die schwierige Mission des Markus Duesmann

Wer Duesmann trifft, merkt rasch, dass er sich von anderen Autobossen stark unterscheidet. Ihm fehlt das Distanzierte, Kühle, Abgehobene. Seine Körpergröße und seine tiefe, warme Stimme verleihen ihm eine natürliche Autorität. Gäste begrüßt Duesmann kumpelhaft und coronakonform mit Ghettofaust. Oft benutzt er das Wort »geil«, beispielsweise wenn ihm ein neues Auto gut gefällt. Oder auch, wenn einfach nur eine Leberkäsesemmel an seinem Platz bereitsteht. Der Löwe kann zubeißen, er kann aber auch lässig sein.

Duesmann zählt nicht zu jenen glatten Excel-Tabellen-Typen, die von Changemanagement reden, aber selbst nicht den kleinsten Bruch in ihrer Biografie haben. Seine Kindheit im Münsterland war hart. Schon mit 13 Jahren musste er sein eigenes Geld verdienen, als der Vater unheilbar an Krebs erkrankte. Duesmann spielte Schlagzeug in einer Punkband mit dem vielsagenden Namen »Children of the industrial revolution«, Kinder der industriellen Revolution. Die Bandmitglieder begriffen sich als Revoluzzer, hatten aber keine Berührungsängste zur Industrie. Diese Haltung prägt Duesmann bis heute.

Der Vater des Gitarristen besaß eine Fabrik für Spritzgussmaschinen, in der Duesmann später jobbte – sein Einstieg in die Welt der Werkzeuge und Produktionsanlagen. Dann, um sein Maschinenbaustudium zu finanzieren, reparierte er Unfallmotorräder und arbeitete sich im Verlauf der folgenden Jahre Stück für Stück hoch, von der Motorenabteilung bei Daimler bis ins BMW-Management. Dort angekommen, bewies er Rückgrat, anders als viele Motorenentwickler bei Volkswagen oder Audi: Trotz wachsenden Drucks weigerte sich Duesmann, an der Diesel-Abgastechnik zu sparen. Damit riskierte er seinen Job, bewahrte BMW aber vor einem Betrugsskandal, wie Audi ihn erlebt hat.

Auffallend ist auch seine Lust auf Veränderung. Anders als die Chefs von Daimler oder BMW, die klassische Kaminkarrieren absolviert und nie den Arbeitgeber gewechselt haben, probierte Duesmann immer wieder Neues aus. Er zählt zum sehr kleinen Kreis deutscher Automanager, die alle drei großen Hersteller von innen erlebt haben. Seine Wechselfreude brachte ihm aber auch Probleme ein. Als Duesmann 2018 bei BMW kündigte, war sein Aufsichtsratschef derart verärgert, dass er ihn zu einer 20-monatigen Zwangspause verdonnerte. In dieser Zeit durfte Duesmann weder arbeiten noch Kontakt zu Konkurrenten pflegen. Eine außergewöhnliche Härte.

Seine kleineren und größeren Krisen haben Duesmann gelehrt, sich vor allem auf einen Menschen zu verlassen: sich selbst. Er hat sich einen Lebensmut angeeignet, den der Audi-Boss jetzt an seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weitergeben will. Er werde seine Leute »wieder aus dem Tief holen«, verspricht Duesmann, »in das sie nach Dieselgate gefallen sind«. Aber wie soll das klappen, wenn Pandemie herrscht und die meisten Arbeitskräfte gar nicht persönlich anzutreffen sind?

In den ersten Wochen legt Duesmann sich einen persönlichen Krisenplan zurecht. Zunächst besorgt er sich einen Coach. Der lehrt ihn, so in die Kamera zu sprechen, dass Mitarbeiter sich direkt angesprochen fühlen. Danach verschickt Duesmann Videobotschaften, etwa vom Dach der Entwicklungsabteilung in Ingolstadt. Darin verkündet Duesmann eine »mittelgroße Revolution« bei Audi: Die Software im Fahrzeug werde künftig wichtiger sein als das Auto selbst. Es ist eine Kampfansage an Rivalen wie Tesla, die ihre Autos nicht mehr als Blechkisten, sondern als rollende Computer begreifen.

Mit welcher Wucht der neue Herausforderer aus Kalifornien da schon den Markt erobert, wird Duesmann während seiner Zwangspause nach der Kündigung bei BMW bewusst. Die nutzt er für eine 28000-Kilometer-Motorradtour, von Gibraltar zum Schwarzen Meer, vom Nordkap zu den Britischen Inseln. Im Herbst 2019, Duesmann sitzt gerade auf seiner Maschine, erhält er eine Nachricht aus Berlin: Tesla werde eine Autofabrik eröffnen, direkt vor den Toren der Hauptstadt. Von dort aus will der E-Auto-Pionier nach dem US-Markt auch ganz Europa erobern. Duesmann lacht laut auf, die Unerschrockenheit der Kalifornier imponiert ihm. »Am Anfang haben wir Tesla alle belächelt«, so der Audi-Chef. »Dann haben wir uns gewundert. Und dann waren wir geschockt, was die alles können.«

Tesla, Apple und die Nokia-Falle

Nicht jeder Automanager reagiert so gelassen wie Duesmann. In Audis Mutterkonzern Volkswagen kursieren zeitweise Untergangsszenarien. Anfang 2020 hält VW-Chef Herbert Diess seinen Führungskräften eine Brandrede. »Wenn wir in unserem jetzigen Tempo weitermachen«, warnt der Konzernboss, dann werde es »sehr eng«. Die deutsche Autoindustrie vergleicht er mit Nokia, dem einstigen Handy-Weltmarktführer, der von Apple verdrängt wurde, weil er die Entwicklung vom schnurlosen Telefon zum digitalen Smartphone verpasst hatte. Wenn VW das Tempo nicht deutlich erhöhe, so Diess, werde der Nachfolger des Käfers und des Golfs kein E-Auto von Volkswagen mehr sein, »sondern der Tesla Model 3 mit einer Million Einheiten pro Jahr«.

Unter den etablierten Herstellern gilt Diess zu jener Zeit als Visionär, der früher als andere erkannt hat, wie radikal die deutsche Autobranche umdenken muss. Diesen Eindruck teilt er mit Duesmann, den Diess zu Audi geholt hat. Mit ihm will er den ganzen VW-Konzern von einem Blechkarossen-Produzenten in einen Mobilitäts- und Softwareanbieter verwandeln. Der Hersteller steht damit vor einer historischen Aufgabe. Denn kaum ein etablierter Industriekonzern hat es bislang geschafft, sich aus eigener Kraft zu erneuern und so einen disruptiven Wandel zu überleben. Die Beispiele des Scheiterns – von AEG und Grundig über Agfa bis hin zu Nokia – sind hingegen vielfältig.

Genau wie diese untergegangenen oder dahinsiechenden Weltmarken sind die Autokonzerne im »Innovator’s Dilemma« gefangen, das der US-Wirtschaftswissenschaftler Clayton Christensen bereits in den Neunzigerjahren beschrieben hat. Sie werden attackiert von hoch innovativen Neulingen, die kein Risiko scheuen und bereit sind, im Verdrängungswettbewerb um neue Technologien zunächst jahrelang Verluste hinzunehmen. Die Platzhirsche hingegen müssen auch ihr Altgeschäft verteidigen, das immer noch Milliardengewinne abwirft und an dem Zigtausende Arbeitsplätze hängen. Nokia verdiente prächtig an seinen Tastenhandys – der Weltmarktführer glaubte nicht an einen schnellen Erfolg der Apple-Smartphones mit ihren geringen Akkulaufzeiten. Die Parallelen zur Autoindustrie, die jahrelang über die schwachen Reichweiten der E-Fahrzeuge spottete, sind frappierend. Und die Gefahr der Nokia-Falle scheint umso größer, wenn man bedenkt, dass Apple nach der Mobilfunkbranche künftig angeblich auch die Autoindustrie revolutionieren will – womöglich sogar mit einem eigenen elektrischen und volldigitalen iCar. Ende November 2021 berichtete die US-Nachrichtenagentur Bloomberg, Apple plane bereits für 2025 ein eigenes autonom fahrendes Fahrzeug. Mit dem Plan, den menschlichen Fahrer zu ersetzen, jage Apple »den heiligen Gral der Industrie«. Wie groß die Herausforderung ist, erkennen mittlerweile auch die Vordenker der alten Autowelt, Manager wie Wolfgang Reitzle, einst BMW-Vorstand, heute Aufsichtsratschef des Zulieferers Continental. Die gesamte Auto- und Zulieferbranche, sagt der 73-Jährige, werde »auf Jahre hinaus unter Druck stehen«. Viel zu lange hätten die hiesigen Hersteller den US-Rivalen Tesla unterschätzt – vor allem das, was dessen Überlegenheit ausmache: die Software. Die Deutschen hätten den Fehler gemacht, so Reitzle, »Spaltmaße und Haptik zu vergleichen, anstatt Teslas Autos als das zu begreifen, was sie wirklich sind: rollende Datenplattformen«.

Zwar haben Continental, VW, BMW und Daimler die Gefahr erkannt. Sie investieren Milliarden in neue IT-Projekte, heuern Tausende Entwickler und Programmierer an. Doch die Autokonzerne haben es mit Gegnern zu tun, die ihnen auf dem Gebiet der Bits und Bytes weit überlegen sind. Es sind mächtige IT-Player aus China und den USA, wie der Google-Mutterkonzern Alphabet, wie Apple, Alibaba oder Baidu, die den Autobauern das Geschäft mit der Mobilität streitig machen.

Sie wollen nicht nur das Internet ins Auto bringen, sondern auch dessen Kernfunktionen mit ihren Betriebssystemen steuern. Die Indizien, dass Apple bald Fahrzeuge mit überlegener IT entwickeln könnte, häufen sich und werden in weiten Teilen der Branche äußerst ernst genommen.

Die Google-Mutter Alphabet wiederum hat längst damit begonnen, ihre Softwaredominanz vom Smartphone aufs Auto zu übertragen: Das Betriebssystem Android Automotive steuert neben dem Infotainment im Wagen auch Klimaanlage und Sitze. Googles Angebot ist für die Hersteller verlockend, denn der Konzern bietet ihnen die Software kostenlos an. PSA, General Motors, Renault, Nissan und Volvo haben bereits angekündigt, Googles Betriebssystem einsetzen zu wollen. So sparen sie Milliarden, riskieren aber, beim lukrativen Geschäft mit Apps und Updates leer auszugehen.

Die Horrorvision in vielen Konzernzentralen: Ähnlich wie heute schon beim Smartphone oder beim Fernseher, könnten künftig auch im Auto ein paar wenige IT-Riesen wie Apple oder Amazon die Schnittstelle zum Kunden beherrschen. Klangvolle Marken wie Audi oder Mercedes verkämen dann zu Lieferanten schnöder Blechkarossen. Von einem »Kampf der Welten« spricht Stefan Bratzel, Direktor des Center of Automotive Management (CAM). Die Deutschen seien spät dran, sie hätten die Softwarerevolution »bis vor wenigen Jahren völlig unterschätzt«.

Die Autoindustrie zwischen den politischen Fronten

Längst hat der Kampf um die Zukunft der Mobilität eine geopolitische Dimension erreicht. Die Autobranche war für Deutschland Jahrzehnte lang die Schlüsselindustrie schlechthin und damit auch wichtigster Motor für das Wirtschaftswachstum in Europa. Ob der alte Kontinent wirtschaftlich weiter hinter die Vereinigten Staaten und China zurückfällt oder ob der Green Deal der Europäischen Union eines Tages auch als Geburtsstunde einer technologischen Erneuerung gelten wird, hängt maßgeblich vom Erfolg der deutschen Autohersteller ab. Anders als früher, reicht hohe Ingenieurskunst dafür heute jedoch nicht aus.

Denn es geht inzwischen nicht mehr nur um hochwertige Hardware und optimierte Produktionsketten, sondern zudem um das hehre Ziel des Klimaschutzes, um den Zugriff auf Halbleiter, Rohstoffe und menschliche Ressourcen sowie um Infrastruktur und die Hoheit über Daten. Um diese Rohstoffe der Zukunft ringt der Standort Europa mit den deutlich größeren Weltmächten USA und China, die ihre Zukunftstechnologien auch als Waffen im Handelskrieg einsetzen. Der ehemalige US-Präsident Donald Trump etwa kappte den chinesischen Techgiganten Huawei 2019 per Dekret praktisch vom Chipnachschub aus Amerika ab – und verschärfte damit ungewollt die globale Knappheit noch zusätzlich. Denn Huawei nutzte eine Übergangsfrist, um seine Vorräte massiv aufzustocken. Solche Vorfälle zeigen: Die große Politik mischt mit wie selten zuvor – mit erheblichen Auswirkungen auf das weltwirtschaftliche Geschehen.

Audi-Chef Duesmann jedoch hat einen eigenen Weg eingeschlagen, mit der heiklen Gemengelage umzugehen. Er kommt der Politik entgegen und sieht sich als gemäßigter Radikaler, als Versöhner von Ökonomie und Ökologie; als »Schwarz-Grüner«, der strengere CO2-Ziele befürwortet. Politische Verbote, etwa für SUVs, Motorräder oder Inlandsflüge, lehnt er hingegen ab. Duesmann betreibt eine Doppelstrategie des großen »Zwar-aber«: Zwar will er Audi radikal auf E-Mobilität umstellen – aber in den Jahren zuvor noch viele Millionen Diesel und Benziner verkaufen, auch um diese Wende zu finanzieren. In Märkten wie China, wo Verbrenner weiter eine große Rolle spielen, will Audi auch weiterhin Benziner bauen und verkaufen.

Denn der Technologiewandel, so viel ist sicher, wird teuer: Duesmann braucht die Einnahmen aus dem Altgeschäft auch, um sich gegen die Dominanz der Hightech-Riesen aus Amerika und Asien zu wappnen. Allein 2,5 Milliarden Euro steckt der VW-Konzern jährlich in seine Softwareeinheit Cariad, die auf 10000 Mitarbeiter anwachsen und sich zum größten europäischen IT-Konzern hinter SAP entwickeln will. Mit dieser beispiellosen Initiative hoffen Duesmann und VW-Boss Diess, die Abhängigkeit von Konzernen aus anderen Weltregionen zumindest im Zukunftsgeschäft mit Software und Daten reduzieren zu können.

Kritiker werfen Duesmann Opportunismus vor, weil er Klimaschutz propagiert, aber weiter dicke, hoch profitable Limousinen produzieren lässt. Die Umweltschützer von Greenpeace oder Fridays for Future beschuldigen die ganze Industrie der Doppelmoral. Sie zweifeln daran, dass Elektroautos dem Klima wirklich nützen, wenn mit ihnen nicht auch eine radikale Verkehrswende einhergeht – weg von der individuellen Mobilität, hin zu mehr Bus, Bahn und Fahrrad.

Duesmanns Kompromisshaltung hat zumindest das Potenzial, solche Konflikte zu schlichten. Sie ist fast überall anschlussfähig, bei Politikern verschiedener Parteien, bei den Reformern im Unternehmen, aber auch bei den Zweiflern aus der Motorenabteilung, die Audis jahrzehntelange Erfolge mit Verbrennungsmotoren miterlebt haben. »Nur wirtschaftlicher Wohlstand«, sagt Duesmann, »ermöglicht es uns, mit dem Planeten gut umzugehen.« Es ist ein Spagat und zugleich eines der derzeit spannendsten Experimente in der globalen Autoindustrie.

Audi, das Schmuddel- und Sorgenkind des VW-Konzerns, zwischenzeitlich tief in die Verlustzone gerutscht, soll Volkswagens Technikvorreiter und größter Gewinnbringer werden. Den Rivalen Tesla will Duesmann »nicht nur einholen, sondern auch überholen«, ohne dabei die eigenen Wurzeln zu kappen. Die Überzeugung des Audi-Chefs: Nur wer es schafft, die Stärken der neuen Hightech-Player mit den Kernkompetenzen der etablierten Autohersteller zu vereinen, hat das Potenzial zum Weltmarktführer. Es ist ein Wettlauf mit offenem Ausgang. VW-Chef Diess bezifferte die Chancen der deutschen Autoindustrie, weiter zur technologischen Weltspitze zu gehören, einst auf 50 Prozent.

Geht Duesmanns ambitionierter Plan auf, wäre das der Beweis dafür, dass die deutsche Autoindustrie nicht dem Untergang geweiht ist, wie mancher Techguru bereits glaubte, sondern dass sie auch im Zeitalter von E-Mobilität und Digitalisierung eine globale Führungsrolle spielen kann. Es wäre ein Beleg für die Reformfähigkeit der gesamten deutschen Wirtschaft, der oft vorgeworfen wird, bei Zukunftstechnologien wie Software, IT, Halbleitern oder Batterietechnik den Anschluss an Weltmächte wie die USA und China zu verlieren.

Scheitert Duesmann jedoch, wäre wohl nicht nur Audis Ruf endgültig ruiniert. Es wäre auch ein Indiz dafür, dass die gesamte Autobranche nicht reformfähig ist – ein fatales Signal für den Standort Deutschland: Rund 1,7 Millionen Jobs sind direkt oder indirekt von der Autoindustrie abhängig1. Sie steht für 38 Prozent der kompletten Ausgaben für Forschung und Entwicklung in der deutschen Wirtschaft2. Deutschland ist abhängig vom Erfolg seiner Autobauer, und ob der Bestand haben wird, ist noch ungewiss.

»Der Wandel wird so gewaltig sein«, sagt Duesmann, »dass nicht jeder ihn schaffen wird.« Der Umstieg auf E-Mobilität und digitale Vernetzung ist aus seiner Sicht nur ein allererster Schritt eines viel größeren Umbruchs: »Die wahre Revolution steht der Branche erst noch bevor«, so der Audi-Boss. Denn ab Mitte des Jahrzehnts werde der Fahrer zunehmend durch den Computer ersetzt werden – und das ist bisher die Domäne der Amerikaner und Asiaten. Der deutschen Autoindustrie, die bislang alle Ressourcen auf die »Freude am Fahren« (BMW-Slogan) ausgerichtet hat, stellen sich dadurch völlig neue Herausforderungen. Duesmann ist überzeugt: Das Rennen um die Vorherrschaft in der Mobilität der Zukunft hat gerade erst begonnen.

3 Die Rivalen: Attacke aus Kalifornien und China

Tesla-Schock – Wie Elon Musk die Autobranche wachrüttelt

Elon Musk – Genie oder Scharlatan?

Wer Elon Musk nahekommen will, wird zunächst einer höflichen, aber sorgfältigen Befragung unterzogen. Im Oktober 2017 empfangen wir eine Tesla-Sprecherin in unserer Redaktionszentrale an der Hamburger Ericusspitze. In der Kaffeebar im 5. Stock, mit Blick auf die Hamburger Deichtorhallen, diskutieren wir über Möglichkeiten, den schillernden Tesla-Chef zu treffen. Drei Jahre zuvor hatten die SPIEGEL-Kollegen Philip Bethge und Alexander Jung ihn schon einmal interviewt, doch dieses Gespräch war nicht ganz im Sinne der Sprecherin verlaufen. Auf kritische Fragen, ob Elektroautos denn wirklich umweltfreundlich seien, hatte Musk unwirsch reagiert. Wissenschaftliche Studien, nach denen der Dieselmotor damals eine bessere Ökobilanz aufwies als die Stromer, ergaben aus seiner Sicht schlicht keinen Sinn: »Das stimmt nicht.«

Diesmal klopft Teslas PR-Verantwortliche genau ab, welche Art von Story wir planen und welche Haltung wir überhaupt zur E-Mobilität vertreten. Wir halten uns bedeckt. Erstens ist es nicht üblich, Gesprächspartnern vorab zu verraten, in welche Richtung die Berichterstattung geht, zweitens ist das Ergebnis unserer Recherche zu jenem Zeitpunkt noch völlig offen. Elon Musk ist im Herbst 2017 höchst umstritten. Entgegen seinen vollmundigen Versprechen stockt die Produktion des Massenfahrzeugs Model 3, mit dem er die Weltmärkte erobern will.

Entsprechend prekär scheint Teslas Finanzlage. Der E-Auto-Pionier schreibt horrende Verluste, er scheint immer wieder von der Pleite bedroht. Musk erklärt später, er habe in einer besonders heiklen Situation sogar versucht, seine Firma an Apple zu verkaufen. Doch der IT-Riese habe abgelehnt.

Gleichzeitig häufen sich Berichte über Unfälle von Fahrern, die Teslas Fahrassistenzsystem mit dem irreführenden Namen »Autopilot« nutzten. Im Internet kursieren Videos von Musk-Anhängern, die stolz die Hände vom Lenkrad nehmen, den Blick vom Verkehr abwenden und ihr Fahrzeug – verbotenerweise – eigenständig fahren lassen. Manche setzen sich sogar vor laufender Kamera auf den Beifahrersitz, um die Illusion vom Roboterauto perfekt zu machen. Musk hat trotzdem wenig Verständnis für die Kritik an seinem Fahrsystem: Der »Autopilot«, verspricht er, werde die Straßen sicherer machen und die Zahl der Verkehrstoten minimieren.

Für die Autobosse in Deutschland ist Musk zu jener Zeit wenig mehr als ein Gernegroß und »Ankündigungs-Weltmeister«, der jedes Quartal einen dreistelligen Millionenbetrag verbrenne.

Andererseits jedoch ist Musk der Einzige, der die etablierten Hersteller damals ernsthaft herausfordert – mit einem radikalen, alternativen Konzept. Er begreift Tesla nicht als Autohersteller, sondern als breit aufgestellten Energiekonzern, der seinen Kunden nicht nur E-Fahrzeuge, sondern auch die passenden Lademöglichkeiten samt Wallboxen – Ladestationen für die heimische Garage – anbiete. Sogar die dazu gehörenden Solarpanels liefert Musk auf Wunsch gleich mit, schließlich sollen die E-Autos mit möglichst sauberem Strom betankt werden.

Von derartigen Visionen sind die deutschen Autokonzerne damals noch weit entfernt. Vor allem Volkswagen und seine Töchter Audi und Porsche stecken in einer tiefen Vertrauenskrise. Die Affäre um Millionen manipulierter Dieselfahrzeuge zeigt, dass sie noch keine seriösen Antworten auf den Klimawandel und die zunehmend strengeren Abgasgesetze haben.

Die E-Mobilität, predigen die Autobosse, werde auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte benötigen, um sich flächendeckend durchzusetzen. Es fehle an bezahlbarer Batterietechnik und an Lademöglichkeiten. Die Bereitschaft, ihre Fahrzeuge und Geschäftsmodelle ernsthaft infrage zu stellen, tendiert gegen null. Über diese Behäbigkeit in den Chefetagen, die im Dieselbetrug gipfelte, hat der SPIEGEL jahrelang sehr kritisch berichtet. Diese Grundhaltung unseres Hauses dürfte uns aus Teslas Sicht dazu qualifiziert haben, noch einmal zum mächtigen E-Auto-Boss vorgelassen zu werden. Diesmal müssen wir uns allerdings damit begnügen, Musk live bei einem Auftritt zu begleiten – immerhin als einziges deutsches Medium. Ein persönliches Interview wird uns hingegen nicht gestattet. Das gewähre der Tesla-Chef nur äußert selten, heißt es. Diese und spätere Reisen nach Kalifornien nutzen wir dennoch, um uns ein Bild von diesem umstrittenen Unternehmer und seiner Elektroautofirma zu machen. Neben dem offiziellen, von Tesla vermittelten Termin begeben wir uns eigenmächtig auf Spurensuche, sprechen mit Managern, Weggefährten und ehemaligen Mitarbeitern. Sie beschreiben einen völlig unerschrockenen Menschen, einen Getriebenen, der ganze Industriebranchen umkrempeln will. Bei unseren Recherchen stellen wir schnell fest: Dieser Mann denkt in anderen Dimensionen als die deutschen Autobosse, auch anders als die meisten anderen Investoren aus dem Silicon Valley. Er ist offen für scheinbar irrwitzige Ideen.

Einen seiner engsten und langjährigen Mitstreiter, Jeffrey Brian (»JB«) Straubel, sprechen wir im Februar 2021 per Videocall. Straubel verfolgte schon mit Ende zwanzig das Ziel, die Welt zu elektrifizieren: Der Ingenieur und Stanford-Absolvent wollte Rennautos und Flugzeuge bauen, die nicht mit Benzin oder Kerosin angetrieben werden, sondern mit Strom. Sein einziges Problem: Selbst im fortschrittsgläubigen Kalifornien gab es damals, 2003, noch kaum jemanden, der sich eine derart verrückte Idee überhaupt anhören wollte. Bis auf einen: Elon Musk.

Zukunftsfabrik an der Rocket Road

Beim Mittagessen in einem Fischrestaurant in El Segundo, einem Küstenort nahe Los Angeles, erläuterte Straubel dem Jungunternehmer seine Ideen – in der Hoffnung, Musk als Mitstreiter zu gewinnen. Der interessierte sich nicht für Flugzeuge, wohl aber für Straubels Idee, Autos mit handelsüblichen Laptop-Batterien anzutreiben, indem man etwa 10000 von ihnen zusammenstecke.

Wenige Monate darauf stiegen die beiden bei einem damals unbekannten Start-up ein. Sein Name: Tesla Motors. Musk wurde Aufsichtsratschef und später Boss, Straubel Chefingenieur des Elektroautoherstellers. Rückblickend erklärte Musk öffentlich, ohne das Treffen mit Straubel hätte es Tesla in seiner jetzigen Form nicht gegeben. Und Straubel sagt uns: Damals hätte niemand gedacht, auch er und Musk nicht, wie erfolgreich Tesla später die gesamte Industrie aufmischen würde.

Seitdem ist viel geschehen. In Hawthorne, einer Vorstadt von Los Angeles, hat Musk sich eine eigene Zukunftsfabrik erschaffen. Von hier aus will er nicht nur die Mobilität auf der Erde revolutionieren, sondern auch das Weltall erobern. Sein Ziel ist es nach eigenem Bekunden, die Menschheit vor dem Untergang zu bewahren.

An der Straße mit dem Namen Rocket Road ragt eine Rakete des Typs »Falcon 9« wie ein Kirchturm in den Himmel. In einer Fabrikhalle daneben basteln Menschen auf einer Fläche von etwa fünf Fußballfeldern an Weltraumfahrzeugen. Männer und Frauen, schätzungsweise zwischen 30 und 40 Jahren, schieben Rollwagen vor sich her, auf denen sich Laptops stapeln. Einige tragen dunkle T-Shirts mit der Aufschrift »Occupy Mars« und trinken Kaffee aus Bechern, die alle der gleiche Buchstabe ziert: X. Er steht für SpaceX, ein Unternehmen, das Privatpersonen künftig Reisen zu entfernten Planeten ermöglichen soll. Das sei »ein Haufen Nerds«, sagt ein Mitarbeiter uns später, motiviert von einer gemeinsamen großen Idee: Marsflüge zu starten, idealerweise noch in diesem Jahrzehnt.

Mit etwa der Hälfte seines Geldes, hat Musk einmal auf Twitter erklärt, wolle er Probleme auf der Erde lösen, mit der anderen Hälfte eine sich selbst versorgende Stadt auf dem Mars aufbauen3. Dadurch solle das Überleben der Menschheit und aller anderen Spezies gesichert werden, wie auf einer Art modernen Arche Noah – nur für den Fall, dass die Erde von einem Meteor getroffen wird oder der Dritte Weltkrieg ausbricht »und wir uns selbst zerstören«. Kein Wunder, dass manche Musk als Prototypen des »Homo Deus«, des Gottesmenschen, sehen, den der Historiker Yuval Noah Harari in seinem gleichnamigen Bestseller skizziert. Ein Ingenieur, der selbst die größten Menschheitsprobleme technisch lösen will – auch auf die Gefahr hin, dass sich der Mensch so zunehmend von der Technik abhängig macht.

Musks Visionen mögen komplett verrückt klingen. Man könnte sie als die Spinnereien eines Größenwahnsinnigen abtun, der in seiner Kindheit zu viele Science-Fiction-Romane verschlungen hat. Wären da nicht die Erfolge, mit denen SpaceX mittlerweile große Teile der Raumfahrtindustrie in den Schatten stellt. 2008 war die Firma das erste Privatunternehmen, das eine Rakete erfolgreich in die Erdumlaufbahn brachte. Wenige Jahre später schon gelang es Musk, Falcon-9-Raketen wieder präzise auf der Erde landen zu lassen. Erstmals war es damit möglich, solche Weltraumfahrzeuge wiederzuverwenden und zu recyclen – und so erheblich Kosten einzusparen. Das ist das Kerngeschäft, mit dem SpaceX sein Geld verdient. Mitarbeiter und Investoren begeistert Musk jedoch viel mehr mit seinen scheinbar irren Ideen – und mit seiner Attitüde, nichts sei unmöglich, solange es physikalisch nur irgendwie machbar sei. Doch was davon ist echter Fortschritt, was davon nur Show?

Ein ehemaliger Kollege sieht Musk als Illusionskünstler, der sich immer etwas größer macht, als er tatsächlich ist, um so Mitstreiter und Investoren zu gewinnen und den Aktienkurs hochzuhalten. Früher als andere setze er auf – bereits bestehende – Megatrends wie die Raumfahrt, den Kampf gegen den Klimawandel oder die künstliche Intelligenz, heure die klügsten Köpfe an und befeure seine Ideen so lange mit schwindelerregenden Milliardensummen, bis sie irgendwann Erfolg hätten. Musk, so viel steht fest, scheut kein Risiko – und vor allem seine Geldgeber nicht. Für ihn, wie auch für die meisten seiner Investoren, hat sich das bereits mehr als ausgezahlt.

Wenige Hundert Meter von der SpaceX-Zentrale entfernt, an einem kleinen Flughafen, befindet sich ein Stützpunkt von Musks zweitem wichtigem Großprojekt: das Design Center des Elektroauto-Herstellers Tesla. Ein Flugzeughangar dient ihm als Bühne für die Präsentation neuer Stromfahrzeuge, so auch an jenem lauen Winterabend im November 2017. Nur eine ausgewählte Gruppe von Familienmitgliedern, Kollegen, Kunden und Geschäftspartnern dürfen der feierlichen Zeremonie beiwohnen, die Presseplätze sind begrenzt. Bei seinem Auftritt wird deutlich, dass Musk aus Tesla längst mehr gemacht hat als eine reine Automarke.

Vor kreischenden Fans steigt der Tesla-Boss aus einem silberfarbenen Elektrotruck herab, der lautlos in den Hangar gleitet. Erwachsene Männer strecken ihre Hände aus, um ihr Idol für einen Sekundenbruchteil berühren zu können. Ein Zuschauer in der ersten Reihe hält ihm einen Teddybären entgegen. »Elon for President«, brüllt ein anderer. Musk ist für sie kein gewöhnlicher Vorstandschef, sondern ein Guru wie einst Apple-Gründer Steve Jobs.

Zum erlesenen Besucherkreis zählen Vertreter sogenannter Owner-Clubs, Fanclubs von E-Autos rund um die Welt, die sich als Teil der Tesla-Mission begreifen. Ihr gemeinsames Ziel: »Die Beschleunigung des Übergangs zu nachhaltiger Energie«. Es sind keine Kunden, es sind Jünger, die ihre Marke teils wie eine Religion und deren Boss fast gottgleich verehren. Einige Mitglieder solcher Fanclubs machten sogar Schlagzeilen, weil sie kurz vor Quartalsabschluss wie eine Freiwilligenarmee in firmeneigene Tesla-Shops ausrückten, um dort den Verkäufern zur Hand zu gehen und die Absatzzahlen zu steigern.

So skurril das alles erscheinen mag: Die fast schon bedingungslose Loyalität seiner Kunden ist die Basis für Musks Erfolg. Sie standen weltweit Schlange, um sich gegen 1000 Dollar Anzahlung ein neues Model 3 zu reservieren – dessen Auslieferungsdatum zu diesem Zeitpunkt noch mehr als unsicher war. Das Ausmaß dieser Verehrung war für etablierte Premiumhersteller befremdlich. Topmarken wie Porsche oder Mercedes können von einer derartigen, fast schon fanatischen Kundentreue nur träumen.

Für Außenstehende ist die Musk-Manie generell zunächst schwer zu begreifen. Der Tesla-Chef hat zwar eine beeindruckende Statur, breite Schultern, reichlich Körpermasse. Doch er ist nicht unbedingt ein guter Redner. Musk spricht hastig und undeutlich, verhaspelt sich bereits bei dem Wort »willkommen«. Auffallend ist seine Vorliebe für Superlative und große, fast irrwitzige Versprechen. Er garantiere, dass sein neuer Elektrotruck mindestens eine Million Meilen nicht ausfallen werde, sagt er. Die Glasscheibe sei in der Lage, eine nukleare Explosion zu überstehen. Und falls nicht? Dann bekämen die geschädigten Kunden »eine volle Rückerstattung«. Das soll vermutlich ein Witz sein, doch da kann man sich bei Musk nie so ganz sicher sein.

Die große Überraschung hebt Musk sich für das Ende seiner Präsentation auf. Der Elektrotruck rollt davon und dreht dem Publikum die Rückseite zu. Das Licht geht aus, nur die Heckklappe des Fahrzeugs wird noch angestrahlt – und öffnet sich plötzlich. Zum Hardcore-Rock-Hit »Sabotage« von den Beastie Boys rollt ein knallroter Elektro-Sportwagen aus dem Anhänger, eine Neuauflage des Tesla-Urprodukts Roadster. Das Publikum johlt, als der E-Flitzer vor dem Hangar die Start- und Landebahn des Sportflughafens entlang saust. Nicht wenige fühlen sich an Steve Jobs erinnert, der spektakuläre Apple-Neuheiten erst am Ende seiner Präsentationen anzukündigen pflegte, mit den legendären Worten »Da wäre noch eine Sache« (»There’s one more thing«).

Als perfekte Pointe der hollywoodreifen Show schießt der Kalifornier sein eigenes rotes Roadstermodell ein paar Monate später ins Weltall, samt einer Astronauten-Puppe hinterm Steuer. Die Botschaft, die Musk damit wohl senden will: Ihm ist alles zuzutrauen. Das haben mittlerweile auch die deutschen Autobosse erkannt.

Musk und die Deutschen – Ein Spannungsverhältnis

Zunächst waren es eher harmlose Streiche, mit denen Musk die etablierten Hersteller foppte. Nach Ausbruch des Dieselskandals schickte er dem angeschlagenen VW-Konzern laut dort beschäftigten Ingenieuren eine subtile Botschaft: Als die Techniker in Wolfsburg einen Tesla testen wollten, leuchtete auf dem Display plötzlich das Wort »Dieselgate« auf. Musks Leute hatten das Auto offenbar geortet und rasch bemerkt, wer da an ihrem Gefährt herumschraubte. Die digitale Vernetzung erlaubte es den Amerikanern dann, quasi per Fernsteuerung auf die Anzeige zuzugreifen.

Dennoch gelang es mehreren deutschen Rivalen, Tesla-Fahrzeuge zu zerlegen. Was sie dabei erlebten, war ein echter Schock. Denn unter der relativ konventionellen Karosserie verbarg sich ein völlig neuartiges Innenleben. Musk hatte seine Gehäuse um einen Hochleistungscomputer herumgebaut. In einem Tesla, schätzt ein ehemaliger Ingenieur, stecke die Rechenleistung von 150 bis 200 Apple-Computern. Die Folge: Das Auto wird im Lauf seines Lebenszyklus immer besser, es lässt sich über das Internet (»Over the air«) updaten, ähnlich wie ein Smartphone. So können Kunden beispielsweise eine Sitzheizung freischalten, die Batterieleistung verbessern und ein neues Assistenzsystem herunterladen. Es ist ein Service, den die deutschen Hersteller erst mühsam erlernen müssen, nach und nach bieten sie ihn bei ihren neuesten Modellen an. Tesla kann das bereits seit 2012. Die japanische Zeitung Nikkei Asian Review, die 2020 ein Model 3 auseinandernehmen ließ, kam zu dem Ergebnis: Tesla hat sechs Jahre Vorsprung vor Volkswagen und Toyota4.

Solche Technologiesprünge sind möglich, weil Musk sein Unternehmen wie eine Softwarefirma führt, nicht wie einen traditionellen Industriekonzern. Tesla entstand im Silicon Valley, es beschäftigte zunächst mehr Computerwissenschaftler und IT-Programmierer als klassische technische Ingenieure. Wie stark sich die Tesla-Kultur von der Arbeitsweise traditioneller Autobauer abgrenzt, zeigt sich in Teslas Mitarbeiter-Regelwerk mit dem – typisch Musk – ironischen Titel »Das Anti-Handbuch-Handbuch«. Die kompakte, vierseitige Schrift ist nicht öffentlich, sie wurde uns jedoch zugespielt. »Wir sind Tesla«, heißt es darin, »wir verändern die Welt.« Der Anspruch, anders zu sein als jeder andere Autokonzern, »erlaubt uns, das zu tun, was niemand anderes tut«. Die Tesla-Führung ruft ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter offen dazu auf, bestehende Hierarchien zu missachten, um Probleme schnellstmöglich zu lösen. »Du kannst mit deinem Vorgesetzten reden, mit dem Vorgesetzten deines Vorgesetzten, mit dem Vice President einer anderen Abteilung, du kannst mit Elon reden, du kannst mit jedem reden ohne die Erlaubnis von irgendjemandem sonst.«

In der Realität läuft freilich nicht alles so glatt, wie Teslas PR-Botschaften es vermitteln. Mitarbeiter schwärmen einerseits von den flachen Hierarchien bei Tesla, der schnellen, unbürokratischen Zusammenarbeit verschiedener Fachbereiche. Andererseits achten sie darauf, möglichst kein Problem zu erzeugen, das die Aufmerksamkeit des Chefs erregen könnte. Was es bedeuten kann, bei Musk in Ungnade zu fallen, zeigen die häufigen Personalwechsel. Mit mehreren Kollegen und Geschäftspartnern, die Tesla verließen, hat Musk sich später vor Gericht gezofft. Die PR-Abteilung, sie seinen Ansprüchen selten genügte, hat der Tesla-Boss mittlerweile abgeschafft.

Auch Musks Anspruch, neue Produkte schneller als andere auf den Markt zu bringen, ist umstritten. Er hat die Silicon-Valley-Kultur des Trial and Error, des Versuchs und Irrtums, auf die Autobranche übertragen. Für Volkswagen und Co. ist das ein Kulturschock. Sie sind es gewohnt, neue Technologien über Jahre zu testen und zu perfektionieren, ehe sie den Kunden angeboten werden. Am autonomen Fahren forscht Daimler zum Beispiel schon seit den Achtzigerjahren, fast zwei Jahrzehnte länger, als es die Firma Tesla überhaupt gibt. Tests und Qualitätssicherung verschlingen kostbare Zeit in der Entwicklung, haben den deutschen Herstellern aber auch ihren heutigen Weltruf eingebracht.

Konzernmanager von Firmen wie BMW oder Audi sagen den Kaliforniern eine gewisse Schlampigkeit bei der Sicherheit nach. Während sie selbst neue Batterietechniken oder Assistenzsysteme erst jahrelang prüften, teste Tesla seine Neuheiten quasi am Kunden. Was in der IT-Branche durchaus üblich ist, könne in der Autobranche sehr gefährlich sein: »Ein Systemabsturz beim Smartphone ist ziemlich unproblematisch«, sagt Audi-Chef Duesmann, »bei einem Fahrzeug, das gerade über die Autobahn rast, sollte das besser nicht passieren.«

Investoren hingegen schätzen Musks Tempo und Risikobereitschaft. An der Börse war Tesla zwischenzeitlich wertvoller als BMW, Daimler, Volkswagen, Toyota, General Motors, Ford und Fiat-Chrysler zusammen. Dem Pionier ist es inzwischen auch gelungen, über mehrere Quartale hinweg Gewinne zu schreiben. 2021 erreichte Tesla, trotz Pandemie und Chipkrise, einen Rekordprofit. Dabei half ein erkleckliches Nebengeschäft: Weil der Konzern nur reine E-Autos im Sortiment hat, darf er Verschmutzungszertifikate an Wettbewerber verkaufen, die auch noch Verbrenner im Angebot haben. Ein geschickter Kniff, der es Tesla erlaubt, am Klimaschutz gleich doppelt zu verdienen.

Jagd auf den Pionier

Schon wenige Jahre nach Musks denkwürdigem Auftritt in Hawthorne steht Tesla deutlich stabiler da. Das Massenfahrzeug Model 3, an dessen Produktion Tesla beinahe gescheitert wäre, gehört heute zu den meistverkauften E-Autos Deutschlands und sogar Chinas. In Shanghai hat Tesla in nur 168 Tagen eine Großfabrik hochgezogen. Und nicht nur das ist rekordverdächtig. Es ist die erste Autofabrik in China, an der kein chinesischer Partner beteiligt ist. Bis zu 500000 Autos sollen dort jährlich von den Bändern rollen und Tesla auf dem größten E-Auto-Markt der Welt nach vorn bringen.

Das System Musk ist lernfähig, genau wie seine Autos. Immer wieder ist es dem Tesla-Chef gelungen, technische Schwierigkeiten gerade noch rechtzeitig zu beheben, ehe sie eskalierten. Die anfänglichen Produktionsprobleme des Model 3 zum Beispiel sind längst behoben. Entgegen den düsteren Prognosen der Konkurrenz ist es Musk also gelungen, innerhalb weniger Jahre eine Massenfertigung aufzubauen. Damit hat er bewiesen: Die Eintrittshürden in die Autoindustrie sind weit geringer, als Platzhirsche wie Volkswagen lange glaubten. Sie dachten, ihre Großfabriken in aller Welt, die Milliarden an Investitionen gekostet hatten, würden Neueinsteiger abschrecken. Musk belehrte sie eines Besseren. VW-Chef Diess hat Teslas geplante Großfabrik in Grünheide bei Berlin intern zum Vorbild erhoben. Er befürchtet, die Kalifornier könnten die Deutschen künftig nicht nur bei der Software, sondern auch bei der Produktionstechnik überholen.

Längst machen die deutschen Autobosse keinen Hehl mehr aus ihrer Bewunderung für den US-Rivalen. Tesla sammle die Gewinnmargen »über die gesamte Wertschöpfungskette ein«, sagt VW-Chef Diess Anfang 2020 seinen Topmanagern. Der US-Konkurrent sei nicht nur Autobauer, sondern auch Batteriehersteller, Händler und Dienstleister. Dadurch könne Tesla »unvergleichlich gut« Kundenwünsche erkennen und Profit aus ihnen schlagen, und zwar »weit außerhalb dessen, was wir mit unserem konventionellen Autogeschäft können«.

Nun zahlt sich aus, dass Musk schon vor Jahren den Plan fasste, ein geschlossenes System aus Tesla-E-Tankstellen und den passenden E-Fahrzeugen aufzubauen. »Wenn die Reichweite eines Elektroautos groß genug ist und es ein Netz von Schnellladestationen gibt«, sagte er schon 2014 im SPIEGEL, »besteht absolut kein Grund mehr für einen zusätzlichen Antrieb.«

Können die Traditionskonzerne da überhaupt noch mithalten? Bei unseren früheren Tesla-Recherchen nahmen wir Ende 2017 Kontakt zu Tesla-Mitgründer Martin Eberhard auf. Musks ehemaliger Mitstreiter hatte nach seinem Ausscheiden bei Tesla mehrere Jahre für VW in den USA gearbeitet. Per E-Mail stellt er damals den klassischen Herstellern ein verheerendes Zeugnis aus: Sie hätten »ein kulturelles Problem« und fast ein Jahrzehnt gebraucht, »um überhaupt zu bemerken, dass Tesla ihnen ihr Geschäft streitig macht, weil sie sich einfach weigerten, die Revolution zu erkennen, die wir mit dem Tesla-Konzept erschaffen haben«. Eberhards klare Botschaft: Die Autokonzerne bräuchten »frisches Blut in Entscheidungsträger-Positionen«.

Mittlerweile ist aber auch den Tesla-Oberen nicht entgangen, welch große Aufholjagd die deutsche Autoindustrie gestartet hat. VW-Chef Diess tue sein Bestes, um das Unternehmen in die richtige Richtung zu führen, twittert Musk ungewohnt harmonisch. Und sein jahrelang engster Mitarbeiter, Tesla-Mitgründer und Ex-Entwicklungschef Straubel, äußert sich uns gegenüber immerhin vorsichtig optimistisch, was die Zukunftschancen der Deutschen angeht: Zwar seien sie im Lauf der Jahre zu selbstgefällig geworden, hätten sich mit ihren Verbrennern auf einer technologischen Einbahnstraße bewegt. Doch Tesla habe »die ganze Autoindustrie wachgerüttelt und sie zu einem höheren Maß an Risikobereitschaft und Innovation gezwungen«, weshalb er es nun zumindest für möglich halte, dass die Deutschen aufholen, auch wenn sie noch einen schwierigen Weg vor sich hätten. Straubel will ihnen dabei helfen: Er hat Tesla mittlerweile verlassen und eine Firma namens Redwood Materials gegründet, die Elektroakkus recycelt und Batteriekomponenten nachhaltig produziert. Die Kosten für E-Autos sollen dadurch gewaltig sinken – und diese dadurch endgültig den Massenmarkt erobern. Mit Tesla arbeitet Straubel inzwischen nicht mehr zusammen, dafür kann er sich Partnerschaften mit den deutschen Herstellern vorstellen. Für die Platzhirsche wäre es eine Chance, zum kalifornischen Vorreiter aufzuschließen.

Aber auch Tesla kommt nicht komplett ohne die Old Economy, ohne die alte Ingenieurskunst, aus. Um seine Ziele zu erreichen, braucht Musk qualifizierte Mechaniker und Maschinenbauer, die ihm dabei helfen, seine futuristischen Ideen in massenmarktfähige Produkte zu verwandeln.

»Deutschland hat verdammt gute Ingenieure«, sagt Musk schon 2014 im SPIEGEL-Gespräch. Und er verkündet einen Plan, den damals noch niemand so richtig ernst nimmt: »Ich gehe davon aus, dass Tesla auf lange Sicht eine Batteriefabrik in Deutschland errichten wird.« Nach seiner Schätzung bereits »in fünf, sechs Jahren«. Eine ziemlich exakte Prognose, wie sich herausstellt.

Das Ziel, in der Autonation Fuß zu fassen und sich ihre Kompetenzen zu sichern, hat Musk seither systematisch umgesetzt. 2016 kauft Tesla den Mittelständler Grohmann Engineering aus Prüm in der Eifel, ein weltweit führendes Unternehmen für hoch spezialisierte Automatisierungstechnik, das zu diesem Zeitpunkt Konzerne wie Bosch, BMW und Daimler zu seinen Kunden zählt. Musk sorgt dafür, dass Tesla Grohmann Automation, wie die Firma heute heißt, mittlerweile vorrangig ein Unternehmen beliefert: Tesla.

Auch für die Massenproduktion seiner Modelle holt sich Musk zwischenzeitlich personelle Hilfe aus Deutschland. Als die Herstellung des Model 3 zu scheitern droht, soll Peter Hochholdinger, ein Ex-Audi-Manager, Abhilfe schaffen. Drei Jahre lang wirkt er als Produktionschef, vereinfacht die Abläufe und steigert die Model-3-Produktion im US-Werk in Fremont auf täglich etwa tausend Autos. Mittlerweile ist Hochholdinger zum aufstrebenden E-Auto-Start-up Lucid Motors gewechselt, das Tesla Konkurrenz macht.

Der E-Pionier ist noch immer mächtig. Aber er ist nicht mehr allein – und bedient sich der Hilfe aus der alten Autowelt. Die Frage ist, wem es nun schneller gelingt, den Zukunftsmarkt der digitalen, elektrifizierten Mobilität zu erobern. Volkswagen und Co. mit ihrem Qualitätsanspruch und globalen Produktionsnetz. Oder Tesla mit seiner Software-Intelligenz – und einem Chef, der zum Größenwahn neigt.

China und seine Selfmade-Milliardäre

Stuttgart unter Schock

Den Moment, in dem Li Shufu für alle sichtbar die internationale Autobühne betrat, werden sie bei Daimler nicht vergessen. Am Freitag, dem 23. Februar 2018, es läuft gerade der Autosalon in Genf, geht nach Börsenschluss eine dürre Nachricht über die Ticker. Der chinesische Investor habe über eine Firma namens »Tenaciou3 Prospect Investment Limited« für 7,5 Milliarden Euro 9,7 Prozent der Anteile an der Daimler AG erworben. Auf einen Schlag steigt der Chinese Li Shufu zum seinerzeit größten Aktionär bei der deutschen Industrie-Ikone auf, und in Stuttgart reagieren sie, als sei ihnen der Leibhaftige begegnet.

Li habe sich angeschlichen, habe den Vorstand um Dieter Zetsche hinterrücks überfallen, wolle den Konzern womöglich gegen den Willen des Managements früher oder später ganz schlucken, wird kolportiert. Die Kommentatoren bekommen Schnappatmung, die Politik beginnt eine Diskussion um eine Verschärfung des Außenwirtschaftsgesetzes, und die Finanzaufsicht Bafin untersucht, ob Li Shufu bei seinem Einstieg die geltenden Börsengesetze eingehalten hat. Hat er, stellen sie ein Dreivierteljahr später fest. Li hatte zunächst so viele Anteile erworben, dass er knapp unter der Meldeschwelle von drei Prozent blieb. Dann sicherte er sich über Derivate Zugriff auf knapp unter fünf Prozent und stockte schließlich an dem besagten Freitag auf knapp zehn Prozent auf.

Li Shufu selbst tat zunächst wenig, um die Nerven der Deutschen zu beruhigen. Im Gegenteil schickten seine Kommunikatoren Schaubilder herum, auf denen der Mercedes-Stern in ein weltweites Automobilreich der Geely-Gruppe eingruppiert war. Das erinnerte an das Großmachtstreben eines Ferdinand Piëch, der einst ein Multi-Marken-Reich zusammenkaufte, um mit VW zum größten Autokonzern der Welt aufzusteigen. Eiferte Li ihm nach? Man würde gerne mit Daimler zusammenarbeiten, ließ der starke Mann aus China wissen, man müsse aber nicht.

Für die Deutschen klang das wie eine Drohung. Ob Li Shufu tatsächlich damit kokettierte, Daimler zu übernehmen, ist bis heute nicht sicher geklärt, er selbst hat das stets dementiert. Glaubt man seinem Umfeld, so hat er Dieter Zetsche und Daimler eher aus einem Gefühl der verschmähten Liebe heraus überrumpelt.

Lis erstes nicht chinesisches Auto war ein Mercedes. Früh faszinierte ihn die deutsche Luxusmarke, und er bewunderte Dieter Zetsche dafür, wie er nach dem Chrysler-Debakel seines Vorgängers Jürgen Schrempp dem Mercedes-Stern neuen Glanz verlieh. »Li wusste alles über Zetsche, ohne ihn persönlich zu kennen, aber Zetsche wusste nichts über Li Shufu, und er interessierte ihn auch nicht«, sagt einer, der beide kennt. Als Daimler 2007 Chrysler an den Finanzinvestor Cerberus verscherbelte, verkaufte Geely gerade einmal 200000 Autos, Daimler hingegen 1,3 Millionen. Und auch in den Jahren danach, als Geely den Absatz auf eine halbe Million Fahrzeuge steigerte und sich mit der Übernahme von Volvo nach Europa vortastete, nahm man das bei Daimler in Untertürkheim eher am Rande zur Kenntnis.

Im Herbst 2017 meldete Li Shufu bei den Deutschen Interesse an einer Zusammenarbeit an. Sie zeigten ihm die kalte Schulter. »Was will der denn von uns?«, fragten die bornierten Daimler-Manager. Da, so erzählen Leute aus seinem Umfeld, habe Li sich überlegt, sein Interesse mit Kapital zu unterlegen. Dann könne man ihn nicht mehr ignorieren. »Dann müssen sie mich respektieren.«

Autos made in China – Von Null auf 100 in 20 Jahren

Respekt ist ihm wichtig, da ist Li Shufu ganz Teil der chinesischen Kultur. Den Respekt der Daimler-Führung hat er mit seinem Einstieg gewonnen. Die Bedeutung des Deals reicht jedoch weit über die beiden Unternehmen hinaus. Es war das Signal, dass Elon Musks Tesla zwar der prominenteste Herausforderer für die deutsche Autobranche sein mag, aber bei Weitem nicht der einzige. Eine mindestens ebenso große und für viele bedrohliche Konkurrenz erwuchs den erfolgsverwöhnten Deutschen in China.

Im Dezember 2021 wird bekannt, dass auch der neben Geely zweite Daimler-Partner aus China, die staatliche Beijing Automotive Group Co. (BAIC), mittlerweile rund zehn Prozent am Stuttgarter Autobauer hält. Damit steht nun ein Fünftel des Autokonzerns unter chinesischer Kontrolle. Wird Daimler nun zunehmend chinesisch? Schreckensszenarien von einer Machtübernahme durch aufstrebende Hersteller aus dem Reich der Mitte weisen Daimler-Manager weit von sich, offiziell begrüßt der Konzern BAICs Engagement. Klar ist aber auch: Der Einfluss des Partners dürfte künftig deutlich zunehmen.

Als denkbar gilt, dass ein BAIC-Vertreter in den Daimler-Aufsichtsrat einzieht. Außerdem könnte der Großaktionär gemeinsam mit Geely zentrale strategische Entscheidungen auf der Hauptversammlung blockieren – sofern beide gemeinsam stimmen. Ein solches Vorgehen haben beide Seiten bislang aber stets bestritten, zumal sie Konkurrenten sind.

BAIC und Geely, die beiden Daimler-Investoren, repräsentieren prototypisch die beiden verschiedenen Unternehmensarten, die auf dem chinesischen Markt vorzufinden sind. Während Geely eine Privatfirma ist, steht hinter BAIC