Aufruhr im Gemeindehaus - Flora Montán - E-Book

Aufruhr im Gemeindehaus E-Book

Flora Montán

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Beschreibung

Küsterin Gisela kämpft als norddeutscher Don Camillo für ihre Gemeinde Küsterin Gisela kann es nicht fassen: Die evangelische Kirche hat sie zu einem Anti-Aggressions-Training verdonnert. Und das nur, weil sie sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt, dass ihre traditionelle Gemeinde in Bremen mit einer liberalen Gemeinde fusionieren soll. Zu ihrem Ärger ist Hausmeister Klaus aus der verfeindeten Gemeinde ein lockerer Typ, der nichts gegen die drohende Katastrophe unternehmen möchte. Ihre Enkelin will sich ausgerechnet in seiner Gemeinde konfirmieren lassen. Für die Seniorinnen aus Giselas Gemeindecafé kommt es überhaupt nicht in Frage, mit den »Weibern« aus der anderen Gemeinde Bingo zu spielen und Kaffee zu trinken. Ihre Gemeinde hat aber zu wenig Mitglieder, zu wenig Geld und eine Kirche, die saniert werden muss. Na und? So ein bisschen herunterbröckelnder Putz erschlägt keinen, findet Gisela und überhaupt: Neue Mitglieder müssen her! Pastor Hannes, ihr Chef, ermahnt sie zur Mäßigung. Als das ZDF aber ankündigt, einen Gottesdienst ihrer Gemeinde live zu senden, legen sich Gisela und die Seniorinnen ins Zeug, natürlich mit der Hilfe des Herrn, damit der öffentliche Auftritt perfekt wird. Die Schwester von Klaus will dabei helfen, aber plötzlich spielen alle verrückt, und die Fernsehübertragung ist in Gefahr. Klaus bringt wie immer nichts aus der Ruhe, aber dann...

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Seitenzahl: 442

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Der Claussen riss irgendwann der Geduldsfaden und sie riss in dem Büro energisch alle Stecker aus den Steckdosen. Als sie dabei über Helgas Rollator stolperte, gingen leider auch das Telefon und mehrere Papierstapel zu Boden. Von einem Bild, das ein großes Frachtschiff zeigte, zersplitterte das Glas, als es auf den Boden fiel. Herr Peterson stellte sich der Claussen in den Weg, weil er eben nicht wusste, dass Frauen zusammenhalten. Gisela wollte der Claussen beistehen, und dabei landete ihr Ellbogen in der Magengrube von Peterson. Das war aber wirklich keine Absicht gewesen, und der HERR wusste das. ⌂

Gisela sah, wie sich der Brustkorb von Klaus vor ihr hob und senkte. »Es heißt ›Sankt-Fabian-Gemeinde‹, nicht ›Fabian-Gemeinde‹.«

»Na ja.« Er schaute auf den Boden. »Tut mir leid, aber eure Gemeinde wird es bald eh nicht mehr geben, egal, wie ihr jetzt heißt.«

»Danke für den Hinweis.« Dieser Mann war nicht nur ignorant, er war auch noch gemein. ⌂

»Und sagt ihr auch etwas in dem Film?« So recht konnte Gisela sich nicht vorstellen, wie kurze Filme, mit Handys aufgenommen, eine gute Werbung für ihre Gemeinde sein konnten.

»Oma, wir sagen natürlich, dass das hier die coolste Gemeinde von ganz Bremen ist und die Kirche so voll ist, dass man keinen Sitzplatz bekommt.« Rieke ging in die Hocke und filmte die Kirchenbänke.

Sie sah sich um. »Aber wirkt das denn überzeugend, wenn die Kirche leer ist?«

Die jungen Männer lachten und Rieke stand wieder auf. »In unseren Filmsequenzen ist deine Kirche nicht leer. Wir bearbeiten das mit der KI und dann ist die Kirche voll mit Menschen.«

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 1

Gisela steckte Böses ahnend den Schlüssel in das Haupttor der Sankt-Fabian-Kirche. Es war tatsächlich noch nicht aufgeschlossen! Dabei hatte Frau Knudsen doch zugesagt, den Schlüsseldienst zu übernehmen. Sie hatte es kommen sehen und Pastor Hannes gebeten, auch während ihres Urlaubs als Küsterin den Schließdienst zu übernehmen. Aber nein, der Pastor und alle anderen wussten es besser. Sie solle Urlaub machen und vielleicht einmal wegfahren. Man sah ja, was dabei herauskam. Eine Kirche, die am späten Vormittag um kurz vor zehn Uhr noch nicht aufgeschlossen war.

Sie betrat die Kirche, blieb stehen und sog den Duft ein. Wie sie ihn liebte, diesen Geruch nach altem Holz, Kerzen und dem gewissen Etwas, was nur diese großen und altehrwürdigen Kirchen ausstrahlen konnten. Gewiss, an anderen Orten gab es auch Kirchen, die sie hätte besuchen können, wenn sie weggefahren wäre, aber keine Kirche roch so gut und vertraut wie ihre Sankt-Fabian-Kirche.

Zufrieden betrachtete sie die Kerzen auf dem Altar, die sie oben in einer geraden Linie abgeschnitten hatte. Es war eine Kunst, die verschiedenen Kerzen nach dem Erlöschen kerzengerade abzuschneiden und das weiche Wachs zu formen, damit sie so perfekt aussahen wie ihre Kerzen. Auf den Kerzenleuchtern hatte sich schon wieder Staub abgesetzt, aber in drei Tagen war ihr offizieller Urlaub vorbei, und sie würde sich wieder mit vollem Einsatz an die Arbeit machen. Sie freute sich auf die Menschen, die dann im Gemeindehaus lachten und redeten, die Räume mit Leben füllten.

Gisela roch an den Hortensien in den beiden Vasen auf dem Altar und verzog das Gesicht. In der Sakristei am Waschbecken wechselte sie schnell das Blumenwasser.

Ehrfürchtig trat sie am Altar einen Schritt zurück und sah hoch zu dem Kreuz, das über dem Altar hing. »HERR, ich will fleißig sein«, sagte sie zu dem Jesus am Kreuz. »Ich danke dir für diese Gemeinde und meinen Dienst, den ich tun darf. Und bitte verschaffe mir gleich Gehör bei den anderen.«

Sie ging zum Ausgang und blieb abrupt stehen, als sie auf einer Kirchenbank ein Buch entdeckte. Es war eine kleine, abgegriffene Bibel, die sie sofort erkannte. Diese Bibel gehörte ihrem Pastor. Er hatte dieses Buch immer in seinem Büro liegen, aber doch nicht hier. Ob Pastor Hannes gestern krank aus seinem Urlaub zurückgekommen war? Oder nur zerstreut? Ihr Pastor ließ nie irgendetwas herumliegen, im Gegensatz zu den Gemeindemitgliedern.

Mit schnellen Schritten verließ sie die Kirche und ging zum Gemeindehaus, das neben der Kirche lag. Sie grinste bei dem Gedanken daran, dass sie Pastor Hannes und die anderen vom Gemeindevorstand überraschen würde. In fünf Minuten begann die Vorstandssitzung der Gemeinde und keiner erwartete sie dort. Etwas merkwürdig war es schon, dass das Treffen heute als ›Sondersitzung‹ einberufen wurde und nicht abends stattfand wie sonst. Sie wollte die Sitzung nutzen, um dem Vorstand ihre Anliegen vorzubringen: eine Ermahnung an die Reinigungskraft, die zuverlässiger putzen sollte, mehr Geld für Kerzen und ein Spendenaufruf an die Gemeinde für neue Sitzpolster auf den Kirchenbänken. Nach dem anstehenden Wochenende waren die Schulferien vorbei und dann war im Gemeindezentrum wieder Jubel, Trubel und besonderer Fleiß für sie angesagt. Alle freuten sich, dann wieder da zu sein, und allen fiel dann gleichzeitig ein, was sie als Küsterin für sie erledigen sollte.

Gut, dass sie heute Morgen schon das Mittagessen gekocht hatte. Rieke kam sie heute besuchen, und sie wollte sich als Oma dann wieder von ihrer besten Seite zeigen. Sie war stolz darauf, dass es Rieke bei ihr schmeckte und konnte es kaum erwarten, mit ihr über den Konfirmationsunterricht, der nächste Woche beginnen sollte, zu sprechen.

Als sie den Raum ›Arche‹ betrat, spürte sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Es roch zwar nach Kaffee, wie bei allen Sitzungen. Das Gesicht von Pastor Hannes war von der Sonne gebräunt und dadurch sahen seine blonden Locken noch heller aus. Das täuschte sie aber nicht darüber hinweg, dass ihr Pastor sie nicht nur überrascht, sondern auch ein wenig traurig ansah. Sie kannte diesen Blick. So hatte ihr Pastor auch ausgesehen, als er Liebeskummer wegen Anna, seiner jetzigen Ehefrau, hatte.

»Moin«, rief sie trotzdem fröhlich in die Runde.

Im Raum saßen neben Pastor Hannes noch vier Personen mit grauen, kurzen Haaren: Das Ehepaar Knudsen und Herr Müller und Herr Möller. Damit war der Gemeindevorstand heute komplett anwesend. Gut so.

»Gisela, Sie haben Urlaub«, rief Pastor Hannes empört.

»Macht nichts. Jetzt habe ich noch Zeit, Ihnen meine Anliegen vorzutragen.«

Die Grauhaarigen sahen sie missmutig an. Was für eine Frechheit. Sie war hier die Küsterin und leistete jeden Tag Dienste für diese Herrschaften und die Gemeinde. Und natürlich für den HERRN. Da konnte sie bei ihrem Erscheinen doch wohl etwas mehr Freundlichkeit erwarten.

»Sie kommen etwas ungelegen«, sagte Frau Knudsen und stierte sie an.

Sie sah möglichst giftig zurück. »Es ist ungelegen, dass um zehn Uhr die Kirche noch nicht aufgeschlossen ist. Hatten Sie nicht versprochen, den Schließdienst zu übernehmen?«

Pastor Hannes seufzte. »Ich habe Frau Knudsen gebeten, die Kirche werktags während der Ferien geschlossen zu halten, weil nur wenige Personen oder keine hier auf dem Gelände sind. Die Gefahr ist zu groß, dass in unserem Gotteshaus randaliert und gestohlen wird.«

Sie kniff den Mund zusammen. Es war besser, jetzt nichts zu sagen. Aber warum mussten der Pastor und seine Frau während ihres kompletten Urlaubs wegfahren? Und warum konnten die Ehrenamtlichen sich nicht in die Kirche setzen, damit die Kirche offenblieb? Sah so ein Haus Gottes aus? Verschlossen?

Herr Knudsen, der Kantor der Gemeinde, räusperte sich. »Wenn Sie schon hier sind, Frau Jansen, dann bleiben Sie eben. Sie wissen ja, dass über das, was wir hier sprechen, erst einmal nichts nach außen dringen darf.«

Was glaubten diese Eminenzen hier eigentlich? Dass sie hinter verschlossenen Türen über die Gemeinde zu entscheiden hatten? Und sie, Gisela Jansen, hatte als Küsterin die Entscheidungen dann umzusetzen.

Pastor Hannes lächelte und wies auf den leeren Stuhl neben sich. Sie legte seine kleine Bibel vor ihm auf den Tisch und setzte sich, wobei an ihrem Bauch der Bund ihrer blauen Anzugshose zwickte. Bestimmt hatte sie während der letzten zwei Wochen Urlaub aus Langeweile zu viel gegessen. Gut, dass ab nächster Woche in ihrem Sportverein wieder die Kurse stattfanden.

Pastor Hannes sah in die Runde. »Es wird sich sowieso verbreiten wie ein Lauffeuer.«

»Tagesordnungspunkt eins, das Gemeindeleben nach den Ferien«, verkündete Herr Knudsen mit einer Leiterstimme, die Gisela sofort noch wütender machte. Nur weil ihre Freundin Renate Meyer und deren Ehemann vor einem halben Jahr aus der Gemeinde ausgetreten waren, konnten Herr Knudsen und seine Ehefrau sich im Kirchenvorstand breitmachen. Dabei hatten die beiden außer ihrer eigenen traditionellen Kirchenmusik nichts im Kopf. Modernere Klänge, die Gisela auch mochte, lehnten die Knudsens kategorisch ab. Und Herr Müller und Herr Möller sagten sowieso immer zu allem Ja und Amen, was Herr und Frau Knudsen wollten.

»Wir werden die Tagesordnung ändern aufgrund eines Beschlusses der EBK«, sagte Pastor Hannes.

Gisela horchte auf. Welcher Beschluss der Evangelischen Bremischen Landeskirche, die sie abgekürzt nur EBK nannten, konnte so wichtig sein, dass ihr Pastor die Tagesordnung ändern wollte?

»Gestern hat die EBK beschlossen«, setzte Pastor Hannes an.

»Sollten wir nicht erst«, unterbrach ihn Frau Knudsen und beugte sich über den Tisch.

Allein, dass diese Zicke den Herrn Pastor unterbrach, war schon Beweis genug dafür, dass diese Frau nicht in den Kirchenvorstand gehörte.

Pastor Hannes blickte Frau Knudsen eindringlich an. »Die EBK hat gestern beschlossen, dass unsere Sankt Fabian Gemeinde ab Januar, also in einem halben Jahr, fusionieren soll.«

»Was?«, entfuhr es Gisela lauthals. »Mit wem?«

Herr Knudsen schüttelte den Kopf. »Wie soll das denn gehen? Wir kooperieren doch bisher noch nicht einmal mit einer Gemeinde.«

Pastor Hannes sah an Herrn Knudsen vorbei auf die Wand. »Wir kooperieren mit keiner Gemeinde, weil wir das immer abgelehnt haben.«

»Natürlich, unsere Gemeinde ist einzigartig. Mit wem hätten wir denn kooperieren sollen?«, empörte sich Frau Knudsen.

»Wie kommt die EBK nur auf die Idee, dass wir fusionieren sollen?«, wunderte sich auch Herr Müller.

»Na, wie denn wohl?« Pastor Hannes schüttelte verärgert den Kopf. »Unsere Mitglieder werden weniger. Deshalb haben wir nicht mehr genug finanzielle Mittel. Die evangelische Kirche braucht Geld und muss Gebäude verkaufen.«

Frau Knudsen starrte den Pastor an. »Die können nicht unsere Kirche verkaufen.«

Pastor Hannes hob die Schultern. »Eine erzwungene Fusion durch die EBK hat es noch nie gegeben. Uns trifft es als Erste.«

»Das kommt gar nicht in Frage«, sagte Gisela bestimmt.

Pastor Hannes seufzte. »Unsere Gemeinde kann die Heizkosten schon lange nicht mehr selbst bezahlen und die anstehenden Kosten für die Instandhaltung will die EBK nicht übernehmen.«

Gisela lachte. »Was ist denn das Problem? Dann frieren wir eben. Und der HERR bewahrt uns davor, dass der herunterbröckelnde Putz jemandem auf den Kopf fällt.« Das mit der Fusion war bestimmt nur ein geschmackloser Scherz der EBK.

»Nein, unsere Kirche und das Gemeindehaus werden verkauft«, sagte Pastor Hannes bestimmt. »Der Kirchenausschuss der EBK hat das beschlossen.«

Vor Giselas Augen begannen die Wände im Raum hin- und herzuschwanken. »Aber wir haben in den letzten Jahren doch schon so viel bei den Ausgaben gespart in der Gemeinde.«

»Wobei ich das mit den angegebenen Geldbeträgen von der EBK noch nicht nachvollziehen kann«, sagte Pastor Hannes abwesend. Er kümmerte sich seit einem halben Jahr um die Finanzen der Gemeinde. Davor hatte ihre Freundin Renate sich ehrenamtlich darum gekümmert.

»Was soll das heißen, ›verkauft‹?« Das Wort kam Gisela unwirklich vor.

»Es bedeutet, dass unser Gemeindehaus verkauft wird. Sogar die Kirche soll verkauft werden. Einen Interessenten gibt es angeblich schon.« Auch Pastor Hannes starrte auf die Wand.

»Bitte?« Gisela war froh, dass sie auf einem Stuhl saß, aber im Moment bewegte sich sogar der Holzfußboden unter ihren Füßen.

»Wer ist der Interessent?«, fragte Herr Knudsen.

»Das wurde mir nicht gesagt«, sagte Pastor Hannes zerknirscht.

Wenn sie den Pastor ansah, dann hörten die Wände vor ihr auf, sich zu bewegen. »In unserer Kirche sollen keine Gottesdienste mehr stattfinden?«

»Ja, keine Gottesdienste mehr. Die Verhandlungen mit dem Interessenten sollen schon laufen.« Pastor Hannes nahm seine Kaffeetasse und hielt sie lange an seinen Mund, bevor er mit geschlossenen Augen daraus trank.

Ach, ihr armer Herr Pastor. So hielt er die Kaffeetasse, wenn ihn etwas traurig oder wütend machte.

Der sonst schweigsame Herr Möller, ein pensionierter Oberstudienrat, meldete sich zu Wort. »Herr Pastor Schwing, Sie sprachen von einer Fusion. Wenn unser Gemeindehaus und die Kirche verkauft werden, hört sich das aber nach einer Auslöschung unserer Gemeinde an.«

»Ja.« Pastor Hannes holte tief Luft. »Wir sollen mit der Nathan-Gemeinde fusionieren und haben jetzt ein halbes Jahr Zeit, die Fusion gemeinsam mit unseren Brüdern und Schwestern aus der Nathan-Gemeinde vorzubereiten.«

»Mit deeenen?«, fragte Frau Knudsen mit aufgerissenen Augen.

»Kommt nicht in Frage.« Gisela stampfte mit ihrem Fuß auf den Boden, was keinen im Raum überraschte. Der Boden unter ihr hörte sofort auf zu schwanken.

»Aber wie kommt die EBK denn auf die Idee, dass wir ausgerechnet mit dieser Gemeinde fusionieren sollen?«, fragte Herr Müller ungläubig.

»Wegen der räumlichen Nähe«, sagte Pastor Hannes und klang selbst nicht überzeugt.

»Die Nathan-Gemeinde ist aber musikalisch himmelweit von uns entfernt«, empörte sich Herr Knudsen.

»Die haben doch eine ganz andere Organisation als unsere Gemeinde.« Gisela erinnerte sich an die vielen Menschen vor dem Eingang der Nathan-Gemeinde. Jedes Mal, wenn sie mit dem Fahrrad an der Gemeinde vorbeifuhr, sah sie merkwürdig aussehende Menschen davor. Diese Gemeinde ließ Flüchtlinge im Gemeindehaus wohnen und sie boten allen Armen im Stadtteil Verpflegung und Kleidung an.

Pastor Hannes knetete seine Hände. »Wie Sie wissen, habe auch ich meine theologischen Differenzen mit meinem Kollegen Michael Nielsen aus der Nathan-Gemeinde. Sein Verständnis als Pastor unterscheidet sich sehr von meinem Berufsbild. Michael war schon in der Schule nicht der Hellste.«

»Ach, Sie waren Schulkameraden?«, fragte Herr Möller interessiert.

»Leider ja.« Pastor Hannes sah auf seine Hände. »Die politische Agitation war Michael Nielsen aber schon damals wichtiger als alles andere, und deshalb verließ er schon vor dem Abitur die Schule mit schlechten Noten. Wie er später Theologie studieren konnte, ist mir ein Rätsel.«

»In Bremen kann jeder das Abitur nachholen«, sagte Herr Möller und seufzte.

Herr Müller stellte seine Kaffeetasse klirrend auf den Unterteller. »Das ist doch der Wahnsinn. Alle in Bremer Kirchenkreisen wissen, dass wir und die Nathan-Gemeinde uns nicht wohlgesonnen sind. Die wollen uns schaden.«

»Das ist gut möglich.« Pastor Hannes fuhr sich nervös durch seine blonden Locken. »Das Gerichtsverfahren gegen mich wurde zwar vor einem Jahr eingestellt und auch das Disziplinarverfahren der EBK gegen mich, aber vielleicht wollen sie mich loswerden.«

Alle schwiegen bestürzt. Ihre Gemeinde hatte in den letzten Jahren in den Medien viel Aufmerksamkeit, leider nicht positive, erfahren. Das war allerdings nicht ihre Schuld, sondern die der Medien. Außerdem hatte ihr Pastor, nachdem er als homophob beschimpft worden war, sich doch bei den Homosexuellen aufrichtig entschuldigt.

Gisela machte mit ihren dicken Lippen einen Schmollmund und schüttelte den Kopf. »Wenn Leute uns schaden möchten, dann werden sie damit nicht durchkommen.«

Pastor Hannes senkte den Kopf und faltete seine Hände. »Es scheint so, dass unsere Gemeinde verschwinden soll.«

»Nicht mit uns!« Sie sprang auf, und alle sahen sie an.

»Gisela, Ihr Engagement in Ehren, aber wir sind in diesem Fall machtlos.« Pastor Hannes wies mit seiner Hand auf ihren leeren Stuhl.

Sie öffnete ihren Mund, aber setzte sich wieder hin. Wollte Pastor Hannes wirklich nicht für seine Gemeinde kämpfen? Sie rieb mit der Hand an ihrer Wange. Das half ihr beim Nachdenken. ›HERR, wo bist du?‹, dachte sie.

Pastor Hannes betrachtete sie. »Ihre Stelle als Küsterin bleibt in vollem Umfang erhalten«, sagte er mit einem fürsorglichen Blick.

Himmel, daran hatte sie nicht gedacht. Das wäre wirklich die Höhe, wenn die EBK sich trauen würde, ihre Stelle zu kürzen. Die Stelle von Küsterin Gisela Jansen, die zu jeder Stunde im Einsatz war für ihre Gemeinde.

»In Zukunft werden Sie mit dem Hausmeister der Nathan-Gemeinde zusammenarbeiten.«

»Wieso Hausmeister? Haben die keinen Küster?« Sie ahnte nichts Gutes.

»Nein, vor zwei Jahren wurde dort nur noch eine Hausmeister-Stelle ausgeschrieben.«

Typisch. Der so wichtige Beruf des Küsters wurde nicht mehr wertgeschätzt. Niemand sah, was ihre Berufsgruppe leistete. »Herr Pastor, wir können das nicht hinnehmen«, versuchte sie in ruhigem Ton zu sagen, aber ihre Stimme überschlug sich.

Pastor Hannes sah sie mit müden Augen an. Der Ärmste, vermutlich hatte er heute Nacht kaum geschlafen. »Wir müssen den Beschluss hinnehmen. An dem Beschluss der EBK gibt es nichts zu rütteln.«

Alle anderen am Tisch nickten. Was für Jammerlappen.

»Sie wollen den Erhalt der Sankt-Fabian-Gemeinde nicht verteidigen?« Ungläubig sah sie in die Runde.

Pastor Hannes legte eine Hand auf ihren Arm, was sie ansonsten immer beruhigte. »Gisela, Ihre Treue in Ehren, aber wir müssen uns davon verabschieden, dass wir eine eigenständige Gemeinde bleiben können. Die Finanzen unserer Gemeinde machen eine solche Fusion erforderlich.«

Sie mochte seine Geste, wenn er die Hand auf ihren Arm legte. Im Moment erinnerte seine Hand sie aber daran, dass ihr ganzes Leben bald vorbei sein könnte, ihr Leben für die Gemeinde. »Niemals werden wir uns auslöschen lassen und bei einer anderen Gemeinde einziehen.« Sie schüttelte ihren Kopf, wobei ihre kinnlangen, braunen Haare um ihr Gesicht flogen. »Schon gar nicht in die Nathan-Gemeinde«, sagte sie mit fester Stimme.

»Jetzt regen Sie sich nicht so auf«, piepste Frau Knudsen.

»Natürlich rege ich mich auf«, herrschte sie die Knudsen an. »Herr Pastor, wir könnten Unterschriften gegen die Fusion sammeln.«

Pastor Hannes schüttelte den Kopf. »Die Unterschriften bringen uns kein Geld. Nein Gisela, wir haben uns an den Beschluss der EBK zu halten. Wir fahren nun mit der Tagesordnung fort.« Er blätterte in seinen Unterlagen, aber sie ließ sich nicht ablenken.

»Wir müssen etwas gegen die Fusion unternehmen.« Sie sah die Runde aufmunternd an, aber alle, sogar ihr Pastor, sahen sie nur betrübt an. Was war das für ein Gemeindevorstand? Verstanden sie nicht, dass es hier um ihre Existenz ging?

»Gisela, was waren Ihre Anliegen?« Pastor Hannes bemühte sich, sie anzulächeln. »Sprechen wir zuerst darüber und dann können Sie wieder gehen. Schließlich haben Sie Urlaub.«

Anliegen? Was denn für Anliegen? Ach ja, die Kerzen. Was spielte das denn jetzt noch für eine Rolle, wenn sie sich bald mit dem Hausmeister aus der Nathan-Gemeinde die Kerzen teilen sollte? An neue Sitzpolster für ihre Kirchenbänke war im Moment auch nicht zu denken und wie es mit der Sauberkeit in der anderen Gemeinde aussah, daran wollte sie erst recht nicht denken.

»Danke, hat sich erledigt«, sagte sie schnell und stand auf. Als sie die Tür zuzog, sah sie in überraschte Gesichter. Kein Wunder, schließlich war es der Gemeindevorstand gewohnt, dass sie ihre Anliegen für die Gemeinde vehement und ausdauernd vorbrachte. Im Moment wollte sie aber mit diesen ›Ja-Sagern‹ nicht eine Minute länger in einem Raum sitzen.

Stattdessen ging sie wieder in die Kirche, um mit dem HERRN über die Angelegenheit zu sprechen. Sie sah zu dem Jesus am Kreuz über dem Altar. »HERR, wie konntest du es nur so weit kommen lassen? Bitte hilf mir und der Gemeinde. Steh uns bei und lass uns nicht allein. Wir müssen hierbleiben, an deinem Ort, das weißt du doch. Wenn das einer weiß, dann du, o HERR. Amen.«

Dem Kirchenvorstand würde sie es zeigen. Die eigene Gemeinde einfach sang- und klanglos aufgeben, nur weil die EBK das beschlossen hatte. Nicht mit ihr. Ab jetzt würde sie jede Sekunde damit verbringen, diese Fusion zu verhindern. Mit der Hilfe des HERRN.

Kapitel 2

Klaus betrat pfeifend den Eingang der Nathan-Gemeinde und hob zwei Brötchen vom Boden auf. Er warf sie in den Mülleimer neben dem Eingang und schob die vielen Brotlaibe, die auf dem Tisch lagen, nach hinten. Im Kühlschrank daneben standen Joghurtbecher, Käse und Butter. Das Food-Sharing im Eingangsbereich wurde gut genutzt. Viele aus dem Stadtteil brachten Lebensmittel, die sie nicht mehr brauchten und diejenigen, die weniger hatten, holten sich die Lebensmittel hier raus. Er war stolz darauf, in dieser Gemeinde, die den Armen half, als Hausmeister zu arbeiten. Deshalb war er meistens gut gelaunt, wenn er in seine Gemeinde kam.

»Klaus, wo kann ich ein Verlängerungskabel finden? Wir bauen für das Konzert heute Abend im Saal auf.« Ein Jugendlicher, den er nicht kannte, sah auf sein Handy, während er mit ihm sprach.

»Sieh mal in der Schublade unter der Bühne nach«, schlug er dem Jugendlichen vor. In der Nathan-Gemeinde wurde jeden Tag gesungen, getanzt, diskutiert und gefeiert. Klaus war Mitte fünfzig und mitten drin an dem Ort, wo das Leben tobte.

Im Eingangsbereich und den Fluren im Haus war so viel Betrieb wie immer nachmittags. Im Treppenhaus, das groß und quadratisch angelegt war, hatte das Café geöffnet. In der Mitte von dem Raum waren die Treppen und an den Tischen darum herum saßen Mütter, die sich eifrig unterhielten. Neben den Glastüren, die zum Garten gingen, stand der Tresen, an dem Kaffee und Kuchen ausgegeben wurde. Vor dem Tresen stand eine Schlange von Menschen, die sich in verschiedenen Sprachen miteinander unterhielten. Klaus liebte die Klänge der Sprachen, auch wenn er das meiste davon nicht verstand. Kinder, Jugendliche und Erwachsene standen in Grüppchen zusammen und diskutierten, lachten und gestikulierten mit ihren Händen. Hier in der Nathan-Gemeinde war jeder willkommen, und das fand er für eine christliche Gemeinde angemessen. Er war zwar nie ein fleißiger Kirchgänger gewesen, aber er fand, wenn eine Gemeinde christlich sein wollte, dann sollte sie genau so sein wie seine Gemeinde.

Er ging durch die Glastür in den Garten. Die kleinen Kinder spielten auf den Spielgeräten, während die Mütter und wenigen Väter auch hier auf den Stühlen saßen, Kaffee tranken und sich angeregt unterhielten. Er mochte diesen großen Gemeindegarten, in dem die Kinder Platz hatten und die Eltern sich entspannen konnten.

Als der Küster der Nathan-Gemeinde vor zwei Jahren in Rente ging und eine Hausmeisterstelle ausgeschrieben wurde, bewarb er sich sofort. Er kündigte seine damalige Stelle als Küster in einer anderen Gemeinde und wusste, dass es die richtige Entscheidung war. Als Tischler arbeitete er wegen seiner Rückenschmerzen schon seit sechs Jahren nicht mehr, aber als Handwerker war er ein gern gesehener Hausmeister.

Eine Mutter lief auf ihn zu. »Klaus, hinten ist eine Wippe kaputt.«

Er ließ sich die kaputte Stelle zeigen und klebte ein Absperrband an die Wippe, denn vor seinem Feierabend heute schaffte er es bestimmt nicht mehr, das Spielgerät zu reparieren.

»Was machst du da?«, fragte ihn ein etwa vierjähriges Mädchen, das ihn mit großen Augen ansah.

»Morgen repariere ich eure Wippe. Jetzt ist sie noch kaputt und ihr dürft nicht damit spielen.«

Das kleine Mädchen schüttelte den Kopf. »Damit ihr euch nicht verletzt.«

Sie nickte lächelnd und rannte zu den anderen Kindern.

Sein nächster Kontrollgang führte ihn in die Küche. Auf der Geschirrspülmaschine stand das schmutzige Geschirr. Bestimmt würde nachher eine der Ehrenamtlichen die Geschirrspülmaschine ausräumen und das benutzte Geschirr einräumen.

Mohammed kam herein und lächelte. »Oben Wohnung kaputt.« Er war seit zwei Monaten im Kirchenasyl und ein besonders freundlicher Bewohner.

»Was ist kaputt?«

Mohammed deutete auf den Wasserhahn in der Küche.

Klaus nickte. »Ok, ich sehe bei euch oben nach. Bitte räume du solange hier die Geschirrspülmaschine aus.«

»Danke.« Mohammed strahlte und hielt bereits saubere Teller aus der Maschine in der Hand.

Klaus ging auf den Flur, um zur ehemaligen Küsterwohnung im zweiten Stock zu gehen. Die Wohnung wurde seit zwei Jahren für die Flüchtlinge im Kirchenasyl genutzt. Er hatte dankend abgelehnt, als ihm die Wohnung zur Miete angeboten wurde. In seiner Freizeit wollte er nicht ständig für alle erreichbar sein und wohnte ein paar Straßen von der Nathan-Gemeinde entfernt.

»Die Kaffeebohnen sind alle.« Die FSJlerin, die seit kurzem ihren freiwilligen sozialen Dienst hier machte, stand aufgeregt vor ihm.

»Dafür ist Katrin zuständig. Sie ist bestimmt im Materialraum.« Er nickte ihr freundlich zu und ging mit seinem Werkzeugkasten zur Treppe. Jemand zog ihn am Ärmel. Es war einer der Obdachlosen, die sich hier oft in den Eingangsbereich setzten. »Habt ihr eine Wolldecke für mich?«, fragte er leise.

»Bestimmt, geh mal runter in den Umsonstladen. Die haben wahrscheinlich noch welche.«

Der Obdachlose blieb an der Treppe, die nach unten führte, stehen. Klaus lächelte ihm aufmunternd zu. In der Nathan-Gemeinde wurde allen geholfen, so gut es eben ging. Die meisten Menschen wollten ihren Mitmenschen helfen und man musste ihnen nur den Rahmen geben, um Nahrung, Kleidung und Gegenstände zu verschenken.

Als er auf dem ersten Treppenabsatz stand, hörte er hinter sich Katrins Stimme. »Klaus, da bist du ja.«

Beschwingt drehte er sich um. Er mochte Katrin mit ihren blonden, schulterlangen Locken und ihrem sportlichen Outfit. Als er, vor zwei Jahren, hier als Hausmeister begann, war es diese junge Frau, die ihm das meiste in der Gemeinde erklärte. Sein Vorgänger war zu Beginn seiner Rente für ein halbes Jahr ins Ausland verreist und Michael, der Pastor der Gemeinde, hatte nun einmal wenig Zeit. Dabei arbeitete Katrin hier nur als Ehrenamtliche. Schon ihre Mutter hatte hier als Ehrenamtliche gearbeitet und half immer noch im Seniorencafé aus.

»Was gibt’s?« Er grinste Katrin an.

»Ich wollte dir nur ›Hallo‹ sagen.« Sie grinste zurück.

Er ging, mit seinem Werkzeugkasten in der Hand, weiter die Treppe hoch. Oben an der Wohnungstür öffnete Murat, auch ein Flüchtling, der hier im Kirchenasyl Zuflucht gefunden hatte, die Tür.

»Du guter Mann.« Murat klopfte ihm auf die Schulter.

Er wechselte in der Wohnung der Flüchtlinge die Dichtung am Wasserhahn aus. Auf dem Weg zurück ins Erdgeschoss sah er, dass Pastor Michael mit aufgelöstem Blick unten an der Treppe stand und ihn hektisch zu sich winkte. Mit seinem dicken Bauch und der kleinen Statur erinnerte Michael ihn an einen Gartenzwerg, der im Gras stand. Michael machte ein ernstes Gesicht. Außergewöhnlich ernst.

»Komm mit in mein Büro. Wir müssen reden«, sagte Michael aufgeregt.

Um Himmels willen, das hörte sich nicht gut an. Auf dem Weg zum Büro sprachen Michael drei Personen mit ihren Anliegen an, aber er winkte immer nur mit einem »jetzt nicht« ab. Das war sonst nicht seine Art.

Klaus blieb im Büro stehen, aber Michael deutete auf einen Stuhl. »Setz dich lieber.«

Das war merkwürdig. Sein Chef wusste eigentlich, dass er als Hausmeister kaum Zeit hatte, sich zu setzen. Klaus setzte sich seinem Chef gegenüber an den Schreibtisch, auf dem kreuz und quer viele Papierstapel lagen. Zumindest das war normal.

Michael atmete so tief ein und aus, dass sich die Haare von seinem gekräuselten Vollbart bewegten. »Die Bremische Kirche hat beschlossen, dass wir mit der Fabian-Gemeinde fusionieren sollen«, platzte er heraus.

»Und was bedeutet das?« Klaus hatte schon davon gehört, dass sich in Bremen aus finanziellen Gründen öfter zwei oder sogar drei Gemeinden zusammenschließen mussten, aber von der Nathan-Gemeinde war in diesem Zusammenhang noch nie die Rede gewesen.

»Das bedeutet, dass die Sankt-Fabian-Gemeinde bei uns einzieht.«

»Ist das nicht die Gemeinde mit dem Pastor, der gegen Homosexuelle gehetzt hat und sich dann später bei denen entschuldigt hat?«

»Genau diese Gemeinde ist es. Und nur weil dieser Evangelikale sich bei queeren Menschen entschuldigt hat, heißt das noch lange nicht, dass er nicht weiterhin homophob denkt. Außerdem denkt und handelt dieser Pastor reaktionär.«

»Verstehe.« Michael Nielsen war der einzige Pastor in Bremen, der sich noch öffentlich zum Kommunismus bekannte und alles, was nicht danach klang, war in seinen Augen kapitalistisch und schlecht.

»Wenn die bei uns einziehen, dann sind sie Gäste und müssen sich uns anpassen«, versuchte er seinen Chef zu beruhigen.

»Das sehe ich auch so, aber ich fürchte, die Gemeindemitglieder der Fabian-Gemeinde sehen das nicht so, und der Pastor wird hier natürlich seine eigenen Gottesdienste abhalten wollen.« Michael schob seine Brille auf der Nase nach oben.

»Und die EBK kann so etwas einfach beschließen?« Klaus verstand die Hierarchien in der Evangelischen Bremischen Kirche, wer wem etwas vorschreiben konnte, immer noch nicht.

Michael seufzte. »In diesem Fall wohl schon. Die Bremische Kirche muss ein Drittel der Gelder einsparen. Es gibt zu viele Kirchenaustritte.«

»Wenn in der Gemeinde zwei Pastoren sind, bedeutet das dann nicht weniger Arbeit für dich?« Irgendetwas Gutes musste diese Fusion doch haben, so wie alles, was im Leben passierte.

»Nein, es bedeutet mehr Kampf. Wir werden uns um die Termine und die Räume streiten und um alles andere auch.« Michael schnaubte wieder, dieses Mal aber bedenklich laut. »Und vor allem: Was für einen Ruf soll unsere Gemeinde bekommen, wenn ein evangelikaler Pastor in unseren Räumen predigt?« Er strich mit beiden Händen seine braunen Haare nach hinten.

Klaus versuchte, seine Gedanken zu sortieren. »Und was sind das für Gemeindemitglieder, die sie mitbringen?«

»Auf jeden Fall sind das Leute, die nicht in unsere Gemeinde passen. Überhaupt nicht.« Pastor Michael schüttelte energisch den Kopf.

»Dann muss es eben getrennte Angebote geben für unsere Senioren und die von der Fabian-Gemeinde.«

Michael schüttelte den Kopf. »Unsere Räume sind doch jetzt schon immer ausgebucht. Ich weiß wirklich nicht, wie die EBK sich das vorstellt.«

Das mit dem Platz stimmte wirklich. »Wenn die etwas aus ihrer Gemeinde mitbringen wollen, gibt es in unseren vollgestopften Räumen gar keinen Platz dafür.«

»Wir haben weder Platz noch Nerven für so eine Fusion. Und dann auch noch mit dieser Gemeinde.« Michael schnaubte nun mit zusammengekniffenen Augen. »Ich verstehe nicht, warum die EBK uns das antut. Dass sie die Fabian-Gemeinde loswerden wollen, das ist klar, aber was haben sie gegen uns?«

»Vielleicht passt es ihnen nicht, dass wir so viele Flüchtlinge im Kirchenasyl haben.«

Michael sah ihn entsetzt an.

»Ja echt, vielleicht wollen sie uns die Wohnung für die Flüchtlinge wegnehmen und denken, dass da die Fabian-Gemeinde einziehen soll.«

Michael schlug mit seiner Faust auf den Tisch. »Niemals!«

Klaus hob beschwichtigend die Hände. »Das war doch nur so eine Vermutung.« Wie sollte eigentlich seine Arbeit in Zukunft aussehen? »Bringen die denn einen zweiten Hausmeister mit?« Vielleicht konnte er schon bald mit einem Kollegen zusammenarbeiten und sich mit ihm austauschen. Der Gedanke gefiel ihm.

»Die Gemeinde hat eine Küsterin, die streng sein soll, was ja auch zu der Gemeinde passt.«

Hm. Eine Frau und dann auch noch streng. Vermutlich eine, bei der immer alles picobello aussehen musste. Wie schade. »Solange sie mir nicht reinredet. Schließlich nehmen wir sie auf, und deshalb werden wir den Ton angeben.«

»Das ist die richtige Haltung, Klaus.«

»Was wird eigentlich aus der Fabian-Gemeinde, wenn die bei uns einziehen?«

»Das Gemeindehaus und die Kirche sollen verkauft werden. Alte Kirchengebäude sind bei manchen jungen Leuten jetzt wohl angesagt.« Michael schüttelte den Kopf.

»Steht diese Kirche denn nicht unter Denkmalschutz?«

»In Bremen zeigt sich der Denkmalschutz da kompromissbereit. Die Kirche bleibt ja stehen. Tja, dumm gelaufen für die Fabian-Gemeinde. Der Mensch denkt, Gott lenkt. Die Kirchenaustritte, die Klimakrise und die Energiewende sind dazwischengekommen. Diese Kirchen kann doch keiner mehr heizen.«

Klaus war sich nicht sicher, ob Gott die Energiewende und die höheren Heizungspreise lenkte, aber Michael interpretierte das Wort Gottes stets etwas speziell.

Michael seufzte und sah auf die Papierstapel, die seinen Schreibtisch zudeckten. »Gut, wir werden bei der nächsten Gemeinde-Sitzung darüber sprechen, wie wir mit der neuen Situation umgehen. Unsere Gemeinde hat schon ganz andere Katastrophen überlebt.«

Michael blieb mit hängenden Schultern sitzen, aber Klaus stand auf und fragte lieber nicht weiter nach. Im Moment wollte er von seinem Pastor nicht noch mehr über Katastrophen hören, nicht über vergangene und nicht über zukünftige.

Kapitel 3

»Oma, bitte, bitte. Wenn du mit Mama redest, dann unterschreibt sie bestimmt, dass ich das Piercing bekommen darf.« Rieke zeigte wieder einmal ihre riesigen Glubschaugen, die sie schon als Kleinkind machen konnte, immer dann, wenn sie etwas unbedingt haben wollte. Damals ging es aber um einen Lolli oder ein Eis und nicht um eine geplante Selbstverstümmelung.

»Kommt nicht in Frage. Warum soll ich meiner Tochter sagen, dass sie meiner Enkeltochter so einen Blödsinn erlaubt.«

»Lena hat aber auch einen Ring an der Augenbraue und das sieht echt cool aus.« Rieke strich sich über ihre linke Augenbraue.

Unglaublich, was Vierzehnjährigen heutzutage gefiel. »Cool heißt nicht schön. Deine braune Haarfarbe war auch viel schöner als dieses unnatürlich gefärbte Schwarz.«

Rieke strich ihre schulterlangen, totschwarzen Haare zurück. »Lena und ich haben unsere Haare zusammen gefärbt. Außerdem färbst du doch selbst deine Haare.«

Ihrer pubertierenden Enkelin zu erklären, dass ihr braun gefärbter Pagenkopf ihrem Alter geschuldet war, weil sie sich nicht in die Reihe der Grauschöpfe einreihen wollte, erschien ihr nicht zielführend. Heutzutage färbten sich junge Frauen ihre Haare sogar grau, so als könnten sie das Altwerden nicht erwarten. »Und warum ziehst du dich seit einem halben Jahr komplett schwarz an, so als müsstest du jeden Tag zu einer Beerdigung?«

Rieke sah stolz auf ihre schwarz gefärbten Fingernägel. »Das ist mein ganz persönlicher Look. Und der von Lena auch.«

»Ich höre immer nur noch ›Lena‹. Sie ist offensichtlich kein guter Umgang für dich.«

»Doch, wir sind echt gute Freundinnen.«

»Mit diesem Piercing hättest du, dein Leben lang, Löcher in der Haut und Komplikationen, nur wegen einem Modeschmuck.«

»Lenas Eltern sind einfach cooler als ihr. Du und Mama und Papa, ihr seid viel zu altmodisch.«

»Ach was, wir essen jetzt.« Sie hatte sich nach dem Schreck bei der Gemeindevorstand-Sitzung auf das Essen mit ihrer Enkelin gefreut. Einmal in der Woche kam Rieke zu ihr zum Mittagessen, und meistens genossen sie beide das Zusammensein. Da bei Rieke zuhause eh nur abends warm gegessen wurde, freute sie sich auf ein ordentliches Mittagessen nach der Schule bei ihrer Oma. Jetzt saß Rieke aber mit einem Schmollmund vor ihrem Teller.

Aufmunternd lächelte sie Rieke an. »Die Sommerferien waren lang und ich habe dich vermisst. Ich bin froh, dass die Schule wieder anfängt.«

»Ich aber nicht. Ferien sind immer besser als Schule.«

»Schule ist doch auch schön. Da triffst du deine Freundinnen und lernst jeden Tag etwas Neues.«

»Überhaupt nicht. Lena ist nicht an meiner Schule. Die geht nicht auf so eine blöde christliche Schule.« Rieke zog verächtlich ihre Nase hoch.

Gisela spürte einen Stich in der Brust. Sie war es gewesen, die damals Riekes Eltern davon überzeugte, ihre Kinder auf die JESU-Schule zu schicken. Schließlich unterrichtete Pastor Hannes an dieser Schule das Fach Religion, und seine Frau unterrichtete auch dort. Wobei sie sich manchmal wunderte, warum eine Hippie-Christin wie Anna dort arbeiten durfte. Anna trug meistens lange Blumenkleider und wie sie mit den Musikern aus ihrer früheren Gemeinde sang, war, nun ja, sehr modern.

Gisela faltete die Hände. »Guter Gott, segne uns und diese Gaben, die wir von deiner Güte empfangen haben, durch Christus, unseren Herrn. Amen.«

Rieke sah sie unbeteiligt an.

Seufzend nahm sie ein großes paniertes Schnitzel von der Platte. »Guck mal, die Schnitzel isst du doch so gerne.«

Rieke schüttelte ihren Kopf. »Nein, Lena und ich sind jetzt Vegetarierinnen.«

Gisela fiel vor Schreck das Schnitzel von der Gabel. Das Schnitzel fiel in die Soße, die auf den Tisch spritzte.

Rieke lachte.

Sie sah auf das Schnitzel in der Soße. Rieke lachte immer noch, und dann lachte sie auch. So wie früher. Rieke und sie hatten häufig bei Familienfeiern gelacht, während alle anderen nicht verstanden, warum sie lachten.

»Oma, machen wir heute einen Schüssel-Tag? Ich esse das Gemüse und die Kartoffeln.«

Sie überlegte kurz und zog dann lächelnd die Schüssel mit der Soße und dem Schnitzel zu sich. Die große Schüssel mit den Kartoffeln schob sie zu Rieke und reichte ihr das Gemüse. Rieke kippte das Gemüse über die Kartoffeln und begann aus der Schüssel zu essen. Gisela holte sich mit ihrem Löffel Gemüse aus Riekes Schüssel.

»Schade, dass ich mir jetzt nicht das Essen von dir klauen kann«, sagte Rieke mit vollem Mund. »Deine Soße ist auch nicht vegetarisch.«

»Wir essen nachher noch Eis.« Sie kicherte.

Früher, wenn Rieke, oder ihr zwei Jahre älterer Bruder, trotzig waren, hatten sie beim Essen dieses Spiel gespielt. Sie, ihr Mann Henning und die Kinder aßen dann aus den Schüsseln, und jeder durfte sich auch von den anderen das Essen nehmen. In solchen Augenblicken liebte sie Henning besonders, wenn er mit ihr und den Enkelkindern solchen Quatsch machte. Genau genommen war es Henning, der die Idee mit dem Schüssel-Tag hatte, aber jetzt war er schon seit sechs Jahren tot.

In ihrer geliebten Wohnküche hatte sie mit ihren Enkelkindern schon viele schöne Stunden verbracht. Hier auf der Eckbank hatte sie ihnen vorgelesen, auf dem Tisch hatten sie zusammen Weihnachtsplätzchen gebacken und Ostereier angemalt. Rieke hatte dabei immer geplappert, manchmal kam sie ihr vor wie ein Radio, das sie nicht ausschalten konnte.

Gisela war schon mit zwanzig Mutter geworden und als sie auf die dreißig zuging, bewarb sie sich auf die Küsterstelle in der Sankt-Fabian-Gemeinde. Sie hatte damals in der Gemeinde schon ein paar Jahre als Reinigungskraft gearbeitet. Weil der damalige Küster überhaupt keinen Sinn für Ästhetik hatte, war sie als Ehrenamtliche immer in der Kirche und dem Gemeindehaus für die Dekoration zuständig gewesen. Bei ihrer Bewerbung für die Küsterstelle wurde das vom damaligen Pastor positiv hervorgehoben.

Ihre Wohnung, in die sie schon vor dreißig Jahren mit ihrer Familie eingezogen war, befand sich schräg gegenüber der Sankt-Fabian-Gemeinde. Als später die Enkelkinder regelmäßig zu Besuch kamen, konnte sie Rieke und ihren Bruder einfach in die Kirche und das Gemeindehaus mitnehmen. Damals interessierten sich ihre Enkelkinder noch für das, was es in der Kirche zu sehen gab und was dort passierte. Sie genoss es, wenn die Senioren im Gemeindecafé von ihren hübschen und schlauen Enkelkindern entzückt waren. Wie schön war das damals alles gewesen.

Jetzt saß ihr Rieke als Jugendliche gegenüber und schielte auf ihr Vanille-Eis. Rieke schoss mit ihrem kleinen Löffel in das Eis von Gisela, während Gisela aus Riekes Schüsselchen Schokoladen-Eis stibitzte.

»Mmh«, machte Rieke und lud sich nun beide Eissorten auf den Löffel.

»Was gibt es Neues bei dir?« Gisela war es gewohnt, dass Riekes Erzählungen erst einsetzten, wenn sie satt war.

Rieke zog ihre Mundwinkel nach unten.

Ihre Frage war nun doch wirklich unverfänglich gewesen. Gut, Rieke war in der achten Klasse und erzählte nicht mehr so viel wie früher. Wenigstens kam sie jede Woche einmal zum Mittagessen. Ihr Bruder besuchte sie schon seit Jahren nur noch gelegentlich.

»Freust du dich schon auf Samstag und deinen Konfirmationsunterricht?« Sie lächelte Rieke an, denn sie freute sich auf jeden Fall, ihre Enkelin dann wieder öfter in der Gemeinde zu sehen. Es hatte lange genug gedauert, weil Rieke, als sie zwölf war, eine schwierige Phase hatte. Sie wollte sich partout nicht zum Konfirmandenunterricht anmelden und, was noch viel schlimmer war, ihre Mutter fand das in Ordnung. Man könne ein Kind nicht zur Konfirmation zwingen. Gisela diskutierte damals mit ihrer Tochter, aber daran wollte sie sich lieber nicht erinnern. Nun hatte gewiss der HERR eingegriffen, weil Rieke vor den Sommerferien mit ihren vierzehn Jahren plötzlich verkündete, dass sie nun bereit sei, sich für den Konfirmationsunterricht anzumelden.

Als Rieke und ihr Bruder noch klein waren, kamen sie mit ihren Eltern jeden Sonntag zum Gottesdienst, aber seit einigen Jahren sah sie die Familie ihrer Tochter leider nur noch selten in der Sankt-Fabian-Kirche. Ausschlafen sei wichtiger, bekam sie zu hören, wenn sie höflich nachfragte.

»Ja Oma, ich freue mich auf meine Konfirmanden-Gruppe.« Rieke sah aus dem Fenster und blickte auf das Gemeindehaus, in dem sie früher so oft mit ihr war.

»Es wird dir bestimmt Freude machen. Pastor Schwing leitet die Gruppe immer mit viel Engagement und die Jugendlichen mögen ihn.«

»Ja schon, aber die Konfirmanden-Gruppe in der Nathan-Gemeinde ist cooler und deshalb habe ich mich dort angemeldet.« Rieke zog ihren Mund zu einer merkwürdigen Schnute.

»Wie meinst du das?« Bestimmt hatte sie sich verhört.

»So, wie ich es gesagt habe. Ich habe mich für die Konfirmanden-Gruppe in der Nathan-Gemeinde angemeldet. In der Gruppe sind viele schon vierzehn so wie ich.«

Gisela schluckte. ›HERR im Himmel, das kann nicht ihr Ernst sein‹, flehte sie in Gedanken. »Das verstehe ich nicht. Ich bin deine Oma, ich bin Küsterin der Sankt-Fabian-Gemeinde, wo du großgeworden bist. Da meldet man sich doch nicht in einer anderen Gemeinde als Konfirmand an.«

»Doch. Als Konfirmandin. In der Nathan-Gemeinde gibt es mehr Konfirmanden und die sind viel cooler. Außerdem geht Lena dort auch in die Gruppe.«

In ihren Gedanken sah Gisela Rieke zwischen gepiercten und tätowierten Jugendlichen. Womöglich tranken sie auch noch Alkohol. »Diese Nathan-Gemeinde ist das Letzte. Ich will nicht, dass du dorthin gehst.«

»Oma, du spinnst. Du kannst das doch gar nicht beurteilen.«

»Und ob ich das kann.«

»Kennst du denn überhaupt jemanden aus der Nathan-Gemeinde?«

Sie schluckte. »Es reicht mir, wenn ich dort mit dem Fahrrad vorbeifahre. Die Jugendlichen, die da vor der Tür herumlungern, sind kein Umgang für dich.«

»Warum?«

»In dieser Gemeinde gibt es Menschen, die haben keine Moral.« Sie kniff ihren Mund zusammen.

»Hast du vielleicht Vorurteile?« Rieke sah sie bissig an.

Mit einem Knall stellte sie ihr Wasserglas auf den Tisch, und Rieke sah sie verwundert an. »Wir sollen mit dieser Nathan-Gemeinde fusionieren. Wir sollen bei denen einziehen in einem halben Jahr.«

Rieke sah sie mit großen Augen an. »Echt? Wow! Wieso regst du dich dann so auf? Dann ist doch alles paletti, wenn ihr sowieso eine Gemeinde werdet.«

Rieke wirkte erleichtert, was Gisela fassungslos machte. »Gar nichts ist paletti. Alles ist eine Katastrophe. Eine Unverschämtheit.«

»Warum? Wenn ihr bei denen einzieht, dann gibt es doch eh nur noch eine Konfirmanden-Gruppe.«

Sie spürte, dass ihr Puls raste. Gleich nach dem Essen würde sie ihren Blutdruck messen. Seit dem Tod von ihrem Mann regte sie sich schnell auf. Und seit Hennings Beerdigung war ihr Blutdruck manchmal zu hoch.

»Mensch Oma, dann arbeitest du ja auch in der Nathan-Gemeinde.« Rieke schien begeistert zu sein von der Idee.

»Ich bin neunundfünfzig und habe mich noch auf viele schöne Berufsjahre in meiner Gemeinde gefreut.«

Rieke sah sie verständnislos an.

Sie gab sich Mühe, ruhig zu sprechen. »Verstehst du denn nicht? Unsere Kirche und unser Gemeindehaus sollen verkauft werden. Uns soll es nicht mehr geben. Aus, finito.«

»Ach so. Deine Gemeinde wird dichtgemacht.«

»Es ist unsere Gemeinde, Rieke. Du bist in der Sankt-Fabian-Kirche getauft worden und warst hier in den Gottesdiensten. Warum nehmen die dich überhaupt in die Konfirmanden-Gruppe der Nathan-Gemeinde auf?«

»Weil die in der Nathan-Gemeinde sehr offen sind. Ich kann mitmachen, auch wenn ich nicht zum Einzugsgebiet von denen gehöre.« Rieke lächelte zufrieden vor sich hin.

Gisela dachte an ihre Tochter und ihr Puls beschleunigte sich noch mehr. »Warum hat Christiane mir nichts davon erzählt?«

Rieke sah mit gesenktem Kopf auf den Tisch. »Mama meinte, ich soll es dir selber sagen.«

Gisela atmete tief durch. Das war wieder einmal typisch. Ihre Tochter bezog sie in solch wichtigen Fragen der religiösen Erziehung nicht mit ein. Stattdessen schickte sie ihre Tochter vor. Na, mit der würde sie noch sprechen müssen. In ihren Schläfen pochte es unangenehm. Kein Wunder, bei diesen zwei Hiobsbotschaften an einem Tag. »Ich werde mit deiner Mutter sprechen.«

»Wegen dem Piercing?« Riekes Augen leuchteten.

»Nein, sie soll dich in der Nathan-Gemeinde wieder abmelden.«

»Mama sagt, ich darf das selbst entscheiden, weil ich schon vierzehn bin.«

Beim Einatmen fehlte ihr die Luft und sie dachte ›durchatmen, einatmen, ausatmen‹, aber irgendwie kam keine Luft mehr in ihren Körper.

»Oma, jetzt reg dich doch nicht so auf. Du bist schon ganz rot im Gesicht.«

Riekes Gesicht hüpfte vor ihr hin und her. Dieses Mädchen zappelte schon immer so viel. Dann wurde es schwarz vor ihren Augen.

Kapitel 4

Der Kaffeeduft machte Gisela gute Laune und auch die Tatsache, dass der Butterkuchen im Raum nebenan schon auf den Tischen stand. Sie bereitete das Gemeindecafé vor und das Klappern und Klirren nebenan ließ darauf schließen, dass Helga die Tische eindeckte. Sie seufzte. Auf der einen Seite war sie dankbar, dass Helga mit ihren neunundachtzig Jahren immer noch als Ehrenamtliche beim Gemeindecafé mithalf, aber natürlich brauchte die Gemeinde auch jüngere Menschen, die sich als Ehrenamtliche für ihre Gemeinde einsetzten. Doch wo sollte sie die herbekommen? Immer mehr junge Erwachsene traten aus der Kirche aus, anstatt für die Kirche zu bezahlen und sich dann auch noch ehrenamtlich zu engagieren.

Sie selbst wurde auch älter und musste aufpassen, dass sie nicht irgendwann umkippte, so wie gestern. Klar, Rieke hatte sich erschreckt, als sie am Esstisch zur Seite kippte. Sie konnte sich aber noch an der Tischkante festhalten und hing dann etwas merkwürdig unter der Tischplatte. Als sie zu Rieke sagte, dass ihr nicht gut sei und sich auf das Sofa legte, konnte sie doch nicht wissen, dass ihre Enkelin sich wegen so einer Lappalie Sorgen machte und ihre Mutter anrief. Christiane ließ dann bei ihrer Arbeit alles stehen und liegen und war eine halbe Stunde später in ihrer Wohnung. Dummerweise war sie gerade beim Blutdruck messen, als Rieke ihrer Mutter die Tür aufmachte. Deshalb bekam Christiane mit, dass ihr Blutdruck mit zweihundert ein wenig zu hoch war.

»Sind noch kleine Löffel da?«, sagte Helga mit ihrer tiefen Stimme. Sie strich sich durch ihr lichtes kurzes Haar, das sie sich schwarz färbte. Schnaufend stand sie an der Tür und sah fragend zum Geschirrschrank.

»Hier sind noch welche.« Gisela fischte kleine Löffel aus der Geschirrspülmaschine.

Helga schlurfte zufrieden von dannen und wenige Sekunden später klirrte es auf den Tischen. Nachher würde sie die Löffel alle selbst neben die Teller legen müssen, weil Helgas motorische Fähigkeiten nicht mehr die besten waren und sie die Löffel kreuz und quer um die Kuchenteller warf.

Eine halbe Stunde später war der große Raum ›Noa‹ im Gemeindehaus mit Stimmengewirr erfüllt und Gisela atmete durch.

»Einen Arzttermin bekommst du nicht als Neue.« »Ja, das geht jetzt allen so.« »Meine Enkeltochter war zu Besuch, was war das schön.« »Meine Tochter hat mich mit ihrer blöden Grippe angesteckt.« »Besser als eine Woche wässrigen Durchfall, wie ich das hatte.« »Die Angora-Unterwäsche gibt’s in ein paar Wochen wieder günstig zu kaufen.« »Bei Lidl gibt’s die auch.« »Macht euch die Hitze jetzt auch so zu schaffen?« »Ich bleibe einfach zuhause.«

Die Frauen redeten wild durcheinander, so wie immer. Nur ein Mann war unter ihnen, Rainer. Mit seinen vierundsiebzig Jahren gehörte der Witwer in diesem Kreis zwar zu den Jüngeren, aber seit seinem Schlaganfall vor zwei Jahren wirkte er gebrechlich und zitterte stark mit den Händen. Zu seinem Kummer schien keine der Frauen aus dem Gemeindecafé in ihm einen potentiellen Partner zu sehen.

»Ach, es ist nicht schön alleine zu leben. Mein Leben wäre schöner zu zweit«, sagte er nun, wie jede Woche beim Gemeindecafé. Alle wussten, dass er zum Abschied genau die gleichen Worte sagen würde, so wie jede Woche.

»So, wer holt jetzt den Wagen mit dem Kaffee aus der Küche?«, sagte sie laut und deutlich. Marianne nahm sich ein Stück Butterkuchen auf ihren Teller und die anderen Frauen taten es ihr sofort nach.

Das war wieder einmal typisch, dass keine mithelfen wollte. Nur weil sie hier die Küsterin war, und jünger als die anderen, dachten die Damen, dass es ihre Aufgabe war, sie zu bedienen.

Helga stand mühsam auf. »Das mache natürlich ich als Ehrenamtliche«, verkündete sie stolz und ging auf wackeligen Beinen in die Küche. Na gut, auf dem Rückweg konnte sich Helga gleich an dem Rollwagen, auf dem die Kaffeekannen standen, festhalten.

»Frauen, wir brauchen dringend Ehrenamtliche, sonst muss das Café demnächst ausfallen. Alle, die hier unter achtzig sind, sollen einmal in sich gehen, ob das für sie in Frage kommt.«

Die über Achtzigjährigen nickten. Die andere Hälfte der Frauen sah interessiert zu Helga, die, mit den Kaffeekannen auf dem Rollwagen, scheppernd in den Raum kam.

Erschöpft setzte sich Gisela auf den Stuhl am Tischende, den die Frauen immer für sie freihielten, und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Eigentlich hatte sie heute schon zu viel Kaffee getrunken, aber seit der Gemeindevorstand-Sitzung und ihrem Schwächeanfall gestern fühlte sie sich müde.

Rainer richtete sich auf und hob seine Hand. »Ich bin zwar keine Frau, aber ich bin unter achtzig und könnte das machen.«

»Danke Rainer, eine Frau wäre mir dann doch lieber«, beeilte sie sich zu sagen. Mit seinen zittrigen Händen würde er noch mehr Chaos anrichten als Helga.

»Wo ist der Butterkuchen mit Apfel?«, wollte die Claussen wissen.

Frau Claussen hieß mit Vornamen Nancy, aber da sie es ihren Eltern übelnahm, dass sie ihr »einen so hässlichen modernen Namen« verpasst hatten, ließ sie sich nur mit ihrem Nachnamen ansprechen. Gisela hingegen war als kleines Mädchen nicht glücklich mit ihrem Namen, weil zu dieser Zeit nur ältere Frauen Gisela hießen. Ihr Vater wollte sie aber unbedingt nach ihrer Tante, seiner Lieblingsschwester, nennen. Es wäre ihr aber nie in den Sinn gekommen, sich aus Trotz nur mit ihrem Nachnamen ansprechen zu lassen, so wie bei der Bundeswehr.

»Der Apfel-Butterkuchen ist schon gleich alle«, sagte Marianne, während sie sich ein solches Stück in den Mund schob. Bestimmt aß Marianne schon ihr zweites Stück davon. Gisela hatte manchmal den Eindruck, dass Marianne nur kam, um sich auf Gemeindekosten mit Kuchen vollzustopfen. Dabei war Marianne noch nicht einmal stark übergewichtig, sondern einfach nur ›stabil gebaut‹, so wie einige der Frauen hier.

»Der Pastor kommt heute aber spät«, beschwerte sich Helga. »Wo bleibt er nur?«

Huch, das hatte sie ganz vergessen. Sie stand auf und sah in die Runde. Alle verstummten sofort.

»Sprichst du heute mit uns ein Gebet?«, wunderte sich Marianne und legte schnell ihre Kuchengabel auf den Teller.

»Ja, aber erst einmal soll ich schöne Grüße ausrichten von unserem Herrn Pastor Schwing. Er ist heute verhindert und kann nicht dazukommen.«

»Och, das macht nichts«, kommentierte die Claussen.

»Dann haben wir mehr Zeit zum schnacken«, pflichtete ihr Marianne freudig bei.

»Ich muss euch noch etwas Wichtiges mitteilen. Etwas sehr Schlimmes.« Sie holte Luft. »Ich sage es euch, weil ihr es eh demnächst von Pastor Schwing erfahren werdet.« Natürlich gehörte es nicht zu ihren Aufgaben, die Gemeinde über Beschlüsse des Vorstands zu informieren, aber hier ging es um einen Notfall, bei dem schnell gehandelt werden musste.

»Gisela, du machst das aber wieder einmal spannend«, sagte die Claussen ungeduldig.

»Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was ich euch sagen werde.« Sie machte eine Pause und sah in die Runde. »Die EBK, die Evangelische Bremische Kirche, hat beschlossen, unsere Gemeinde dichtzumachen.«

Rainer hob die Hand, wie er es immer tat, wenn er gleich danach in der Runde etwas sagte. »Wieso, wird renoviert?«

»Nein. Unser Gemeindehaus und die Kirche sollen verkauft werden.«

»Die EBK ist ja wohl nicht mehr ganz dicht«, rief Helga.

»Es kommt noch schlimmer.« Sie sah alle am Tisch an. »Wir sollen in die Nathan-Gemeinde einziehen.«

Für ein paar Sekunden herrschte im Raum Stille, doch dann riefen alle durcheinander.

»Das kann nicht sein!«

»Wollen die uns veräppeln?«

»Die sollen die Nathan-Gemeinde schließen, aber doch nicht unsere Gemeinde!«

»Das kommt nicht in Frage.«

»Ich kann das nicht glauben.«

»Wie kann man denn auf so eine blöde Idee kommen?«

Gisela räusperte sich laut und sofort verstummten wieder alle. »Die EBK nennt diese Idee eine ›Fusion‹. Und sie kommt auf die Idee, weil wir zu wenige Mitglieder haben. Es treten einfach zu viele Menschen aus der Kirche aus, und es sterben zu viele.« Sie kniff ihre Augen zusammen. »Aber wollen wir uns das gefallen lassen, dass die Sankt-Fabian-Gemeinde, die seit einhundertfünfzig Jahren besteht, einfach ausgelöscht wird?«

»Nein«, riefen alle wie aus einem Mund.

»Auf keinen Fall«, empörte sich die Claussen. »Stellt euch mal vor, wir müssten dann mit den Weibern aus der Nathan-Gemeinde zusammen im Gemeindecafé sitzen.« Die Claussen sah mit großen, aufgerissenen Augen in die Runde, so wie sie es gerne und häufig tat.

»Für die Frauen aus der Nathan-Gemeinde decke ich bestimmt keinen Kaffeetisch«, verkündete Helga.

»Und wir müssten mit denen Bingo spielen«, rief Marianne, die einmal ausnahmsweise keinen Kuchen im Mund hatte.

»Die spielen das Bingo nur mit Bildern, hat meine Nachbarin gesagt.« Helga tippte mit ihrem Finger an die Stirn. »Das können wir doch nicht ernst nehmen.«

»Also wirklich, das ist nicht unser Niveau. Äh.« Rainer schüttelte angewidert den Kopf.

»Was sollen wir tun?«, fragte Marianne.

Erwartungsvoll sahen alle zu Gisela am Tischende.

»Wir werden uns unsere Gemeinde nicht wegnehmen lassen«, rief sie. »Wir werden dafür kämpfen, dass wir hierbleiben können, egal, was andere sagen.« Mit ernster Miene sah sie in hilflos dreinschauende Gesichter.

Die Claussen räusperte sich. »Äh, und was sagt unser Herr Pastor dazu?«

Gisela lächelte. »Unser Herr Schwing muss tun, was die EBK ihm vorschreibt.«

Helga nickte bedächtig. »Und wir müssen tun, was der Pastor sagt.«

Gisela war zwar mit Helga einer Meinung, aber in diesem Fall störte deren Einsicht ihren Plan. »Tja, der Pastor sagt nichts dazu«, verkündete sie.

»Nichts?«, rief die Claussen entsetzt.

»Also, er sagt nichts zu uns. Der EBK muss er sagen, dass er sich beugen wird, aber zu uns sagt er nichts. Und das bedeutet, dass er möchte, dass wir uns für unsere Gemeinde einsetzen.«

»Natürlich möchte er das«, rief Marianne und klirrte mit ihrer Kuchengabel gegen die Tasse.

»Es ist ja schließlich seine Gemeinde«, freute sich Rainer und guckte, als hätte er gerade eine schwere mathematische Formel erklärt.

Sie blieb stehen und wedelte mit Papierblättern, die sie in der Hand hielt. »Wir werden mit einer Unterschriftenliste beginnen. Das sind die Listen, die ich vorbereitet habe.«

Alle sahen anerkennend zu ihr hoch.

»Unsere Gisela«, schwärmte Helga und sah mit einem bewundernden Blick zu ihr.

»Wir unterschreiben jetzt alle, mit der schönsten Schrift bitte. Und jede von euch nimmt eine Liste mit und lässt sie unterschreiben von Nachbarn, Freunden und Bekannten.«

»Was sollen wir denn unterschreiben?«, fragte Rainer.