Aufzeichnungen für Marie-Louise UND Liebhaber ohne Adresse - Elias Canetti - E-Book

Aufzeichnungen für Marie-Louise UND Liebhaber ohne Adresse E-Book

Elias Canetti

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Beschreibung

Auf dem Land nahe der durch die deutschen Bombenangriffe zerstörten Stadt London lernen sich zwei Wien-Flu?chtlinge kennen, die sich nie zuvor begegnet sind: die Malerin Marie-Louise von Motesiczky, Kind aus reichem Haus, die ihre alte Mutter und eine Hausangestellte bei sich hat, und der Schriftsteller Elias Canetti, der zusammen mit seiner Ehefrau Veza ein bettelarmes Leben fu?hrt. Über fu?nfzig Jahre erstreckt sich die Liebesgeschichte zwischen "Pio" und "Muli", die Ku?nstlerfreundschaft zwischen "Mulo" und "dem Canetti".

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Über das Buch

Dieses E-Book besteht aus Teilen der beiden Bände Elias Canetti "Aufzeichnungen für Marie-Louise" und Elias Canetti, Marie-Louise von Motesiczky "Liebhaber ohne Adresse"

Auf dem Land nahe der durch deutschen Bombenangriffe zerstörten Stadt London lernen sich zwei Wien-Flüchtlinge kennen, die sich nie zuvor begegnet sind: die Malerin Marie-Louise von Motesiczky, Kind aus reichem Haus, die ihre alte Mutter und eine Hausangestellte bei sich hat, und der Schriftsteller Elias Canetti, der zusammen mit seiner Ehefrau Veza ein bettelarmes Leben führt. Über fünfzig Jahre erstreckt sich die Liebesgeschichte zwischen »Pio« und »Muli«, die Künstlerfreundschaft zwischen »Mulo« und »dem Canetti«.

Hanser E-Book

Elias Canetti

Aufzeichnungen für

Marie-Louise

Elias Canetti und

Marie-Louise Motesiczky

Liebhaber ohne Adresse

Briefwechsel 1942–1992

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-25349-0

Aufzeichnungen nach der Erstausgabe: Aus dem Nachlass herausgegeben von Jeremy Adler

© 2005, 2016 Elias Canetti Erben Zürich, Carl Hanser Verlag München

Briefe nach der Erstausgabe: Herausgegeben von Ines Schlenker und Kristian Wachinger

© 2011, 2016 Elias Canetti Erben Zürich, Carl Hanser Verlag München

© Carl Hanser Verlag München 2016

Umschlaggestaltung: S. Fischer Verlag / www.buerosued.de

Bild: Marie-Louise von Motesiczky, Provence 1948

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Aufzeichnungen für Marie-Louise

Keiner will die Türe sein.

Drei- oder viermal im Tage schüttelte er sich selber herzlich die Hand, statt der Besuche, die nie kamen, und immer brachte er sich überraschende Neuigkeiten mit.

Sie kämpfen zwischen den Zehen, im Nabel, in den Nüstern, sie kämpfen im Hintern, unter den Achseln, in den Ohren und im Mund, es gibt keinen versteckten Ort, kein Zollbreit, keine Pore tief, wo sie nicht auf Leben und Tod miteinander kämpfen.

Die Nationen sind Freudenmädchen und Klageweiber.

Sie schneiden ihren Opfern erst Ohren und Namen ab; dann hören die niemand rufen; dann kann die niemand rufen; und sind nur noch Hände.

Er kann nur noch unter Tieren lachen.

Er bemühte sich in der Hölle vernünftig zu bleiben.

»Zu Hause« war für ihn ein Haufen von vergilbten Bohnen.

Im letzten Kriegsjahr wurde auf jede Träne eine Buße von 10 Reichsmark gelegt. In die Herzen der Mütter wurden Mikrophone eingebaut.

Wüßte ich, wer aus ihm spricht, aus diesem, aus jenem, aus dem andern! Soviel Tote suchen nach lebenden Stimmen und wie stoßen sie einander fort! Härter noch als bei uns Lebenden ist ihr Kampf untereinander, sie kämpfen um viel mehr; und der Geschlagene bei ihnen ist nie tot, nur vertrieben. Mögen sie nur dieser niedrigen Rauferei fähig sein, ich segne sie, ich segne sie für dieses letzte bißchen Leben; und sie können mich besetzen, schütteln und quälen, wenn sie nur irgendetwas tun. Tote, o geliebte Tote, wie möchte ich euch kennen und erfreuen und beschenken, mit vollen schönen Stunden meines kurzen Lebens!

Die Krähen über dem gelben Korn geben mir das heftigste Gefühl des Lebens.

Als er jung war, hatten die Propheten Gesichter von Michelangelo; er sah sie oft an und sie waren ihm freundlich und vertraut. Jetzt haben sie ihre Worte wieder gefunden, ihre Gesichter sind nirgends und o wie er sie fürchtet!

Die Besessenheit kommt ihn wieder an, was soll er den ruhigen Augen sagen.

Die Tiere wissen vom Feuer mehr als wir Menschen ahnen; aber sie können es nicht rufen und jagen

Die Namen der Münzen tönen von der Zärtlichkeit vieler Hände.

Um ganz Tod zu sein, sucht sie sich Insekten zum Töten aus.

Er will heimlich sterben, um niemand den Triumph zu gönnen, und als letztes Mahl ißt er sein Testament.

Christus ist zu öffentlich gestorben; sein Opfer ist zu einem ewigen Anreiz geworden.

Er wünscht sich verschieden eingerichtete Ohren, jedes für andre Welten und alles was für beide notwendig wäre, im Hirn.

Er fürchtet sich vor Jedermann: der König der Klugen.

Sein Bier schmeckt ihm nicht mehr so gut: der Krieg schaut aus dem Krug.

Er kann nicht leben, ohne wenigstens auf die Straße zu trampeln.

Unter Kommunismus stellt er sich vor, daß niemand Befehle von ihm entgegennimmt; wie sollen die Leute marschieren, wenn keiner kommandiert; und wie sollen sie gehen, ohne zu marschieren.

Er ist so stolz, daß er Gott immer was schenken möchte.

Bei jedem sitzt die Seele woanders: der hat sie in den Lungen, jener im Darm; die hat sie im Herzen und jene im Geschlecht; bei mir fühlt sie sich am wohlsten in den Ohren.

Er hat zu spät geheiratet, er kann mit niemand mehr verwachsen; so sind sie ein ratloses Paar und halten einander immer die falschen Stellen hin.

Er hat sich eine tiefe Verehrung für alte Leute bewahrt: er bewundert an ihnen jedes Jahr, das er selbst nicht erlebt hat. Er betet Kinder an: sie sind ihm heilig für jedes Jahr, das er nicht mehr erleben wird.

Im Stammeln ist man dem Ursprung der Sprache näher.

Er tut keiner Fliege was zuleid: sie sind ihm nicht fleischig genug.

Jede Wolke hat die Zukunft in sich; man versteht es nur nicht, sie zu lesen.

Er sammelte Blätter; auf großen Tischen breitete er sie nebeneinander aus. Wenn welche am Vergilben waren, tauschte er sie gegen andre ein. Für die Gealterten hatte er ruhige Kammern, in denen es nie zu gehäuft zuging; und nur er durfte darin rascheln. Auf den Tischen aber sah es immer grün und frisch aus; mit ganz wenig Leim waren die Blätter festgemacht; der Wind trug sie nie davon, so waren sie endlich vor ihm sicher; und doch blieb ihnen eine gewisse, wenn auch beschränkte Beweglichkeit. Er liebte es, sie ordentlich und überschaubar vor sich zu haben. An dem Bäumen hatte ihn ihre Unregelmäßigkeit gestört, eines stand schief, das andere grade, und sie strebten auf keine sehr vornehme Weise in die Höhe. Er nahm sie von ihrem Wettbewerb herunter und gab ihnen gleichmäßig Licht. Der Kampf war zu Ende, und keines stieß das andre weg, der Leim sorgte für Friedlichkeit und regelmäßiges Verhalten. Früher war er mißbilligend, bei aller Leidenschaft für Blätter, an Bäumen vorübergegangen; er schämte sich ihrer Kletterei; etwas wurmte ihn, wenn er zusehen mußte, wie die einen immer unten blieben, während die andern es sich oben im vollen Lichte gut sein ließen; auch waren diese viel weiter von ihm weg und er strafte sie für ihren Hochmut, indem er nur Blätter sammelte, die seiner Hand erreichbar waren; höher ging er nie. Er dachte oft mit Vergnügen daran, welches traurige Schicksal den Blättern bevorstand, die er verschmähte: sie fielen zu Boden und vermoderten. Kein Hahn krähte nach ihnen. In seiner Sammlung aber waren sie, solange sie sich frisch hielten, gepflegte und geehrte Objekte, und selbst danach ging es ihnen in den Alterskammern so gut, als es bei ihrer immerhin großen Anzahl möglich war. Er verstand etwas von den Wünschen der Blätter: er las sie aus den Adern, und wenn er eines dieser leuchtenden Geschöpfe gegen die Sonne hielt, so wußte er nach wenigen Augenblicken, wie ihm zumute war. Seinen Händen war eine eigene Haut für Blätter gewachsen; er hütete sich wohl, sie Menschen zu geben, und nur aus diesem Grunde war er in ein Land übersiedelt, wo das Händeschütteln nicht Sitte war. Er hätte auf den Umgang mit Menschen überhaupt leicht verzichtet, aber es lag ihm daran, die Ehre, die er seinen Blättern tat, öffentlich zu bekunden, und so mußte er manchmal Leute in seine Räume laden. Da führte er sie, mit leichter Herablassung, an Tischen und Tischen vorbei, auf denen Tausende von Blättern lagen, in den edelsten Gesten, und alle offensichtlich mit ihrem Schicksal sehr zufrieden. Er gab nur knappe Erklärungen ab; denn er wußte, wer es nicht in sich hatte, würde es nie wirklich erlernen. Aber seine Worte waren so gefaßt, daß sie den Blättern Ehre machten; keiner verließ die Sammlung, ohne etwas von der Scheu zu verspüren, die diese wunderbaren Geschöpfe verdienen, und manche, leider zu wenige, gingen vorsichtiger auf ihren Wegen und trachteten sehr, nicht auf gefallene Blätter zu treten. Auch sie sprachen wenig und nicht laut von ihrem neuen Erlebnis; ein Kult breitete sich aus, bloß durch Beispiel und ganz ohne Predigt; einige legten selber eine Blättersammlung an. Solchen half er aber nicht; er vermied es, sie zu beraten; sie sollten ihre eigenen Erfahrungen machen; und nie verriet er, was mit den welkenden Blättern geschah; es war strengstens verboten, das Altersasyl zu betreten.

»Retten« war das Wort, das die stärksten Bewegungen in seinem Herzen auslöste. Ozeane von Geschöpfen und Beziehungen waren da, zu retten, und er brachte es nie zu mehr als zur heftigen Gebärde des Herzens.

Sie lebt in einer Wüste von Erwartung.

Immer ist die Zukunft falsch: wir haben zuviel Einfluß auf sie.

Die Einsamkeit ist ein Versuch des Menschen, von allen lebenden Punkten des Universums gleich weit entfernt zu sein, denn sie alle wollen ihn fressen.

Die Anfälle von Angst kommen mit einer Regelmäßigkeit, die sie verdächtig macht: es gibt Monatsängste, Wochenängste, Tag- und Nachtängste. Sie melden sich, als wären sie bloß dazu da, die Zeit zu markieren.

Traurigkeit und Trägheit, die bitteren Brüder.

Er hat soviel Ziele, daß er gar nicht schießt.

Die geistigen Moden bereichern sich, während sie vergessen sind, und kehren plötzlich erwachsen und anmaßend zurück.

Er macht immer etwas Neues, um nie alt zu werden: aber es ist dieses Neue, das am ältesten macht.

Der Regen ist der Zins des Himmels an die Erde, für seine wolkige Beute.

Man erträgt die Andern, die in derselben Sprache schreiben, nicht, wenn man sie kennt. Etwas, sei es an ihren Motiven, sei es an ihrer Leistung, hat man immer auszusetzen. Sie irritieren einen durch ihre Widersprüche oder durch ihre vollendete Eigenart, je nachdem. Vielleicht kommt es gerade darauf an, daß der schreibende Mensch extrem reagiert und in Seinesgleichen etwas wie Unterdrückung wittert. Aber er darf diesem defensiven Impuls nicht zu häufig nachgeben. Es ist am besten, er hält sich von denen, die nie wirklich seinesgleichen sein können, fern; und wenn für sie die Welt eine Beute ist, bleibt sie ihm eine Luft.

Ganz besonders nimm dich in acht vor jeder Philosophie, die das Leben auf ein einziges Prinzip zurückzuführen sucht. Immer handelt es sich dabei um eine Reduktion des Lebens; um seine Verarmung und Mechanisierung; um irgendeine göttliche Tyrannei; der Gott kann auch ein Lehrling sein.

Sympathie für die dualistischen Formen des Denkens; es mag viel zwischen den zwei Grundprinzipien zerrieben werden, aber es bleibt unzweifelhaft mehr erhalten als bei dem früheren. Mir selbst am nächsten liegt ein Dualismus, dessen einer Pol pluralistisch geartet ist: so hat man drei Waffen für die Untersuchung der Welt gewonnen: man behandelt das Viele, das Eine (als seinen Gegensatz) und in ihrer Wirkung aufeinander die Zwei.

Mit Hingabe ist einer noch kein Dichter, es braucht auch rhythmische Härten.

Eine Stunde Lektüre von Nietzsche, erzwungen und feindselig wie sie ist, weckt dennoch alle falschen und totgesagten Ambitionen in einem. Wie muß er auf andre gewirkt haben!

Fasse dich kurz: dein Tag hat vierzig Jahre; zwei davon schneidet der Neid ab, es bleiben wenige Monate: du bist um all diese Eile zu alt.

Die chinesische Lyrik scheint für die kultivierten Leute alles zu ersetzen, was früher dem »Genre« nachhing. Das fremde Klischee ist aber nicht darum weniger eines, weil es bei der Übersetzung auf solche Schwierigkeiten stößt.

Mich haben, gestern zum erstenmal, alte chinesische Gedichte (in der englischen Übersetzung von Waley) sehr deprimiert – ihre Feinheit, ihre Sentimentalität, ihre Kälte, ihre Nüchternheit, ihre allzuvertraute Traumsprache (und man will doch in jedem Traum wenigstens etwas Neues). Es mag die völlige Reimlosigkeit eine zu große Lockerung des chinesischen Gefüges bedeuten; ich kann das nicht beurteilen. Aber auf jeden Fall, abgesehen von möglichen Unzulänglichkeiten der Übersetzung, ist eines klar: die Ferne dieser Gedichte vom Mythischen. Ihr Glanz ist einer von Bildern und nicht vom Leben. Selbst die Gefühle darin sind gemalt. Die Tendenz geht auf Balance und Beständigkeit. Man kann ruhig werden, aber nicht erfüllt. In allen menschlichen Angelegenheiten scheinen die vorbildlichen und anerkannten Beziehungen durch; aber ohne Leidenschaft sind diese tot. Trotzdem ist die Wendung jeder Situation eine subjektive, immer weiß man, es ist, was zu sehen ist, durch ein gewisses Auge gegangen. Sie sind alle wie beim Fischen gedichtet, an sehr ruhigen Gewässern, und dem Leben so äußerlich wie die Schuppen dem Fisch. Man darf lange nicht in die Bibel geblickt haben, um das zu ertragen. Vielleicht bin ich durch die Bibel für alles verdorben, was keinen Strom hat, weil es keinen haben will. Aber wie bringen die Weisesten den Blutkreislauf zum Stehen? In den starken Stellen der Bibel hat man dieses herrliche Schlagen und Pochen, und selbst während der Mensch träumt, im Schlafe, steht sein Blut nicht still.

Das chinesische Gedicht ist eine viel bewußtere Auswahl, als man sie sonst gewöhnt ist; manches Bedeutende und Schöne in der französischen Lyrik des vorigen Jahrhunderts kommt dem nahe, aber auf dem Untergrund einer mächtigen romantischen Bewegung, der Verwandlung das natürlichste Element ist. Bei den Chinesen sieht es so aus, als wäre gerade im Gedicht die Verwandlung, von der das Leben des Volkes voll ist, verboten; es ist eine skeptische Lyrik, von hohen Beamten oder Fürsten geschrieben, denen daran liegt zu zeigen, wie frei von Aberglauben sie sind.

Er ist eifersüchtig auf ihre abgeschnittenen Fingernägel.

Er kann vor sich selbst kein Geheimnis bewahren, er träumt zu leicht.

Da kommt Einer, der die Vögel zwingt, alle gleich rasch zu fliegen.

Er fürchtet sich vor dem nächsten Jahrhundert, weil er nicht weiß, wer dann regieren wird. Er will weder Kinder noch Kindeskinder. Er will sterben, solange er sich noch auskennt. Er verabscheut die Namen neuer Länder, besonders wenn sie sich an der Stelle andrer bilden, die er selbst bereist hat. Nun gar erst neue Sprachen und neue Redner, die heute auf der ganzen Erde niemand verstehen könnte!

Er schlug sein Bett zwischen zwei Worten auf, so ging er im Traum nicht verloren.

Immer sticht eine Wahrheit der andern in die Ferse.

Der Sterbende haucht seine Seele nicht aus, er ißt sie.

Schon um weniger zu wissen, wüßte ich gern mehr.

Der Doppelgänger, der Ka, das Eidolon, für die Meisten der Kamerad, ist für Viele jetzt die Frau geworden. Besonders in England sind solche Doppelgänger-Ehen häufig. Der Respekt, den man seiner Frau entgegenbringt, ist zum guten Teil ein Respekt vor dem eigenen Abbild. Man achtet einander, weil man immer zusammen ist. Was die Frau an Herrschaft dabei gewinnt, verliert sie als Frau. Sie bewegt sich in parallelen Gesten zum Mann und darf nicht aus seiner Art schlagen. Am ehesten kann sie noch Frau sein, wenn er und sie nicht beisammen sind; da sieht sie ihm entgegen, statt neben ihm herzugehen.

Er hat alle paar Jahre eine neue Mutter, und hat jede verzweifelt gern. Er ist jetzt achtzig und seine letzte Mutter gerade zwanzig.

Den Klugen fressen die Motten.

Er sitzt auf Kohlen, aber sie wollen nicht glühen.

Lauter Herren, Misters, Messieurs, Señores, Signori: ja wer bleibt da noch zum Treten übrig?

Er fürchtet alles, weil er nichts vergessen kann.

Man hat die Hunde zu wenig studiert: sie sind das »Menschliche« in Quintessenz, und wie unmenschlich ist es!

Wer den Erfolg anbetet, ist auf jeden Fall verloren: wenn er ihn hat, wird er ihm ähnlich; wenn er ihn nicht hat, verzehrt er sich in der falschesten Sehnsucht.

In einer weniger kommerziellen Zeit hieß der Erfolg noch Ruhm; vielleicht war er damals schöner.

Ich fürchte mich vor den Sternen, die ich nicht kenne.

Gottes Freunde sind über seine Größe ganz verzweifelt.

Der Mensch hat die Wahl im Alter zu Holz oder zu Stein zu werden. Das Holz duftet, aber der Stein ist noch härter.

Man kann sein Unglück nur verwinden, indem man es spielt.

Er denkt, er denkt, bis seine Finger vor Müdigkeit krachen und er sie unversehens auf die letzten glimmenden Scheite wirft.

Die Disziplin jeder Kunstform ist mörderisch: der Mensch kann noch viel mehr als gehorsam und sparsam sein.

Der Mensch verdient kein Privatleben.

Man wird müde, um dieser heftigen Pein der Ergriffenheit zu entgehen.

Die Ruhe des Menschen hängt von einem Sandkorn ab, um das seine tonnenschwere Eitelkeit plötzlich zuviel wiegt.

Man kann alles töten: einen Menschen, ein Werk, einen Namen und selbst einen Gott, aber keine wirkliche Liebe.

Man unterschätzt die Empfindlichkeit eines Menschen, mit dem man zu jeder Zeit sprechen kann.

Durch das Alte Testament geht eine Geschichte: der Kampf des Wortes gegen das Abbild. Haben die Juden den Haß gegen das Bild aus Ägypten mitgebracht? War für sie selbst die Schrift der Ägypter aus falschen und unverständlichen Bildern zusammengesetzt? Hatten sie einen bestimmten Tempel, um darin dem Abbild eines Gottes zu frönen? Dafür spricht die Errichtung des goldenen Kalbes, wie aus Gewohnheit. – Jedenfalls ist ihr Haß gegen das Bild von unausdenklichen Folgen gewesen. Mehr als die schöne und vielgestaltige Philosophie der Griechen hat ihre beharrliche Ranküne ausgerichtet. Man könnte es verstehen, wenn die Anbeter und Bewunderer der Bilder zu einem Rachebund gegen die Juden zusammengetreten wären und an einem einzigen Tage alle Buchstaben der Welt verbrannt und ausgerottet hätten.

Ich möchte die Bibel so auf mich einwirken lassen, als ob ich nicht von Juden stammte, wie etwas Fremdes und ganz neu Entdecktes, durch einen glücklichen Zufall ausgegraben. Ich bin immer mehr davon überzeugt, daß sie mir zu den kühnsten Schlüssen verhelfen kann, so als sei sie noch überhaupt nie gelesen worden.

Gott als Politiker: es ist ein schwieriges und gefährliches Unternehmen, die Methoden genau zu bestimmen, mittels deren es Gott geglückt ist, seine Diktatur über die Erde auszubreiten. Man muß ganz ohne Haß und Parteilichkeit sein, ohne Sympathie für die eigenen Vorfahren, deren er sich zu seinem Unternehmen bedient hat. Man darf es ihm nicht verargen, daß ihm mehr Zeit zu Gebote stand als seinen menschlichen Adepten. Man muß ihm kühl, mit Neugier und Staunen zusehen, und ihm ja nicht den Prozeß machen; sonst ist man gleich wieder mitten in einem Schaustück, bevor man ihn noch recht kennt. Der Gott der Bibel ist interessant, es hat nie ein machtgierigeres Geschöpf gegeben: er straft nur nach Verrat; er belohnt nur den treuen Dienst; und er tritt mit dem Anspruch auf, alles zu besitzen, weil er alles gemacht hat.

Das Staunen lebt vom Zufall. Im Gesetz erstickt es.

Der Mensch muß seine Ideale zuweilen, um ihnen neue Kraft zu geben, verbergen; sonst wird er dumm.

Der Mensch ist das Maß aller Tiere.

Sisyphus liebt seinen Stein, weil er ihn schleppt.

Die Bibel ist sein Kissen und er träumt von Bathseba.

Eine Sprache macht die andere elastisch.

Eine Zeit, in der man von Deutschen, Franzosen und Engländern wie von Assyrern, Medern und Persern spricht, mit leisem Befremden, daß man sie überhaupt erwähnt.

Man spitzte ihn zu einem langen Pfahle zu; man pflanzte ihn öffentlich auf; bald hatte er tausend Anbeter.

Er lügt nicht, er lächelt.

Sein Gedächtnis haßt ihn; es meldet sich immer dann, wenn er den Mund halten sollte.

Der Eroberer findet nicht mehr aus der Landkarte zurück.

Der Dümmste gelangt am leichtesten ans Ziel: er sieht nichts anderes. Chauffeure, Piloten, Einbrecher, Mörder.

Die Ethik des alten Mannes ist seine Gesundheit.

Das Gleichgewicht der Denker wird durch ihre Verachtung für Märchen gestört. – Meditationen über alle Märchen und Mythen. Welch eine Theologie, welch eine Scholastik müßte das ergeben, da doch die eine Geschichte Christi für unsere ganze Scholastik ausgereicht hat.

Sentimentalität ist die Bestechlichkeit der Güte.

Er zieht täglich eine frische Freundschaft an und schickt die alten in die Wäscherei.

An den Tieren haben sie das Schlachten gelernt. Jetzt brauchen sie eine Gattung von Göttern, um es an diesen zu verlernen.

Die Erde hält das Treiben dieser Läuse nicht mehr aus und richtet sie mit einer Springflut zugrunde.

Die Eile der Toten: sie wollen so rasch wie möglich aus dem Bereich der Explosionen hinweg.

Er hat den kleinen Finger seines Jüngsten aus dem Krieg gerettet.

Bei der Zählung zeigte es sich, daß man fast allen Tanks die Herzen ausgeschnitten hatte; und bei den wenigen Ausnahmen schlug es zu heftig.

Nach dem Krieg muß jeder der lacht sterben, weil der den Krieg so leicht vergessen hat.

Es wird ihn niemand überleben; denn jeder, der ihn ertragen hat, ist gestorben.

Alle Waffen werden abgeschafft und im nächsten Krieg ist es nur noch erlaubt zu beißen.

Die lustigen Städte gehen in Flammen auf, die Häuser wiehern, die Kirchen schnauben, in den unterirdischen Kellern sammeln sich Seen von Bier und verrunzelten Worten an, und darin die Leichen der Trinker.

Auf der Friedenskonferenz wird beschlossen, Europa die gerechte Chance zu geben, die es sich in einem schweren und langjährigen Kriege verdient hat. Es soll alles von gleich auf beginnen. Um das möglich zu machen, wird zuerst einmal eine interterritoriale Flotte von Bombern gebildet, die alle Städte, welche durch Zufall noch stehen, vernichtet.

Mit Hohn ist nichts getan, mit Liebe nicht, mit Güte nicht, mit Rache nicht, mit Glauben nicht, mit Sühne nicht, mit Stolz nicht, mit Leben nicht, mit Tod nicht – o womit soll denn etwas getan sein?

Im letzten Krieg hatten die Deutschen noch Handschuhe an; aus Eisen zwar und sie schlugen damit ins Gesicht; aber immerhin sie nannten sie Handschuhe.

Steinerne Ohren, Augen voll Wärme und Mitgefühl.

Ihn quälen die verschlossenen Koffer im Hause. Er hat nicht die Schlüssel zu ihnen, aber es ist sein Haus.

Er heiligt sich selbst: sammelt seine Spiegelbilder im Wasser, gräbt die Spuren seiner Schritte aus und trägt sie heim; mißt die Zunahme seines Schattens; versteinert seine Ausscheidungen; verlängert seine Haare, um Jahre; faßt seine Nägel ein, bis sie schmerzen; und flattert auf dem Echo seiner ältesten Worte.

Man scheut sich, eine Landschaft mit Worten zu benennen, die ihr fremd sind, als könnte sie das verändern.

Die Verzweiflung des Gesicherten tönt wie das Gebet des Priesters: sie kommt nicht aus der Not.

Die leibliche Begegnung, nach der die Geister sich immer sehnen, ist ihre größte Enttäuschung. Immer bleibt der eine voll von Entsetzen und Ekel über den andern zurück; immer sind beide darin im Recht.

Auf das Verhältnis von Lachen und Staunen allein kommt es an.

Die Liebe hat immer einen Bandwurm, und er wächst mit ihr.

Er wäre gern sein eigener Vater gewesen, und gleich die Mutter dazu.

Ich hasse die Ecken des Menschen, seine unverdauten Befehle.

Schicksale haben etwas Heiliges, in jedem Falle.

Der Lügner will oft nur länger reden.

Wer seinen Instinkten frönt, der geht an ihrer Feindschaft untereinander zugrunde. Wer Verstand hat, ist immer alt. O schwere, o schwerste Wahl!

Das Normale ist ein Zimmer ohne Türen und Fenster. Es ist rätselhaft, wie einer da hineingerät. Aber es gibt Pläne davon, und viele sitzen gern darübergebeugt.

Die verschiedenen Sprachen, die einer haben müßte: eine für seine Mutter, die er später nie wieder spricht; eine, die er nur liest und nie zu schreiben wagt; eine, in der er betet und von der er kein Wort versteht; eine, in der er rechnet, und alles Geldliche gehört ihr; eine, in der er schreibt (aber keine Briefe); eine, in der er reist; in dieser kann er auch seine Briefe schreiben.

Es sah aus wie beschriebenes Papier. Aber es war eine Sprache, die noch keiner entziffert hatte.

Die Völker halten sich für unerschöpflich; sonst wären sie nicht alle ausgestorben.

Gott ist an der Profanation seines Namens zugrunde gegangen, nun können sie lange nach ihm rufen.

Es ist zuwenig daran gedacht worden, was von Toten wirklich lebendig bleibt, zerstreut in den anderen; und es ist keine Methode erdacht worden, diese zerstreuten Reste zu nähren und so lange als möglich am Leben zu erhalten.

Die Freunde eines toten Mannes kommen an bestimmten Tagen zusammen und sprechen nur über ihn. Sie machen ihn noch mehr tot, wenn sie nur Gutes über ihn sagen. Sie sollten lieber streiten, für oder gegen ihn Partei nehmen, geheime Streiche von ihm berichten; solange es noch Überraschendes über ihn zu sagen gibt, verändert er sich und ist nicht tot. Die Pietät, die ihn auf einem bestimmten Stand zu konservieren sucht, ist gar nicht freundschaftlich. Sie entspringt der Angst und will ihn nur irgendwo harmlos halten, wie im Sarg und in der Erde. Damit der Tote, auf seine dünnere Weise, weiter lebt, muß man ihm Bewegung gönnen. Er soll zornig sein, wie früher, und im Zorn ein unerwartetes Schimpfwort gebrauchen, das nur dem bekannt war, der es berichtet. Er soll zärtlich werden; die ihn streng und erbarmungslos kannten, sollen plötzlich erleben, wie er lieben konnte. Beinahe wünschte man sich, jeder der Freunde hätte seine Rolle des Toten darzustellen, und aus allen zusammen wäre er dann da. Man könnte auch bei diesen Festen allmählich Jüngere und Nicht-Initiierte zulassen, damit sie, soweit es ihnen möglich ist, den ihnen Unbekannten noch erleben. Gewisse Gegenstände, die mit ihm zusammenhängen, sollten von Hand zu Hand gehen, und es wäre schön, wenn bei jeder jährlichen Zusammenkunft zu einer Geschichte sich auch ein neuer bis dahin geheim gebliebener Gegenstand fände.

Man muß sich von Zeit zu Zeit, besser oft, am besten immer, auf etwas beziehen, das sehr weit von einem weg ist und auf das man gar keinen Einfluß hat. Seit die Sterne so weit weggerückt sind, eignen sie sich besser dazu als Gott. Denn sie sind immer wieder sichtbar, und sie bleiben sich gleich. Es sind ihrer viele und es könnten ihrer noch mehr sein. Sie senden einem Licht, und man weiß, daß man ihnen keines wiedergeben kann.

Liebhaber ohne Adresse

Herbst 1940: viele Bewohner Londons verlassen die Stadt auf der Flucht vor den deutschen Bombenangriffen. Die Malerin Marie-Louise von Motesiczky, im März 1938 aus Wien emigriert, hat sich nach Amersham, Buckinghamshire, zurückgezogen, 50 Kilometer nordwestlich von London gelegen und mit einer guten Bahnverbindung zur City. Der Schriftsteller Elias Canetti und seine Frau Veza, ebenfalls aus Wien geflohen und erst im Londoner Exil mit Marie-Louise bekannt geworden, finden durch ihre Vermittlung auch eine Wohnung im Amersham.

Elias Canetti an Marie-Louise von Motesiczky

Amersham

1. Juli 1941

Sehr geehrtes Frl. von Motesicky!

Sie leihen mir die Summe von 600 (sechshundert) englischen Pfund auf 5 (fünf) Jahre, angefangen vom 1. Juli 1941 bis 1. Juli 1946.

Der Zinsfuss beträgt 5%. Die Zinsen werden halbjährlich im Nachhinein ausbezahlt, also in Summen zu je 15 Pfund, zum erstenmal am 1. Januar 1942; oder aber die dem heutigen Kurse entsprechende Summe in der Geldeinheit des Landes, wo ich verdiene.

Über die Rückzahlung der Darlehenssumme wird Folgendes ausgemacht:

1. Die Summe von 600 Pfund kann nach Verlauf der 5 Jahre als solche zurückgefordert werden.

Doch ist ein Jahreseinkommen von 360 Pfund von dieser Verpflichtung zur Rückzahlung ausgenommen. Nur was dieses Einkommen übersteigt, muss ich, falls es verlangt wird, zurückbezahlen.

Auch hier gilt die Umrechnung in die Geldeinheit des Landes, wo ich verdiene.

Oder aber 2. Die Rückzahlung kann in Form einer Prämie erfolgen.

Sobald ein Werk von mir, sei es als Buch, Theaterstück, oder Film, oder in jeder Kombination dieser drei Möglichkeiten einen materiellen Erfolg hat, der die Summe von 500 Pfund überschreitet, bin ich verpflichtet, Ihnen davon Mitteilung zu machen. Sie haben dann, und zwar im Verlaufe eines Jahres, das Recht zu erklären, dass Sie an den weiteren Einnahmen dieses Werkes beteiligt sind. Ihre Beteiligung beträgt 30% meiner Einnahmen und ist der tatsächlichen Summe nach unbegrenzt.

Sobald Ihre Einnahmen aus dieser Beteiligung die Summe von 600 Pfund erreicht haben, bin ich Ihnen nichts mehr schuldig. Doch ist, wie nochmals betont werden soll, für die 30%ige Beteiligung an dem einmal bestimmten Werke keine Grenze nach oben festgesetzt.

Falls Sie die Rückzahlung der Summe verschieben wollen, haben Sie das Recht, sie zum selben Zinsfuss weiter bei mir stehen zu lassen.

Sollte ich sterben, bevor die Prämie in Kraft tritt, so erlischt meine Schuld.

Ich habe das Recht, im Verlauf der nächsten vier Monate, also bis zum 1. November 1941, von diesem Vertrag zurückzutreten.

Amersham, den 1. Juli 1941

Dr. Elias Canetti

Wohl zu ihrem 36. Geburtstag am 24. Oktober 1942 schenkt Elias Marie-Louise eine 29 Blätter umfassende Reinschrift von Aufzeichnungen. In diesem Jahr hat er erkannt, wie wichtig ihm diese literarische Form ist – und Marie-Louise ist die erste, die er daran teilhaben lässt. Eine gedruckte Ausgabe erscheint erst 2005. Darin finden sich auch die folgenden Notate:

Sie lebt in einer Wüste von Erwartung.

Wer den Erfolg anbetet, ist auf jeden Fall verloren: wenn er ihn hat, wird er ihm ähnlich; wenn er ihn nicht hat, verzehrt er sich in der falschesten Sehnsucht.

Man kann alles töten: einen Menschen, ein Werk, einen Namen und selbst einen Gott, aber keine wirkliche Liebe.

Marie-Louise macht zusammen mit Marie Hauptmann, ihrer ehemaligen Amme, die sie und ihre Mutter Henriette (1882–1978) ins Exil begleitet hat, eine Ferienreise nach Nord-Wales.

Marie-Louise von Motesiczky an Elias Canetti

im Zug nach Llandudno, Juli 1943

Liebster lieber liebster Mensch,

Erst muss ich Dir sagen wie wunderschön das war dass Du heute früh noch gekommen bist. Ja – auch wenn es für Dich – – aber nein das sag ich jetzt nicht. (und das von dem Wasserkännchen hätt ich nicht sagen sollen) Aber ½ 6 bin ich schon aufgestanden statt um ½ 7 und so leicht wie ein Federball – denn ich hab gedacht: Du kommst. Ich glaub ich habe Dich noch nie so früh morgens gesehen (daran hast Du gar nicht gedacht, nicht wahr?). Ich glaube wenn Du kommst könnte ich aufstehen zu jeder Stunde – immer. Und jetzt im Zug bin ich nicht müde obwohl es fabelhaft uninteressant ist denn ich habe das Gefühl als wäre ich am Weg zu Dir, selbst wenn es 14 Tage dauert. Da lachst Du vielleicht – und doch ist es so.

Ich hab das Gefühl dass ich alles was ich sehe und höre Dir mitbringen möchte; deshalb möcht ich viel hören und viel sehen und bin sehr neugierig. Vorläufig sind wir mit einer sehr langweiligen Familie zusammengepackt in einem Coupé. Marie ist schrecklich müde – eben ist sie erwacht und wollte an einen gewissen Ort da stellte sich heraus dass ihr Rock in der Türe eingezwickt ist. Die kann man während des Fahrens nicht öffnen. Der Zug hält nur selten und wir warten mit etwas Bangen auf die nächste Station. –

Wir sehen jetzt eben das Meer zum ersten Mal. Bald sind wir dort.

Llandudno Junction

Das ist die erste Reise meines Lebens. Leb wohl – Du. Ich möchte Dir ............... Leb wohl ich umarme Dich. –

In Eile umsteigen

Marie-Louise von Motesiczky an Elias Canetti

Llandudno, Juli 1943

Lieber Canetti,

Ich weiss nicht wie sehr uns Amersham vermisst; wir vermissen es jedenfalls sehr. What a shame, nach so kurzer Zeit! Aber nachdem wir, ich jedenfalls, den Aufenthalt (wie ich meinte) mit unbesiegbarem Enthusiasmus begonnen haben, hat das Klima und die allgemeinen Verhältnisse uns so weit gebracht, dass wir nur mehr ein bitteres Lachen für Llandudno übrig haben.

Es ist schrecklich kalt und schrecklich überfüllt, für alles muss man sich anstellen, für jeden Bus, jede Tram jeden Liegestuhl jeden Tee und es ist ein Wunder dass man das Meer sehen kann ohne sich anzustellen. Das alles wäre wohl zu umgehen wenn ich allein wäre denn es gibt ja die Berge und man kann ins Land hineinfahren. Aber für Marie ist das zu anstrengend mit den 3 papierdünnen Salatbrötchen die man als Lunch mitbekommt und über die Berge kann ich sie auch nicht aufs Geratewohl schleifen und so bald man aus dem Menschenstrom heraus will kann man nicht mehr so genau planen was man tut. – Am Strand ist es viel zu kalt für Marie um dort zu sitzen, im Zimmer ist es womöglich noch kälter und wir schlafen mit Wollsocken und unseren dicken Jacken. Bleiben also die Kinos und Geschäfte. Ich bin voll auf beschäftigt um für Marie irgend etwas zu finden das ihr Freude macht (ohne dass sie es merkt). Der Ort erinnert abwechselnd an die Heuschreckenplage und an einen Termitenbau.

Verzeihen Sie diesen langweiligen Brief. Vielleicht kommt die Sonne doch noch einmal zum Vorschein dann fällt mir sicher ein besserer ein. Wie geht es Vesa? War sie schon beim Arzt? Haben Sie einmal das Radio besucht seit ich fort bin oder herrscht dort auch Ameisenplage?

Einen herzlichen Gruss vom Schlachtfeld der Vergnügungen von Ihrer

Marie Luise

What a shame: Wie schade.

Im Frühling 1946 zieht Marie-Louise von Amersham nach London, 20 Lower Belgrave Street, bei Mrs. Mearns. Diese Wohnung bezeichnet sie als »mein Flat«. Henriette und Marie bleiben in Amersham.

Marie-Louise von Motesiczky an Elias Canetti

London, Frühling 1946

Liebster Pio,

Hat’s Ihnen nicht ein bisschen leid getan dass Sie keine Hand erhoben haben als ich meine Kofferln zum Taxi trug? Ich habe noch lange nachgedacht ob das englische Schüchternheit oder spanischer Stolz oder orientalische Überlegenheit (den Frauen gegenüber) ist. Machen Sie kein finsteres Gesicht – ich necke Sie ja nur – darf ich Sie nicht mehr necken? Deshalb bin ich doch eigens nach London gezogen – damit ich Sie wieder ein bisschen necken kann.

Glauben Sie es mir Pio – Sie haben den bitteren Ernst nicht gerne – ich weiss es – ich kann mich erinnern – – mir werden schon wieder kleine bunte Flügel wachsen – mit einem werd ich malen und mit dem anderen werd ich Sie necken – Sie werden sehen – Sie werden es nicht ungern haben.

– Und Sie sind also in Ihren Frühling geradelt und ich in mein Flat. Wenn Sie aber mit mir zur Bahn gekommen wären und aufgepasst hätten dass ich mit der Hutschachtel und dem Bild und der Tasche nicht stolpere (– was ich tatsächlich tat) dann wäre gar kein Zweifel gewesen dass ich in »unser« Flat fahre. »Ganz Amersham« hätte es dann gewusst – das ist wohl genau das, was Sie sich gewünscht hätten. Jetzt neck ich Sie aber nicht mehr! – –

Oh lieber Pio – es ist kein Zweifel dass ich in »unserem Flat« bin – wenn Sie nur erst einmal hier sind und mich so finden wie Sie sich’s wünschen – aber auch wenn Sie nicht hier sind gibt’s wohl keinen Reissnagel und keinen Haken den ich einschlage ohne dass ich dabei an Sie denke. Leider bisher Dinge an denen Ihnen herzlich wenig gelegen ist. Aber Ihr Mantel muss doch wo hängen! Ich bereite eben alles vor damit wenn Sie kommen ich an all die Dinge nichtmehr denken muss. Heute morgen bin ich zum ersten Mal in Ruhe (relativ denn eigentlich sollte ich für Julia Zimmer suchen!) in der Gegend herum gestrolcht. Statt Zimmer, Haken, Brotmesser Linoleum u.s.w. habe ich nichts als eine schwarze japanische Lackschale mit kleinen goldenen Drachen gefunden die gar keinen Zweck hat. Es gibt hier so viel Antiquitätenläden und ich muss mich in acht nehmen denn es ist dumm immerfort in alten Sachen herumzukramen die andere Leute gemacht haben. – Gestern abend gab’s gleich eine unangenehme Überraschung – das Gas strömte aus und als wir mit dem Zündholz suchten gab’s eine richtige kleine Flamme mitten im Rohr. Mir war ganz wohl bei dem Gedanken wie besorgt Sie wären wenn Sie es wüssten! Sehen Sie, – so kann kein Gas und kein Mensch mir was zuleide tun solang ich weiss dass Sie dem Gas und den Menschen böse sind das mich bedroht. Von der akuten Gefahr konnte mich allerdings nur ein anderer Mann schützen – ein ungeheuer langer Gasarbeiter den Mrs. Mearns auf dringendes Bitten kommen liess. Sie hat leider den Komplex dass wir den Gaskomplex haben und instruierte den Mann vorher dass er uns das ausreden soll. »You are afraid of gas, Miss – don’t you worry too much – you worry too much.« erklärte er noch bevor er wusste was los war. »There are so many cracks in the floor – and a bit of gas really does not any harm.« Natürlich sagt er weiter wenn man mit einem Zündholz sucht und womöglich im Schrank wo sich das Gas angesammelt hat – da kann es schon eine Explosion geben – da kann man sich schon einmal die Augenbrauen verbrennen da wäre es viel besser man sorge sich nicht und lasse es so ausströmen. Nun ist aber alles hoffentlich in Ordnung.

Mein Vorschlag dass Julia aufs Land nach Amersham kommt hatte keinen Erfolg. Sie meinte dass diese Zeit für sie so wichtig sei. Heut z.B. ist sie bei ihrer Oberärztin eingeladen, sie müsse telephonisch erreichbar sein – es käme jetzt gerade auf kleine Zufälle an auch fürchtet sie, sie könnte dort faul werden und zu oft schwänzen da ja ihre jetzige Arbeit noch kein Job ist und so wolle sie gar nicht in die Versuchung kommen – Sie haben recht, Julias Versuchungen sind nicht leidenschaftlich – das schöne Land im Frühling zu geniessen. Sie hat aber eingesehen (auch von sich aus) dass auch sie unmöglich hier richtig arbeiten könnte (lesen) und dass wir beide viel zu viel tratschen oder vor Rücksicht aufeinander umkommen würden. Mir war ein Stein vom Herzen als ich sah dass sie es wirklich versteht und zwar auch aus eigenen Gründen und so kann ich ihr wenigstens suchen helfen ohne mir immerfort grausam vorzukommen. Und wissen Sie Pio – wenn ein Zimmer ein bisschen zu teuer ist so könnte ich ihr doch noch ein wenig helfen – schliesslich lohnt es sich doch statt dass alle Welt darüber verrückt wird. Wir hoffen dass in einer Woche die Sache gelöst sein wird.

Abend

Liebster Pio,

nun ist es spät geworden und ich bin ganz müde – hab meine Ration cards besorgt und alles drum und dran erledigt für Ju und mich Nachtmahl gerichtet und abgewaschen. Ich werfe aber diesen Brief doch ein auf die Gefahr hin dass er Sie sehr enttäuscht. Vielleicht wird er Sie doch noch morgen Freitag erreichen. (Auch hab ich ein ganz hinterlistiges Abkommen mit der Mearns getroffen und zwar dass mir die Frau abwäscht und ich einfach morgens ein Tablett vor die Türe stelle. Das tritt aber erst in Kraft wenn Ju weg ist. Bis dahin soll recht viel Plackerei sein damit der Abschied leichter ist.) Ich betrachte Ju jetzt als meinen Gast den ich verwöhne und das wird sie nicht lang aushalten können.

Pio vergessen Sie nicht dass ich hier morgens nicht einmal – die Augen öffnen könnte – – ohne Sie – Sie wissen es ja besser wie ich – glauben Sie mir wenigstens dass auch ich es weiss. Ich sehe Sie jetzt immer vor der Truhe stehen – leben Sie wohl Pio – haben Sie schon den Kuckuck gehört – ich küsse Sie küsse Sie

Ihre Muli

Die Psychiaterin Julia Altschulova (1914–2004), 1939 von Prag nach London emigriert, ist über Jahrzehnte eng mit Marie-Louise befreundet und teilt mit ihr zeitweise die Wohnung. – You are afraid of gas, Miss – don’t you worry too much – you worry too much: Sie haben Angst vor Gas, Fräulein – machen Sie sich nicht zu viele Sorgen – sie machen sich zu viele Sorgen. – There are so many cracks in the floor – and a bit of gas really does not any harm: Es gibt so viele Risse im Boden – und ein bisschen Gas schadet wirklich nichts. – ration cards: Lebensmittelmarken.

Im August 1946 verbringt Elias drei Wochen in Cornwall mit Dr. Emanuel Hirschtritt, Vezas Zahnarzt, den die Canettis schon aus Wien kennen.

Elias Canetti an Marie-Louise von Motesiczky

Perranporth, August 1946

Donnerstag

Liebstes Muli,

das war ein hübscher Brief, der eben kam, Perlmann sprang nur so heraus aus ihm, ich sah ihn, hörte, roch ihn, er ist wie ein herziges Kinderspielzeug, und auch wie eine gute deutsche Medizin –

Ich glaube nicht, dass ich länger als drei Wochen hier bleiben werde; vielleicht ein Weekend dazu, aber auch das kaum. Es ist sehr schön, aber es ist doch ein Hotel mit vielen, immer neuen Leuten, sehr uninteressanten, denen man aber nicht ganz ausweichen kann. Arbeiten kann man unmöglich, aber das Meer ist herrlich, die Felsen sind herrlich, und ein bezauberndes Städtchen, das Du, glaube ich, mit den Brentanos gesehen hast, ist St. Ives. Gestern war ich dort, und gerade als es mir am besten gefiel, kam mir wer entgegen? Frau Dr. Gombrich (Deas Mutter), die dort bei Freunden die Ferien verbringt. Ich soll sie bis Samstag noch einmal besuchen, dann fährt sie zurück. Es ist schön, und es geschieht nicht oft, dass ein richtiger Mensch am richtigen Ort auftaucht. Nach St. Ives möchte ich wirklich einmal mit Dir gehn. Es ist farbig, für England, hübsche winklige Gassen und Häuser, ein Leuchtturm vor dem Hafen, Fischer, Fische, Boote, und ganz in der Nähe, mit dem Fahrrad bequem zu erreichen, eine Menge ansprechende Orte. In Polperro war ich noch nicht, es wird hier sehr gelobt, wir werden für den Tag ein Auto mieten und alle diese hübschen, von uns weiter abgelegnen Orte an der Südküste besuchen. Mein Doktor lässt sich den Aufenthalt hier etwas kosten. Er ist eigentlich angenehmer, als ich erwartet hatte. Er lässt mich in Ruhe, wann ich es nur will. Er hat mir viel mehr von sich erzählt; der arme Kerl hat im letzten halben Jahr wirklich schreckliche Sachen erlebt; ich hätte ihn der Erlebnisse, die er gehabt hat, gar nicht für fähig gehalten.

Aber Du wirst finden, dass dieser Brief matt klingt. Du hast nicht unrecht, denn nichts, was ich darin erwähne, beschäftigt mich im Augenblick wirklich. Natürlich beschäftigt mich ein Brief aus Österreich, von Theodor Sapper, dem Grazer Dichter, von dem ich Dir so viel erzählt habe. Der Brief ist herrlich, für mich herrlich, er ist an mich gerichtet, an mich als Dichter; ich hätte nie geglaubt, dass ein Mensch mir zu meinen Lebzeiten noch so schreiben wird. Zu diesem Menschen wollte ich immer gut sein, und nun überschüttet er mich mit dem, was ich am meisten brauche: mit dem Gefühl meiner eigenen Würde, Strenge und Verantwortung. Es ist ein edles Echo, über diese furchtbaren Jahre hinweg; dieser Mensch weiss unerschütterlich, wer ich bin, er sieht mich so rein, wie ich mich in meinem Innersten fühle; sein Brief ist auf eine genaue Weise persönlich-unpersönlich; ich kann es nicht wirklich schildern, was mich daran im Tiefsten ergreift: vielleicht, o vielleicht ist nicht alles umsonst, wofür man lebt, vielleicht muss es nicht alles zugrunde gehen, vielleicht wird man vor den besseren Menschen einer besseren Zukunft bestehen, wer kann mehr sagen als »vielleicht«?

Ich kann mich nicht dazu bringen, Dir diesen Brief zu schicken; ich kann mich von ihm nicht trennen; so musst Du meinen Bericht dafür nehmen.

O Muli, manchmal ist mir so weh zumute: wenn ich denke, dass ich noch nichts wirklich ausgerichtet hab, nichts ist anders, nichts ist besser, dann fällt plötzlich auf die Wüste meines Grams ein Tropfen Wasser, ein einziger Tropfen und ich fühle die Kraft, es tausend Jahre weiter zu versuchen.

Pio.

Von Dr. Perlmann, dem Ehemann der emigrierten früheren Opernsängerin Marie Seidler, hatte Marie-Louise berichtet, er habe so lange versucht, ihr optische Täuschungen zu erklären, bis ihr schwindlig wurde. Anschließend zeigte sie ihm ihre Bilder, die er in altmodischer Sprache lobte, sich jedoch bei der Deutung manche Blöße gab. – Sophie (Soph) Brentano (1902–1993), geborene Leembruggen, ist eine Cousine Marie-Louises und eng mit ihr befreundet. Marie-Louise besucht sie und ihren Mann Johannes Christian Michael (Gio) oft in der Schweiz oder in Frankreich. – Amadea (Dea) Gombrich (1905–1994) hatte Marie-Louises Bruder, den Psychoanalytiker Karl von Motesiczky (1904–1943), noch in Wien kennengelernt. Sie kam 1938 nach London, wo sie John Forsdyke, den Direktor des Britischen Museums, heiratete. Ihre Mutter ist die Pianistin Leonie Hock, ihr Bruder der Kunsthistoriker Ernst Gombrich (1909–2001), der Marie-Louise fördert. – Der Maler Oskar Kokoschka (1886–1980) und seine Frau Olda (1915–2004), die schon in Wien mit den Motesiczkys befreundet waren, leben zu Beginn des Zweiten Weltkriegs mehrere Monate in Polperro. – Theodor Sapper (1905–1982) hatte nach dem Erscheinen von Elias’ Roman »Die Blendung« 1935 eine enthusiastische Rezension geschrieben.

Marie-Louise von Motesiczky an Elias Canetti

im Zug nach London, Poststempel 15. August 1946

Lieber lieber Pio

Hochverehrter lieber Herr Professor,

Heute ist Ihr Brief gekommen! Eine halbe Stunde habe ich daran gelesen – so schwer und interessant ist Ihre Schrift für mich zu entziffern. Eigentlich ist es schön wenn so ein Brief sich einem wie im Nebel nähert. Erst ist es auch ein bisschen so wie Leonardos abgeschabte Mauern in die man allerhand hineinfantasiert – unglaublich wie man sich da auf den ersten Blick über die falschen Worte kränken und freuen kann. Wenn Sie wüssten was ich alles auf der ersten Seite zusammengelesen habe! Eine ganze Welt von Wünschen und Ängsten: ganz logisch zusammengesetzten Missverständnissen. Ich kann mir gar nicht vorstellen wie so ein dummer kleiner Brief von mir Ihnen Freude machen kann (obwohl ich heute mein möglichstes tue denn ich schreibe in der Bahn).

Nun kann ich Ihnen etwas verraten – als ich den Prospekt des Hotels sah (und die Muster auf den Fauteuils) da dachte ich mir dass da eine unglaublich langweilige Gesellschaft beisammen sitzen wird. Aber ich sag nicht immer alle unangenehmen Dinge – ja Pio, ich Muli verschweige allerhand obwohl Sie mich für einen ganz rücksichtslosen Gesellen halten. Auch hatte ich Sie ganz schrecklich lieb wie Sie sich freuten und Ihre sieben Sachen zusammen suchten für diesen dashing, smashing eleganten Ort. Aber das Meer hat doch nicht versagt! Und nun waren Sie vielleicht auch schon im Süden und ich bin neugierig wie’s Ihnen dort gefällt. (Wembley Park und ich will den Brief in Bakerstr. aufgeben)

Es ist ½ 8 Abend und ich fahre ins Flat weil ich gerne einen Abend fort bin von den Damen. Und nun noch schnell ein Geständnis – ich habe Julia auf 8 Tage ins Flat eingeladen so dass sie Malachta einmal bisschen Frühstück machen kann. Ich fand so nett dass sie mich jetzt wo Sie fort sind nicht darum gebeten hat dass ich’s schon deshalb tat. Auch ist es mir gemütlich dass sie heute abend dort ist und mich erwartet. Morgen habe ich einen harten Tag, Tante Ilse in der Stadt Museen u.s.w. (Medizin für den Konsul nach München – Zapferln für den Darm von Rupé – das schreibe ich nur weil Sie dieser Darm so interessierte) Und so erspare ich mir wenigstens die umständliche Stadtreise Weg zur Bahn u.s.w. mit Tante I.

Nun kommen wir gleich an. Nicht wahr Sie sind nicht böse dass ich J. eingeladen habe. Es werden ganze 8 Tage dazwischen sein bis Sie kommen wo es wieder leer dort ist. Bitte bitte sind Sie nicht böse. Gut dass Sie viel spazieren gehen! wenn auch gezwungenermassen. Sie haben so viel Jahre frische Luft versäumt im Leben. Sind Sie mir gut und schreiben Sie mir bitte wieder – das ist so schön!

Ihr Muli

dashing: fesch. – smashing: toll. – Malachta ist Julia Altschulovas langjähriger Freund. – Ilse Leembruggen (1873–1961), geborene von Lieben, ist die Schwester von Henriette von Motesiczky. 1895 heiratete sie den holländischen Unternehmer Willem Leembruggen und lebt seither in den Niederlanden. Ihre Tochter Louise (1898–1985) ist mit dem deutschen Kunsthistoriker und Übersetzer Hans Rupé (1888–1947) verheiratet und lebt in München.

Elias Canetti an Marie-Louise von Motesiczky

Perranporth, August 1946

Freitag früh.

Dein Brief ist gekommen, wenn es nur wirklich Julia ist und sonst niemand und keine Einrichtung daraus wird, macht es mir nichts. Hier ist das Schöne, dass ausser Meer und Felsen alles hässlich ist. Man kann mit niemand sprechen (von den Gästen, meine ich), es gibt keine einzige auch nur hübsche Frau, so kann man niemand ansehen, um niemand etwas dichten, man ist ganz in sich, oder ganz mit dem Meer.

Der schönste Ort, den ich bis jetzt hier in der Nähe gefunden habe, ist ein verlassenes Zinnbergwerk auf einem Felsen am Meer, etwa eine halbe Stunde von uns entfernt. Du musst Dir aber nicht etwa ein altes historisches Bergwerk vorstellen: es ist ganz modern, im Jahr 1938 eingerichtet und 1944 wieder verlassen worden. Ich habe einen Freund dort, einen jungen Burschen, der die Abmontierung überwacht und mir alles über den Arbeitsprozess bei der Gewinnung von Zinn erklärt. Es geht mir sehr nahe, dass ich so wenig über die eigentlichen Arbeits-Dinge der Menschen weiss; er hat mir schöne Einzelheiten berichtet, die Du alle hören wirst. Da stehen, mitten unter den Steinen, rostige Räder, Kessel, Wannen, Schrauben, Stangen herum, alles direkt auf einer hohen Klippe, man sieht von jedem Fleck das Meer und hört die Möwen, das Desolate und Sinnlose dieses ganzen Unternehmens, das mit grossem Aufwand für genau sechs Jahre eingerichtet wurde, hat, besonders am Meer, etwas Zwingendes, das ich mir nicht erklären kann. Wann immer ich kann, entwische ich in diese tote »Fabrik« (es sieht mehr aus wie eine Fabrik) und auf dem Rückweg von dort begann ich gestern abend, als die Sonne unterging, diesen Brief. Ich muss Dir öfters schreiben, damit Du Dich an meine Schrift gewöhnst; trotzdem bin ich froh, dass sie Dir ein wenig unheimlich ist; es ist nicht gut, wenn man sich in allem vertraut ist, man wird schlaff und faul; und ich freue mich zu denken, wie Du Dich mit diesen Buchstaben, die ich eben niederschreibe, plagen wirst. Liebstes, zärtlich geliebtes Muli, lass Dich nicht zu viel in die Stadt verlocken, mal so lieb weiter, wie Du es diese früheren Tage getan hast. Ich werde Dir noch schöne Orte zeigen, aber Du musst sie mir malen? Ist das eine Abmachung? Weil ich armseliger ungeschickter Mensch das doch nicht selber kann. So grüss ich von Herzen meinen Hofmaler Mulo und küss ihn auf die Palette.

PIO XV.

Im Oktober 1946 reist Marie-Louise zum ersten Mal seit ihrer Flucht nach Wien, wo sie mit den genaueren Umständen des Todes ihres Bruders Karl konfrontiert wird. Bei diesem und vielen weiteren Wien-Besuchen wohnt sie bei Ludwig Baldass (1887–1963) im Kunsthistorischen Museum, der ihre Malerei zeitlebens unterstützt. Seine Frau Pauly Baldass, eine Enkelin des Architekten Otto Wagner, hatte in ihrer Rolle als Marie-Louises Gouvernante ihren Schützling mit ins Museum genommen, wo ihr der Kunsthistoriker, Hieronymus-Bosch-Monograph und spätere Direktor Unterricht in Kunstgeschichte erteilte.

Marie-Louise von Motesiczky an Elias Canetti

Wien, Oktober 1946

Mittwoch

Liebster Pio,

Es ist heute der Tag meiner Ankunft und ich sitze im Bett in meinem Zimmer (bei Baldass) – es wurde mir zu Ehren morgens geheizt – doch habe ich das gleich gestoppt und mir lieber all meine Wollsachen angezogen. Eindrücke lieber Pio hat man so viele dass es unmöglich ist sie niederzuschreiben – nicht annähernd (bei einiger Gründlichkeit (Langsamkeit)). Deshalb nur ein trockener Bericht; die Reise war ganz wunderbar – in Paris fuhr ich mit einem Autobus durch die Stadt nachts und starrte auf alle erleuchteten Cafés – am Gare de Lyon gelang es mir einen Schlafwagen zu ergattern obwohl das ganz unmöglich schien – schlief mit einer Schweizerin und Baby die eben aus Brasilien geflogen kam furchtbar mager war – 6 Jahre Brasilien sei furchtbar und ihr Kind bekam im Speisewagen die erste echte Milch. (komisch) In Zürich an der Bahn stand Trudi – wie eine liebe etwas wirre kleine Kuh – sie ist nicht nur verheiratet sondern auch schwanger und es geht ihr in dem Zustand nicht gut. 9 Minuten Aufenthalt und so musste ich Bananen und Schokolade fahren lassen obwohl sie vor meiner Nase standen doch war es nicht mit Wiedersehensfreude zu vereinigen. – Und dann der Arlberg – Schnee, Berge in den Himmel hinauf – katzenaugen-blaugrüne Flüsse – Millionen beschneite Tannen senkrecht hinauf bis in die Wolken – orangebelaubte Bäume mit Schnee am Bahndamm. Zu essen gab es furchtbar viel und gut im Speisewagen aber nachdem man nach Wien fuhr hatte ich immerfort das Gefühl in einer Art Grottenbahn zu sein – wie im Wurstelprater – das Schlaraffenland / der Nordpol – die Hölle – Eintritt £ 1 dem Schlafwagenkondukteur. Die Leute tranken alle Wassergläser voll Wein – die Franzosen waren recht anspruchsvoll – und es waren viele, alle am Weg nach Österreich. Alles dachte und sprach wie man Geld am besten wechselt und wie man es machen muss um das doppelte zu bekommen. – Unbeschreiblich schön war die Einfahrt nach Österreich – Landschaft Häuser. In Innsbruck gelang es wieder einen Schlafwagen nach Wien zu bekommen. Mit einer jungen Dame aus dem IV. Bezirk die auch aus London kam. Ich habe sie aus verschiedenen Gründen sehr bald nicht leiden können. Ich fand den jungen Russen der Nachts unsere Pässe ansah besonders nett. Er sah in den Pass und fragte »– wo bist Du zu Hause?« Als er sah dass ich in Tschechien bin leuchtete er mich freundlich an – leider konnte ich nicht reden – mein Papier konnte er nicht lesen. Er lächelte – schüttelte den Kopf und alles war in Ordnung. In Wien an der Bahn war die Baldass und Witold. Mein Gepäck brachte ein Träger auf einem Wagerl ins Museum – wir fuhren mit der Elektrischen.

Ja Pio all das ist nicht zu beschreiben. Am heftigsten musste ich an Sie denken als in Buchs ein Zeitungsverkäufer in den Zug kam er war wie ganz Österreich – er erzählte mir alles über die Lage Österreichs – kein K.Z. in dem er nicht gewesen war – mit dem Daumen wies er nach Osten und Westen »hinüber und herüber« wie er es nannte, – er hätte gewusst wie man’s am besten hätte machen sollen: »goanix, nicht sich äussern, absolute Nötralität kaane Wahlen – nix – das wär das beste gewesen.« Und da wurde er mitten im Erzählen von einem höheren Herrn aus dem Zug gejagt – verbeugte sich noch zweimal schnell lächelnd mit einem vielwissenden Blick und verschwand mit seinem Packel Zeitungen unterm Arm.

Donnerstag

Gestern musste ich unterbrechen. Heute Morgen nur 2 Zeilen. Baldass sind furchtbar nett. Gestern abend sahen wir das Hieronymus Bosch-Buch an – das muss ich Ihnen mitbringen – es wird Ihr schönstes Buch sein!

Gestern ging ich gleich nach meiner Ankunft durch die innere Stadt bis zum Donaukanal und beim Burgtheater über den Ring zurück. Manches ist verrückt unverändert z.B. wenn man durch die Alte Burg herüber zum Kohlmarkt und am Graben geht – sogar die Geschäfte (die Art des Verkehrs, u.s.w.) nur dass man die schönen Sachen in den Auslagen nicht kaufen kann weil sie alle für Export sind. Der Volksgarten ist ganz unverändert – überhaupt der Ring – – vor dem Parlament stand eine Musikkapell denn alle Monat wird die Verwaltung Wiens einer anderen Nation übergeben, die Engländer den Franzosen u.s.w. Das geschieht mit Musik – – etwa 50 Menschen vis-à-vis am Ring sahen zu – darunter einige ganz in Lumpen alter Uniformen – ich fragte was das ist; das seien displaced persons – Kriegsgefangene.

Pio nun schliesse ich und vielleicht werd ich die nächsten Tage kaum schreiben denn ich muss und will alles was ich zu tun habe schnell machen.

Gestern abend gab mir die Baldass etwas zu lesen. Ich glaube nicht dass ich etwas Traurigeres und Schwereres erleben werde als das, solange ich hier bin. Es war schade dass es am ersten Abend war doch vielleicht war es richtig so – richtig von einem tieferen Standpunkt aus. Und wie Sie sehen habe ich Ihnen danach schon den Brief geschrieben und das sage ich nur damit Ihnen nicht bang um mich ist. Liebster, der Gedanke dass Ihnen bang um mich sein könnte und Sie mich schützen wollen gibt mir so viel Kraft und ein so tiefes Gefühl von Geborgenheit als wären Sie wirklich hier und würden mich mit beiden Armen halten

Freitag

Pio können Sie mir verzeihen dass ich heute erst den Brief fortschicke. Ich habe eben 2 Stunden mit der Kupelwieser und 2 Stunden mit Lingens gesprochen. Morgen fahre ich in die Hinterbrühl mit einem beinahe bitteren Gefühl der Gleichgültigkeit. Hieronymus Bosch hat sehr recht. Ich glaub er ist hier mein bester Freund.

Wenn ich die Berge und die Wälder draussen sehe werde ich trotzdem sehr glücklich sein. Schreiben Sie, bitte schreiben Sie wie es Ihnen geht und was Sie treiben und sind Sie gesund mein liebster Pio

Ihr Muli

Die Psychoanalytikerin Gertrud (Trudi) Boller-Schwing, die Marie-Louise wohl in Wien über den Psychoanalytiker Paul Federn kennengelernt hatte, emigrierte in die Schweiz, wo Marie-Louise sie manchmal besucht. – Als nach Ende des Ersten Weltkriegs die Bewohner Österreich-Ungarns wählen konnten, welche Nationalität sie annehmen wollten, hatten sich die Motesiczkys für die tschechische entschieden. – Als Teenager war Marie-Louise unglücklich in ihren wesentlich älteren Cousin Witold Schey verliebt. In den dreißiger Jahren hatte sie dann eine Beziehung zu Witolds Zwillingsbruder Herbert. – displaced persons: Flüchtlinge, Vertriebene. – Maria Kupelwieser (1895–1978) war in erster Ehe mit Henriette von Motesiczkys Bruder Ernst von Lieben (1875–1970) verheiratet. – Ella Lingens (1908–2002) gehörte mit Karl von Motesiczky zu einer Wiener Widerstandsgruppe, die jüdischen Verfolgten zur Flucht aus Österreich verhalf. Bei einer Aktion im Juli 1942 wurden sie verraten und inhaftiert. Ella Lingens und Karl von Motesiczky kamen im Februar 1943 nach Auschwitz, wo Karl im selben Jahr ermordet wurde. Ella Lingens überlebte und kehrte nach Wien zurück. – In Hinterbrühl, einer Sommeridylle im Wienerwald, befindet sich das herrschaftliche Anwesen der Motesiczkys. Das Haupthaus, die Villa Todesco, wurde in den dreißiger Jahren abgerissen.

Marie-Louise von Motesiczky an Elias Canetti

Amersham, Poststempel 4. Februar 1947

Mein lieber Pio,

Es tut mir so leid dass ich am Freitag schon beim Abschied verstimmt war und auch heute am Telephon Ihnen meinen Ärger gezeigt habe. Am Freitag war’s ein Satz, nein einige Sätze; am Donnerstag seien Sie besetzt, falls Sie am Dienstag kommen, können Sie nicht übernachten aber Mittwoch oder Freitag kann ich Sie sehen. Weh getan hat mir eigentlich nur das letzte – vor allem das »kann«.

Pio ich bin zu stolz und auf diese Weise kann ich Sie wirklich nicht sehen. Ich weiss dass Sie damit Ihre Arbeit schützen wollen und müssen und trotzdem gäbe es doch glaube ich einen Weg – eine Art mich nicht gar so sehr fühlen zu lassen dass ich nur schwer in Ihr äusseres Leben einzuordnen bin. Ich kann viel und gerne allein sein, es ist gut auch für meine Arbeit und dass ich, so langsam wie ich bin nun endlich ein bisschen zum Lesen komme ist auch gut (ich war in der Beziehung für Sie sicher oft eine grosse Enttäuschung?). Man kann einander auch in einer Stunde schrecklich viel sein das weiss ich. Wenn Sie gesagt hätten: »Muli aber dann können wir uns doch Donnerstag vor Ihrem Tee oder zu Mittag eine Stunde sehen« wäre alles gleich ganz anders gewesen. So aber hab ich mir Tage lang den Kopf zerbrochen wie ich es machen soll Sie in dieser Woche überhaupt nicht zu sehen ohne dabei gekränkt zu scheinen oder Ihr Misstrauen zu erwecken. All diese Spekulationen sind aber so quälend dass sie das Leben schwer erträglich machen den Schlaf rauben und die Arbeit zerstören. Ich sollte das alles nicht so offen sagen – geschickter, erfinderischer schlauer mit einem Wort weiblicher sein – es fehlt mir nicht an Phantasie aber das Herz tut mir zu weh und wenn ich mir was Hübsches aus-

Im Juli 1947 ist Elias bei dem Musikkritiker William Glock (1908–2000) und seiner Frau Clement (1915–1955), einer Bühnenbildnerin, in Chippenham, Wiltshire zu Gast.

Elias Canetti an Marie-Louise von Motesiczky

Chippenham, 19. Juli 1947

Samstag

Liebstes Muli,

Wir waren heute schon in Bath: nie hätte ich gedacht, dass es in England eine so schöne Stadt gibt. Ich bin ganz benommen davon; vielleicht war es genau die Verwandlung, die ich nach den haarsträubenden und demütigenden Ereignissen der abgelaufenen Woche gebraucht habe. Ich glaube jetzt wirklich, nach Bath, dass ich darüber hinwegkommen werde. Vorher schien es mir keineswegs immer so; es war etwas ganz ernsthaft bei mir gesprungen und ich hörte es immer höhnisch scheppern. Siehst Du, es ist so, dass ich nur mit meinem Stolz leben kann; und mein Stolz war so tief und entscheidend getroffen, dass ich oft gar keine Lust mehr fühlte weiterzuleben. Ich schreibe Dir das, weil ich das Gefühl habe, dass es jetzt alles vorübergehen könnte; und weil Du wissen musst, dass hier eine Grenze meiner seelischen Elastizität erreicht ist, über die ein zweites Mal nichts, nichts, nichts in der Welt mich hinwegbringen könnte. Es nützt nichts, sich was vorzumachen, ich bin eben so, und ich schreibe es, weil was ich rede Dir kaum wirklich Eindruck macht, ich rede zuviel. Ich könnte die kleinste Demütigung von Seiten Deiner Leute nicht mehr ertragen, und Du musst sie von mir fernhalten, um jeden Preis. Ich bitte Dich, um Gottes willen nie mehr vom Geschehenen zu sprechen und nie wieder Erklärungen und Entschuldigungen für Beleidigungen vorzubringen, die ich als tödlich empfinde und über die ich nur hinwegkommen kann, wenn ich überzeugt davon bin, dass Du Dich klar dagegen abgrenzst und nichts zu entschuldigen versuchst. Es ist ja wirklich nicht zu entschuldigen; liebes, liebes Muli, sei einmal nicht eigensinnig und setze die wichtigsten Dinge: Dein und mein Leben, den andern, nebensächlichen, voran.

Hier ist es schön, aber gar nicht ruhig; ein Glück, dass ich noch nicht in der Verfassung bin zu arbeiten, denn es ginge aus äusseren Gründen schwer. (z.B. schreckliche kleine Kinder u.s.w.) Ich will möglichst lange hierbleiben, um mich ganz zu zerstreuen. Am Abend meines Geburtstags sehe ich Dich dann in Amersham.

Nach Bath müssen wir einmal zusammen fahren. Es ist auf seine Weise so schön wie Salzburg, nur viel grösser; ich schäme mich, dass ich noch gar nie dort war. Lebwohl, geliebtestes Muli; überrasch mich mit einem neuen Bild und vergiss nicht was in diesem Brief drin steht

PIO