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Die Augmentation des Alveolarfortsatzes ist in der Medizin etwas Besonderes, denn sie bietet die Möglichkeit der echten biologischen Regeneration des Kieferknochens. Mit seinem Buch leistet der Autor einen entscheidenden Beitrag zu Wissensmanagement und Urteilsfindung auf diesem dynamischen Gebiet. Es beginnt mit den Grundlagen zur Augmentationschirurgie, Knochenregeneration und Wundheilung sowie zu Transplantaten und Materialien. Die folgenden Kapitel umfassen die augmentativen Techniken wie Knochentransplantation, Weichteilmanagement und Standardoperationstechniken. Die letzten Kapitel sind besonderen klinischen Herausforderungen und der Frage gewidmet, welches Verfahren für welche Situation und welchen Patienten die höchste Sicherheit und das beste Ergebnis bietet. Ergänzt werden die Kapitel durch step by step bebilderte klinischen Fälle, die das jeweilige Thema anschaulich und nachvollziehbar machen. Das Buch richtet sich an alle Zahnärzte als Einführung in das Thema Augmentation. Gleichermaßen bietet es erfahrenen Kollegen, Oral- und MKG-Chirurgen viele praktisch umsetzbare Hinweise.
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Seitenzahl: 503
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Hendrik Terheyden
AUGMENTATIONS-
CHIRURGIE
Hendrik Terheyden
AUGMENTATIONS-
CHIRURGIE
Biologische GrundlagenOperationstechnikenKlinische Herausforderungen
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.
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Lektorat, Herstellung und Reproduktionen:
Quintessenz Verlags-GmbH, Berlin
ISBN: 978-3-86867-554-2
Vorwort
Die Knochenaugmentation des Alveolarfortsatzes ist für die Medizin etwas Besonderes. Neben den zahnprothetischen Optionen besteht hier die Möglichkeit der echten biologischen Regeneration des Kieferknochens, einer Restitutio ad integrum. Der neue Knochen kann dank der Zahnimplantate langfristig funktionell erhalten werden. Die Knochenaugmentation ist im Grundsatz daher eine funktionell begründete medizinische Rehabilitation, deren ästhetische Aspekte nicht außer Acht gelassen werden dürfen. „Bringst Du die Funktion in Ordnung, dann fällt Dir die Ästhetik in den Schoß“, pflegte mein Lehrer Prof. Dr. Dr. Franz Härle dazu zu sagen.
Das Buch richtet sich an zahnärztliche Kolleginnen und Kollegen zur Einführung in das Thema Augmentation und soll erfahrenen Kolleginnen und Kollegen, Oral- und MKG-Chirurginnen und -Chirurgen viele praktisch umsetzbare Hinweise bieten. Es herrscht in den neuen Medien ein relativ breites Informations- und Fortbildungsangebot – man kann sich sogar auf Videoportalen operationstechnisch schulen lassen kann. Es gilt im Wissensmanagement, die Spreu vom Weizen zu trennen, aus der Menge das Relevante zu destillieren. Es bedarf viel Urteilskraft, um aus der Fülle der Neuheiten besser abschätzen zu können, was sich in Zukunft bewähren wird und was daher heute bereits eine Investition in Praxis und Klinik wert ist. Daher besteht auch in der modernen Medienwelt weiterhin Platz für ein klassisches wissenschaftliches Lehrbuch. Dieses Buch soll einen Beitrag zum Wissensmanagement und zur Urteilskraft leisten, vor dem praktischen Hintergrund einer Versorgungsklinik und -praxis.
Das Buch beinhaltet die Themenbereiche biologische Grundlagen, Operationstechniken sowie klinische Herausforderungen und Entscheidungsfindung.
Die biologischen Grundlagen werden in dem Ausmaß angesprochen, wie sie klinische Konsequenzen haben. Grundsätzlich war die klassische Zahnheilkunde lange Zeit relativ materialwissenschaftlich basiert, folglich auch die akademische Ausbildung. Dies war konsequent, denn die klassische konservierende und prothetische Zahnheilkunde fand außerhalb der ektodermalen Barriere, also im Prinzip außerhalb des Körpers statt. Durch die Zahnimplantate ist der Zahnarzt heute vermehrt invasiv im Inneren des Körpers tätig, sodass die klassischen Ausbildungsinhalte einer Ergänzung bedürfen. Heute kommen unter anderem die Biologie der Wundheilung, die Reaktion des Körpers auf Antigene und Fremdmaterialien, Antibiotika und Resistenzen, aber auch die ärztliche Führung eines invasiv behandelten Patienten und die Reaktion auf Komplikationen mehr in den Vordergrund.
Die Operationstechniken setzen die Chirurgie voraus, es sein denn, man spezialisiert sich auf die prothetische Versorgung von Zahnimplantaten. Aber auch dann ist zur Beratung des Patienten eine Kenntnis der chirurgischen Möglichkeiten hilfreich. Auch wenn man zunächst selber wenig augmentiert, sollte man die Augmentationsmöglichkeiten, aber auch deren Limitationen bei Risikopatienten kennen, um gezielt an spezialisierte Institutionen überweisen zu können. Generell ist eine gewisse Zurückhaltung bei der Vermittlung von chirurgischen Techniken über Zeichnungen und Animationen geboten, denn Papier ist bekanntermaßen geduldig, weshalb dieses Buch mehr auf die Verdeutlichung durch reale klinische Fälle setzt.
Zur Bewältigung klinischer Herausforderungen und zur Entscheidungsfindung gehört Erfahrung und die Kenntnis der biologischen Hintergründe, denn Zahnheilkunde ist ein naturwissenschaftlich begründetes Fach. Differenzialindikation bedeutet Nutzen-Risiko-Abwägung, welches Verfahren für welche Situation und welchen Patienten die höchste Sicherheit und den besten Effekt bietet. Dieses Buch versucht diesen Schritt in Form eines Indikationsschemas für den oder die Kliniker/in zu erleichtern. Es handelt also von der Entscheidungsfindung, möglichst im Konsens mit den Patienten als partizipative Entscheidung.
Ich danke dem Quintessenz Verlag, speziell Herrn Seniorchef Dr. h. c. Horst-Wolfgang Haase für die Aufforderung und Herrn Geschäftsführer Christian Haase für die verlegerische Umsetzung trotz Koinzidenz mit der Corona-Krise. Mit Herrn Dr. rer. hum. biol. Alexander Ammann bin ich unter anderem durch die Arbeit in der Film- und Buchreihe „Visual biology“ seit Jahren in engem Kontakt und ihm auch für dieses Buch für zahlreiche intellektuelle Anregungen zu großem Dank verpflichtet. Frau Anita Hattenbach und Frau Viola Lewandowski danke ich für das Lektorat, ebenso meinem Sohn cand. med dent. Hendrik Immo Terheyden. Die Geduld und das Können beim Umsetzen meiner Wünsche in perfekte Zeichnungen sind einen besonderen Dank an Frau Christine Rose wert. Für die Herstellung konnte ich auf Frau Ina Steinbrück vertrauen. Nicht zuletzt danke ich den zahlreichen Kolleginnen und Kollegen im wissenschaftlichen Austausch international und national. Besonders die Teilnehmer an meinen Kursen und Fortbildungen haben mich stets zum Weiterdenken und Praxisbezug in der Knochenaugmentation angeregt, indem sie Fragen gestellt und von den Herausforderungen ihrer Praxistätigkeit berichtet haben. Hier ist besonders das Curriculum Implantologie der Deutschen Gesellschaft für Implantologie und der Akademie für Praxis und Wissenschaft der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde sowie der Studiengang Master of Science zu nennen. Nicht der letzte Dank gebührt meiner Frau Dr. med. Eva Ulrike Terheyden Niemann für ihre fachlichen Anregungen und Korrekturen und die Unterstützung während des zeitintensiven und nicht sehr familienfreundlichen Unternehmens Buchschreiben. Den letzten Satz möchte ich an Sie, geehrte Leserinnen und Leser, mit der Bitte richten, mit mir in den Austausch zu treten und die Inhalte zu diskutieren – nur so kommt unser Gebiet voran. Herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, Ihr
Prof. Dr. Dr. Hendrik Terheyden
Autor
Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Hendrik Terheyden ist Chefarzt der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie der DRK-Kliniken Nordhessen in Kassel.
Hendrik Terheyden absolvierte von 1983–1989 das Zahnmedizinstudium an der Universität Kiel. 1989 war er Stabsarzt der Marine in Flensburg. 1989–1992 studierte er Humanmedizin an der Universität Kiel. 1993 wurde er Fachzahnarzt für Oralchirurgie und 1997 Facharzt für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie mit der Zusatzbezeichnung Plastische Operationen (1999). 1999 folgte die Habilitation an der Universität Kiel. Er erhielt den Wassmund-Preis der Deutschen Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (DGMKG). 2004 wurde er apl. Professor an der Universität Kiel. Von 2009 bis 2012 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Implantologie und von 2017 bis 2019 erster Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Oral-und Kieferchirurgie der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK). Seit 2006 ist Prof. Terheyden Section Editor des International Journal of Oral & Maxillofacial Surgery und seit 2012 Editor in Chief des International Journal of Implant Dentistry. Seit 2021 ist er im Vorstand des Arbeitskreises leitender Krankenhausärzte der Deutschen Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie tätig.
Inhaltsverzeichnis
ABIOLOGISCHE GRUNDLAGEN
1Allgemeine Grundlagen der Augmentationschirurgie
1.1Knochen als Erfolgsfaktor in der Implantologie
1.2Ziele der Knochenaugmentation: Funktion – Ästhetik – Prognose
1.3Alveolarfortsatzatrophie
1.4Klassifikationen der Alveolarkammatrophie
1.5Alternativen zur Alveolarkammaugmentation
1.6Defektprothetischer versus regenerativer Therapieansatz
1.7Weichgewebeaugmentation und Weichgewebemanagement
1.8Risikomanagement SAC-Klassifikation
1.9Teamwork
1.10Literatur
2Biologische Grundlagen der Knochenregeneration und Wundheilung
2.1Aufbau des Knochengewebes
2.2Wundheilung
2.3Wundgleichgewicht – proinflammatorisches und antiinflammatorisches Wundmilieu
2.4Knochenumbau
2.5Resorptionsschutz von Knochentransplantaten
2.6Osteokonduktion und Osteoinduktion
2.7Einflussfaktoren auf das Heilungspotential von Knochendefekten
2.8Defektklassen und Augmentationstechniken
2.9Mechanismus der gestörten Wundheilung und der Wunddehiszenz
2.10Biofilm als auslösender Faktor der gestörten Wundheilung
2.11Das Wettrennen der Bakterien gegen die Angiogenese
2.12Klinische Konsequenzen, Vorbeugung der Wunddehiszenz
2.13Verzicht auf die plastische Deckung
2.14Zunehmende Antibiotikaresistenz
2.15Literatur
3Knochentransplantate
3.1Biologische Wirkung von Knochentransplantaten
3.2Das Transplantatlager
3.3Der Goldstandard – das autologe Beckenknochentransplantat
3.4Spenderorte, Qualität und Entnahmemorbidität autologer Knochentransplantate
3.5Literatur
4Materialien zur Augmentationschirurgie
4.1Eigenschaften von Fremdmaterialien
4.2Knochenersatzmaterialien
4.3Dentin als Knochenersatzmaterial
4.4Knochenprodukte: allogene und xenogene Knochentransplantate
4.5Weichgewebeersatzmaterialien
4.6Klinische Differenzialindikation von autologen Materialien versus Fremdmaterialien
4.7Membranen
4.8Bioaktive Materialien und Tissue Engineering
4.9Schlussfolgerung zu bioaktiven Materialien und Tissue Engineering
4.10Literatur
BOPERATIONSTECHNIKEN
5Patientenführung und Operationsvorbereitung
5.1Wahleingriff (elektive Chirurgie)
5.2Patientenselektion nach Risikofaktoren
5.3Aufklärung des Patienten
5.4Realistische Erwartungshaltung des Patienten
5.5Partizipative Entscheidung
5.6Antiinfektiöse Patientenvorbereitung
5.7Operationsvorbereitung, Anästhesie, Sedierung und Narkose
5.8Perioperative Medikation inklusive perioperative Antibiose
5.9Provisorische prothetische Versorgung
5.10Literatur
6Knochentransplantation – Standards und Operationstechnik
6.1Bedingungen für Knochentransplantationen
6.2Gemischte Knochentransplantate
6.3Resorptionsschutz von Knochenblocktransplantaten
6.4Instrumente
6.5Chirurgisches Vorgehen
6.6Ein- oder zweizeitige Implantatinsertion bei der Knochentransplantation
6.7Literatur
7Weichgewebemanagement und Weichgewebeaugmentationen
7.1Dimensionen der Weichgewebe am Zahnimplantat
7.2Zugangsschnittführungen
7.3Lappenformen
7.4Vestibulumplastik und weitere Weichgewebeplastiken
7.5Lappenspannung und Lappenmobilisation
7.6Nahttechnik und Nahtmaterial
7.7Implantatfreilegungstechnik im Zusammenhang mit Knochenaugmentationen
7.8Weichgewebeaugmentation zur Verbreiterung der keratinisierten befestigten Gingiva an Zahnimplantaten
7.9Weichgewebeaugmentation zur Verdickung befestigter Gingiva an Zahnimplantaten
7.10Weichgewebeaugmentation in Verbindung mit einer Sofortimplantation
7.11Weichgewebeaugmentation anstelle einer knöchernen Augmentation (GBR)
7.12Weichgewebeaugmentation zur Rezessionsdeckung an Zahnimplantaten
7.13Deckung durch vaskularisierten Bindegewebelappen
7.14Tunnelierungstechniken
7.15Kontraindikationen
7.16Literatur
8Standardoperationstechniken zur Augmentation
8.1Einlagerungsosteoplastiken
8.2Interpositionsosteoplastiken
8.3Anlagerungsosteoplastiken
8.4Auflagerungsosteoplastiken
8.5Literatur
9Alternativen und Ergänzungen zu den Standardaugmentationstechniken
9.1Titanmeshes und CAD/CAM-gedruckte patientenindividuelle Titangitter
9.2Partielle Zahnextraktionen
9.3Implantatlagerpräparation durch Kondensation, Knochendehnungsschrauben und konische Implantate und Bone spreader
9.4Vertikale Distraktionsosteogenese (DOG) des Alveolarfortsatzes
9.5Knochenringtechnik mit simultaner Implantatinsertion
9.6Extraorale Zeltpfostentechnik im anterioren Unterkiefer und Lower-border-Augmentation
9.7Schalen- und Zelttechnik
9.8Spitzkammumkehrplastik
9.9Apikales U-Splitting
9.10Literatur
10Die Behandlung der Extraktionsalveole
10.1Schonende Zahnextraktion und chirurgische Versorgung der Extraktionswunde
10.2Ziele der Ridge Preservation
10.3Alveolenfüllung in intakten Alveolen
10.4Alveolenfüllung von Defektalveolen
10.5Primäre Wandrekonstruktion von Extraktionsalveolen durch Knochenblöcke
10.6Socket Seal Surgery
10.7Augmentierte Sofortimplantation
10.8Socket-Shield-Technik
10.9Literatur
CKLINISCHE HERAUSFORDERUNGEN UND ENTSCHEIDUNGSFINDUNG
11Entscheidungsfindung nach Defektstadium
11.1Defektorientiertes Konzept zur Differenzialindikation der Augmentationsverfahren
11.2Defektstadium 1/4
11.3Defektstadium 2/4
11.4Defektstadium 3/4
11.5Defektstadium 4/4
11.6Literatur
12Entscheidungsfindung im anterioren Kiefer – ästhetischer Bereich
12.1Anatomische Besonderheiten des anterioren Oberkiefers
12.2Anatomische Besonderheiten des anterioren Unterkiefers
12.3Gingivaler Biotyp
12.4Gingivahöhe und Rückwärtsplanung
12.5Präzise Augmentation durch Resorptionsvermeidung
12.6Implantatpositionierung
12.7Augmentationen bei Zahnnichtanlagen und Jugendlichen
12.8Vertikalaugmentation zur Rettung von benachbarten Zähnen
12.9Implantate bei Vertikaldefekten im parodontal geschädigten Gebiss
12.10Versorgung von Knochendefekten im anterioren Oberkiefer
12.11Versorgung von Knochendefekten im anterioren Unterkiefer
12.12Literatur
13Der seitliche Kiefer – Freiendsituationen
13.1Klinik der Freiendsituationen
13.2Weichgewebeheilung bei Freiendsituationen im Vergleich Ober- zu Unterkiefer
13.3Allgemeines zu Kurzimplantaten versus reguläre Implantate
13.4Allgemeines zu durchmesserreduzierten Implantaten versus reguläre Implantate
13.5Pro und kontra vertikale Augmentation im seitlichen Unterkiefer
13.6Pro und kontra Sinuslift im seitlichen Oberkiefer
13.7Fazit zur Differenzialindikation Augmentation versus s/n/t-Implantate im seitlichen Kiefer
13.8Differenzialindikation von Knochenaugmentationsverfahren im posterioren Unterkiefer
13.9Differenzialindikation von Knochenaugmentationsverfahren im posterioren Oberkiefer
13.10Literatur
14Der atrophierte zahnlose Kiefer
14.1Funktion (Kauen und Sprechen) und Alveolarfortsatzatrophie
14.2Ernährung und Alveolarfortsatzatrophie
14.3Demenz und Alveolarfortsatzatrophie
14.4Lebensqualität und Alveolarfortsatzatrophie
14.5Gesichtsästhetik und Alveolarfortsatzatrophie
14.6Zahnprothetische Besonderheiten bei schwerer Alveolarfortsatzatrophie
14.7Schritt 1: Differenzialindikation von implantatgestützter Deckprothese versus implantatgetragenen Zahnersatz
14.8Schritt 2: Differenzialindikation festsitzender oder abnehmbarer implantatgetragener Zahnersatz
14.9Schritt 3: Differenzialindikation pro und kontra vertikale Augmentation
14.10Extrematrophien
14.11Differenzialindikation zur augmentationsfreien Versorgung und Sofortbelastung auf schrägen Implantaten im Rahmen der „Alles auf vier“-Methoden
14.12Differenzialindikation zur augmentationsfreien Versorgung des Oberkiefers durch Zygomaimplantate
14.13Differenzialindikation zur augmentationsfreien Versorgung des atrophierten Unterkiefers bei Cawood-Klassen V bis VI mit Kurzimplantaten
14.14Differenzialindikation zur augmentationsfreien Versorgung durch Subperiostalimplantate
14.15Empfehlungen zur augmentativen Versorgung von atrophierten zahnlosen Kiefern
14.16Literatur
15Reparaturchirurgie und Komplikationsmanagement
15.1Reparaturchirurgie und Zweitimplantation
15.2Augmentative Behandlung der Periimplantitis
15.3Infektiöse Komplikationen bei Augmentationen
15.4Präoperative Maßnahmen zur Vermeidung von Wunddehiszenzen bei Augmentationen
15.5Intraoperative Maßnahmen zur Vermeidung von Wunddehiszenzen bei Augmentationen
15.6Postoperative Maßnahmen zur Vermeidung von Wunddehiszenzen bei Augmentationen
15.7Komplikationen und deren Vermeidung beim Sinuslift
15.8Allgemeine Komplikationen bei Augmentationsoperationen
15.9Literatur
A
BIOLOGISCHE GRUNDLAGEN
1
Allgemeine Grundlagen der Augmentationschirurgie
Information war nie so umfassend verfügbar wie heute. Dies gilt besonders für die zahnärztliche Implantologie, die viele Jahrzehnte nach ihrer Etablierung immer noch stark im Fluss ist. Im dynamischen Wechselspiel von Produktentwicklern und Klinikern kommen fast täglich neue Biomaterialien und Augmentationsverfahren in die Praxis. Zu allem gibt es zahllose Publikationen und verlockende Fortbildungsangebote. Die Kunst der (Zahn-)Ärztin und des (Zahn-)Arztes ist es, die Menge an Innovationen und Informationen zum Wohle der Patienten richtig einzuordnen. Was ist gut für meine/n Patienten/in und was ist schlecht, riskant und was ist vorhersagbar, was ist effektiv und was ist unnötig, was zahlt sich aus und was kostet nur, was ist Mode und was beständig? Die Basis der Urteilsfähigkeit ist Erfahrung und profundes Wissen.
Die Zahnheilkunde ist traditionell stark durch Materialwissenschaften geprägt, denn sie fand bis vor wenigen Jahren überwiegend außerhalb der Ektodermhülle des Körpers statt. Unter anderem durch die Implantologie hat sich das Behandlungsspektrum in das Innere des Körpers unserer Patienten erweitert. Das erfordert eine zusätzliche theoretische Basis für die Zahnheilkunde, die sich aus Biologie und Medizin speist. Die Leistung des Operateurs und der Operateurin bei Augmentationen ist nicht nur die handwerklich korrekte Ausführung, sondern vor allem die richtige therapeutische Empfehlung unter Abwägen zahlreicher Einflussfaktoren. Dieses Buch soll dem/der Praktiker/in dabei helfen, Selbstbewusstsein und kritische Urteilskraft für gute Entscheidungen aufzubauen und ein wenig Freude auslösen, wenn die Biologie hinter den eigenen klinischen Beobachtungen erkennbar wird und sich ein nachhaltiger Erfolg einstellt.
1.1Knochen als Erfolgsfaktor in der Implantologie
Die Chance auf eine funktionell und biologisch vollwertige Geweberegeneration ist ein Privileg der Zahnheilkunde im Vergleich zu anderen Sparten der Medizin. Die Knochenregenerationstechniken erlauben heute Zahnärztinnen und Zahnärzten, fast keine Formabweichung des Kieferknochens als gegeben hinnehmen zu müssen, sei sie erworben durch Unfall, Tumor oder durch Atrophie des Alveolarkamms nach Zahnverlust oder angeboren bei Zahnnichtanlagen. Das bezieht sich auch auf Bisslage- und Bisshöhenkorrekturen der Kiefer. Die Grundlagen zu chirurgischen Korrekturmöglichkeiten des Knochens und der bedeckenden Weichgewebe zur Vorbereitung einer Zahnersatzbehandlung wurden zum großen Teil durch die Fachvertreter der präprothetischen Chirurgie in den siebziger und achtziger Jahren gelegt1. Knochenaugmentationen sind auch ein langfristig sicheres Verfahren. Zu allen wesentlichen Techniken bestehen heute Daten aus 10-Jahres-Studien.
Das Schicksal des Implantats entscheidet sich auf dem obersten Millimeter2 (Abb. 1-1). Ein zirkulär vollständiger Ring von Knochen, der allseits alle aufgerauten Anteile des Implantats bedeckt, kann ein Tiefenwachstum des Saumepithels und damit Taschenbildung verhindern3 und ist eine Voraussetzung für die dauerhafte Implantatgesundheit4. Zirkulärer Knochen von mindestens 1 mm, besser 2 mm Dicke ist eine Voraussetzung für eine gute Langzeitprognose und die Basis für einen abdichtenden Weichgewebeanheftungsapparat. Ausreichend dicker Knochen erzeugt eine vitale Gingivafarbe, indem er ein Durchschimmern des dunklen Titans verhindert (Abb. 1-2). Der Knochen ist generell die Basis der Ästhetik, indem er die Höhe der Gingiva definiert (Abb. 1-3) und die Gesichtsweichteile verankert. Der Alveolarfortsatz muss ausreichend breit sein, um einem stabilen Implantat mit ausreichender Materialstärke Platz zu bieten, das sich unter Mastikation nicht verformt oder gar frakturiert. Außerdem muss der Knochen ausreichend hoch sein, damit keine langen Zahnkronen und interdentale Plaqueretention resultieren. Der Knochen sollte in der prothetischen und damit in der funktionellen Belastungsachse der Restauration stehen. Dadurch kann die Prothese zierlicher ausfallen (Abb. 1-4 bis 1-6).
Abb. 1-1 Das Schicksal des Implantats entscheidet sich auf dem ersten Millimeter. Aufgeraute Implantatanteile dürfen nicht in Kontakt mit den Bakterien des Sulkus kommen. Hier besteht Augmentationsbedarf.
Abb. 1-2 Fotomontage. Ersatz der nicht angelegten Zähne 12 und 22 durch Titanimplantate. Das graue Durchschimmern des Titans sollte durch ausreichend dicken Knochen und Weichgewebe verhindert werden.
Abb. 1-3 Die Weichgewebehöhe (biologische Breite) ergibt sich aus den Elementen Bindegewebeanheftung, Saumepithel und Sulkustiefe bzw. freie Gingiva. Sie ist bei Zahn und Implantat gleich hoch, im Mittelwert etwa 3 mm. Weil die Höhe konstant ist, kann man durch Augmentation der Knochenhöhe die Weichgewebehöhe vorplanen.
Abb. 1-4 Bei der implantatprothetischen Versorgung des Oberkiefers kann man die Implantate unter Vermeidung der Sinusbodenaugmentation im vorderen Bereich intersinusoidal setzen. Dann muss allerdings die Prothese tegumental gelagert werden (Deckprothese) oder die Prothese muss zur Vermeidung eines Bruches sehr massiv gearbeitet werden. Bei großem Unterstützungspolygon nach Augmentation unter Verwendung von 6 bis 8 Implantaten kann eine abnehmbare Arbeit viel zierlicher gestaltet werden, weil die Bruchgefahr gering ist.
Abb. 1-5 Oberkieferversorgung ohne Augmentation.a. Tegumental gelagerte Deckprothese für den Oberkiefer bei intersinusoidal gesetzten Implantaten unter Augmentationsvermeidung. b. Durch mangelnde Unterspülbarkeit der Deckprothese kommt es zu Rötung des Gaumens (Prothesenstomatitis, Candidiasis) und Gingivahyperplasie an den Implantaten mit Pseudotaschenbildung. Die kaufunktionelle Belastbarkeit ist durch die mangelnde Pfeilerspreizung relativ gering.
Abb. 1-6 Oberkieferversorgung mit Augmentation.a. Durch Sinusbodenaugmentation konnte eine Pfeilerergänzung vorgenommen werden. b. Panoramaschichtaufnahme nach Sinusbodenaugmentation beidseits. c. Prothetische Versorgung durch zierlich gearbeitete abnehmbare und unterspülbare Prothese (Prof. M. Kern, Kiel). d. Galvanoteleskope. e. Interdentale Reinigungsmöglichkeit und Unterspülbarkeit. f. Lippenbild mit natürlicher Ästhetik.
1.2Ziele der Knochenaugmentation: Funktion – Ästhetik – Prognose
Mit den genannten Vorgaben ergeben sich folgende Ziele der Knochenaugmentation:
Funktion
Ästhetik
Prognose
Die Implantologie hat als oberstes medizinisches Ziel die kaufunktionelle Rehabilitation. Bei einer guten Funktion ergibt sich häufig die Ästhetik automatisch. Zudem rückt die Ästhetik als Therapieziel mehr in den Vordergrund. Die Lage der Knochenschulter bestimmt die Lage der darüber liegenden Weichgewebe und damit die gingivale (rosa) Ästhetik. Diese Zusammenhänge werden in dem englischen Merkspruch zusammengefasst:
The tissue is the issue,
but the bone sets the tone,
and the clue is the screw. (D. Garber, Atlanta)
1.3Alveolarfortsatzatrophie
Der Alveolarfortsatz in Ober- und Unterkiefer ist im Gegensatz zur Kieferbasis embryologisch nicht chondral präformiert. Der Alveolarfortsatzknochen wird als desmaler Knochen von den Zähnen im Rahmen ihrer Anlage gebildet und entlang ihres Durchbruchs zur Okklusionsebene mitgenommen. Entsprechend schwindet dieser Knochen nach Verlust der Zähne auch wieder. Die Alveolarkammatrophie ist physiologisch und keine Krankheit, allerdings können die Folgen, der Verlust des Kauorgans und die Prothesenunfähigkeit, eine Krankheit bedeuten, zumal die Atrophie bei einigen Patienten sehr schnell verläuft. Die Resorption des Alveolarknochens beginnt an der bukkalen Knochenlamelle und erfasst später auch die orale Knochenlamelle. Die Resorption der oberen Alveolarfortsatzanteile wird auch durch das Prinzip des Bündelknochens erklärt (Abb. 1-7). Dieser Knochentyp des Körpers besteht aus den verkalkten Insertionen von Ligamenten. Am Alveolarfortsatz sind dies die Insertionen der Sharpey-Fasern (nach William Sharpey, Anatom in London). Nach Zahnextraktion schwindet das Parodontalligament und zwangsläufig auch der Bündelknochen, der die gesamte faziale Lamelle der Zahnfächer ausmachen kann. Der Verlust des Alveolarfortsatzes wird unter anderem beschleunigt durch die marginale Parodontitis, durch traumatische Zahnextraktion, durch instabile tegumental getragene Prothesen und durch eine generalisierte Osteoporose. Besonders starke Atrophien mit Schlotterkamm- und Lappenfibrombildung werden beim Kombinationssyndrom (Abb. 1-8) im anterioren Oberkiefer gesehen, wenn ein hartes unteres Restgebiss oder untere Zahnimplantate gegen eine nur tegumental gelagerte obere Vollprothese beißen. Im Zuge der Atrophie kommt es auch zu einer verminderten Durchblutung der Kiefer, die einen reversen Strom in der Arteria mentalis auslösen kann. Die Frakturgefahr steigt durch die Querschnittsminderung des Unterkiefers.
Abb. 1-7 Der Bündelknochen ist die Verankerung von Sehnen und Ligamenten in das Skelett. Der Alveolarfortsatz besteht vor allem im oberen Teil fast durchgehend aus Bündelknochen. Dieser wird von den zur Okklusionsebene durchbrechenden Zähnen mitgenommen. Wenn die Zähne verloren gehen, schwindet auch der Bündelknochen wieder, zunächst bukkal, später lingual beziehungsweise palatinal. Dieser Effekt erklärt den schnellen Volumenverlust von Extraktionsalveolen und die Alveolarkammatrophie als physiologisches und nicht aufzuhaltendes Phänomen, es sei denn, man kann durch Zahnimplantate den Knochen wieder physiologisch belasten (knochenprotektiver Effekt der Zahnimplantate).
Abb. 1-8 Patient mit Kombinationssyndrom.a. Die Panoramaschichtaufnahme zeigt die isolierte Alveolarkammatrophie im anterioren Oberkiefer. Der harte Aufbiss der unteren Restbezahnung trifft auf die tegumental gelagerte obere Prothese, die insbesondere unter Protrusionskontakten immer wieder nach vorne abkippt und so die physiologische Alveolarkammatrophie lokalisiert beschleunigt. b. Lappenfibrome durch schlecht sitzende obere Vollprothesen im anterioren Oberkiefer. Diese pathologischen Reizzustände der Vestibulumschleimhaut ergeben sich insbesondere, wenn Vollprothesen anterior weit über den Kamm vorgebaut sind. Wenn sie durch ein Kombinationssyndrom anterior überlastet werden und die Okklusion nicht balanciert ist, können die Prothesen bei Vorschub vermehrt nach vorn abkippen. Parallel zeigt hier der Mundwinkel eine Perlèche (Candidiasis).
Da die Zähne und der Alveolarfortsatz im Oberkiefer physiologisch nach bukkal geneigt stehen und eine enge apikale Basis vorliegt, ergibt sich bei Höhenreduktion des Knochens eine Verlagerung der Kieferkammmitte nach innen – die zentripetale Atrophie des Oberkiefers (Abb. 1-9). Bei breiter apikaler Basis im Unterkiefer und nach innen geneigten Zähnen tritt im Unterkiefer das Gegenteil ein. Die Kammmitte wandert mit der Höhenreduktion des Alveolarfortsatzes nach außen – die zentrifugale Atrophie des Unterkiefers. Dieser Effekt kann zu einer Veränderung der Kieferrelation führen und eine Pseudoprogenie und Kreuzbisse im Seitenzahnbereich bedingen. Die Pseudoprogenie wird noch verstärkt, weil der Biss im Laufe des Lebens unter anderem durch Zahnattrition, Abrasion, Zahnextraktionen und durch parodontale Zahnwanderung in der Regel immer weiter absinkt. Dadurch rotiert das Kinn im Kiefergelenk nach vorne.
Abb. 1-9 Effekte der Augmentation bei Alveolarkammatrophie. a. Die Alveolarkammatrophie hat aufgrund der Schrägstellung des oberen Alveolarfortsatzes und der engen apikalen Basis des Oberkiefers zu einer Rücklage des Oberkiefers geführt (linkes Bild). Die reduzierte Bisshöhe aufgrund der Alveolarkammatrophie hat zu einer Vorrotation des Unterkiefers gegen den Uhrzeigersinn im Drehpunkt des Kiefergelenks geführt. Das hat eine Pseudoprogenie verursacht. Die Augmentation (z. B. durch Le-Fort-I-Interposition im Oberkiefer und Sandwich-Interposition im Unterkiefer) führt zu einer Bewegung der Alveolarfortsätze in Richtung der roten Pfeile. Das Ziel ist, durch Zahnimplantate wieder den Zustand bei Vollbezahnung (rechts) zu erzeugen. b. Durch die Alveolarkammatrophie sind die mimischen Muskeln nicht vorgespannt. Die Lippen rollen sich ein und insbesondere der Musculus mentalis verliert seinen oberen Ansatzpunkt auf Höhe der Wurzeln der unteren Schneidezähne. Dadurch sackt das Kinn herunter, was als Tropfenkinn bezeichnet wird. Passives Unterfüttern der Lippen durch zahnprothetische Mittel verbessert die Muskelansätze und damit die Muskelzugrichtungen nicht. Durch knöcherne Regeneration der Alveolarfortsätze kann wieder ein Zustand wie vor dem Zahnverlust erzeugt werden. c. Durch implantatgestützte Zahnprothesen kann im Gegensatz zu konventionellen Vollprothesen eine bessere Vorspannung der mimischen Muskeln erreicht werden, weil diese sich bei Gegenzug der Lippen nicht so leicht lösen wie konventionelle Totalprothesen. Wenn zusätzlich die Alveolarfortsätze durch Augmentation knöchern rekonstruiert werden, bekommen die mimischen Muskeln wieder ihre korrekten Ansatzpunkte. Zusätzlich kann durch Bisshebung eine Streckung des Untergesichts und eine Rücknahme des Kinns erreicht werden, sodass sich die Nasolabial- und Supramentalfalte glättet. Das Ziel ist ein entspannter und jüngerer Gesichtsausdruck als Nebeneffekt einer kaufunktionellen Rehabilitation (modifiziert nach Cawood JI, in: Härle, Atlas of Craniomaxillofacial Osteosynthesesis, Thieme, Stuttgart 1999).
Durch den Schwund ihrer knöchernen Ansatzstellen am zahntragenden Alveolarfortsatz verlieren die perioralen mimischen Muskeln ihre Vorspannung. Die Lippen rollen sich ein und verschmälern sich. Wegen des Wegfalls der Stütze der Zähne und Alveolarfortsätze fallen Wangen und Lippe ein. Infolge der Bissabsenkung entwickelt sich eine negative Mundspaltenrundung (umgekehrter Smiley) und es kann zur Lippeninkontinenz an den Mundwinkeln mit Speicheltröpfeln und Candidabefall kommen. Der Musculus mentalis verliert zunehmend seinen Ansatz am vorderen Alveolarfortsatz und das Kinn kann tropfenartig herunterhängen, das sogenannte Tropfenkinn bildet sich. Insgesamt entsteht so das stigmatisierende typische Untergesicht des zahnlosen Greises. Die nachlassende Kaufähigkeit bedingt häufig eine Nahrungsumstellung auf diabetogene Kost und ist mit dem verfrühten Eintritt von Demenz statistisch korreliert5, ohne dass ein ursächlicher Zusammenhang bewiesen ist. Die schwere Alveolarkammatrophie ist also keine simple Alterserscheinung, sondern ein pathologischer Zustand mit Folgen für den Gesamtorganismus. Die kaufunktionelle Rehabilitation durch Zahnimplantate verfolgt ein allgemeinmedizinisches Ziel.
1.4Klassifikationen der Alveolarkammatrophie
Die Atrophie der zahnlosen Kiefer insgesamt wird am besten durch die internationale Klassifikation nach Cawood und Howell (1991) beschrieben6(Abb. 1-10).
Abb. 1-10 Die Klassifikation der Alveolarfortsatzatrophie des zahnlosen Gesamtkiefers nach Cawood und Howell6 (modifiziert nach Cawood JI, in: Härle F. Atlas of Craniomaxillofacial Osteosynthesesis, Thieme, Stuttgart 1999).
Das Resorptionsstadium des einzelnen Implantatsitus kann durch die Viertelregel nach Terheyden 20107,8 (Abb. 1-11) klassifiziert werden. Diese Klassifikation basiert auf dem typischen Muster der Resorption des Alveolarfortsatzes nach Zahnextraktion und hat den Vorteil, dass den Stadien jeweils passende Behandlungsmethoden zugeordnet werden können (Kapitel 12).
Abb. 1-11 Klassifikation der Resorptionsstadien des Kiefers im Implantatsitus nach Terheyden7 in Viertelstadien.
Zunächst atrophiert im Regelfall die faziale Alveolenwand. Wenn deren obere Hälfte geschwunden ist, kann noch ein Implantat primär stabil gesetzt werden, aber es liegt ein vestibulärer Dehiszenzdefekt vor (erstes Viertel). Bei weiterer Atrophie wird die gesamte bukkale Wand resorbiert und es ergibt sich ein Spitzkamm (zweites Viertel) bei noch stehender oraler Wand (entspricht Cawood-Klasse IV). In diesem Stadium reicht der Knochen in der Regel nicht mehr, um ein Implantat zu stabilisieren, sodass man zweizeitig augmentieren muss. Als nächstes Stadium entsteht eine Höhenreduktion des Kamms insgesamt, aber die orale Wand steht noch teilweise (drittes Viertel), bis am Ende der Alveolarfortsatz vollständig resorbiert ist (viertes Viertel) (entspricht Cawood-Klasse V).
Diese Betrachtung im Querschnitt des einzelnen Implantatsitus sollte noch durch die Längsbetrachtung des zahnlosen Abschnitts in Form des sogenannten Envelopes (Abb. 1-12) ergänzt werden. Der Begriff des „Alveolar bone envelope“ ist ein feststehender Sprachgebrauch ursprünglich aus der kieferorthopädischen und parodontologischen Literatur9 und beschreibt die bukkale Konturverbindungslinie des Alveolarknochens im Zahnbogen. Wenn in einer Einzelzahnlücke intakte Nachbarparodontien vorliegen spricht man von einem umschlossenen Defekt innerhalb des Envelopes (Einzel- oder Doppelzahnlücke mit intakten Nachbarparodontien). Die Situation wird schwieriger bei längeren Lücken oder Lücken ohne Nachbarparodontien mit schlecht definiertem Envelope oder im zahnlosen Kiefer mit undefiniertem Envelope.
Abb. 1-12 a. Für die Erfolgsaussichten einer lokalisierten Augmentation ist die Lage im Envelope wichtig (Konturverbindungslinie des Zahnbogens). Zweitens ist es für den Erfolg günstig, wenn ein Defekt von knöchernen Wänden umschlossen ist (contained defect). b. Die Erfolgsaussichten einer lokalisierten Augmentation steigen, wenn das Augmentationsvolumen innerhalb des Envelopes liegt. Daher sollte das Implantat im Regelfall an die palatinale/linguale Wand gesetzt werden und nicht zu groß im Durchmesser gewählt werden.
1.5Alternativen zur Alveolarkammaugmentation
Augmentationschirurgie hat immer einen Preis, auch in Form von Operationsbelastung, Beschwerden und Kosten für den Patienten, operativer Komplexität für Zahnärzte und ihre Teams sowie durch erhöhte Komplikationsmöglichkeiten. Risiko und Nutzen der Augmentationschirurgie sollten immer gut kommuniziert und abgewogen werden. Es gibt daher viele Bemühungen, die operative Belastung der Knochenaugmentation durch Alternativen und minimalinvasive Techniken zu reduzieren.
Insgesamt zeigt sich in der Implantologie die Entwicklung, gestützt durch neue Materialien, auch ohne augmentative Maßnahmen eine gute Kaufunktion zu erreichen. Besondere Relevanz hat dies für Patienten unter antiresorptiven Therapien, die gar keine Knochenaugmentationschirurgie erlauben. Des Weiteren wird der Therapieerfolg weniger abhängig vom individuellen Können eines Arztes gemacht, was ein genereller Trend in der Medizin ist. Beispiele für die augmentationsfreie Implantatchirurgie sind Zygomaimplantate oder die Renaissance der Subperiostalimplantate bei schwerer Alveolarkammatrophie (siehe Kapitel 14).
1.6Defektprothetischer versus regenerativer Therapieansatz
Abb. 1-13 Defektprothetik versus Regeneration.
Beim defektprothetischen Ansatz wird fehlendes Gewebe und fehlende Funktion durch Fremdmaterial, eine Prothese aus Kunststoff, Keramik und Metall ersetzt, ähnlich wie eine Prothese bei fehlenden Gliedmaßen. Das Zahnimplantat ist bei diesem Therapieansatz ein Halteanker gegen das Herausfallen der Prothese. Weil das Implantat durch die Gefahr biologischer Komplikationen auch ein Risikofaktor für die Gesamtprothese ist, werden konsequenterweise so wenig wie möglich Implantate als potenzielle Störstellen geplant, bis hin zu nur einem einzigen. Der Patient kann sich in dieser Logik in seinen Hygienebemühungen auf einige wenige Pfosten konzentrieren und weniger Implantate werfen weniger Kosten auf.
Der Ersatz fehlender Körperteile durch eine Prothese ist in vielen medizinischen Feldern das herkömmliche Verfahren; im regenerativen Ansatz der Augmentation wird die Zukunft gesehen10. Dieser Ansatz verfolgt weitergehende Ziele als den reinen Prothesenhalt, unter anderem eine funktionell und biologisch vollwertige Regeneration des fehlenden Gewebes durch körpereigenes Material und eine langfristige, wenn nicht lebenslange Prognose von Implantaten. Im regenerativen Ersatz hat das Implantat mehr die Funktion einer Zahnwurzel zur Einleitung der Kaukräfte in den Kiefer. Erst die eingeleiteten Kaukräfte setzen den funktionellen Umbau der Gewebe in Gang, der ihren lebenslangen Erhalt sichert. Im Körper wird nur das erhalten, was funktionell definiert ist. Daher besteht bei diesem Ansatz auch eher die Tendenz zu einer höheren Zahl von Zahnimplantaten bis hin zum Einzelzahnersatz. In diesem Konzept geht es um einen zierlichen reduzierten Zahnersatz bis hin zu Einzelkronen mit wenig Metall und anderen Fremdmaterialien, fast ein Ansatz wie in der konservierenden Zahnheilkunde.
In der Praxis relativiert sich diese Diskussion zwischen beiden Therapieansätzen meistens schon durch das Alter der Patienten, indem Jüngere und Gesunde sich eher für den regenerativen und Ältere und Kranke eher für den defektprothetischen Ansatz qualifizieren. Das hängt mit der körperlichen Belastbarkeit, der Nutzungsdauer, der Ausgangslage der Defekte, der Hygienefähigkeit und der gewünschten Kaufunktion zusammen.
1.7Weichgewebeaugmentation und Weichgewebemanagement
Aus didaktischen Gründen werden die Knochenaugmentation und die Weichgewebeaugmentation häufig in getrennten Vorträgen und Lehrbüchern behandelt. In der klinischen Praxis ist diese Trennung schwer möglich. Dieses Buch möchte einen gemeinsamen Weg gehen, denn für eine gute Implantatprognose wird eine Dicke der befestigten Gingiva von 3 mm11 und Breite der Keratinisierung von 2 mm12 benötigt, die den Dimensionen der biologischen Breite entspricht. Auch heilen Knochentransplantate unter dicken Weichgeweben besser als unter dünnen und werden weniger resorbiert. Einen Teil der Ziele der Knochenaugmentation, wie z. B. das Verhindern des grauen Durchschimmerns des Titans (Abb. 1-14), kann man zwar auch durch Weichgewebetransplantate erreichen, aber deren Langzeitstabilität13 ist mit 1- bis 3-Jahres-Daten nicht so gut wissenschaftlich dokumentiert wie beim Knochen, für den in der gleichen Indikation 10-Jahres-Daten vorliegen14. Die Weichgewebe dürfen aber auch nicht zu hoch sein oder überaugmentiert werden, um eine Bildung von Pseudotaschen als Raum für eine pathogene Taschenflora zu vermeiden. Schließlich wird eine Knochenaugmentation nur dann verlustfrei heilen, wenn die Weichgewebewunde darüber zuverlässig abheilt. Ein gutes Weichgewebemanagement ist daher ein untrennbarer Teil und Grundvoraussetzung der Augmentationschirurgie (siehe Kapitel 7).
Abb. 1-14 Durchschimmern des Titans.
1.8Risikomanagement SAC-Klassifikation
Augmentationsoperationen haben im Regelfall einen erhöhten Schwierigkeitsgrad gegenüber der einfachen Implantation und gehören in die Gruppen A und C der SAC-Klassifikation15 (Abb. 1-15). Augmentationsoperationen stellen erhöhte Anforderungen an die Ausbildung und Ausstattung des Operateurs als Implantatoperationen des S-Levels.
Abb. 1-15 Die SAC-Klassifikation des International Team for Implantology15 (ITI) für den chirurgischen und prothetischen Teil einer Implantatbehandlung.
S
traightforward: Keine Augmentation. Dies entspricht einer
S
tandardbehandlung ohne erhöhte anatomische Risiken operationstechnische und/oder prothetische Probleme.
A
dvanced: Einzeitige Augmentation. Noch genug Restknochen für eine simultane Implantatinsertion.Hier ist eine
a
nspruchsvolle Behandlung mit erhöhtem chirurgischen und/oder prothetischen Risikopotential und entsprechender Ausstattungs- und Ausbildungsanforderung an das Team gemeint.
C
omplex: Zweizeitige Augmentation. Nicht genug Knochen für eine gleichzeitige Implantation. Eine
k
omplexe implantologische Behandlung auf Spezialistenniveau mit damit verbundenen Risiken ist erforderlich.
1.9Teamwork
Wegen der Belastung und der Risiken eines operativen Eingriffs entscheiden sich viele Patienten und Kollegen bei Knochenmangel gegen eine implantologische Behandlung, obwohl vielleicht beide Seiten von einem osseointegrierten Zahnersatz profitieren würden. Durch Zusammenarbeit mit chirurgisch spezialisierten Kollegen mit entsprechender Expertise kann diese Schwelle gesenkt werden. Die mit der Wundheilung verbundenen Unannehmlichkeiten können von einem überweisenden Zahnarzt zeitweise zum Chirurgen ausgegliedert werden. Die anschließende prothetische Behandlung wird wieder in der Heimatpraxis durchgeführt. In so einem Team funktioniert der Hauszahnarzt als Architekt der Gesamtbehandlung, der die einzelnen Gewerke koordiniert und den Patienten danach in seiner Betreuung weiterführt.
1.10Literatur
1Härle F. Atlas der präprothetischen Operationen. Hanser: München, 1989.
2Schwarz F, Sahm N, Becker J. Impact of the outcome of guided bone regeneration in dehiscence-type defects on the long-term stability of peri-implant health: clinical observations at 4 years. Clin Oral Implants Res 2012;23:191–196.
3Iglhaut G, Schwarz F, Winter RR, Mihatovic I, Stimmelmayr M, Schliephake H. Epithelial attachment and downgrowth on dental implant abutments – a comprehensive review. J Esthet Restor Dent 2014;26:324–331.
4Schwarz F, Giannobile WV, Jung RE. Groups of the 2nd Osteology Foundation Consensus Meeting. Evidence-based knowledge on the aesthetics and maintenance of peri-implant soft tissues: Osteology Foundation Consensus Report Part 2-Effects of hard tissue augmentation procedures on the maintenance of peri-implant tissues. Clin Oral Implants Res 2018;29 Suppl 15:11–13.
5Cardoso MG, Diniz-Freitas M, Vázquez P, Cerqueiro S, Diz P, Limeres J. Relationship between functional masticatory units and cognitive impairment in elderly persons. J Oral Rehabil 2019;46:417–423.
6Cawood JI, Howell RA. Reconstructive preprosthetic surgery. I. Anatomical considerations. Int J Oral Maxillofac Surg 1991;20:75–82.
7Terheyden H. Knochenaugmentationen in der Implantologie. Dtsch Zahnärztl Z 2010;65:320.
8Cordaro L, Terheyden H. ITI Treatment Guide 7. Ridge augmentation procedures in implant patients. Berlin: Quintessenz, 2014.
9Wennström JL, Lindhe J, Sinclair F, Thilander B. Some periodontal tissue reactions to orthodontic tooth movement in monkeys. J Clin Periodontol 1987;14:121–129.
10Eckert SE. Time to bid adieu to removable dental prostheses. Int J Oral Maxillofac Implants 2014;29:535.
11Linkevicius T, Puisys A, Steigmann M, Vindasiute E, Linkeviciene L. Influence of Vertical Soft Tissue Thickness on Crestal Bone Changes Around Implants with Platform Switching: A Comparative Clinical Study. Clin Implant Dent Relat Res 2015;17:1228–1236.
12Giannobile WV, Jung RE, Schwarz F. Groups of the 2nd Osteology Foundation Consensus Meeting. Evidence-based knowledge on the aesthetics and maintenance of peri-implant soft tissues: Osteology Foundation Consensus Report Part 1-Effects of soft tissue augmentation procedures on the maintenance of peri-implant soft tissue health. Clin Oral Implants Res 2018;29 Suppl 15:7–10.
13Rotundo R, Pagliaro U, Bendinelli E, Esposito M, Buti J. Long-term outcomes of soft tissue augmentation around dental implants on soft and hard tissue stability: a systematic review. Clin Oral Implants Res 2015;26 Suppl 11:123–138.
14Chappuis V, Rahman L, Buser R, Janner SFM, Belser UC, Buser D. Effectiveness of Contour Augmentation with Guided Bone Regeneration: 10-Year Results. J Dent Res 2018;97:266–274.
15Dawson A, Chen S, Buser D, Cordaro L, Martin W, Belser U. Die SAC-Klassifikation in der zahnärztlichen Implantologie. Berlin: Quintessenz, 2011: 19 ff.
2
Biologische Grundlagender Knochenregeneration und Wundheilung
Der Selbstreparaturmechanismus des Körpers bedarf im Gegensatz zu Maschinen keines raumfordernden Ersatzteillagers, sondern entfaltet sich auf Abruf aus wenigen pluripotenten Stammzellen. Diese liegen platzsparend als Perizyten in den Wänden der Blutgefäße, was praktisch ist, denn eine Neoangiogenese ist aus Gründen der Ernährung ohnehin Voraussetzung für die Geweberegeneration.
2.1Aufbau des Knochengewebes
Gefäßversorgung und Knochenmark
Knochen besteht aus Weichgewebe und Hartgewebe. Das Weichgewebe umfasst die Knochenzellen, das Mark und die zu ihrer Versorgung notwendigen Gefäße. Kompakter Knochen wird von den Zentralgefäßen der Havers-Systeme ernährt (nach Clopton Havers, Anatom England, 1691) (Abb. 2-1). Nur die äußersten Schichten werden per Diffusion aus den Gefäßen des Periostes ernährt. Nach operativer Ablösung des Periostes wird dieser Teil des Knochens minderversorgt. Dieses Phänomen wird unter anderem als Erklärung herangezogen, wenn man nach Periostablösung eine geringe Oberflächenresorption des Knochens von etwa 0,5 mm feststellt.
Abb. 2-1 a. Knochen gehört zu den stark durchbluteten Gewebearten. Zwischen den Zentralgefäßen der Osteone, zum Periost und ins Knochenmark bestehen Querverbindungen. b. In der Toluidinblaufärbung sieht ein Querschnitt durch den kortikalen Knochen recht homogen aus (Labor MKG Kiel, unentkalkter Hartschliff, Schwein, 20fach). c. Ein ähnliches Präparat wie 2-1b nach intravitaler Markierung durch Fluoreszenzfarbstoffe wirkt deutlich lebhafter. Es zeigt die Bildung von Osteonen in kompaktem Knochen. Nach Beleuchtung mit UV-Licht erstrahlen die Wachstumsbanden Xylenolorange 2 und 3 Wochen, Calceingrün 4 und 5 Wochen, Alizarinkomplexonrot 6 und 7 Wochen (Labor MKG Kiel, unentkalkter Hartschliff, Schwein, 20fach).
Der Oberkiefer weist eine eher spongiöse Struktur und einen peripheren Blutversorgungstyp auf. Der Oberkiefer wird über verschiedene Arterienstromgebiete (A. palatina m., A. alveolaris sup. ant./post., A. nasopalatina) über einen Plexus großenteils von peripher mit periostalen Gefäßen ernährt (Abb. 2-2). Dadurch ist der Oberkieferknochen auch dann noch über das Periost ernährt, wenn Teile der inneren Gefäßversorgung beispielsweise durch Osteotomien oder Knochensegmentbildungen unterbrochen sind.
Abb. 2-2 a. Peripherer Durchblutungstyp im Oberkiefer über multiple periostale Gefäße. b. Zentraler Durchblutungstyp im Unterkiefer über das Zentralgefäß der Arteria alveolaris inferior.
Der Unterkiefer hingegen weist eine wesentlich empfindlichere Gefäßversorgung vom zentralen Typ auf. Große Teile des horizontalen Astes werden fast ausschließlich vom Zentralgefäß der Arteria alveolaris inferior ernährt. Lediglich der mittlere Anteil des Kinnbogens erhält seine Ernährung durch einige Gefäße aus dem Mundboden. Die Zentralarterie ist insbesondere bei älteren Patienten häufig infolge von Arteriosklerose verschlossen, dann kommt es zur Stromumkehr in der Arteria mentalis1. Neben den ernährenden Gefäßen beherbergt der Knochen im Knochenmark das blutbildende Gewebe, das ein zerfließliches Gewebe ohne Eigenstabilität ist. Im Inneren des Knochens liegt das Knochenmark im Gegensatz zu anderen Körperorten an einem Ort mechanischer Ruhe und äußerer Stabilität. Hier liegen auch mesenchymale Stammzellen, die der Ursprung der Knochenheilung sind.
Knochenzellen
Die eigentlichen Knochenzellen besitzen Vorläuferzellen (pluripotente mesenchymale Stammzellen, Osteoprogenitorzellen), die eine Regenerationsreserve darstellen. Neben dem Knochenmark weiß man heute, dass die Perizyten oder perivaskulären Zellen der Blutgefäße die pluripotenten mesenchymalen Stammzellen sind2. Das ist praktisch, denn es kann keine größere Knochenregenration ohne Blutversorgung geben. Bei Bedarf differenzieren sich diese Zellen in Osteoprogenitorzellen und schließlich nach Adhärenz an eine Matrix in Osteoblasten, die Osteoid aufbauen und sich danach als Osteozyten in die Matrix einmauern. Einige bedecken als Deckzellen (lining cells) die gesamte Knochenoberfläche zur Markhöhle hin lückenlos. Wenn die Deckzellenschicht Lücken bekommt, z. B. durch chirurgisches Trauma, ist das ein Signal zur Osteoklastenentwicklung. Das erklärt ebenfalls die Oberflächenresorption nach Deperiostierung.
Osteoklastenfunktion
Die Osteoklastenfunktion steht unter dem Einfluss von Osteoblasten. Osteoblasten besitzen Rezeptoren für die verschiedensten Hormone und Botenstoffe und können unter Einfluss von Parathormon RANKL (Receptor activator of nuclear factor kappa beta ligand) produzieren. Zusammen mit M-CSF (Macrophage colony stimulating factor) steuern sie so das Konfluieren von monozytischen Vorläuferzellen zu mehrkernigen Osteoklasten. Osteoklasten sind Immunzellen und stammen wie die Makrophagen von Monozyten des Blutstroms ab, die ihrerseits von hämatopoetischen Stammzellen des Knochenmarks abstammen. An Stellen, wo die Lining cells sich abheben, heften sich Osteoklasten an die freien Knochenstellen an. Die Anheftung erfordert das Protein Osteopontin aus der Knochenmatrix, das sich ringförmig mit Integrinen der Osteoklasten verbindet. So entsteht eine Art Saugnapf der Osteoklasten, innerhalb dessen ein sehr stark saures Milieu durch Protonenpumpen erzeugt werden kann, ohne dass die Säure ins übrige Gewebe austritt. Die Säure entkalkt den Knochen, sodass dessen Proteine nun für den Angriff durch saure Enzyme wie Cathepsin freigelegt werden. Die Howship-Lakune entsteht (John Howship 1781–1841, Chirurg und pathologischer Anatom, London). Durch Endozytose wird alles, was im Spalt in Lösung geht, in das Zellinnere transportiert und hier weiter verdaut. Wenn sich unter diesen Molekülen bakterielles Lipopolysaccharid befindet, kann durch Toll-like-Rezeptoren eine schnelle entzündliche Resorption initiiert werden3, die meistens sehr schnell zur Zahn- oder Knochenauflösung führt. Die entzündliche Resorption füllt sich im Gegensatz zur Ersatzresorption beim Knochenumbau nicht knöchern auf; sie ist aufgrund des proinflammatorischen Wundmilieus inkompatibel mit einer Knochenbildung. Sie hinterlässt Defekte und Sequester, sodass der Knochenchirurg vorbeugend um eine bakterienarme Wunde bemüht ist.
Knochengrundsubstanz
Das Hartgewebe des Knochens ist ein Verbundwerkstoff aus Fasern und Füllmasse, wobei die Fasern Zugbelastungen und die Füllmasse die Druckbelastungen aufnimmt. Für solche Verbundwerkstoffe gibt es in der Technik viele Beispiele (z. B. Stahlbeton oder glasfaserverstärkter Kunststoff im Bootsbau). Die Knochenmatrix besteht überwiegend aus Kollagen (Fasern) und Mineral in Form von Hydroxylapatitkristallen (Füllstoff). Dieses Mineral ist bei pH 7,4 in Wasser praktisch unlöslich, was sich bei saurem pH schnell ändert (siehe Kariesentstehung). Das Mineral kann technisch durch Säurebehandlung aus dem Knochenverbund ausgelöst werden, um an die Proteine des Knochens zu gelangen. Das Knochenmineral Hydroxylapatit ist Vorbild für die vielen mineralischen Knochenersatzmaterialien, denn der Körper akzeptiert bestimmte technisch hergestellte Materialien als künstliche Knochenmatrix, bzw. können die Knochenvorläuferzellen diese mangels Proteinstrukturen nicht als fremd erkennen.
Nichtlösliche Hartsubstanzproteine
Die nach Auflösen des Minerals zurückbleibenden Proteine werden in lösliche und unlösliche Knochenproteine eingeteilt. Kollagen Typ I ist mengenmäßig der wichtigste Vertreter der unlöslichen Proteine. Die Stabilität von Knochen wird durch seine innere Struktur bestimmt. Diese innere Struktur ergibt sich aus der Verlaufsrichtung der Kollagenfasern, die wie Drähte den Knochen innerlich zugfest machen. Die innere Verlaufsrichtung der Kollagenfasern kann in polarisiertem Licht dargestellt werden. Der Grundbaustein des ausgereiften kortikalen Knochens ist das Osteon mit dem zentralen Havers-Kanal. Die Kollagenfasern sind im lamellären Knochen parallel schraubenartig in Längsrichtung in gegenläufigen Touren wie kreisrundes Sperrholz um das Osteon gewickelt und erklären so die hohe mechanische Stabilität dieses Knochentyps. Der im Gegensatz dazu unreife Geflechtknochen bildet sich bei der Wundheilung zunächst. Im Geflechtknochen sind die Kollagenfasern nicht parallel, sondern geflechtartig angeordnet und können damit Kräfte gleichmäßig aus allen Richtungen aufnehmen.
Lösliche Hartsubstanzproteine
Abb. 2-3 Knochenbestandteile wie sie durch schrittweise Behandlung mit Säuren und Lösungsmitteln extrahiert werden können. Für sich alleingenommen sind BMP oder Knochengrundsubstanz allein inaktiv. Nur, wenn man die einzelnen Bestandteile wieder zusammenführt, entsteht ein osteoinduktives Knochenersatzmaterial. Beispielsweise kann man rekombinantes BMP mit Knochenersatzmaterial kombinieren, um ein aktives Transplantat zu erhalten.
2.2Wundheilung
Die Wundheilung kann gedanklich in vier Phasen eingeteilt werden (Abb. 2-4). Jede Wunde, ob in Knochen oder Weichgewebe, durchläuft diese vier Phasen, die sich zeitlich überlappen.
Abb. 2-4 Die vier zeitlich überlappenden Phasen der Wundheilung im Weichgewebe. Die y-Achse bezeichnet die relative Zellmenge.
Exsudative Phase (Koagulum)
Die erste Phase der Wundheilung ist die exsudative Phase, die einige Minuten bis Stunden dauert. Kennzeichen ist die Blutstillung durch Plättchen und die Polymerisation des Fibrins, das eine provisorische Extrazellulärmatrix bildet. Diese ist notwendig zur Speicherung von Wachstumsfaktoren und als Gerüststruktur für das Einwandern der Zellen der Wundheilung. Wenn der Knochen mechanisch durch eine Implantatbohrung verletzt wird, entsteht ein Defekt. In diesen Defekt blutet es aus dem Knochenmark ein. Das Koagulum verklebt mit den Wundrändern und stabilisiert durch Gerinnungs- und andere Proteine, z. B. Fibronektin, bereits in den ersten Stunden die Wunde mechanisch. Zahnärzte sind mit der Wichtigkeit des Blutkoagulums durch das Krankheitsbild der schmerzhaften fibrinolytischen Alveolitis (trockene Alveole, Dolor post extractionem) vertraut.
Entzündliche Phase (Reinigung)
Den Granulozyten folgen die Makrophagen, die unter den sauerstoffarmen Bedingungen eines Wundrandes trotzdem überleben können, und hier durch Sezernieren von VEGF (Vascular Endothelial Growth Factor) die Gefäßneubildung und damit die nächste Phase initiieren können.
Proliferative Phase (Heilung)
Wenn eine Wunde sauber ist, können Makrophagen Wachstumsfaktoren wie Transforming Growth Factor Beta (TGF-b), Insulin Like Growth Factor (IGF) und Vascular Endothelial Growth Factor (VEGF) sezernieren. Diese Faktoren induzieren die Bildung des Granulationsgewebes, das die provisorische Matrix des Koagulums ersetzt. Die proliferative Phase überlappt mit den angrenzenden Phasen und dauert Tage bis Wochen. Angeregt durch VEGF aus Makrophagen lösen sich perivaskuläre Zellen der angrenzenden Blutgefäße, teilen sich und versammeln sich zu Infiltraten. Sie vereinigen sich und bilden Röhren, die sich an die bestehenden Blutgefäße anschließen. Dann können sie durchströmt werden und so die Sauerstoffversorgung im Defektgebiet verbessern. Den Gefäßen nachfolgend wandern chemotaktisch Fibroblasten ein. Diese stoßen in der Extrazellulärmatrix des Blutkoagulums auf die gespeicherten Wachstumsfaktoren und beginnen mit der Kollagenbildung. Bis hierher ist die Wundheilung weitgehend unspezifisch und gleicht sich in Weichgewebewunden und Kieferknochenwunden. Allerdings laufen die nun folgenden Phasen im Weichgewebe viel schneller als im Knochen ab.
Für den Unterschied der Knochenwunden zu Weichgewebewunden sind die Bone Morphogenetic Proteins (BMP) verantwortlich. Sie sind im Knochen gespeichert und werden bei Verletzungen des Knochens durch Fraktur oder Osteotomie freigesetzt. Eine wichtige Quelle sind auch Knochenchips (z. B. Scraper) oder der Bohrstaub in einer Implantatalveole, die daher tunlichst nicht vor der Implantatinsertion ausgespült werden sollte. Das BMP führt zur Differenzierung von mesenchymalen Stammzellen zu Knochenvorläuferzellen. Die entstehenden Osteoblasten können nur auf einer festen Grundlage existieren und verankern sich, vermittelt durch Integrine und Osteopontin, an Knochenbälkchen in ihrer Umgebung. Wenn diese Verankerungen den Zellen (Mechanorezeptoren) mechanische Ruhe signalisieren, beginnen sie mit der Expression knochenspezifischer Matrixproteine (Osteoid), ausgehend von der verletzten Knochenoberfläche.
Wenn die proliferative Phase ungestört abläuft, mineralisiert die Matrix und es bildet sich jetzt ein Geflechtknochen innerhalb einiger Wochen (Abb. 2-5). Die Knochenbildung kann auch auf osteokonduktiven Oberflächen in Reichweite der Osteoblasten verlaufen. Osteokonduktive Oberflächen sind Zahnimplantate oder Knochenersatzmaterialien (Abb. 2-6), wobei diese erst mit einem Proteinfilz überdeckt sein müssen. Das in dieser Schicht enthaltene Fibronektin nutzen die Osteoblasten zur mechanischen Verankerung. Am Kieferknochen herrscht eine desmale Ossifikation vor. Ein Zwischenstadium von Knorpel (enchondrale Ossifikation) wie an den Extremitäten tritt am Kieferknochen, an dem eine desmale Ossifikation vorherrscht, nicht auf.
Abb. 2-5 Initiale Geflechtknochenbildung im Rahmen eines Sinuslifts mit Knochenersatzmaterialgemisch nach 6 Wochen. Präosteoblasten verdichten sich, lagern sich um eine Osteoidmatrix, welche in Richtung des rechten Bildrandes bereits zunehmend mineralisiert (Labor MKG Kiel, unentkalkter Hartschliff, Toluidinblau, Schwein, 200fach).
Abb. 2-6 Partikel von xenogenem Knochenersatzmaterial (rosa) werden im Rahmen der Heilung eines Sinuslifts von blauem Geflechtknochen überzogen und untereinander verbunden und in den Knochen integriert. Das Fremdmaterial ist osteokonduktiv, es überdeckt sich mit Fibronektin, auf dem sich Osteoblasten anheften (Labor MKG Kiel, unentkalkter Hartschliff Toluidinblau, Schwein, 200fach).
Remodellierungsphase (Umbau)
Diese Phase dauert im Knochen Wochen bis Jahre. Sie umfasst den lastabhängigen Umbau von unreifem Geflechtknochen (Kollagenfasern ungeordnet in Zufallsrichtung) in reifen lamellären Knochen (Kollagenfasern parallel in Zugrichtung). Ein frei transplantierter Knochen und in Grenzen auch manche Knochenersatzmaterialien werden ebenfalls mit der Zeit ganz abgebaut und durch neuen Knochen ersetzt. Lastabhängig ist dieser Umbau auch daher, weil man beobachtet, dass Knochen an okklusal belasteten Zähnen und Zahnimplantaten erhalten bleibt, wogegen er in unbelasteten Kieferbereichen meistens schnell wieder abgebaut wird
2.3Wundgleichgewicht – proinflammatorisches und antiinflammatorisches Wundmilieu
Das Bild der Waage (Abb. 2-7) hilft dem Arzt, die Wundheilung als ein quantitatives Problem zu begreifen, zum Beispiel das quantitative Aufbrauchen der Abwehrzellen, wenn die bakterielle Inokulation zu hoch wird oder das quantitative Verbrauchen von Antikörpern, wenn die Antigene überhandnehmen.
Abb. 2-7 Das Schaubild des Wundgleichgewichts soll dazu animieren, die Wundheilung als quantitativen Prozess zu betrachten. Eine nicht heilende Wunde enthält M1-polarisierte Makrophagen des proinflammatorischen Milieus, eine heilende Wunde enthält M2-polarisierte Makrophagen des antiinflammatorischen Wundmilieus. Die Makrophagen sind die Schaltstelle des Übergangs von der inflammatorischen in die regenerative Phase.
Im Wundmilieu ist zwischen einer proinflammatorischen Polarisierung und einer antiinflammatorischen Polarisierung als Ausschlag der Waage zu unterscheiden. Regeneration und Gewebeaufbau entsteht nur im antiinflammatorischen Milieu, während das proinflammatorische Milieu für Abbau der Extrazellulärmatrix des Gewebes sorgt. Die im Gewebe aktuell vorhandene Kollagenmenge steht im Gleichgewicht von ständigem An- und Abbau von Kollagen. Wenn abbauende Enzyme von Granulozyten sezerniert werden, wird das Gleichgewicht Richtung Abbau verschoben, denn die Granulozyten schaffen sich Platz, um besser durchs Gewebe marschieren zu können. Der klinische Effekt ist die Blutungsneigung der entzündeten Gingiva, die deshalb auf Sondierung blutet, weil Kollagen abgebaut wurde.
Zum proinflammatorischen Milieu (Abb. 2-8) gehören Matrix-Metalloproteinasen und andere matrixabbauende Enzyme und demnach ein geringer Gehalt an Extrazellulärmatrix und an Wachstumsfaktoren. Weiterhin sind proinflammatorische Zytokine, freie Radikale und ein saures Milieu zu finden. Säure gehört zur Inflammation und ist Teil des Bakterienabwehrmechanismus der Entzündung. Zum proinflammatorischen Milieu gehört auch der Urokinase-Plasmin-Aktivator uPA, der zur Auflösung des Koagulums führt und eine fibrinolytische Alveolitis (trockene Alveole) auslösen kann. Andere Beispiele für nicht heilende Wunden, die chronisch im proinflammatorischen Modus verharren sind Ulcus cruris oder Magengeschwür. Sezernierende Wunden sind im proinflammatorischen Zustand.
Abb. 2-8 a. Das antiinflammatorische Wundmilieu einer heilenden Wunde zeichnet sich durch einen hohen Gehalt an Extrazellulärmatrix (Fibrin, Kollagen, Fibronektin) und Wachstumsfaktoren (VEGF – vascular endothelial growth factor, TGF – transforming growth factor, FGF – fibroblast growth factor, KGF – Keratinozytenwachstumsfaktor, PDGF – Platelet derived growth factor) und eine Neoangiogenese aus. TIMPs (Tissue Inhibitors of Metalloproteinases) verhindern den Kollagenabbau durch Hemmung der Proteasen. b. Das proinflammatorische oder toxische Wundmilieu einer nicht heilenden Wunde enthält Zytokine wie TNF-α (Tumor-Nekrose-Faktor alpha), viele Granulozyten und eine schwache Extrazellulärmatrix mit wenig Blutgefäßen. Im Randbereich liegt eine Hyperämie vor, zentral mangelt es an Blutgefäßen. Im toxischen Wundmilieu finden sich Sauerstoffradikale, die Bakterien und Körperzellen abtöten. Ebenso finden sich aggressive Proteasen, die Kollagen abbauen und am Ende das Gewebe zu Eiter verflüssigen.
Zum antiinflammatorischen Milieu gehört das Gegenteil, viel Extrazellulärmatrix und viele Wachstumsfaktoren. Wichtige Komponenten der Extrazellulärmatrix sind Fibronektin und Proteoglykane. Zu den wichtigen Wachstumsfaktoren des Gewebes gehören FGF (Fibroblast growth factor), IGF (Insulin like growth factor) und TGF (transforming growth factor). Ein hoher Gehalt an TIMPs (Tissue Metalloproteinase Inhibitor) inaktiviert proteolytische Enzyme. Das antiinflammatorische Milieu ist mit dem natürlichen Gewebe-pH-Wert von 7,4 leicht basisch. Base gehört zur Regeneration. Eine solche Wunde sezerniert nicht mehr und heilt trocken ab.
Die Waage der Wundheilung kann sich also in beide Richtungen neigen (siehe Abb. 2-8). In beiden Milieus spielen Makrophagen die Leitungsfunktion, sie können mit ihrer Polarisierung (M1 oder M2) das weitere Schicksal der Wunde bestimmen. Die M1-Polarisierung fördert durch Sekretion von proinflammatorischen Zytokinen das entzündliche Milieu4. Die M2-polarisierten Makrophagen fördern durch Sekretion von Wachstumsfaktoren die Angiogenese, Sauerstoffversorgung und den Aufbau der Extrazellulärmatrix5.
Aus dem Gesagten wird klar, dass eine Regeneration von Gewebe und damit eine Alveolarkammaugmentation und eine Osseointegration eines Implantates an ein antiinflammatorisches Milieu gebunden ist. Alles was den pH-Wert absenkt (z. B. Zerfallsprodukte von Polylactidmaterialien), alles was die Ausschüttung von proinflammatorischen Zytokinen wie Interleukin-1-beta (IL1ß) oder Tumornekrosefaktor alpha (TNFα) stimuliert (z. B. Makrophagen bei Antigenkontakt), alles was Extrazellulärmatrix abbaut (z. B. Fibrinolyse), steht dem Knochenaufbau im Wege. Der Arzt sollte also versuchen, das Wundgleichgewicht auf die antiinflammatorische Seite zu verschieben. Ein Beispiel für die Beschwerung der Waage auf der antiinflammatorischen Seite ist die Einbringung von Extrazellulärmatrix in die Wunde in Form von Kollagenmembranen, Kollagenvliesen oder Kollagenpulver6. Dieses wirkt wie ein Magnet auf die überwertigen Proteasen des Entzündungsmilieus und bewirkt eine Substrathemmung dieses Enzyms, sodass die körpereigenen Kollagene des Bindegewebes verschont bleiben7. Dies ist eine zusätzliche Erklärung für die Wirksamkeit der Kollagenmembran bei der GBR (siehe Kapitel 6).
2.4Knochenumbau
Im Körper junger gesunder Patienten befindet sich in der Regel kein Knochen, der älter als 3 bis 4 Jahre ist, später im Leben verlängert sich die Erneuerungsperiode auf etwa 10 Jahre8. Knochengewebe wird fortwährend ab- und wieder neu aufgebaut. Der ständige Umbau erklärt, wie einige Zeit nach einer Knochenverletzung der Knochen wieder seine anatomisch korrekte Form ohne sichtbare Narbe einnehmen kann, wie Knochentransplantate einheilen und wie der Knochen sich funktionell an die okklusalen Kräfte eines Zahnimplantats anpassen kann.
Für das Gleichgewicht zwischen den verantwortlichen Zellen, den Osteoklasten und den Osteoblasten sorgt deren molekulare Kopplung (englisch: coupling), unter anderem über die in der Knochenmatrix gespeicherten und chemisch gebundenen BMPs. Der Zellkomplex aus abbauenden und nachbildenden Zellen wird als Bone Multicellular Unit (BMU) des Knochens (Abb. 2-9) bezeichnet und ist die biologische Grundlage des Gleichgewichts, das die Knochenmasse trotz ständiger Remodellierung konstant hält. Zu jedem Zeitpunkt sind unter gesunden Bedingungen etwa 1–2 Millionen BMU im Körper tätig8.
Abb. 2-9 Bone multicellular unit. Die BMU ist das Modell der Kopplung von Osteoklasten (OCL) und Osteoblasten (OBs), sodass die Knochenmenge im Gleichgewicht bleibt und keine Osteoporose entsteht. Durch Parathormon (PTH) und andere Signale oder Signalisierung durch Osteozyten aus dem Knocheninneren lösen sich die Osteoblasten und Lining cells von der Knochenoberfläche ab und bilden einen Baldachin (englisch canopy). Unter diesem Schutzschirm verschmelzen Monozyten des Blutes (blau, Mitte) nach Stimulation mit GCSF und RANKL zu Osteoklasten und bauen Knochen in der Resorptionslakune ab. Dadurch werden Bone Morphogenetic Proteins (BMPs) an der Knochenoberfläche freigelegt, die wiederum Knochenvorläuferzellen, die von Perizyten (grün, am Blutgefäß) der Blutgefäße und von mesenchymalen Stammzellen (MSC) abstammen, zur Auffüllung der Resorptionslakune stimulieren. Die BMPs spielen also physiologisch bei der quantitativen Steuerung des Knochenwachstums eine Rolle. Therapeutisch kann man durch Anfräsen des Knochens oder Knochenchips ebenfalls BMP freilegen.
Beim Heilungsprozess eines Knochenblocks zur Augmentation ist zwischen einer Resorption von der Oberfläche, die Augmentationshöhe und -volumen kostet, und einer internen Resorption zu unterscheiden. Manchmal ist eine zu starke Oberflächenresorption des Knochens z. B. über der fazialen Implantatoberfläche oder nach Knochentransplantation unerwünscht. Eine schnelle interne Resorption mit schnellem Transplantatumbau ist dagegen erwünscht.
Die Resorptionsphase in der BMU dauert etwa 30 bis 40 Tage, gefolgt vom Wiederaufbau über etwa 150 Tage9. Nachdem der Knochen durch Osteoklasten abgebaut ist, tritt eine Ruhezeit von einigen Tagen ein, die Reversal-Phase10. Die im Knochen gebundenen Wachstums- und Differenzierungsfaktoren (BMP) liegen frei an der Oberfläche. Sogenannte Reversal cells11 reinigen die Grube und kleiden sie mit einem Proteinfilz aus. Diese Zementlinie dient den später nachrückenden Osteoblasten zur Anheftung. Die Reversal cells können die oberflächlich fransenartig aus dem Knochen herausstehenden Proteine inklusive der Wachstumsfaktoren enzymatisch durch Serinproteasen ablösen12. Man nimmt an, dass die Kopplung von Osteoklasten und Osteoblasten, also das Gleichgewicht von Abbau und Anbau unter anderem durch die matrixgebundenen Zytokine wie Insulin like growth factor (IGF) und Bone Morphogenetic Proteins (BMP) reguliert wird13,14. Nach dieser Theorie geht BMP in Lösung und kann nun die Rezeptoren der Osteoprogenitorzellen stimulieren, was eine Differenzierung der Zellen zu Osteoblasten einleitet. Diese Differenzierung läuft nur so lange, wie frisches BMP gefunden wird und limitiert sich, wenn die Howship-Lakune wieder aufgefüllt ist. Idealerweise stehen Osteoklasten und Osteoblasten durch diese molekulare Kopplung so exakt im Gleichgewicht, dass weder Osteoporose noch Osteopetrose entsteht. Analog werden vom Zahnarzt die BMP auch durch Zerkleinerung von autologen Transplantaten (z. B. durch Scraper) aus der Matrix freigelegt. So differenzieren Knochenchips Stammzellen in Osteoblasten, die neuen Knochen aufbauen.
Knochenbohrkerne in kompaktem Knochen
Der Umbau, der im trabekulären Knochen und im Geflechtknochen in zahlreichen vereinzelten Howship-Lakunen stattfindet, verläuft im kompakten Knochen konzentrierter. Hier finden sich Versammlungen vieler Osteoklasten an der Spitzen einer Blutgefäßschlinge aus Arterie und Vene. Zusammen bilden sie einen Knochenbohrkern (Abb. 2-10), der mit erstaunlicher Geschwindigkeit von 1 mm pro Tag einen Tunnel in kortikalen Knochen bohren kann (Abb. 2-11). Die Kopplung an den Wiederaufbau durch die Osteoblasten erfolgt genauso wie in der Howship-Lakune durch BMP, aber konzentrisch um die gesamte Tunnelwand. Die Osteoblasten bauen hier in gegenläufigen Windungen der Kollagenfasern Schicht für Schicht neuen Knochen auf, der den Tunnel immer weiter von innen auskleidet. Damit entsteht ein neues Osteon. Diese Umbauform ist insbesondere für den Einbau von kortikalen Blocktransplantaten wichtig. Nach einer etwas mechanistischen, aber in der Klinik bestätigten Vorstellung des Autors sollen Blocktransplantate möglichst eng an den bestehenden Knochen gefügt werden, damit die Knochenbohrkerne aus dem Lagerknochen in das Transplantat eindringen können.
Abb. 2-10 Der Knochenbohrkern ist eine multiple Resorptionslakune, wie sie durch Zusammenarbeit zahlloser Osteoklasten im kortikalen Knochen auftritt. Der Tunnel des Knochenbohrkerns füllt sich bei weiterem Voranschreiten der Bohrung im hinteren Teil wieder mit konzentrisch abgelagertem lamellären Knochen auf. So entsteht ein neues Osteon. Durch diesen Vorgang werden kortikale Knochentransplantate um- und eingebaut.
Abb. 2-11 Durch intravitale Markierung durch Fluoreszenzmarkierung (vgl. Abb. 2-1c) sind hier zwei Knochenbohrkerne mit zwei Osteonen im Entstehen über mehrere Wochen abgebildet. Das dunkle Material links ist die Defektwand aus kortikalem Knochen. Das Defektvolumen in beiden rechten Dritteln des Bildes hat sich zunächst mit parallel zur Wand ausgerichteten Schichten gefüllt. Der lastorientierte Umbau erfolgt senkrecht dazu (Unterkieferdefekt behandelt mit BMP-7, Labor MKG Kiel, unentkalkter Hartschliff Schwein 20fach).
Creeping Substitution
In diesen Umbau kann man nun auch Knochentransplantate einschleusen, die ebenfalls nach 3 bis 4 Jahren vollständig in Wirtsknochen umgebaut werden. Dies können freie avaskuläre autologe Transplantate sein, aber auch schonend bearbeitete allogene Transplantate, die dann ebenfalls BMP enthalten. Sogar schonend bearbeitete xenogene Knochentransplantate wirken noch osteoinduktiv, weil BMPs über Artgrenzen hinweg nur wenig Variation zeigen und über Artgrenzen hinweg an den humanen Rezeptoren aktiv sind. Selbst rein mineralische xenogene und alloplastische Knochenersatzmaterialien werden umgebaut, solange sie knöchern integriert sind und von den Knochenbohrkernen erreicht werden können, und sofern sie von Osteoklasten durch Säure aufgelöst werden, was nur für bestimmte mineralische Materialien gilt (Abb. 2-12).
Abb. 2-12 Die starke Vergrößerung zeigt, dass im Zuge des Umbaus eines Knochenregenerates auch Bio-Oss® (Geistlich, Baden-Baden) von Osteoklasten abgebaut wird, wenn es dem lastorientierten Umbau der Spongiosa im Wege steht (Labor MKG Kiel, unentkalkter Hartschliff Toluidinblau, Schwein, 400fach).
Ein freies (nicht vaskularisiertes) Knochentransplantat wird also vom Lagergewebe des Knochendefekts aus von Osteoklasten angegriffen, abgebaut und im Rahmen des Umbaus durch neuen vitalen Knochen ersetzt. Dieser Vorgang der inneren Resorption dauert 3 bis 4 Jahre und nennt sich schleichender Ersatz (Creeping Substitution). Durch den Anteil des neuen Knochens übernimmt das Transplantat mit der Zeit funktionelle Kräfte und wird danach nicht mehr abgebaut. Diesen Effekt sieht man in Nachuntersuchungen zum Remodeling an Zahnimplantaten, die in Knochenblocktransplantate gesetzt worden waren15 (Abb. 2-13). Die funktionelle Anpassung der Knochenstruktur nennt sich Wolffsches Gesetz (Julius Wolff 1892 „Gesetz der Transformation der Knochen“, Orthopäde, Berlin).
Abb. 2-13 Einbau eines kortikalen Knochenblocktransplantats am Unterkiefer eines Patienten.a. 3/4-Knochendefekt im seitlichen Unterkiefer, Lagerpräparation durch Anschleifen und Perforation der Kortikalis. b. Ein Block von der Linea obliqua der gleichen Seite wird in vertikaler Überlappung zur vertikalen Augmentation durch drei Osteosyntheseschrauben befestigt. b. Die Konturlücken und der Raum nach lingual werden mit einem gemischten partikulären Knochentransplantat aufgefüllt (25 % autologen Knochenchips, 75 % xenogenes Knochenersatzmaterial). d. Das Transplantat wird durch eine Kollagenmembran abgedeckt (Bio-Gide®, Geistlich, Baden-Baden). e. Nach Lappenmobilisation erfolgt der Wundverschluss durch nicht zu dicht stehende Einzelknopfnähte. Der Schnitt exakt in der Spur der restlichen befestigten Gingiva erleichtert das dichte Nähen. f. Bei der Wiedereröffnung der Wunde 4 Monate später zeigt sich ein weit vorangeschrittener Einbau des Blocks und der partikulären Transplantate. Diese Re-entry-Operation ist beim Blocktransplantat normalerweise nicht notwendig, wie die Schrauben auch über Stichinzisionen entfernt werden können, wodurch man eine erneute Oberflächenresorption vermeidet. g. Der neu aufgebaute und teils vertikal augmentierte Knochen ist ausreichend breit, sodass er sich wie ein Ring um die Zahnimplantate schließt. Zusammen mit der Osseointegration der Zahnimplantate hat der Knochenblock weitere 3 Monate Zeit zum Remodellieren. h. Eine Röntgenuntersuchung nach Knochenblocktransplantation mit zeitgleicher Insertion von Zahnimplantaten zeigte, dass das Remodeling unter kaufunktioneller Belastung etwa 2–3 Jahre dauert, bevor sich ein Plateau einstellt (siehe Text; Abb. 2-13h modifiziert nach Michalczik V, Terheyden H. ZZI 2007;23:266–279).
2.5Resorptionsschutz von Knochentransplantaten
Die innere Resorption im Interesse einer schnellen Vaskularisation des Transplantats ist erwünscht und soll durch enges Fügen des Knochentransplantats an die Knochenoberfläche sowie durch Aufschließen der Knochenmarkhöhle durch Bohrungen gefördert werden (siehe Abb. 2-13).
Die Oberflächenresorption hingegen ist unerwünscht, denn sie führt zum Verlust der Augmentationshöhe, zum Verlust der geplanten Kontur und bei Zahnimplantaten zur Exposition aufgerauter oberer Implantatanteile mit Rezession der Gingiva, sichtbarer Exposition von Metallrändern und Periimplantitisgefahr.
Weil die Resorption von Knochentransplantaten stets durch Osteoklasten erfolgt, sollten diese Zellen gehemmt werden, um die Oberflächenresorption zu minimieren. Hier sind drei Prinzipien zu nennen: harte stark mineralisierte Knochentransplantate, Abschirmung der Oberfläche durch Membranen und Überschichtung mit Knochenersatzmaterialien. Weil die Osteoklasten durch Säure den Knochen abbauen, hält ein stark mineralisiertes Knochentransplantat wie z. B. Schädeldachknochen oder Linea obliqua dem Säureangriff länger stand bzw. puffert die Säuren ab16. Weil die Osteoklasten von Vorläuferzellen aus dem Blutstrom stammen, trennt eine Membran die Blutgefäße des bedeckenden Weichgewebelappens von der Knochentransplantatoberfläche17. Der Weg für die Osteoklasten wird versperrt (Abb. 2-14). Diese Zellen bekommen erst nach Wochen Zutritt zur Knochenoberfläche, wenn Blutgefäße aus der Tiefe vorgewachsen sind. Die Überschichtung mit einem leicht basischen Knochenersatzmaterial auf Kalziumphosphatbasis hat beide Wirkungen, die Abschirmung des Knochens und die Abpufferung der Säuren bzw. Erschöpfung der Osteoklastenkapazität18. Die Resorptionshemmung kann selektiv medikamentös durch Bisphosphonate geschehen, und dies wird in der orthopädischen Chirurgie für Hüftgelenkprothesen auch klinisch angewandt19. In der dentalen Implantologie sind diese Ansätze noch im Experimentalstadium20.
Abb. 2-14 Resorptionsschutz durch eine Membran. a. Einzelfallbeobachtung an einem Patienten mit Schaltlücke 13-22 und horizontaler Alveolarkammatrophie mit 1/2-Defekt. Die zeitgleich gesetzten Implantate zeigen ausgedehnte vestibuläre Dehiszenzdefekte. b. Die freiliegenden Implantatanteile werden durch zurechtgetrimmte autologe Blocktransplantate von der Linea obliqua bedeckt. Mikrozugschraubenosteosynthese durch jeweils zwei Schrauben pro Block. c. Die Konturlücken werden durch autologe Knochenchips aufgefüllt. d. Nur der rechte Oberkiefer wird durch eine Kollagenmembran abgedeckt (Bio-Gide®, Geistlich, Baden-Baden). e.