Aus dem kalten Schatten - Christine Bendik - E-Book

Aus dem kalten Schatten E-Book

Christine Bendik

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Beschreibung

Topmodel Jade Duncan hält ihren anonymen Anrufer für einen harmlosen Spinner. Ein Feigling, der heimlich von einem Date mit ihr träumt. Dann passiert in ihrer New Yorker Agentur ein grausamer Mord und Jade verliert eine liebe Kollegin. Das NYPD warnt vor einem Serientäter. Gleichzeitig häufen sich die Anrufe und Jade findet Hinweise, dass sie mit dem Mordopfer verwechselt worden sein könnte. Auf dem Weg zum Erfolg hat sie sich nicht nur Freunde gemacht. Ihr Bauchgefühl rät ihr zur Wachsamkeit. »Er« könnte näher sein, als sie denkt. Hinter dem harmlosen Spinner verbirgt sich vielleicht – Todesgefahr? Jade weiß nur eins: Sie will nicht enden wie ihre Kollegin. Und sie beschließt, ihre Zelte in der Stadt abzubrechen und zu ihrem Bruder nach Cherry Hill zu fahren. In ihrer Heimat, umgeben von vertrauten Menschen, fühlt sie sich sicher …

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Seitenzahl: 319

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Christine Bendik lebt und schreibt in der Nähe von Aschaffenburg. Dem Genre Thriller gilt ihre besondere Leidenschaft. Nach Veröffentlichung zahlreicher Heftromane bei Bastei Lübbe und Kelter beteiligte sie sich am neobooks-Wettbewerb mit dem in Aschaffenburg verorteten Kurz-Thriller "WWW Wilde Wichtelweiber". Aus ihrer Feder floss auch "Séance", eine gruselige Geschichte zu Halloween, sowie der Beitrag "Feuerrot" aus der feurig-frechen Anthologie dreier befreundeter Autorinnen. Titel: "Feuer!"

Weitere Bücher:

Hatecrimes

Belzebub

Raben vergessen nicht

Survive

http://c-bendik.de

Christine Bendik

Aus dem kalten Schatten

Copyright © 2021 Christine Bendik

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: © Shutterstock

Umschlag Schrift: www.fontspring.com

Umschlaggestaltung: Christine Bendik

Lektorat: Christina Hornung, Aschaffenburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Herausgeber: Christine Bendik

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Epilog

Die wichtigsten Figuren

Nebenfiguren

Prolog

Deine Puppenaugen blicken starr. Der Schrecken steht noch darin geschrieben und auch die Verwunderung. Und obwohl mir klar ist, dass das niemals wieder passieren wird, wünsche ich mir ein Blinzeln herbei. Irgendein Lebenszeichen. Die Stille ist einfach gespenstisch. Ich habe noch nie einen Menschen getötet.

»Warum?«, scheint dein Mund mich zu fragen.

»Glaub mir, ich habe das nicht gewollt«, flüstere ich, und Tränen laufen mir über die Wangen, als ich mich deinem eisigen Blick entziehe. Es gibt diese dunkle Seite in mir … den Durst nach Vergeltung, den offenbar nur noch der Tod löschen kann.

Ich sammle die leeren Spritzenhülsen ein, den Dolch, die Augenbinde und die Wollfäden, die deine Hand aus meinem Pulli gerissen hat. Nur weg von hier, bevor der Tag anbricht. Bevor die aufgehende Sonne die Finsternis einer mondlosen Nacht verjagt und das erste Hauspersonal aufkreuzt.

Etwas Helles flattert zu meinen Füßen auf – es ist der Brief. Er muss mir bei unserem Gefecht vorhin aus der Tasche gefallen sein. Der Brief, der mit dem Geschehen hier alles und gar nichts zu tun hat. Den ich seit Wochen ungelesen mit mir herumschleppe und der mit jedem Tag schwerer zu wiegen scheint, weil etwas in mir befürchtet, dass er mir nicht gefallen könnte. Schnell stopfe ich den Umschlag in die Tasche zurück und eile dem Ausgang zu. Ich drehe mich nicht mehr um, verharre nur kurz.

»Bon Voyage, l’Amie. Gute Reise«, murmele ich, bevor ich die Tür hinter mir schließe, den Blick deiner Puppenaugen wie ein Brennglas auf der Haut meines Nackens.

Teil 1

Kapitel 1

Brooklyn, WilliamsburgMontagJade Duncan

Im dritten Stock verließ sie den Lift. Drückende Schwüle schlug ihr entgegen. Die Klimaanlage hatte ihren Geist aufgegeben und Jade sehnte sich danach, den schweren, samtenen Jumpsuit gegen Jeans und ein leichtes Shirt zu tauschen. Die Worte der Chefin beim Probewalk drunten im großen Saal hallten ihr noch in den Ohren, und während sie dem Umkleideraum zustrebte, äffte sie Ava Davi kopfwackelnd und augenrollend nach. »Nicht zu viel Körperspannung! Mehr Hüfte, weiche Posings, Schmollmund …«

Jade hätte sich die Lektion in Haute Couture gerne erspart, doch sie hatte sich eine Bemerkung verbissen. Die Erfahrung lehrte: Halt besser die Klappe bei Ava – sonst Krieg.

Sie bohrte die Hände in ihre Hosentaschen, und ihre Finger stießen wieder auf diesen kleinen Umschlag. Sicher eine Nachricht von ihrer Freundin Suzan, die sie gestern Abend wegen eines verpassten Fluges bei der Premiere der Moonshine-Walks hier im Hause würdig vertreten hatte. Aber jetzt war nicht der Moment und sie ließ den Umschlag in ihre Handtasche wandern, um den Brief später in Ruhe zu lesen.

Im Flur herrschte ein Kommen und Gehen. Es waren »Schnuppertage«. Junge Designer nutzten die Gelegenheit, einander persönlich kennenzulernen, und Jade hatte auch schon den einen oder anderen Blogger oder Influencer in Avas heiligen Hallen entdeckt. Versteckt in der Raucherecke zog ein blutjunges Ding eine Line.

Aus der Ankleide trat Jade die altbekannte Geruchsmischung aus Schweiß und Eau de Toilette entgegen. Sie warf ein lockeres Hallo in die Runde. Die feiste Garderobiere Margie Fox, das Tattoo-Model Serah Conally sowie vier Jade unbekannte Mädchen sahen sie an.

»Ist Suzan nicht da?«, wollte sie wissen. Ihr Blick fiel auf die neuen Wandposter von der New Yorker Great Bridal, der Hochzeitsmesse, und einem weiteren von der brünetten Suzan, die Jade, nur in einer etwas jüngeren Variante, verblüffend ähnelte. Sie trug Cocktailkleid und hatte verruchte Smokey Eyes. Fast meinte Jade, den feinen Duft von Chopard Oh la la zu riechen, Suzans Lieblingsparfüm. Sie lächelte von diesem Poster herunter, als wäre sie lebendig und als riefe sie Jade zu: »Nice, dich zu sehen. Wie lange bleibst du und machen wir was Schönes zusammen? Baden? Coney Island?«

Margies Stimme, zusammen mit dem Klingelton von Jades Handy, ließen Jade zusammenzucken.

»Suzan Wickles?« Margie zuckte mit den Schultern. »Hat sich heute noch nicht hier blicken lassen.« Die Brille war ihr auf einer feinen Schweißbahn hinab auf die Nasenspitze gerutscht. Ein Maßband hing um ihren Hals und ein paar bunte Stecknadelköpfe ragten wie winzige Luftballons aus ihrem Mund, sodass Jade ihr Nuscheln kaum verstand. Sie starrte sie einen Moment lang an, wartete, bis das Handy verstummte. Bestimmt war es wieder der Fremde. Er hatte es heute schon zweimal probiert.

»Seltsam«, murmelte sie, mit trockenem Mund und ignorierte Margies fragenden Ausdruck, das Klingeln des Handys betreffend. »Suzan sagte mir noch … ich meine, hat sie nicht gleich noch einen Termin?« Ein Gefühl, dumpf und dunkel, breitete sich in ihr aus, wie eine düstere Ahnung oder – ein tiefes inneres Wissen?

»So ist das mit den jungen Leuten«. Margie bastelte an der kleinen Schleppe von Serahs champagnerfarbenem Kostüm. »Zuverlässigkeit? Spießig. Pünktlichkeit? – Pah!«

Jade, erleichtert über das Verstummen des Handys, trat in eine der Umkleidekabinen. »Die Rede ist hier von Suzan«, schickte sie empört nach draußen in Richtung Margie. Keine war so korrekt wie sie. »Hoffentlich ist sie nicht krank?« Sie merkte selbst, wie ihre Stimme kippte. Sie verließ die Kabine und reichte Margie den babyblauen Jumpsuit zum Lüften. Neben ihr ratschte ein Reißverschluss und Serah, auf einem Hocker sitzend, mit der Fleischmütze als Unterlage für eine Perücke und in ihrem engen Kleid, jammerte.

»Ich werde ersticken in dem Teil.«

»Es ist eine 36, eine Nummer mehr, als du sonst trägst. Soll ich vielleicht Stoff ankleben? Da passen noch ein, zwei Kilo locker rein. Ist doch nichts dran an dir. Wo ist dein Busen, dein Arsch?« Margies rabiate Seite. Aber Serah steckte so etwas weg wie »ein Tütchen Luft« – ihr eigens kreierter Spruch. Probleme existierten nicht und wenn doch, einfach aussitzen, bis sie von selbst verpufften.

»Sag Suzan, ich warte in der Kantine auf sie«. Bevor Jade sich umwandte, warf sie Margie noch einen Luftkuss zu. Serahs Blick mied sie wie der Teufel das Weihwasser. Sie hatte nur beiläufig die neuen Tattoos registriert, die schon bis zur Halskuhle reichten. Kam jetzt das Gesicht an die Reihe, ging das Kunstwerk seiner Vollendung zu? Jade fand ja, dass noch ein Nasenring fehlte. An dem Ava oder Margie sie über den Catwalk führen konnten. Seit sie das Tattoo-Studio leitete, schien sie völlig durchzudrehen, was die Körperbemalung betraf. Serah, ihre um knapp ein Jahr jüngere Schwester.

Jade öffnete die Tür. Die Gören im Hintergrund begannen zu quengeln. Wieso denn die eine unbedingt das rote Kleid tragen müsse, und die andere hätte das schöne blaue? Es passe so gar nicht zu ihrem Haar. Und nein. Eher würde sie in den Hudson gehen, als sich gleich im Salon ihre tolle Mähne in eine verfickte Kurzhaarfrisur umstylen zu lassen. Sie mache sich doch nicht zum Affen! Und so weiter und so fort. Jade war froh, als sie endlich draußen stand.

Ava kam ihr entgegengeeilt, in anthrazitfarbenem Overall aus weicher Mikrofaser, pinkfarbenem Seidenschal und mit falschen Wimpern, Marke extradicht.

»Sie ist weg«, rief sie händeringend aus. »Verschollen.« Sie seien vor einer halben Stunde schon verabredet gewesen. Sie habe überall nach Suzan gesucht, sie sei im ganzen Haus nicht auffindbar.

Erneut wählte Jade Suzans Nummer, verschickte eine SMS – nichts.

»Ihr seid doch befreundet.« Avas Stimme kippte. »Hat sie irgendwas gesagt, eine kleine Verspätung …«

»Tut mir leid.« Jade und Ava starrten einander für eine lange Sekunde an. Sie wussten beide, dass Verspätungen fürs Geschäft tödlich waren. Wie sie auch wussten, dass Suzan nicht der Typ war, der leichtfertig einen wichtigen Termin verpasste.

Und als wäre das nicht genug der Sorge, surrte erneut Jades Handy. Automatisch stieg ihr Puls, als sie das Ding aus der Tasche zog, um es auszuschalten. Sie brauchte gar nicht erst auf das Display zu schauen, sie wusste, wer da anrief: ein schräger Typ namens »Unbekannt«. Der sie auf Schritt und Tritt zu verfolgen und zu beobachten schien.

Ein ganz schreckliches Gefühl stieg in ihr auf: Ungewissheit, gepaart mit Angst. Avas besorgter Gesichtsausdruck, die vermisste Suzan, der Anrufer. Das alles machte etwas mit Jade. »Da ist was Schlimmes passiert«, murmelte sie. Und da hörten sie auch schon die Sirenen.

Kapitel 2

New York/Little Italy

Montag

Paul Stroud

»Schneidet ihm endlich den Schniedel ab!«, rief ihnen noch eine genervte Männerstimme aus einer anderen Wohnungstür hinterher. Dann folgten Bureau Chief Paul Stroud und sein Kollege Craig Murdock dem Mann in dem erdbeerroten Lederslip in sein Wohnzimmer, wo schon sein weibliches Gegenstück in einem schwarzen Body wartete. Handschellen baumelten an seinem Handgelenk und eine Kippe hing halb aufgeraucht in seinem Mundwinkel.

Paul nahm seine Hand vom Holster, in dem die »Smith & Wesson« auf ihren Einsatz wartete. Das hier sah ihm eher nach einem der üblichen, fruchtlosen Einsätze aus, die er von früher kannte. Die Wohnung gab keinerlei Hinweise auf einen »Ehekrach« her, das Wohnzimmer war ordentlich aufgeräumt, in den Schränken und auf den Regalen Nippes und Plastikblumen in Glasvasen. Ein paar Folterwerkzeuge lagen, ordentlich sortiert wie ein OP-Besteck, auf dem Wohnzimmertisch.

»Mister Sower«, sagte er. »Uns liegt Meldung vor über häusliche Gewalt.«

»Unsinn. Wir tun es nie ohne Codewort, ehrlich. Meine Sugar braucht nur ´Aus, Sugar` sagen, und Schicht ist im Schacht.«

Das weibliche der beiden Zuckerstücke, in seinen frühen Vierzigern, nickte heftig, ohne den Blick von Sower zu lassen, und Paul hatte Schwierigkeiten, der glimmenden Kippe auszuweichen, als Sower sich ihm in einer vertraulichen Weise näherte. Scharfer Schweißgeruch stieg Paul in die Nase.

»Ich könnte meinen Arsch verwetten«, geiferte Sower, »dass ich die Petze kenne.« Mit dem gereckten Kinn zeigte er Richtung Hausflur. »Der Alten sollte man’s mal so richtig besorg…«

Ehe er blumig ausschmücken konnte, holte Craig tief Luft und wandte sich an die Frau.

»Mrs Sower?« Paul konnte nur hoffen, dass der Kurze, wie er ihn liebevoll nannte, nicht ausfallend wurde, aber meistens hatte er sich im Griff, und das Motto der New Yorker Polizei lautete schließlich: Höflichkeit, Professionalität, Respekt.

»Bessere Hälfte? So gut wie«, gab Sower an ihrer Stelle Antwort. »Es ist Marybeth. Kommt regelmäßig zum Abendessen vorbei.«

So nannte er das also. Erst jetzt betrachtete Paul sie näher. Die Frau mit dem olivfarbenen Teint sah verhärmt aus. Die lang gezüchteten Haare wuchsen nur spärlich und es fehlte an Glanz, und wo sonst der Eckzahn links oben saß, klaffte ein schwarzes Loch.

Bilder von New Yorks nächtlichen Straßen kamen Paul. Von Menschen, die sich um Tonnen scharten und die Hände über ein wärmendes Feuer hielten. Und er dachte an diese Stadtstreicherin – wie hieß sie noch gleich? Manchmal hatten sie ein paar freundliche Worte gewechselt. Sie hatte ihn angerührt, mit ihren traurigen braunen Augen. Und hatte sie nicht ein Kind? Mit den Jahren hatte er hilflos mit ansehen müssen, wie sie dem Alkohol verfiel. Wie Marybeth verdiente sie sich ein Zubrot durch Hausbesuche. Ob sie noch lebte? … Falls die Leber mitgespielt hatte …

Er merkte, dass er Marybeth anstarrte, und blickte schnell weg, und während Craig eine Notiz in sein Smartphone tippte, die den Sachverhalt seines Einsatzes hier in Stichpunkten festhielt, trat Paul bereits wieder zur Tür. »Kleiner Tipp meinerseits«, sagte er noch. »Künftig auf die Lautstärke achten. Dann klappt’s auch mit den Nachbarn.«

»Leute gibt’s«, murmelte Craig, als sie im Wagen saßen. Paul zuckte mit den Schultern.

»Ich fand die beiden ganz niedlich, im Vergleich zu den Messerstechern und Vergewaltigern.« Delikte, deren Anzahl sich pro Jahr in New York im vierstelligen Bereich bewegte.

»Ehrlich?«, moserte Craig indessen. »Das Zuckerstückchen würde ich nicht mal mit der Beißzange anfassen. Die war doch mindestens vierzig.«

»Merkst du was, Craig? Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich eine Fünfzig gesehen, auf deiner letzten Geburtstagstorte.«

»Bei mir ist das doch …«

»… etwas anderes?«

»Nun fahr schon los«, brummte Craig. »Und mach die Lichter an. Rose wartet.« Und die war süße zwanzig.

Einen Teufel würde Paul tun! Ob Craig die Polizeisirene öfter für seine Zwecke missbrauchte?

»Rose wartet? Spinnst du?«

»Schu-he«, stotterte Craig. »Absatz ab.« Und dann murmelte er irgendetwas von »seine Schuld« und dass er vergessen hätte, das edle Paar Pumps heute Morgen in den Kofferraum zu legen.

»Tussiletten, hm? Knöchelkiller? Craig Murdock!Deine Rose spielt doch schon wieder in einer anderen Liga. Wie wär’s mal mit was Solidem?« Kurz sah er Jade Duncans Gesicht vor sich. Das mit ihnen beiden hatte genauso wenig gepasst. Er schluckte hart. »Noch mal zum Mitschreiben: Du bringst Roses Schuhe zum Schuster? Mit dem Dienstwagen? Mensch Craig, das kann dich deine Marke kosten.«

»Du wirst mich doch nicht verpfeifen? Hey. Warst doch selbst mal ein Cop.«

»Hieß die Kleine nicht gestern noch Mary? Und neulich erst Adeline? Was erzählst du den Frauen? Du wärst der Urenkel von Columbo? Inkognito in der Stadt, und ’ne Villa in Hollywood?«

Ein scharfer Schmerz durchzog Pauls Wange, schlimmer noch als gestern Abend. Sein Weisheitszahn pochte. »Warum tue ich mir das an? Ich könnte längst im Büro sitzen!«

»Weil dein Kühler futsch ist? Weil du deinen alten Kumpel vermisst? Und den Highway?«

Da war etwas Wahres dran. Er sehnte sich nach diesem persönlichen Eingreifenkönnen. Für Gerechtigkeit zu sorgen. Unmittelbar und direkt. Doch das sagte er Craig nicht.

»… Nur kurz ins Büro bringen! War das zu viel verlangt? Stattdessen: zu unchristlicher Zeit aus den Federn und eine neunschwänzige Katze am Morgen«, brummelte er. »Außerdem würde ich aktuell deiner erlauchten Gesellschaft sogar eine Wurzelbehandlung vorziehen«. Er wunderte sich über sich selbst. Anscheinend war er auf Krawall gebürstet. Er schrieb es seinen Schmerzen zu.

Craig sah ihn an. »Klingt verdammt ungesund. Lass uns mal die Plätze wechseln.«

»Was hast du vor?«

»Per Dienstwagen zum Zahnklempner, was sonst«, knurrte Craig, als wäre es derselbe Vorgang wie Roses Schuhreparatur.

Pauls Wange war heiß und pochte, als sie in die 7th Ave einbogen, an deren Ende die Praxis lag. Vor einer Ampel hielt eine junge Frau im rosa Cadillac. Ihr Lächeln erinnerte ihn an Jades. Ihm war zugetragen worden, dass sie gerade in New York weilte.

Das Blinken des Funkgeräts riss Paul aus seinen Gedanken. Was der Kollege der Einsatzzentrale zu melden hatte, machte etwas mit ihm. Ein Schalter legte sich um und er drückte die Aus-Taste. Dann warf er eine Tramadol ein, schon die zweite heute.

»Einsatzort ist Manhattan«, hatte die Funkstimme gesagt und die komplette Adresse genannt, was Paul unwillkürlich elektrisierte.

»Mach dich auf einen knurrenden Magen gefasst, Craig Murdock.« Er schielte zu Craig hinüber. Frühstück fiel definitiv flach, und nicht nur wegen des kranken Zahns. »Und auf Roses schlechte Laune. Könnte dauern heute.«

In dem Fall sprachen sie von Mord.

Paul

Manhattan

9:30 Uhr

»Hier lang, Officers«, sagte die Frau, dürr wie ein Ast, in einem Kleid im Stil der Sechzigerjahre, die sich als Ava Davi, die Eigentümerin des Lofts, vorgestellt hatte. Sie war brünett gefärbt mit grauen Haaransätzen, blass und schmallippig. Paul hatte von ihr gelesen und er wusste, dass Jade ein gern gesehener Gast in ihren berühmten Ateliers war.

»Den Rest des Hauses hat der Verkäufer mir großzügig zur Verfügung gestellt«, so hörte er, »solange sich kein Mieter findet. Aber das meiste spielt sich hier auf der dritten Etage ab.« Hinter seinem Rücken räusperte sich Craig und sagte, geräuschvoll sein Funkgerät verstauend, »die CSI ist unterwegs, Chief.«

»Gute Arbeit, danke, Craig.«

Aus den Augenwinkeln glaubte Paul, eine Gestalt über den Flur huschen zu sehen, schmal, geschmeidig, zielstrebig. Jade? Die Hoffnung starb zuletzt, und er wünschte, dass es so wäre. Dass Jade im Haus wäre. Dass sie lebte.

Er trat in den Hof, wo ihn bleierne Stille empfing. Nur ein frühes Goldzeisigpärchen, das unter dem Vordach der Treppe brütete, protestierte schnatternd bei seinem Erscheinen. Ein Junges saß am Nestrand und flatterte, das Schnäbelchen offen, mit den Flügeln.

»Ein Leben kommt und eines geht«, schoss es Paul durch den Kopf. Unter dem Vordach hervor erfasste er mit einem Blick eine Steinmauer, ein an die Ateliers grenzendes Nebengebäude mit Lagerhalle und unter seiner Dachschräge einige Requisiten, die hier draußen eine Art letzte Ruhestätte gefunden hatten: die Statue eines griechischen Gottes, ein Karussell mit bunt lackierten Pferdchen, ein Pfauenthron aus filigranem Flechtwerk, ein Kleiderständer mit ausgemusterten Schnittteilen, über den eine Plane gezogen war. Eine Hollywoodschaukel.

Sein Blick wanderte weiter, während er die Stufen hinabschritt.

»Es ist gleich hier vorne«, sagte Ava. »Der Hausmeister hat sie entdeckt. Ich hatte Mr Faulkner gebeten, den Hof auszufegen – für ein Shooting, und dann …«

Paul folgte ihr, Schritt um Schritt. Ein blühender Jacarandabaum, geschätzte zehn Meter hoch, dominierte den Innenhof. Irgendwann vor vielen Jahren mochte er als zartes Pflänzchen in ein kleines Erdloch versenkt worden sein und heute durchbohrten seine Wurzeln den Asphalt. Eine Menschentraube stand sprachlos davor.

Pauls Hals wurde eng. Er erkannte die Umrisse einer Frauengestalt, die wie eine skurrile Frucht mit dem leicht nach hinten geneigten Baumstamm verwachsen schien. Er hatte nicht gewagt, nach dem Namen zu fragen. Was, wenn er das tote Mädchen kannte? Wenn es Jade war? Von der Figur her passte es. Dazu eine ähnliche Haarfarbe …

Vor ihm ging Craig und stieß ein ungläubiges »Jesus« aus.

»Bitte, Leute«, hörte er Ava sagen, als er sich, an Craig vorbei, einen Weg durch die Menge bahnte. »Seid doch vernünftig. Geht zurück an die Arbeit.« Sie unterstrich ihre Ansage an die Zuschneider und Näherinnen, die Stylisten und Visagisten, mit einem hektischen Wedeln ihrer Hand.

»Tun Sie, was Misses Davi sagt«, sprang Craig der Chefin zur Seite. »Hier gibt es nichts zu sehen.«

Paul befürchtete doch. Einige der Mitarbeiter zogen ab und eine kleine Schneise entstand zwischen den Schaulustigen, die Paul den Weg zu dem Opfer frei machte.

Nur nebenbei registrierte er den würzigen Blütenduft, der die fast tropische Frühsommerluft schwängerte. Langsam wanderte sein Blick über die am Boden verstreuten Klamotten, aufwärts zu den nackten Beinen des Mädchens, weiter über den Kleidersaum nach oben. Er starrte in ihr Gesicht. Sein Anblick verschlug ihm den Atem, doch ohne, dass er es verhindern konnte, produzierte seine Kehle einen quiekenden Ton. Das hier war nicht Jade, und er schämte sich nicht dafür, dass er Erleichterung empfand.

»Ist es nicht schrecklich?« Ava schluchzte auf und presste die Hand vor den Mund. »Wer tut denn so was?«

»Hübsches Ding«, entfuhr es Craig und aller Augen schauten auf ihn. Ava ließ einen erstickten Laut hören. Paul blickte Craig tadelnd an.

»Eins meiner fähigsten Mädchen. Suzan Wickles«, fuhr Ava fort. »Hatte eine große Karriere vor sich. Sie war erst siebzehn. Nein, achtzehn. Gerade ein paar Tage. Wir wollten groß feiern, alles bis ins Detail geplant … Wird wohl eine Trauerfeier.«

Ein Seil um den Brustbereich verband die Tote mit dem Baumstamm. Zusätzlich waren die Handgelenke mit Tüchern an einem der tief herunterhängenden Äste befestigt. Eine von Strass-Steinen in der Sonne glitzernde Augenmaske, die unpassend zu dem Hochzeitsoutfit wirkte, hing an einem dünnen Gummi um ihren Hals, und um den Mund herum gab es Heftpflasterspuren, was auf eine vonstattengegangene Knebelung hinwies, die später wieder rückgängig gemacht worden war. Wahrscheinlich aus dem Grund, weil das Mädchen gewürgt und sich erbrochen hatte. Spuren von Mageninhalt auf ihrem weißen Kleid zeugten davon.

Der Kopf war auf ihre Brust gesunken und eine Haarsträhne hing ihr wirr wie ein Spinnennetz in die Stirn. Etwas Schwarzes klebte an ihrer Hüfte. Sah bei näherem Betrachten aus wie der Saugrüssel eines Falters.

»Gott, was für ein Baby!«, ging es Paul durch den Kopf. Ihr Schmollmund schien eben noch sagen zu wollen: »Ich will nach Hause, zu meiner Mom«. Was hatte Ava Davi erzählt? Gerade mal achtzehn? Kein gutes Alter, um mutterseelenallein um die Welt zu reisen. Um ständig auf Diät zu sein.

Um zu sterben.

Leichenflecke waren sichtbar, vor allem an den Beinen.

»Drei Messerstiche in der Herzgegend«, stellte Craig fest. »zentimetertief. Akkurat gesetzter Abstand. Messer – oder Dolch? Könnten symbolischen Charakter haben.«

Paul nickte. Um die Wunde herum sprossen rote Flecke auf dem Kleid wie ein Tintenbild. Auch aus Suzans Mund rann ein Faden bereits geronnenen Blutes, woraus Paul schloss, dass sie schon einige Stunden als Leiche hier draußen verbracht hatte.

Die Hitze des Tages staute sich innerhalb der Mauern und Paul tupfte sich mit einem Zipfel seines Taschentuchs den Schweiß von der Stirn. In seiner Hosentasche fand er zwei Paar Vinylhandschuhe, die er vorhin dem Handschuhfach des Streifenwagens entnommen hatte. Routiniert zog er sie über, unterdessen Craig erneut an die Vernunft einiger Hartnäckiger appellierte, doch bitte die Polizei ihre Arbeit machen zu lassen und freundlichst das Feld zu räumen.

»Wissen Sie, wir sind sonst wenig bis gar nicht hier draußen«. Ava flüsterte fast. »Die Hoftür ist abgeschlossen. Die meisten Fotografen, mit denen ich zusammenarbeite, bevorzugen unser hauseigenes Fotostudio. Dabei sind die Lichtverhältnisse ideal. Und jetzt, wo der Baum so schön blüht … ein toller Hintergrund für ein besonderes Shooting.«

Sie zog ebenfalls ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich kräftig. Pauls Hände begannen in den sterilen Handschuhen zu schwitzen, während er vorsichtig die Leiter nach Spuren abtastete. Er meinte, vorhin einen ganz bestimmten Namen eines Fotografen aus Avas Mund gehört zu haben. Klar und deutlich stand Joe Wisemans Visage vor ihm: der Typ, der einfach die älteren Rechte gehabt und damals Jade frisch von der Uni weg entführt hatte. War der Wahl-New-Yorker hier vor Ort?

»Das geplante Shooting im Hof war also die berühmte Ausnahme?«, spann Paul den Faden weiter und fixierte Ava dabei. Ob dieser Ort unter freiem Himmel eine besondere Rolle bei der Tat gespielt hatte?

»Kommt nicht alle Tage vor«, antwortete Ava, »dass meine drei Besten … im Gesamtpaket …«

»Die da wären?«

»Suzan Wickles, Jade Duncan und Serah Conally. Letztere im Übrigen Jade Duncans Schwester.«

Paul nickte abwesend. Serah Duncan, wie sie damals noch hieß, hatte Jade ein paarmal von der Uni abgeholt, er erinnerte sich dunkel an sie: sehr dünn, sehr schüchtern und sehr korrekt in ihrer Art, in Richtung »verkniffen«. Ob das heute noch so war? Manchmal drehten sich Leute im Laufe ihres Lebens um hundertachtzig Grad – nicht nur rein äußerlich. Der schüchterne Lockenkopf, der viel zu lange an Moms Rockzipfel hing, wurde zum glatzköpfigen Draufgänger und die Rebellin, die auf jeder Demo gegen alles und jeden zu finden war, heiratete ganz spießig und kaufte ein Häuschen im Grünen. Serah, das war ihm noch präsent, hatte eine Ausbildung als Krankenschwester am Mount Sinai Hospital, unweit der Uni, absolviert. Dass sie Model geworden war, war ihm neu.

»Serah Conally«, wiederholte er. »Verheiratet?«

»Witwe. Ihr Mann, Marc Conally ist leider sehr jung und ganz tragisch verstorben. Lebensmittelvergiftung.«

Paul wechselte einen Blick mit Craig. Ava fuhr fort.

»Serah führt sein Tattoostudio weiter. Ziemlich erfolgreich, wie man so hört. Hier in New York.« Das erstaunte ihn dann doch. »Das heißt, das Modeln ist nicht ihr Hauptgeschäft.«

Paul reizte es, die Leiter hochzusteigen zu dem toten Mädchen und den Tatort aus anderer Perspektive zu betrachten. Er unterließ es, um nicht unnötig Spuren zu verwischen. Inzwischen badeten seine Hände im eigenen Saft und er fragte sich, wann endlich die nächste Ladung schweißabweisenden Labormaterials in der Zentrale eintraf.

Ava nickte. »Hin und wieder werden Tattoo-Models gebucht. Momentan brauche ich sie aber für einen speziellen Kunden, der früher mal Hochzeitsmessen betreute. Er war bei dem Walk damals ganz vernarrt in mein Trio. Sie hätten so was Geheimnisvolles und Mystisches.«

»Sie meinen Suzan, Serah und Jade?«

»Damals war es ein ganz besonderes Trio. Suzan lag mit Grippe flach. Flynn Duncan sprang kurzfristig ein. Das ist der Bruder der Duncan-Frauen. Als Bräutigam passte er gut ins Bild. Er ist ja ein schmucker Kerl und die Rolle des Models war ihm total auf den Leib geschrieben. Leider blieb sein Walk die absolute Ausnahme.«

»Das Shooting im Hof«, kam Paul wieder zum aktuellen Geschehen. »Wer war der Auftraggeber?«

Ava schniefte. »Sie kennen sicher die Zeitschrift »Pure«? Derzeit marktführend in Sachen Fashion.«

Paul sah Craig etwas hilflos an, doch da geriet er an den Falschen. Mit Mode hatte der wenig Kontakt, er verließ sich, was sein Outfit betraf, wohl auf den Ratschlag seiner jeweiligen Flamme, und auch Pauls Beschäftigung mit dem Thema beschränkte sich auf die dringend notwendigen Einkäufe.

»Ähm – ´Pure`. Klar. Hätten Sie die Kontaktdaten für mich?«

Ava händigte ihm eine Visitenkarte aus, die er in seiner Brieftasche verstaute. Nur langsam ging sein Blick wieder zu der Toten, und er entschloss sich, ein paar Fotos zu schießen: von Suzan und ihren klaffenden Wunden wie roten Mündern. Von der kleinen, noch leicht glänzenden Lache aus Blut und Urin auf dem Boden, auf der heruntergefallene Blüten thronten. Außerdem von den Utensilien, die hier so herumstanden und von dem Schmetterlingsrüssel auf Suzans Kleid. Jedes ungewöhnliche Detail versuchte er einzufangen. Zuletzt kniete er vor der Toten nieder und fotografierte ihr Gesicht aus der Froschperspektive. Die blicklosen Augen waren zur Hälfte geöffnet. Ihr Licht mochte im Moment der bittersten Verzweiflung erloschen sein. Sie schienen noch einen bestimmten Punkt zu fixieren. Die Visage des Mörders?

Am Eingang tat sich etwas. Detective Mel Stanton betrat die Szene: verwaschenes Blond, wacher Blick und, wie die Zusammenarbeit der letzten fünf Jahre bewies, körperlich fit und wendig und von scharfem Verstand.

Paul und Mel begrüßten einander per Handschlag. Unter Avas leeren Blicken trat der Detective zur Leiche. Ihm dicht auf dem Fuß folgte der Ermittlertrupp: mehrere Männer und eine Frau vom CSI, in ihren hellen Schutzanzügen und mit den Spurensicherungskoffern. Ein Kollege gesellte sich zu Paul, Craig und Ava, und stellte die nötigen Fragen, während ein Mitarbeiter Skizzen anfertigte und ein weiterer nach unentdeckten Blutspuren suchte für die Blutspurenanalysten. Ein Dritter sicherte Fingerabdrücke mittels Rußpulver und Klebefolie.

Ermittlerin Winnie Lovett, Ende vierzig und eine Figur wie eine Vorpubertäre, nickte Paul knapp zu, bevor sie etliche Fotos vom Fundort und von der Leiche knipste. Noch vor Weihnachten letztes Jahr hatte Winnie ihm Avancen gemacht, doch er konnte ihrer zynischen Art nicht viel abgewinnen.

Mel Stanton trat zu Paul, der nun mit Craig ein Stück abseits des Tatorts stand und die Tote aus ein paar Schritten Entfernung betrachtete. Manchmal verhalf ein neuer Blickwinkel zu neuen Erkenntnissen. Paul überragte Stanton um mindestens einen Kopf. Er hatte ihn größer in Erinnerung.

»Hi Paul«, meinte der. »Kann nicht sagen, dass ich mich freue, dich heute zu sehen. Was verschlägt dich in die Gegend?«

Paul legte den Arm um Craigs Schultern. »Mein lieber Freund Craig hier. Sehnsucht nach den alten Zeiten, stimmt’s, Craig? Und Zahnweh.« Vorsichtig befühlte er bei der Gelegenheit seine Wange – alles schien gut. Stanton schob fragend die Augenbrauen zusammen.

»Und natürlich das Mädchen«, fügte Paul rasch hinzu. »Böse Sache. Hätte mir meinen Tag anders gewünscht.« Ava neben ihm schniefte erneut in ihr Taschentuch. Stanton atmete zischend aus.

»Es gibt so Zeiten …« Mit einem Seufzer brach er ab. Paul vollendete den Satz in Gedanken. … Zeiten, in denen man seinen Job als Ermittler verfluchte.

»Wer hat das Mädchen gefunden?« Stanton blickte in die Runde.

»Es war der Hausmeister, Mr Faulkner«, erwiderte Ava. »Er sagt, er kann sich keinen Reim darauf machen, wie sie nach draußen gelangt ist. Vorder- und Hintertür der Halle waren sorgfältig abgeschlossen. Und nur Mr Faulkner und ich haben einen Schlüssel.« Sie zog einen Schlüsselbund aus ihrer Rocktasche und hielt ihn den Beamten unter die Nase. Das hieß, der Täter musste sich hinter Avas Rücken einen Schlüssel verschafft haben.

»Ah, da ist ja Mr Faulkner!«, rief Ava aus und deutete auf den Mann mittleren Alters mit ausgeprägter Stirnglatze, der soeben zu ihnen trat. Er sah seine Chefin nicht an, als er sich den Beamten mit seinem Namen vorstellte.

»Bin noch mal in mich gegangen«, sagte er kleinlaut zu Paul. »Kleiner Nachtrag zum Thema Schlüssel. Ist schon einige Wochen her – also die Sache ist die: Margie hat jetzt auch einen.«

»Margie Fox, die Garderobiere?«

»Genau. Sie bringt manchmal Sachen zum Lüften raus. Sie glauben gar nicht, wie die Frau nerven kann: ´Wenn man Sie braucht, Faulkner, sind Sie verschollen. Wo treiben Sie sich bloß ständig herum? Vermieten Sie ihr Büro doch unter!` Was soll ich sagen? Seither ist Ruhe.«

»Sie haben – was? Faulkner! Ich glaube, ich höre nicht recht. Ohne es mit mir zu besprechen? Das gibt eine saftige Abmahnung, ist Ihnen das klar?«

Pauls Blicke flogen von Faulkner zu Ava. Es war ganz sicher eine gute Idee, die beiden Streithähne zügig zu trennen. Sollten sie doch später ihren Kleinkrieg unter vier Augen austragen. Die Art und Weise, wie sie miteinander umgingen, überzeugte ihn davon, dass zwischen Chefin und Mitarbeitern nicht immer eitel Sonnenschein herrschen dürfte. Wie hatte Ava wohl menschlich zu Suzan Wickles gestanden?

»Danke, Mr Faulkner, wir kommen dann später auf Sie zurück.« Stanton nahm Paul das Wort aus dem Mund. Faulkner sowie vor allem die festen Mitarbeiter von Ava Davi würden in diesen Tagen noch ein ausführliches Interview mit der Polizei haben, ob in den Ateliers oder auf der Dienststelle.

Die Leute waren in die Häuser gegangen und hatten Suzan ihrem letzten Date mit den Ermittlern überlassen. Paul, Craig und Ava waren Stanton zurück an den Tatort gefolgt.

»Miss Wickles Blut konzentriert sich auf sehr begrenzte Bereiche«, stellte Stanton fest, mit einer halbkreisförmigen, das Opfer und den Baum umfassenden Bewegung seiner Arme.

Paul nickte. »Die Messerattacke als Todesursache schließe ich aus. Das Wesentliche dürfte sich direkt hier an Ort und Stelle abgespielt haben.« Still betrachtete er die Tote. »Wahrscheinlich hat der Kerl sie bedroht, mit dem Dolch. Sie haben zusammen den Hof betreten. Oder war das Opfer vorher schon da? Das Mädchen musst noch gelebt haben, als der Kerl mit dem Dolch …« Aber das wollte er sich noch nicht einmal ansatzweise vorstellen. Endlich entledigte er sich der Handschuhe und ließ frische Luft an seine Haut.

»Was macht dich da so sicher?«, klinkte Craig sich ein.

Paul deutete auf den kleinen roten Fleck direkt unterhalb des Mädchens. »Sie hat kein Blut im restlichen Hof verloren, und sobald das Herz stillsteht, hört der Blutfluss auf. Ich wundere mich nur … Außer ein paar kleineren Blutergüssen an den Armen sind kaum Kampfspuren zu erkennen.« Der eine oder andere Zweig in der näheren Umgebung der Leiche war abgebrochen, doch das war es dann auch schon, was auf ein Gefecht hindeuten mochte.

Craig nickte. »Könnte auf eine Sedierung vor dem Tod hinweisen«, ergänzte er Pauls scharfsinnige Kombinationen. Paul nickte grimmig. Das hoffte er.

»Die Platzwunde seitlich am Kopf?«, fragte Craig.

»Womöglich ein Sturz, in letzter Sekunde. Aber warten wir den Bericht des Coroners ab.«

»Eins steht fest: Der Täter hat ein Faible für Theatralik«, meinte Stanton und in der Tat sah das Ganze aus wie die bühnenreife Inszenierung eines Thrillers. Der in diesem Hinterhof seinen Anfang genommen hatte. Suzan Wickles Teint schimmerte bleich im Sonnenlicht hinter blütenübersäten, doch noch blattlosen Zweigen des Jacarandas. Selbst jetzt, dachte Paul bitter, brauchte das Mädchen die Kamera nicht zu scheuen. Er wünschte, es wäre so, und Suzan gäbe nur die hübsche Leiche für »CSI New York« ab. Leider war das hier echt.

Stanton suchte Pauls Blick. »Ich teile deine Theorie. Sie muss noch gelebt haben, als der Kerl zustach.«

Erst als Ava aufstöhnte, wurde Paul klar, was sie angerichtet hatten. Ava war definitiv keine Kandidatin für die deutlichen Dienstgespräche. Ruhig, sachlich und diskret bleiben, egal was kommt. So wenig wie möglich preisgeben und nach außen dringen lassen. Die Basics lernte man früh im Beruf. Darin enthalten war bei Befolgung ein gewisser Eigenschutz vor den unberechenbaren Emotionen der Leute.

»Craig, würdest du bitte?«

»Klar, Chief. Kommen Sie, Mrs Davi, wir gehen schon mal rein.«

»He Boss?«, rief einer der jüngeren Ermittler von der anderen Baumseite her. »Ich hab da was für Sie.« Automatisch drehte Paul sich zu ihm um, nur um festzustellen: Er war gar nicht gemeint. Er spielte nicht mehr in dieser Liga, die Zeit als Detective war lange vorbei und er zum Bürohengst mutiert, zu einem, dem man die Fälle in schriftlicher und digitaler Form unterbreitete. Es stimmte, was Craig sagte. Man lebte weniger gefährlich. Doch im Grunde seines Herzens war Paul der Macher geblieben. Auch wenn er nur zufällig in die Sache hier hineingeschlittert war: Wie konnte er stillhalten und darauf warten, dass andere den Job erledigten, Beweismittel sicherstellten, Puzzleteil für Puzzleteil aneinanderfügten und den Täter dingfest machten?

Dass er in der Chefetage saß, lag nur an den Frauen. An Jade, die schon zu Uni-Zeiten nichts mehr von ihm hatte wissen wollen, sodass er sich neben belanglosen Frauengeschichten in die Arbeit gestürzt hatte. An seinem verstorbenen Töchterchen Florina, dem er ein besseres Leben hatte bieten wollen, als er es in seiner kargen Kindheit in Minnesota gehabt hatte. An seiner Ehefrau Mia, die der Kaufsucht erlegen gewesen war, gern schöne Kleider getragen, Gäste eingeladen und das Haus mit hübschen Dingen ausgeschmückt hatte, um die Tatsache zu verdrängen, auf welch dünnem Eis sich ein einfacher Cop wie Paul bewegte. Dass jeden Tag und jeden unbedachten Moment irgendein Irrer ein Messer zücken konnte …

»Ich muss dann«, sagte Stanton. »Halt die Ohren steif, Paul! Mrs Davi, Officer!«

Paul warf einen letzten Blick auf Suzan, um sich danach ebenfalls in Richtung Ausgang zu wenden und das Einsatzteam seine Arbeit machen zu lassen. Mehrere Männer waren mit der Bergung der Leiche mittels einer Bahre beschäftigt. Ein jäher Windzug ließ blau-lila Blüten auf ihr Haar regnen. Die Szene hatte etwas kindlich Verspieltes und gleichzeitig bot Suzan ein Bild des Schreckens und der maßlosen Grausamkeit.

Im Nest unter dem Vordach suchte er beim Verlassen des Hofes nach dem Goldzeisigjungen. Er hatte kein Glück. Das niedliche Ding hatte inzwischen wohl seine Flügel entdeckt.

Kapitel 3

Manhattan

Jade

9:00 Uhr

Vom Treppenhaus her kamen Stimmen auf, laut und erregt. Jade und Ava folgten ihnen in Windeseile und fanden sich gleich darauf im Erdgeschoss wieder. Feueralarm fegte durch die Flure wie ein wild gewordener Drache.

»Was verflucht …« Jade blieb keuchend stehen. Ava war hinausgeeilt, um mit den Feuerwehrleuten zu reden. Sich zitternd am Treppengeländer festhaltend, starrte Jade durch die Scheiben auf den Vorplatz. Zwei Einsatzwagen standen dort und irgendwo musste es brennen. Doch Jade sah nicht das geringste Flämmchen.

Zwei Mädchen rannten an ihr vorüber. »Endlich mal was los in dem öden Kasten«, sagte die eine ganz aufgeregt zur anderen. Jade aber schloss die Augen, um ruhigeren Atem bemüht.

Vermutlich hatte keiner von diesen Leuten hier je einen Brand hautnah miterlebt. Sie hatten ja keine Ahnung, was es mit einem machte, vor haushoch lodernden Flammen zu stehen, beißenden Rauch in den Lungen, Angst um sein nacktes kleines Leben.

Es gelang ihr nicht, die Bilder von damals zu vertreiben. Ihre Nanny und ihr eigener Vater, den sie liebevoll Daddy-one nannte, waren in einer lauen Sommernacht bei lebendigem Leibe verbrannt, als Jade fünf Jahre alt gewesen war. Damit war sie zur Vollwaise geworden, denn Mom war bereits kurz nach Serahs Geburt für immer gegangen.

Sie sah ihren Bruder Flynn und seinen Freund Joe aus der Nachbarschaft, Serah und sich selbst vor sich, das unzertrennliche Kleeblatt des Viertels. In den weit aufgerissenen Augen der Mädchen das lichterloh brennende Abbild der katholischen Kirche St. Ignatius Loyola. Und sie hörte noch ihre eigenen verzweifelten Rufe. »Daddy! … Dada! …« So hatte sie ihre Nanny, Dara, genannt. Wie sie ausgesehen hatte, das war eines der wenigen Dinge, an die sie sich deutlich erinnerte: braune Augen, braunes Haar und ein olivfarbener Teint, fast so dunkel wie Jades Ankleidepuppe.

Der Alarmton stoppte. »Was ist denn passiert?«, fragte Jade ein Mädchen, das von draußen hereinkam. Ihre Knie zitterten immer noch.

»Sie haben … irgendwas mit Suzan Wickles … ehrlich? Keine Ahnung. Jemand hat wohl den Alarmknopf gedrückt.«

Jade spürte ihr Herz bis zum Hals schlagen. »Kein Feuer?« Das Mädchen zuckte mit den Schultern und ging weiter. Selbst von Brandgeruch war keine Spur, auch wenn seit Wochen derartige Trockenheit und Hitze herrschten, dass man auf den Kühlerhauben Spiegeleier braten konnte.

Aber … und das drang erst jetzt zu ihr vor: Was hatte das Mädchen gesagt – mit Suzan sei etwas passiert? Jade spürte, wie ihr Hals eng und ihre Hände kalt wurden. Zwei Feuerwehrleute bewegten sich Richtung Hauseingang, und Ava kehrte mit ihnen, kreidebleich, ins Gebäude zurück. Sie sah Jade nicht in die Augen, als sie an ihr vorüberging.

»Ähm, Jadie … für dich gibt’s hier heute nichts mehr zu tun«, murmelte sie, mit dem Blick krampfhaft am Boden. »Fahr nach Hause. Wir telefonieren.« Sie konnte Jade nichts vormachen. Ihre monotone Stimme … und Suzan … was war hier los?

»Wohin gehst du?«, wollte sie wissen und heftete sich Ava und den Männern frech an die Fersen.

»Verschwinde, Jade!« Wenn Ava unter Druck war, konnte sie irgendwie … gewöhnlich werden.

»Einen Teufel werd ich! Rede mit mir! Was ist mit Suzan?«

»Ist wirklich kein schöner Anblick«, warnte Ava sie noch, aber dann gab sie, selbst reichlich genervt, den Widerstand auf und ließ es geschehen, dass Jade ihr in den Innenhof folgte.

9:10 Uhr

Die plötzliche Konfrontation raubte ihr fast den Verstand. Für einen Moment schwankte sie und war einer Ohnmacht nahe. Zwei Schritte vor Suzans Leiche war sie wie angewurzelt stehen geblieben, weil sie Angst hatte, sie zu berühren oder ihrem starren Blick hautnah zu begegnen. Weil ihr das vielleicht die letzte Hoffnung nahm, dass das hier nur ein böser Traum sein könnte.

Jade merkte, wie wieder ein Zittern durch ihren Körper ging und sie schlug die Hände vor das Gesicht. Gestern noch, am Telefon, hatte Suzans freches Mundwerk nicht stillgestanden. Doch je länger Jade da stand, desto stärker drang die Wahrheit zu ihr vor. Suzans Schweigen hatte so etwas verdammt Endgültiges. Es machte Jade betroffen, dann traurig, dann wütend. So wütend, dass sie sie am liebsten bei den Schultern gepackt und »Hör-auf-mit-dem-Quatsch-das-ist-nicht-lustig« zu ihr gesagt hätte. Aber da stand schon Ava hinter ihr.