Raben vergessen nicht - Christine Bendik - E-Book

Raben vergessen nicht E-Book

Christine Bendik

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Beschreibung

"Seine Gestalt hob sich wie ein Scherenschnitt vor dem schwarzgelben Hintergrund ab. Mit einer Hand hielt er sich am Mastgestänge fest, mit der anderen Hand winkte er, drehte sich zu unserer Erleichterung um und schien absteigen zu wollen. Plötzlich waren sie da, die schwarzen Vögel." Der Geschichtenband "Raben vergessen nicht" spannt einen Bogen von Krimi und Thrill bis Romantik und entführt den Leser auf eine spannende Reise in die Welt menschlicher Abgründe. Zwischen Frankfurt und Afrika ringen in den fünfzehn Storys - wie im richtigen Leben - Menschen um Liebe, Freundschaft und Glück.

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Dieses Werk ist ein Werk reiner Fiktion. Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind unbeabsichtigt und rein zufällig.

Inhalt

Raben vergessen nicht

Wilde Wichtelweiber

Brigitte will nicht auf den Westerwald

Komplementärfarben

In der Falle

Allein unter Wölfen

Gefangen

...

weil unsre Augen sie nicht sehn!

Das Verhör

Otto hat Hunger

Warte im Phillies auf mich

Für Schwiegersö(h)ne verboten!

Agoraphobie

Skandal um Susi

Flamingos im Okavango-Delta

Raben vergessen nicht

Ein Junge will anerkannt werden und klettert auf einen Hochspannungsmast. Doch er hat nicht mit der Rache der Raben gerechnet.

Wilde Wichtelweiber

„Die meisten Leut sterben an Weihnachten“. Krankenschwester Anja traut der Statistik nicht und geht dem Sterben in der Klinik auf den Grund.

Brigitte will nicht auf den Westerwald

Brigitte betet, dass sie ihre Verwandten nicht besuchen muss. Doch ihre Eltern bestehen auf ihrer Teilnahme. Die Ereignisse auf dem Hof werden sie auf ewig mit Schuldgefühlen belasten.

Komplementärfarben

Iris wagt nicht, ihrer Erbtante zu beichten, dass ihr die teuren Geschenke nicht gefallen. Als die Tante ins Pflegeheim muss, verkauft sie das meiste. Bei der Testamentseröffnung erlebt sie eine Überraschung.

In der Falle

Forstrat Münst erwischt einen Wilderer und muss eine Entscheidung treffen, die seine Zukunft bestimmen wird. Doch es kommt etwas dazwischen und macht seine Pläne zunichte.

Allein unter Wölfen

Model Seanna fürchtet sich vor den Menschen und verkriecht sich in ihrer Wohnung. Das Auftauchen eines alten Freundes sorgt für eine Wende in ihrem Leben.

Gefangen

Rosi verirrt sich in einem Kellergang und trifft eine alte Bekannte wieder. Wird sie ihr helfen, den richtigen Ausgang zu finden?

…weil unsre Augen sie nicht sehn!

Nach einer Gewalttat wird ein Schüler von einer Psychologin befragt. Im Gegensatz zu den Lehrern erkennt sie die Not, die ihn zum Täter werden ließ, und verhält sich unprofessionell.

Das Verhör

Kriminaloberkommissarin Birgit Mühlberg verhört Helen, die verdächtigt wird, 4 Babys umgebracht zu haben. Sie will die Motive verstehen, doch Helen weigert sich, ihre Beweggründe zu nennen. Als sie endlich mit der Wahrheit herausrückt, trifft Birgit eine Entscheidung, die ihr eigenes Leben verändern wird.

Otto hat Hunger

Seit Stunden sitzt Kay am Fenster. Doch seine Frau Leni lässt sich Zeit mit dem Wochenend-Einkauf. Was wäre, wenn sie nicht wiederkäme?

Warte im Phillies auf mich

Simone landet spät in der Nacht auf einem verlassenen Bahnhofsvorplatz. Keine Spur von ihrem Mann, der sie abholen wollte. Bevor sie Schutz im Phillies suchen kann, schließt das Lokal, die Lichter verlöschen, und sie steht allein in der Dunkelheit.

Für Schwiegersö(h)ne verboten

Hannos Opa hat für sich und seine beiden Enkel ein Refugium erschaffen, das ein Geheimnis birgt, welches nach seinem plötzlichen Tod zu einer Katastrophe führt.

Agoraphobie

Eine Frau hat ein Trauma erlebt. Sie überwindet sich, an den Platz des Geschehens zurückzukehren. Sie wird ihre Ängste für immer hinter sich lassen.

Skandal um Susi

Manchmal genügt ein Telefonat, um zwischen Freundinnen Zwietracht zu säen.

Flamingos im Okavango-Delta

Julia pflegt seit Jahren ihren Vater. Völlig überlastet bittet sie ihre Brüder um Unterstützung. Als diese sie im Stich lassen, trifft sie eine Entscheidung.

Katie Schweitzer

Raben vergessen nicht

„Guck mal, Jutta, ein Elefant.“

Mein Blick folgte Connys ausgestrecktem Finger zu den Wolken, die sich wie Schlagsahne am Himmel aufplusterten.

„Und die Wolke dahinter sieht aus wie ein Jäger mit Gewehr.“ Ich grub meinen Kopf wieder in Connys Armbeuge und atmete seinen Geruch nach Sonnencreme, Schweiß und Sex tief ein.

Ein sonnenwarmer Wind schaukelte die Wolkenbilder am Himmel entlang und föhnte Gold- und Silbertöne in die Weizenfelder und Wiesen, die sich vor uns erstreckten. Wir lagen am Waldrand Haut an Haut auf einer Decke im Schatten der Bäume. In der Ferne grummelte ein Donner. Hummeln und Bienen summten durch die nachmittägliche Hitze, rasteten auf einer Blüte und waren von neuem unterwegs. Die Luft vibrierte. Sie war erfüllt vom Rauschen in den Baumwipfeln, dem Zirpen der Grillen und dem Knistern der Stromleitungen hoch über uns, auf denen eine Schwalbenschar ihre Reiseroute diskutierte.

Mir war elend zumute, denn es war unser letzter Tag, morgen würde Conny weit weg von mir seinen Zivildienst antreten.

„Bleib mir treu“, flüsterte er dicht an meinem Ohr. „Ich bin schneller wieder da, als du denkst. Ganz bestimmt.“

Als hätte sie jemand aufgescheucht, flatterten mehrere Raben wild krächzend himmelwärts, tobten um den Hochspannungsmast wenige Meter neben uns, erschreckten die Schwalben und schossen im Sturzflug zurück in den Wald, wo sie noch eine Weile krakelten. Die Schwalben nahmen nach einigem Hin und Her ihre Sitzplätze wieder ein und setzten ihr Palaver fort.

Jedes Mal wenn ich an jenen Sommertag mit Conny denke, stiehlt sich eine andere Jungengestalt in meine Erinnerung.

Philipp hieß er. Philipp Meister. In der Schule nannten wir ihn Fipps nach dem boshaften Affen in Wilhelm Buschs Bildergeschichte. Hatte er uns Mädchen in den ersten Schuljahren gekniffen und an den Haaren gezogen, zischelte er uns inzwischen Ferkeleien zu oder kam von hinten und fasste uns an die Brüste. Wir hassten ihn, wünschten Jahr für Jahr, dass er rausgeschmissen würde oder zumindest sitzen bliebe, doch es sah so aus, als würden wir im nächsten Sommer gemeinsam den Abschluss machen.

Jetzt schob sich sein Schatten über uns. Seine Beine mit den knochigen Knien begannen in zerfransten Shorts und endeten in ausgetretenen Turnschuhen. Aus einem hellgrünen T-Shirt stachen seine mageren Arme hervor. Seine Stimme triefte vor Hohn, als er fragte:

„Wenn ich verspreche, nicht zu verraten, dass ihr’s miteinander treibt, lasst ihr mich dann mitmachen?“

„Hau bloß ab!“, knurrte Conny und zog sich sein Handtuch über den Sccchoß.

Ich drehte mich auf den Bauch, und obwohl ich wusste, dass Fipps gegen Zurückweisungen immun war, versuchte ich, ihn zu ignorieren. Er baute sich vor uns auf, in einer Hand schwenkte er einen Rabenkadaver.

„Hier, hab ich geschossen!“

„Igitt!“ Ich warf mich zur Seite und wollte weglaufen. Conny hielt mich fest, wickelte mich in mein Handtuch und legte seinen Arm um meine Schultern.

„Angeber!“, sagte er, „du hast doch gar kein Gewehr.“

„Aber das hier!“ Mit der anderen Hand angelte Fipps einen Zwillich aus der Hosentasche und hielt ihn Conny hin. „Die Kiesel flutschen wie geschmiert, willst du mal?“

Ich lachte verächtlich: „Du schießt mit Sicherheit daneben. Nicht mal einen Ball kannst du fangen, und wenn du an die Tafel schreibst, bricht jedes Mal die Kreide ab.“

Fipps beugte sich zu mir herunter, so weit, dass ich seinen unangenehmen Atem roch.

„Kann ich wohl. Soll ich vormachen?“

„Ja, ja, schieß doch eine Schwalbe von der Stromleitung“, schlug Conny vor und nagte an einem Blatt Sauerampfer. Fipps’ Blick wanderte am Hochspannungsmast hinauf und blieb an der Vogelschar hängen.

„Die sind zu weit weg.“

„Dann kletter’ doch hoch“, forderte ich ihn auf, fest davon überzeugt, dass er es nicht wagen würde.

„Und? Krieg ich dann was von eurem Vesper ab?“ Er zeigte auf meinen Rucksack.

Ich nickte. Widerwillig. Wir würden ja sehen!

Er ließ den Kadaver fallen, steckte den Zwillich in den Hosenbund, erklomm den Betonfuß des Mastes, griff in die Streben und begann, im Innern des Metallgiganten hochzuklettern.

„Hej!“, protestierte Conny, „das ist verboten. Mach keinen Scheiß!“

Eine Windbö zerriss seine Worte. Vermutlich hatte Fipps sie nicht gehört, denn er kletterte weiter.

Ich formte meine Hände zu einem Trichter. „Philipp, lass das!“

Fipps wand sich zwischen zwei Eisenstangen hindurch auf die Außenseite des Mastes und kletterte Strebe für Strebe nach oben. Mit Herzklopfen sah ich zu, wie sich der Abstand zwischen ihm und den Stromleitungen verringerte. Conny neben mir atmete heftig.

Zu spät nahmen wir die drohenden Wolkenmassen wahr, die hinter dem Wald hervorgequollen waren und nun die Sonne verdunkelten. Der Wind war stärker geworden. Er orgelte im Wald, zauste die Baumwipfel, riss Blätter und kleine Äste ab und peitschte mir die Haare vor die Augen. Angst kroch in mir hoch, ich begann zu frösteln. Wieder versuchte ich, Fipps durch Rufe zu erreichen:

„Komm runter! Die Vögel sind weg.“

Er reagierte nicht. Conny und ich schrien gemeinsam:

„Phi-lipp, komm runter!“

Er hielt an. Gott sei Dank! Jetzt würde er den Rückzug antreten.

Stattdessen schaute er nach oben zu den Querverstrebungen mit den anmontierten Leitungen. Noch einen Schritt höher, und er hatte den Ausleger erreicht. Er setzte einen Fuß darauf. Wie in Zeitlupe zog er den zweiten nach.

„Er ist total verrückt, der Idiot“, keuchte Conny. Ich biss mir auf die Lippen, bis ich Blut schmeckte.

Fipps stand jetzt auf einem waagerechten Eisenträger. Seine Gestalt hob sich wie ein Scherenschnitt vor dem schwarzgelben Hintergrund ab. Mit einer Hand hielt er sich am Mastgestänge fest, mit der anderen Hand winkte er, drehte sich zu unserer Erleichterung um und schien absteigen zu wollen.

Plötzlich waren sie da, die schwarzen Vögel. Drei oder vier waren es, die auf Fipps zuschossen, ihn umkreisten, ihn angriffen, wieder und wieder. Mit einer Hand schlug er nach ihnen - ohne Erfolg. Einer der Vögel setzte sich auf seinen Kopf, hieb auf ihn ein. Fipps schwankte, ein Fuß trat ins Leere, seine Hand rutschte vom Gestänge ab.

In diesem Moment zerhackte ein Blitz die schwefelfarbene Finsternis und ließ den Mast silbern aufleuchten. Das Krachen des Donners durchschüttelte uns. Sturmböen rüttelten an den Stromleitungen, mittendrin Fipps. Er fand keinen Halt, ruderte mit den Armen und stürzte in die Leitungen. Ein grellblauer Lichtbogen blendete mich. Ich hörte ein unheimliches Prasseln und einen Schrei, der mein eigener sein musste. Connys Fingernägel gruben sich in meine Schulter. Es war, als würde die Welt den Atem anhalten. Dann flog etwas von oben herunter, stieß an den Mast und wurde weggeschleudert. Wenige Meter vor uns schlug ein groteskes Bündel auf, schwarz, rot, dazwischen etwas Weißes, Spitziges und ein paar grünliche Fetzen. Der Geruch nach verbranntem Fleisch ließ mich würgen.

Nein! Nein! Das musste ein Trugbild sein. Ich schlug die Hände vors Gesicht und kniff die Augen fest zusammen. Doch als ich sie zu öffnen wagte, lag das stinkende Bündel immer noch da.

Mit einem Knall zerbarst der Himmel, Regen schwappte über uns, Blitz und Donner überschlugen sich. Um uns herum tobte die Hölle.

Weg, nur weg von diesem Ort! Wortlos und ohne uns anzusehen, zogen wir die durchnässten Kleider an und rannten davon.

Conny und ich haben uns nie wieder gesehen.

Christine Bendik

Wilde Wichtelweiber

„Zu Weihnachten sterben die meisten Leut“, sagt Schwester Elli mit diesem finsteren Blick. Da wird einem ja angst und bang.

„Ist das so?“, frage ich und spüre, wie mir das Lächeln auf den Lippen gefriert. Ich bin hier, um Patientenleben zu retten.

Ich mustere Elli von der Seite. Mit der neuen Frau Oberschwester werde ich nichts zu lachen haben. Ihre Haltung ist die eines Feldmarschalls.

Meine Freundin Lisa hat es besser getroffen. Sie ist in der Ambulanz gelandet, bei den jungen Assistenzärzten.

Hinter uns eilige Schritte.

„Elli, Anja, schnell“. Doktor Jänsch winkt aufgeregt. „Das Lungenkarzinom auf der Siebzehn!“ Wir folgen ihm ins Krankenzimmer. Zu spät. Herr Seliger starrt mich aus weit aufgerissenen Augen an. Sein Mund steht leicht offen. Er ist ganz blau im Gesicht. Ersticken ist ein schrecklicher Tod.

Lungenkrebs im Endstadium. Ich hab das hautnah miterlebt, bei meiner Omi Rose, hab ihr lang die Hand gehalten, bis es vorüber war, bis die Atemzüge ins Leere gingen. Und die Omi, die Omi war auch so blau …

Der Doktor schlägt die Bettdecke zurück, prüft die Reflexe, Puls, schaut sich die Haut des Toten an, den Bauch, die Beine. Er murmelt: „Höchstens fünf Minuten. Ich begreife das nicht. Das Christkind war gerade bei ihm.“

Im Raum hängt ein zitronenartiger Duft, den hat wohl der späte Gast hiergelassen. Das Christkind, erklärt mir Elli, heißt Nora Bogner, ist neunzehn Jahre alt, studiert Betriebswirtschaftslehre an der Fachhochschule in der Würzburger Straße. Sie wird von der Klinik gesponsert und erfreut die Kinder, die Alten und Schwachen in der Adventszeit mit Geschenken. Angeblich soll die Aktion die Heilung fördern. Gelingt nicht immer, wie man sieht.

Jänsch stellt den Totenschein aus und geht. Elli nimmt ein Laken aus dem Schrank, doch bevor sie die Leiche bedeckt, fällt mir die kleine Einblutung an der Lippe auf. Ich weise die Oberschwester darauf hin. Sie wehrt unwirsch ab.

„Das ist nichts“, sagt sie und macht ein wenig Ordnung auf dem Nachtschränkchen und im Bad, falls noch ein letzter Besuch kommt.

Später bringen wir Seliger in die Pathologie. Elli packt mit beiden Händen das Bettende und löst die Fußbremse. Mit vereinten Kräften schieben wir den armen Teufel zur Tür hinaus. Auf Tischen steht Mittagessen unter Hauben, daneben Himbeerpudding in Sternform. Wir fädeln die Leiche zwischen duftenden Lebkuchen-Sößchen und Dampfkartoffeln durch den Endlosschlauch des hellen Flures zum Lastenaufzug. Zwischendurch bleibt Elli stehen und schaut fragend hinter die dicke Glasscheibe der Anmeldung, wo drei Schwestern an einem runden Tischchen sitzen, den ein Kiefernkranz mit roten Schleifen und vier Stumpenkerzen ziert. Sie hantieren mit seltsamen Spielkarten, die ich noch nirgendwo gesehen habe. Jetzt steht Schwester Maria auf, tritt an die Sprechklappe. Sie hat tiefe Augenringe.

„Käffchen?“, fragt sie, und Elli nickt dankbar. Ich lächle höflich.

„Und das da? Ist das der Seliger?“ Maria macht eine lässige Kopfbewegung zum Bett. Da ist keine Regung in ihrem Gesicht, nicht mal ein Wimpernzucken. Das macht die Routine mit ihr. Soweit bin ich noch nicht, der Tod geht mir noch nahe, doch wer weiß, wie es in zwanzig Jahren aussieht.

„Toller Start“, denke ich mir. Gleich mitten hinein ins Vergnügen, gleich eine Leiche. Dabei hat er so gut angefangen, dieser erste Advent, so friedlich still. Schneeflöckchen, Weißröckchen. Watteweiße Winterweihnacht, heute Morgen vor meinem Fenster mit Aussicht.

Wer ich wirklich bin, ahnt keiner, nicht mal Lisa, und manchmal hege ich den Verdacht, mich selbst nicht zu kennen. Ich fürchte mich vor mir, vor dem Kontrollverlust. Das brüchige Lügengewebe mit den schwarzen Fäden der Vergangenheit verberge ich tief im geheimen Seelenkästchen. Mit der Zeit und den richtigen Medikamenten sind die Aussetzer selten geworden, diese kleinen und fiesen Bewusstseins-Löscher, Sekunden oder Minuten, in denen ich nicht weiß, was ich tue, und an die ich mich nicht erinnere. Es scheint eine Form von Epilepsie zu sein, ohne Fallneigung, doch ganz einig sind sich die Herren Neurologen da nicht. Während eines Anfalls kann Gott weiß was passieren. Wenn die Klinikleitung von meiner Krankheit Wind kriegt, dann hab ich meinen Job sofort los. Ich schlucke brav die Medizin und gebe die Hoffnung nicht auf, dass ‚es’ irgendwann aufhört.

Es ist idiotisch, ich gebe es zu. Und doch frage ich mich die ganze Zeit: Bin ich am Morgen in Zimmer siebzehn gewesen? Ich habe doch nicht … eine Plastiktüte oder Ähnliches? Herr Seliger war mir echt einen Tick zu blau verfärbt für ein natürliches Ableben, dazu die Einblutung an der Lippe, ein deutlicher Hinweis auf plötzliches Ersticken. Oder hat das Christkind ein wenig nachgeholfen? Unsinn, wieso sollte es. Spontan muss ich an Ellis Spruch denken, jener mit Weihnachten und den gehäuften Sterbefällen. Inständig hoffe ich, dass Seligers Tod ein Zufall ist und sich die Unkenrufe nicht bewahrheiten.

Am Abend stürzen Lisa und ich uns ins Weihnachtsmarkttreiben am Schlossplatz. Den Glühwein bekommen wir umsonst, und das verdanke ich meiner hübschen Freundin. Sie ist eine kleine Nette mit Püppchen-Gesicht, die die Männerherzen im Sturm erobert. Wir shoppen ein wenig, Christbaumschmuck und Holzmodeln, ziehen Kerzen aus heißem Wachs, essen Bratwurst und trinken Heidelbeerglühwein. Die Luft ist beißend kalt, und es hat zu schneien begonnen. Bald ziert eine weiße Nachthaube die Türme des Schlosses Johannisburg und die Wiesen drunten am Mainufer, einem Areal, das König Ludwig sein bayerisches Nizza nannte.

Ich balle meine Hände in den Taschen zu Fäusten. Ich muss wieder an Seliger denken. Der hieß mit Rufnamen auch Ludwig.

Die Innere liegt noch im Nachtschlaf. Es ist der zweite Advent, fünf Uhr dreißig, und ich mache mich bereit zum Fiebermessen. Schnarch-Geräusche dringen aus den Zimmern, am Ende des Flurs blinkt das Notlicht über Tür neun. Elli ist noch auf der Chirurgischen, ich bin alleine. Herr Triest, Dickdarmkrebs, verlangt nach einer Tablette. Er hat Kopfschmerzen und verkündet, dass er keine Lust mehr habe auf dieses bescheuerte Trauerspiel. Er ist schon über neunzig und findet, das waren glatt fünf Jahre zu viel. Aber der dort droben lässt sich Zeit mit dem letzten Passierschein. Ich plaudere ein wenig mit dem Väterchen, bei manchen Leuten geht einem echt das Herz auf. Großvater Triest ist einer von den Dankbaren. Es macht mir nichts aus, seine Zehennägel zu schneiden und die Bettpfanne zu leeren.

Von draußen höre ich schmerzhafte Rufe. „Schwester!“

„Tschuldigung“, murmele ich und zwinkere Herrn Triest aufmunternd zu.

Ein frisch operierter Patient musste dringend aufs Töpfchen, doch ich bin schon zurück auf dem Weg zu Triest. Er will mir von seinem Sohn erzählen, der in München lebt. Das Läuten des Stationstelefons hält mich auf. Mit dem Hörer am Ohr sehe ich das Christkind mit viel zu engem Kleid, mit Schleier und goldenem Krönchen und kleiner Geschenktüte in die Neun schlüpfen. Seltsam, um diese Uhrzeit?

„Klinikum am Hirschkopf, innere Abteilung, Schwester Anja am Apparat?“ Es ist Schwester Maria. Ob ich dort droben alleine zurechtkäme. Klar doch. Alles bestens.

Neben dem Telefon bemerke ich einen mit Packpapier beklebten Fünf-Liter-Eimer mit Deckel. Ich fische ein paar Spielkarten heraus, mit denen die Kolleginnen sich die Pausen vertreiben. Sie sind kunstvoll mit Buntstiften bemalt, und auf manchen stehen in fetter Schrift Zahlen.

Unverhofft steht Schwester Claire vor mir. Wo bin ich, was ist geschehen? Es fällt mir wieder ein: Das hier ist Triests Patientenzimmer. Ich schüttle mich fröstelnd, spüre die wohlbekannte, dumpfe Leere im Kopf, die nur mühsam klaren Gedanken weicht. Ein Anfall, verdammt. Ob sie ihn bemerkt hat?

„Sieht er nicht friedlich aus?“ Claire tritt ans Bett, streicht Triest zärtlich über die Wange. „Freut mich für ihn, eigentlich. Er hat’s überstanden.“ Ich atme auf. Sie hat nichts gesagt von wegen geistiger Umnachtung und so, es ist noch einmal gut gegangen. Ihre Worte hallen nach in meinem Schädel, dringen stärker zu mir vor. Wie war das gerade? Armer Triest? Was soll denn das heißen?

Wie ein Fausthieb trifft mich der Schock in der Magengrube. Im Bett liegt das Väterchen. Mausetot. Sein rechter Arm hängt schlaff hinunter, im Handrücken liegt noch der Zugang für Infusionen. Speichel hängt Triest in einem langen Faden aus dem Mund.

„Oh nein bitte, wir wollten doch … Max in München …“ Was ist denn nur passiert in den letzten Minuten?

„Herzschlag“, meint Claire. „Ein Tod wie im Bilderbuch.“ Wieder registriere ich den Zitronengeruch. Und wenn es das Christkind war? Ich schüttle den Kopf. Unsinn, alles im grünen Bereich. Zwei Tote in zwei Wochen, das kommt in der besten Klinik vor, oder?

Am Nachmittag gibt es Tee im Schwesternzimmer, dazu Marzipanstollen. Ich kann die Pause nicht wirklich genießen, muss immerzu an Herrn Triest denken. Tränen schießen mir in die Augen, vor Zorn und Mitleid, doch auch vor Anstrengung: Ich will unbedingt wissen, was da mit mir passiert ist und mit Triest in seinem Zimmer. Und ich stochere in den Erinnerungskammern meines bleiernen Hirns.