Aus der Erstarrung - Rainer Schäfer - E-Book

Aus der Erstarrung E-Book

Rainer Schäfer

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Beschreibung

Der Autor untersucht Hölderlins poetisch-konkretistische Metaphysik als eigenständige philosophische Position, die sich in ihrer Abkehr von der regelgeleiteten idealistischen Transzendentalphilosophie (Kant, Reinhold, Fichte, Schiller) und von der spinozistisch inspirierten Systemphilosophie, die letztlich rationalistischer Monismus ist (früher Schelling), gegen spätere ontologische Vereinnahmungen (Heidegger) sträubt. Frei im Eigenen durch die Reflexion des Fremden zu sein ist weder als Idealismus noch als Realismus zu begreifen, sondern als ein konkretes Werden zu sich, das eine entwickelnde Wanderung des Geistes durch Landschaften, Städte, an Flüssen sowie Begegnungen mit Tieren, Pflanzen, Göttern und anderen Menschen erfordert. Erst dann folgt man den Regeln des Eigenen nicht mehr blind, sondern hat die Augen durch das Fremde für die eigene Freiheit geöffnet.

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Seitenzahl: 507

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhalt

Cover

Titelei

Widmung

Zitate

Einleitung

I. Zeitenwende und Untergang des Vaterlandes – Anfänge und Formen ›abendländischer Wendung‹

II. Freiheit im Eigenen als ›abendländische Wendung‹ im ersten Böhlendorff-Brief und die Kolonie des Geistes in der Überarbeitung von Brod und Wein

III. Transzendentaler Don-Quijotismus – Hölderlins Abkehr von der Transzendentalphilosophie

1. Urtheil und Seyn – Hölderlins Auseinandersetzung mit Fichte und Schelling – Im ›Schacht der tyrannischen Philosophie‹

2. Nach Jena – ›Höhlenausgänge‹

3. Natur und Kunst oder Saturn und Jupiter

IV. Christus und seine Brüder in der Endzeit von Hellas: Der Einzige

V. Der Geist als Widersacher des ›absoluten Ich‹ – Patmos: Das lyrische Ich auf dem Weg in die Kolonie

VI. Die Geistigkeit des Fürsten des Festes in der Friedensfeier

VII. Verhüllung des Göttlichen in Versöhnender, der du nimmergeglaubt…

VIII. Geist und Geschichtsprozess – ›Todeslust‹ auf dem Weg zum Tragischen

IX. Die Tragödie als Untergang des Bewusstseins – Kant und Fichte vor dem Richterstuhl des Zeus

X. Über-Setzen und Ver-Dichtung des Seins in der Tragödie

XI. Zeit als Sein: Gegenwart in tragischer Einung

XII. Das Tödlichfaktische der Hellenen und die Aufgabe der Hesperier, Geschick zu haben. Die Antigone-Anmerkungen und der zweite Böhlendorff-Brief

Resümee

Literaturverzeichnis

Rainer Schäfer

Aus der Erstarrung

Hellas und Hesperien im ›freien Gebrauchdes Eigenen‹ beim späten Hölderlin

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographischeDaten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.

ISBN 978-3-7873-3712-5ISBN EPUB 978-3-7873-3768-2

www.meiner.de

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2020. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz und Konvertierung: 3W+P GmbH, Rimpar.

Für Irene

„›Nachahmen soll ich nicht, und dennoch nennetDein lautes Lob mir immer Griechenland?‹Wenn Genius in deiner Seele brennet,So ahm dem Griechen nach. Der Griech’ erfand.“Friedrich Klopstock1

„Der Künstler ist zwar der Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn,wenn er zugleich ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist. Einewohltätige Gottheit reiße den Säugling beizeiten von seiner MutterBrust, nähre ihn mit der Milch eines besseren Alters und lasse ihnunter fernem griechischem Himmel zur Mündigkeit reifen. Wenn erdann Mann geworden ist, so kehre er, eine fremde Gestalt, in seinJahrhundert zurück; aber nicht, um es mit seiner Erscheinung zuerfreuen, sondern furchtbar wie Agamemnons Sohn, um eszu reinigen.“Friedrich Schiller2

„Entweder vertritt der Ethnograph die Normen seiner eigenen Gruppe, dann können ihm die anderen nur eine vorübergehende Neugier einflößen, bei der die Missbilligung niemals fehlt; oder er ist imstande, sich ihnen völlig auszuliefern, dann ist seine Objektivität beeinträchtigt […]. Wie kann der Ethnograph den Widerspruch überwinden, der sich aus den Umständen seiner Wahl ergibt? Er hat eine Gesellschaft vor Augen, die ihm immer zur Verfügung steht: seine eigene; warum beschließt er, sie zu verachten und sich anderen, weit entfernten und völlig anders gearteten Gesellschaften mit einer Geduld und einem Eifer zu widmen, die er seinen Mitbürgern versagt?“Claude Lévi-Strauss3

„Bleib uns nur fremd, bis wir uns fremder sind.“Ingeborg Bachmann4

„Wir aber sindGemeinen gleich,Die, gleichEdeln Gott versuchet, ein VerbotIst aber, deß sich rühmen. Ein Herz sieht aberHelden. Mein istDie Rede vom Vaterland. Das neideMir keiner. Auch so machetDas Recht des ZimmermannesDas Kreuz.“Friedrich Hölderlin5

Endnoten

1Friedrich Gottlieb Klopstock Ausgewählte Werke, (Hrsg.) Karl August Schleiden, Darmstadt 1969, S. 180.

2Friedrich Schiller Briefe über die ästhetische Erziehung, Nr. 9, in: ders. Sämtliche Werke, (Hrsg.) G. Fricke u. H.G. Göpfert, München 91993 Bd. V, S. 593.

3Claude Lévi-Strauss Traurige Tropen, Frankfurt a.M. 2012, S. 378.

4Ingeborg Bachmann Mirjam, in: dies. Sämtliche Gedichte, München/Zürich 1999, S. 165.

5Hölderlin wird im Folgenden nach der Großen Stuttgarter Ausgabe (= StA) zitiert: Friedrich Hölderlin Sämtliche Werke, (Hrsg.) Friedrich Beißner, VIII Bde., Stuttgart 1946 – 1985; hier StA II/1, 337.

Einleitung

Hölderlin entwirft mit der sog. „abendländischen Wendung“ und der „vaterländischen Umkehr“ – zwischen Hellas, antikem Griechenland, und Hesperien, Deutschland bzw. dem Westen in Hölderlins Zeit – eine neuartige, die Dichtungs-‍, Tragödien-‍, Geschichts- und Götterkonzeption seiner letzten bewussten Jahre (etwa 1800 – 1804/06) durchziehende metaphysische Auffassung des Verhältnisses von Antike und Moderne.1 In dieser mythologischen Hermeneutik kreuzen sich dichterisch-ästhetische, interkulturelle, theologische, geisttheoretische, historische, ethnographische und politische Motive.2 Der Grund, weshalb dieser Ansatz für einen Philosophen interessant ist, liegt einerseits darin, dass ein zentrales Problem der gegenwärtigen Semantik von Hölderlins Theorie der „abendländischen Wendung“ behandelt wird, nämlich das Verhältnis von Sinnlichkeit und Denken, das in der Sprache vor einem kulturellen Hintergrund spezifischer Lebensformen auftritt und das Verstehen von Bedeutung ermöglicht; Hölderlins Idee einer „Phänomenalisierung des Begriffs“ spielt in seiner späten konkreten Metaphysik eine entscheidende Rolle in der Vermittlung von Sinnlichkeit und Intellektualität. Andererseits ist Hölderlins „abendländische Wendung“ für einen Philosophen wegen der von ihm in dieser ästhetischen Hermeneutik herausgearbeiteten Disziplinen verbindenden, genuinen Form des Verstehens interessant, denn dieses Verstehen von Bedeutung entspringt nicht einer einzelnen Disziplin, sondern einer ihnen als Einzeldisziplinen gegenüber vorgängigen Geistigkeit. Diese Geistigkeit ist eine ursprüngliche Fähigkeit des hermeneutisch-ästhetischen und interdisziplinären Verstehens, aus dem ein in einzelne Disziplinen aufgeteiltes und spezialisiertes Verstehen allererst folgen kann. Den umfassenden Geist der Dichtung beschreibt Hölderlin in einem erst vor kürzerer Zeit aufgefundenen Brief an Johann Gottfried Ebel vom 6. Juli 1799:

„Grösstentheils schränkte sich mein Nachdenken auf das, was ich zunächst trieb, die Poësie ein, insofern sie lebendige Kunst ist und zugleich aus Genie und Erfahrung und Reflexion hervorgeht, und idealisch und systematisch und anschaulich individuell ist.“3

In früheren Deutungen der sog. „abendländischen Wendung“ des späten Hölderlin liegt der Fehler, dass diese als eine Umwendung oder Umkehr Hölderlins zum Abendland, insbesondere zu Deutschland gesehen wurde. Das zeigt sich natürlich paradigmatisch bei dem Erfinder der These, bei Wilhelm Michel. Doch dies krankt gleich an drei Fehlern: 1. war sich Hölderlin natürlich auch in der Zeit vor 1800 bewusst, dass er selbst Teil des Abendlandes ist. Man denke nur an die Scheltrede an die Deutschen im Hyperion oder seine das Vaterland verherrlichenden Gedichte. Er brauchte sich also nicht erst nach 1800 dem Abendland zuzuwenden, er war ihm immer schon zugewandt; 2. hat sich der späte Hölderlin natürlich nicht von Hellas abgewandt, er hat sich vielmehr immer intensiver, aber auch immer selbständiger und mit größerer Differenz zum „üblichen“ Klassizismus mit dem Abgründigen, Wüsten, Wilden, Zornigen, Verbrennenden und Aorgischen des Hellenischen beschäftigt. Hätte er sich vom Griechischen abgewandt, wären z. B. seine späten Übersetzungen von und die Anmerkungen zu Sophokles’ Antigone und Ödipus sowie seine Übersetzungen von Pindar nicht zu erklären. Schließlich unterschätzt die These 3. in ihrem herkömmlichen Verständnis das Anliegen des späten Hölderlin, wenn sie Abendland und „Deutschland“ miteinander identifiziert. Dass „Hesperien“ und „Abendland“ in der Gegenwart Hölderlins für ihn einen viel umfassenderen, ja globalen Sinn haben als das enge Territorium von „Deutschland“, hat die Hölderlin-Forschung der letzten Jahre immer klarer herausgearbeitet. Das abendländische Hesperien reicht bei Hölderlin bis Amerika; Hellas reicht bis an den Indus und Asien und tief in den Orient. Abendland und Hesperien bezeichnen – wie auch Hellas – vielmehr weltumfassende geistige Prinzipien. Ich deute die „abendländische Wendung“ des späten Hölderlin daher überhaupt nicht in jenen engen Kategorien, sondern so, dass es Hölderlin um eine radikal befreiende Wendung im und nicht zum Abendland ging. Das weltumspannende und dennoch zugleich an konkrete Orte und Vorkommnisse gebundene geistige Prinzip des Abendlandes sollte sich umkehren, das war Hölderlins Forderung an den Geist der Zeit. Das geistige Prinzip von Hesperien besteht in gesetzmäßigem, ordnendem Regelfolgen, um Klarheit zu generieren. Das führt aber ohne seine beiden Gegenpole, einerseits die Erkenntnis von Eingebundenheit in nicht von Menschen gemachte Ordnungen, das Schicksal, und andererseits ohne Leidenschaft/Pathos, zu Selbstüberhebung und Erstarrung in kontingenten Ordnungsgefügen. Aus der Erstarrung soll die Wendung im Abendländischen führen. Diese Befreiung im Abendland soll nun aber nicht anarchisch dazu führen, dass einfach gesetzmäßige Ordnung aufgegeben wird, denn das führt ebenso in den Untergang wie das Festhalten an der Erstarrung. Der „freie Gebrauch des Eigenen“, der eigenen Ordnungen im Rahmen eines größeren Seinszusammenhangs, ist vielmehr das Ziel der „abendländischen Wendung“.

Paradigmatisch für diesen umfassenderen Anspruch dokumentiert sich in Hölderlins Wendungen zwischen antik griechischer und neuzeitlich deutscher Kultur eine eigentümliche Form des Verstehens fremder Kulturen, die wiederum eine Grundlage für die Erklärung des Verstehens überhaupt ist. Dabei wird ein ursprüngliches Verstehen des Anderen sichtbar, das die Grundlage für spezifischere Formen der Auseinandersetzung mit Fremdem bildet. Die Dichtung hat daher einen hermeneutisch-auslegenden Charakter. Am Ende der zweiten Fassung der Ode Stimme des Volks (von 1801) wird das Hermeneutische von Hölderlins Dichtung deutlich:

        […], und wohlSind gut die Sagen, denn ein Gedächtniß sind   Dem Höchsten sie, doch auch bedarf es      Eines, die heiligen auszulegen.4

Wenn man z. B. gegenwärtige Erklärungen des Verstehens von Sprachspielen und ihrer Bedeutung, wie sie der späte Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen analysiert und wie sie Quine in Word and Object mit seiner These von der „radikalen Übersetzung“ liefert oder auch Davidsons „radikale Interpretation“ mit Hölderlins „abendländischer Wendung“ vergleicht, dann wird deutlich, dass die gegenwärtige Radikalität in der Semantik einerseits nähere Präzisierung und andererseits weitere Radikalisierung verträgt, denn Quines und Davidsons Variante setzt z. B. 1. das erkenntnistheoretische Prinzip der Induktion voraus und 2., dass man nur vor dem Hintergrund der eigenen Kultur (bzw. der eigenen natürlichen Sprache) und aus ihm heraus die fremde Kultur verstehen kann, dass man also schon über eine Sprache verfügen muss, um die fremde Sprache zu verstehen; – Quine verwendet das Modell eines Feldforschers, der Dschungeleinwohner antrifft, deren Sprache er zu übersetzen versucht, um zu erklären, wie überhaupt Sprache erlernt wird und wie die Sprache ihre Bezeichnungsfunktion erfüllen kann – und 3. setzen Quine und Davidson Sinnesreize und deren Kausalität voraus; Quine bezeichnet dies als „Reizbedeutung“, bei Davidson gibt es eine kausale Relation zwischen äußeren Sinnesreizen und der Verarbeitung durch das Gehirn; bei beiden analytischen Denkern ist dies wohl als ein unbewältigter Rest des älteren logischen Positivismus zu sehen.5 Mit Hölderlin lässt sich dieses Erklärungsmodell für die bezeichnende Funktion der Sprache präzisieren. Denn nach ihm ist es nicht einfach so, dass wir unsere eigene natürliche Sprache klar und deutlich beherrschen und dann nur eine Transferleistung zu erbringen hätten, bei der wir unsere Bezeichnungsstrukturen in der anderen Sprache wiederfinden, um zu erklären, wie überhaupt die Sprache eine bezeichnende Funktion haben kann. Um zu verstehen, wie das erlernende Verstehen unserer eigenen Sprache entsteht, genügt es nicht, nur zwei natürliche Sprachen miteinander abzugleichen. Denn das würde für das Erlernen der eigenen Sprache schon voraussetzen, dass wir über eine Sprache verfügen. Für Hölderlin geht diesem Spracherlernen vielmehr eine Lebenswelt oder Lebensform voran, ein Horizont oder Hof, in dem sich dann das erlernende Verstehen immer schon aufhält. Erst aus der Einsicht, dass im Übersetzen bestimmte Projektionen nicht funktionieren, sehen wir dann die relative Bedingtheit und Begrenztheit der eigenen Lebensform ein und können sie nun erst dank der Fremdheit verstehen.

Beim antiken Hellas ist diese Lebensform eine Konstellation aus Lebendigkeit/ursprünglichem Feuer und Ordnung; die Prävalenz liegt bei dem ursprünglichen Feuer; die Griechen bemühten sich daher wesentlich um Ordnung. Dies kann man folgendermaßen in eine gegenwärtige philosophische Argumentation übersetzen: Der Horizont des Verstehens ist nicht nur als eine kulturelle Habitualität zu verstehen, sondern ebenso als eine leibliche Disposition; daher spricht Hölderlin in diesem Kontext von der „Athletentugend“ oder auch von „Totalwahrnehmung“. Hesperien bzw. das Deutschland zu Hölderlins Zeit hat dieselben Ingredienzien, nur dass hier die Ordnung prävaliert und wir uns um das ursprüngliche Feuer/Leidenschaft/Pathos bemühen müssen. Auch dies lässt sich in gegenwärtiges Philosophieren übersetzen: Die begrifflichen Ordnungsschemata stehen in Gefahr, sich zu verselbständigen, werden sie nicht an konkrete leibliche Erfahrungen zurückgebunden, die auch vorpropositionale Aspekte haben. Das impliziert jedoch keinen Sinnesdatenfundamentalismus, weil die Grenze zwischen begrifflichen Ordnungsschemata und Sinnesdaten unscharf, teils fließend und kulturell veränderlich ist. – Den Hintergrund dieses philosophischen Problems einer Rechtfertigung des Zusammenhangs von Begriffsschema und Sinnesdaten bildet natürlich nach wie vor die These Kants von den zwei Stämmen der Erkenntnis: Sinnlichkeit und Begriff; insgesamt bewegt sich die Problematik, ob gewollt oder ungewollt, also im Fahrwasser der Erkenntnistheorie Kants; wobei Kant selbst natürlich noch einerseits zwischen Wortsprache und Begriff sowie andererseits zwischen Form der Sinnlichkeit und gegebenem Inhalt der Sinnlichkeit differenziert. –

Mit Wittgenstein lässt sich das Konzept der „radikalen Übersetzung“ von Quine, das ja erklären soll, wie die Sprache ihre Funktion der Bezeichnung von Bedeutungen erfüllen kann, kritisieren. Schon der späte Wittgenstein reflektiert die Möglichkeit, die Sprache dadurch zu erklären, dass man eine Übersetzung analysiert, und er kommt – in seinem Kontext allerdings (teilweise und nur in bestimmten Hinsichten) gegen Augustinus gerichtet – zu einem kritischen Einwand, nachdem er genau Quines Ansatz vorwegnimmt, inklusive der Unbestimmtheitsproblematik:

„Wer in ein fremdes Land kommt, wird manchmal die Sprache der Einheimischen durch hinweisende Erklärungen lernen, die sie ihm geben; und er wird die Deutung dieser Erklärungen oft raten müssen und manchmal richtig, manchmal falsch raten. Und nun können wir, glaube ich, sagen: Augustinus beschreibe das Lernen der menschlichen Sprache so, als käme das Kind in ein fremdes Land und verstehe die Sprache des Landes nicht; das heißt: so als habe es bereits eine Sprache, nur nicht diese. Oder auch: als könne das Kind schon denken, nur noch nicht sprechen. Und ›denken‹ hieße hier etwas, wie: zu sich selber reden.“6

Dieser Reflexion Wittgensteins ist zu entnehmen, dass das Erlernen von Sprache überhaupt und ihre grundlegende Funktion des Bezeichnens zu begreifen etwas grundsätzlich Anderes ist, als eine andere Sprache zu lernen. Wittgensteins Reflexion kann man auf den Punkt bringen, dass die Erklärung von Augustinus (und in gewissem Sinne damit auch die von Quine) einen Zirkel begeht, denn sie setzt Sprache voraus, um Sprache zu erklären. Man kann auch die Frage aufwerfen, woher ich als spracherlernender Feldforscher überhaupt weiß, dass ich zu einem anderen Stamm, einer anderen Sprachgemeinschaft bzw. zu einer anderen Kultur komme, die spricht? Dann muss ich ja schon über Wissen von Sprache, Stamm oder Kultur verfügen. Es ist nicht so, dass Wittgenstein generell Augustins Verständnis der Sprache als einer Be-deutung von Gegenständen durch Worte sowie das Übersetzungsparadigma zurückweist, er sagt einschränkend, dass diese Bilder nur eine sehr primitive Form der Sprache, sehr rudimentäre Aspekte der Sprache beschreiben und somit nicht jeder Form der Sprache gerecht werden. Wohl mögen jene Modelle ausreichen, um einige rudimentäre Sprachaspekte zu beschreiben, wie z. B. Kinder einiges in ihrer Muttersprache durch Abrichtung erlernen; im Anschluss daran entwickelt Wittgenstein bekanntlich seinen eigenen Begriff des Sprachspiels, mit dem er uns vor genau solchen Übergeneralisierungen warnen möchte.7 Die tiefere Einsicht Wittgensteins besteht jedoch in der Erkenntnis der natürlichen Begrenzung der Grammatik:8 Sofern Sprache letztlich auf Konvention beruht – also darauf, einer Regel zu folgen – und Konvention wiederum auf Lebensformen, hat die Sprache hier ihren festen alltäglichen Grund, denn die konkrete Lebensform ist ein natürliches Ende dafür, wie Sprache gerechtfertigt sein kann.9 Berühmt ist Wittgensteins „Spaten-Metapher“:

„›Wie kann ich einer Regel folgen?‹ – wenn das nicht eine Frage nach den Ursachen ist, so ist es eine nach der Rechtfertigung dafür, dass ich so handle. Habe ich die Begründungen erschöpft, so bin ich nun auf dem harten Felsen angelangt, und mein Spaten biegt sich zurück. Ich bin dann geneigt zu sagen: ›So handle ich eben‹.“10

Ab einem bestimmten Punkt beruht also unser sprachliches Verstehen auf einem blinden, robusten, naturwüchsigen Regelfolgen, das mit einem setzenden Verweis auf die Praxis endet bzw. sich wieder in höhere Schichten des Erdreichs zurückgräbt. Wittgenstein sagt nicht, dass das immer so ist oder es hier gar eine semantische Notwendigkeit gibt; er beschreibt nur, dass er in solchen Fällen „geneigt“ ist, mit jener Strategie einer einfachen Bekräftigung zu reagieren.

In diesem Zitat wird auch deutlich, dass Wittgenstein zwischen Ursache und Rechtfertigung sehr genau differenziert. Ihm stellt sich mit dem rechtfertigenden Grund sprachlichen Verstehens ein begriffliches Problem, kein kausales; wenn er nach dem Grund des Regelfolgens fragt, fragt er nach der Berechtigung, dies zu tun, nicht nach physiologischen, entwicklungspsychologischen, genetischen, neuronalen oder biologischen Ursachen; es geht ihm um ein Begriffsproblem. Die großartige Einsicht Wittgensteins besteht darin, dass er verdeutlicht hat, dass Rationalität und Gewissheit darin bestehen können, einer Regel zu folgen, dass man aber nicht hinter dem Regelfolgen wiederum nach höher zu verortenden Regeln und Interpretationen suchen darf, die erklären oder rechtfertigen, wie man Regeln folgen kann, weil man sich damit in einen Zirkel verfängt. Die Fähigkeit, einer Regel zu folgen, also letztlich das komplexe Problem der Bildung von Konvention, ist der Rationalität nicht äußerlich, sondern macht sie aus; zwar ist die Rationalität umlagert von harten Felsen, hinter die sie nicht zurückfragen kann, aber diese robuste Einbettung hindert nicht, dass sie sich nur selbst begründen kann, nämlich als das nach Gründen Fragende. Man darf es sich hier also nicht zu einfach machen und die Konventionsbildung als einen einfachen Nominalismus abtun oder sie in diese Schublade einordnen, denn das übersieht einerseits die Rationalitäts- und andererseits die Lebensweltaspekte der Konventionalität. Man darf aber andererseits auch nicht Regelfolgen und Rationalität miteinander identifizieren, denn manchmal ist es rational, einer Regel nicht zu folgen, neue zu (er)‌finden oder eine Re-volution zu vollziehen. Jedenfalls geht schon Hölderlin dieser Verankerung von Regeln im Leben nach. Die „abendländische Wendung“ ist eben Revolution in genau dem Sinne, dass z. B. die Hesperier, die modernen Deutschen in Hölderlins Zeit, sich dem Regelfolgen zu sehr verschrieben haben und sich dem Ausgleich einer Umkehr zu mehr Leidenschaft, Feuer oder, wie Hölderlin auch sagt, „Geschick zu haben“ zuwenden sollten, weil in der Moderne die Regel allbeherrschend geworden ist.11

Die von mir vertretene These besagt, dass Hölderlin mit seiner Analyse der geistig-leiblich-ästhetischen Haltung von Hellas und Hesperien in seiner „Theorie“ der „abendländischen Wendung“ mit dem antiken Griechentum und dem gegenwärtigen Deutschland genau solche Lebensformen analysiert, um spezifisches Sprachverhalten und -verstehen zu erklären und damit Wirklichkeitserfahrungen aus ihrem jeweiligen ästhetischen Horizont heraus zu begreifen. Dabei ist es für Hölderlin wesentlich, dass man sich nicht an den rudimentären Spracherscheinungen bei einem Kleinkind orientieren sollte, sondern an den höchsten, komplexen literarischen „Sprachspielen“, genauer: dort, wo im Drama oder im Gedicht die lebensweltlich-existentielle Szene ihren Höhepunkt erreicht. – Analog wie man sicherlich die Prinzipien der Fortbewegung auch an einem Floß oder an einer Rakete studieren kann, so zeigt die Rakete doch Möglichkeiten auf, die beim Floß verborgen bleiben. –

Hier kann auf den philosophischen Begriff des „Szenischen“ verwiesen werden, wie ihn Wolfram Hogrebe entwickelt hat. Danach ist die Szene eine existentielle Eröffnung für spezifischere Deutungen eines Auf- oder Abtritts einer Person. Die Szene ist analog zu einer Variablen, die sich in der Lebenswelt unmittelbar und als eine anfängliche Situation als die Grundlage einer deutenden Praxis zeigt.12 Hellas und Hesperien sind bei Hölderlin Lebensformen, in denen Sprachspiele allererst verständlich werden; diese können nicht bloß in einer prosaischen oder einer kalkulierend-rechnerischen Übertragung von einer Sprache in die andere übersetzt werden, das ist zwar auch für Hölderlin ein wichtiger Aspekt („das kalkulable Gesetz“), aber dieser löst nicht das ganze Problem sprachlichen Verstehens und seiner Wurzeln, sondern hier, an dieser Schnittstelle zweier szenischer Lebensformen, wo das Geben und Nehmen der Gründe und der Rechtfertigungen an ein Ende gelangt, hat die Dichtung ihre vermittelnde, spezifische, spracherweiternde Rolle. Die szenische Einbettung des Verstehens wird bei Hölderlin besonders im Phänomen des Tragischen deutlich. Der tragische Held erkennt mit gewollter, ungewollter oder halbgewollter Verspätung seinen Fehler und wird dadurch auf sein Sein, seine fragile leibliche Existenz in der Zeit und die Präsenz des Todes zurückgeworfen. Gegenwärtig wird oft behauptet, wir lebten in einer Zeit, die mit der Kategorie des Tragischen nichts mehr anzufangen weiß; doch dies scheint mir unplausibel und nur ein Fehler der richtigen Übersetzung dieses Phänomens in unsere Zeit. Das zeigten schon die Studien zur Tragödie von Szondi und Botho Strauß’ Anschwellender Bocksgesang. Hölderlins Gedanken des Tragischen präzisierend und in die Gegenwart übersetzend kann man sagen, dass gerade im Tragischen das begriffliche Verstehen, seine Einbettung in eine leiblich sinnliche Gegebenheit, die Zeit und unser Sein zum Tode paradigmatisch erlebt werden. Das Tragische ist das paradigmatische Erleben der ganzheitlichen Struktur des Menschen aus Sinnlichkeit, Freiheit, Zeitlichkeit, Tod, Todesbewusstsein und dem Versuch, dies begrifflich zu erfassen, d. h. eine bestimmte Kultur auszubilden. Daraus folgt natürlich nicht, dass alles im menschlichen Dasein tragisch ist, damit hätte man sicherlich zu viel bewiesen; aber das Tragische ist durchaus ein paradigmatisches Moment, in dem die Ganzheit menschlicher Existenz aufscheint.

Die Verdrängungsmechanismen und Techniken, das Tragische auszublenden, sind dabei selbst Teil des tragischen Geschehens, weil sie dazu dienen, die wesentliche Erkenntnis des Zusammenhangs von Sein, Zeit, Leib und Tod im rechten Zeitpunkt auszublenden. Diese Nichterkenntnis des Wesentlichen zum rechten Zeitpunkt war schon von alters her integraler Bestandteil des Tragischen und des schuldhaft-schuldlosen Verstrickungszusammenhangs. Die Oberflächlichkeit gegenwärtiger Medien und Medieninhalte sowie die Technik als selbst mechanisch-tote Todesverdrängung dienen z. B. der Wissensvermeidung bezüglich der tragischen Dialektik des menschlichen Leibes, der insofern dialektisch ist, als er einerseits unser Leben ermöglicht und uns ebenso sterben lässt. Das Tragische besteht darin, dass Leben und Sterben durch genau dasselbe vollzogen werden, zwei Seiten unserer Leiblichkeit sind. Wenn Hölderlin davon spricht, dass wir bzw. der Held im Tragischen dem Göttlichen zu nahe kommt, dann ist damit diese Einsicht in die Wechselseitigkeit von Leben und Tod sowie von Sinnlichkeit und Intelligibilität gemeint.

Wie zu untersuchen sein wird, identifiziert Hölderlin Zeus im Moment des Tragischen mit der Zeit: Das was uns Bewusstsein und Leben schenkt, nimmt es auch, die zeitlich-leibliche Existenz. Hamlets tragische Frage nach „Sein oder Nichtsein“ vereinheitlicht Leben und Tod ebenso wie schon Heraklits Deutung der Dialektik des Dionysischen als unbewusste Einheit von Tod und Leben. Indem Heraklit die Lebensform der religiösen Praxis der Anhänger des Dionysos als Schauplatz für die Widerspruchseinheit von Leben und Tod reflektiert, zeigt er, dass schon am vorsokratischen Anfang des Abendlandes die Einheit von Sinnlichkeitserlebnis, Begriffsschema, Vorlauf in den Tod und Kulturpraxis steht.13

Die Lösung des Problems sprachlichen Verstehens bei Wittgenstein ist natürlich bahnbrechend und Maßstäbe setzend. Seine Antwort auf die Frage nach der Übersetzbarkeit von einer Sprache in die andere besagt, dass es eben die „gemeinsame menschliche Handlungsweise“14 ist, welche die Deutung der fremden Sprache in der eigenen Sprache ermöglicht; und die Gemeinsamkeit besteht wiederum in „Gepflogenheiten“, „Gebräuchen“ und „Institutionen“. „Eine Sprache verstehen, heißt eine Technik beherrschen.“15 An dieser Stelle verschmilzt bei Wittgenstein – ähnlich wie später bei Quine – die Frage nach der Übersetzbarkeit von einer Sprache in die andere mit der Frage nach dem Bezeichnen und der Entstehung einer Sprache überhaupt. Denn auch Wittgensteins Antwort auf die Frage, wie eine Sprache überhaupt die Funktion des Bezeichnens erfüllen kann, besteht darin, dass sie eine Technik, ein institutionalisierbarer und durch Abrichtung erlernter Gebrauch von Worten ist, der in Lebensformen verwurzelt ist, die beherrscht sein wollen. Das macht allerdings das Verstehen einer Sprache nicht nur zu einer bloß technischen Angelegenheit, denn Wittgenstein betont, dass das Verstehen in der Beherrschung einer Technik besteht, also darin, souverän und frei mit Sprachspielen umgehen zu können. Dieses Erlernen von Freiheit und Souveränität im Umgang mit Ausdruckstechniken thematisiert Hölderlin. Die Verwurzelung von Sprachspielen in Lebensformen kann man mit Hölderlins „Theorie“ der „abendländischen Wendung“ – manchmal gibt es hier auch Nähen zu dem von Hölderlin als „vaterländische Umkehr“ bezeichneten Prozess – näher untersuchen, denn sie erhellt den Übergang von der Lebensform zur sprachlichen Darstellung.16 Mit Hölderlin lässt sich gegen ein technizistisches Verständnis von Sprache zeigen, dass Sprache wesentlich gar keine Technik ist und sich nicht instrumentell begreifen lässt. Natürlich hat auch schon der späte Heidegger gegen die aufkommende sprachanalytische Philosophie betont, dass ein technisch-instrumentelles Sprachverständnis zu kurz greift. Das zeigt sich, wenn die Untersuchung der Sprache nicht bei dem Bezeichnen von Bauklötzen, sondern bei der Deutung von Dichtung ansetzt. Das scheinbar Technisch-Semantische der Sprache, wenn sie Bauklötze bezeichnet, und die hervorgebrachte dichterische Wirklichkeit des Gedichts bilden zwei Extreme der Sprache, und es ist gerade die höchste Erscheinungsform der Sprache in der Dichtung, in der das Wesen der Sprache sichtbar wird, am unteren Ende ist es nur verschleiert präsent.

Im zweiten Teil der Philosophischen Untersuchungen wird Wittgensteins Verknüpfung der Themen (1.) Fremd‍(sprachen)‌verstehen, (2.) Erlernen der eigenen Sprache und (3.) Anlangen auf dem Grund der Praxis besonders deutlich:

„Wir sagen auch von einem Menschen, er sei uns durchsichtig. Aber es ist für diese Betrachtung wichtig, dass ein Mensch für einen anderen ein völliges Rätsel sein kann. Das erfährt man, wenn man in ein fremdes Land mit gänzlich fremden Traditionen kommt; und zwar auch dann, wenn man die Sprache des Landes beherrscht. Man versteht die Menschen nicht. (Und nicht darum, weil man nicht weiß, was sie zu sich selber sprechen.) Wir können uns nicht in sie finden.“ Und kurz darauf folgt die konsequente Applikation auf das Mensch-Tier-Verstehen: „Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen.“17

Wittgenstein plädiert hier natürlich nicht – auch wenn es oberflächlich so klingen mag – für ein Privatverstehen, wenn er sagt, dass „ein Mensch für einen anderen ein völliges Rätsel sein kann“18 oder dass wir Löwen einfach nicht verstehen. Doch wie können sich dann trotzdem Menschen mit unterschiedlichen Lebensformen miteinander verständigen? Wieder durch Abrichtung? Und wie funktioniert dies bei Lebensformen, die sich aufgrund ihrer Lokalisierung in unterschiedlichen historischen Epochen gar nicht begegnen können? Wie ist historisches Verstehen möglich? Wer richtet dort wen ab? Der Frühere den Späteren oder umgekehrt? Welche Rolle spielt beim sprachlichen Verstehen die Freiheit? Wie kann es Toleranz zwischen verschiedenen Lebensformen geben, wenn sie letztlich bloß auf ein blindes Regelfolgen hinausliefen? Hölderlin gibt auf derartige Fragen mit seiner These von der „abendländischen Wendung“ implizit Antworten, die ich im Folgenden explizit machen möchte. Auch für Hölderlin sind Lebensformen ein Letztes, ein Boden, an dem sich der Spaten zurückbiegt, d. h. ein Gegebenes, das sich nicht mehr begründen lässt, aber es muss nicht unerschlossen bleiben, es kann (z. B.) im Verstehen von Dichtung zumindest miterschlossen werden. Hölderlins „Übersetzung“ ist in dem Sinne radikalisiert, als selbst die Lebensformen – z. B. die von Hellas und Hesperien – ineinander übersetzbar sind; das zeigt sich besonders an seinen Übersetzungen von Pindar und Sophokles. Dazu ist aber nicht mehr die ordinary language fähig, die nur simpelste Referenzen auf Bauklötze vor Augen hat, sondern die Sprache muss sich ins Gedicht transformieren, um allererst im ästhetischen Rahmen ihre wahre Geistigkeit entfalten zu können, die ein zeichenhaftes Deuten – keine projizierende Vereinnahmung – des Anderen ist. Das wird deutlich, wenn Hölderlin in der Friedensfeier (Herbst 1802) dichtet:

    Viel hat von Morgen an,Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.Und das Zeitbild, das der große Geist entfaltet,Ein Zeichen liegts vor uns, daß zwischen ihm und andernEin Bündniß zwischen ihm und anderen Mächten ist.19

Man darf auch nicht einfach, wie Quine, das erkenntnistheoretische Prinzip der Induktion voraussetzen, um das Erlernen von Sprache zu verstehen.20 Vielmehr ist es nach Hölderlin ein Kennzeichen der uns zunächst und zumeist zu eigenen natürlichen Sprache, dass wir ihre Regeln so sehr durch Abrichtung und Regelfolgen habitualisiert und internalisiert haben, dass wir paradoxerweise unserem eigenen kulturellen und sprachlichen Horizont entfremdet sind, ihn selbst also allererst erlernen müssen. Induktionsschlüsse anzustellen ist auch eine Lebensform unseres natürlichen Bewusstseins, die souverän und in Freiheit beherrscht werden muss, um uns tatsächlich Informationsgewinn einbringen zu können. Insofern kann Induktion als eine Technik, die beherrscht werden will und durch souveräne Ausübung in einen unbewussten Hintergrund tritt, beschrieben werden. Wenn man dann induktive Sprachspiele souverän beherrscht, ist es eben nicht mehr nötig, sich jeweils klar zu machen, dass man gerade einen Induktionsschluss anstellt und dass dieser epistemische Unsicherheiten enthält. Müsste man sich das jeweils beim Ziehen eines Induktionsschlusses klar machen, verlöre man die Sache, um die es gerade geht, aus dem Blick. Macht man sich die Kontingenz des Induktionsverfahrens, nachdem man es erlernt hat, nicht deutlich, kann eine problematische Übergeneralisierung eben schnell passieren, die sich z. B. in der simplen unbegründeten Voraussetzung zeigt, dass man Sprache durch Induktion erlernt. Das Induktionsverfahren ist einem dann eben zu selbstverständlich, als dass man seine begrenzten und arbiträren Aspekte sähe.

Das Erlernen des Eigenen, das eigentlich schon ein zweites Erlernen der natürlichen Sprache ist, wird erst über die Einsicht in die andere natürliche Sprache möglich. – Hierin ist auch eine Parallele zwischen Hölderlin und Wittgenstein zu erblicken: Ist für Wittgenstein das genaue Hinsehen auf die Grammatik der Sprachspiele eine Therapie gegen eine fehlgeleitete Philosophie, so will Hölderlin analog mit seiner Dichtung eine Kritik an der Seinsvergessenheit der seine Zeit beherrschenden Ich-Philosophie Kants, Reinholds, Schillers und besonders Fichtes erreichen. Auch für Hölderlin erscheint die eigene Gegenwart therapiebedürftig, bedürftig einer Therapie gegen den sog. „subjektiven Idealismus“, gegen eine das menschliche Ego geradezu vergöttlichende und das Ich überhebende Philosophie und gegen eine solipsistische Geisteshaltung, die in der Demut lehrenden Tragödie besteht. Hölderlin hat mit der tragischen Begegnung von Gott und Mensch, in der das endliche menschliche Bewusstsein zerstört wird, natürlich einen Extremfall eines alter ego, ein nicht-menschliches Andres vor Augen. Die Enge des Bewusstseinszimmers und die Fensterlosigkeit der Monade werden durch die Wucht der göttlichen Zerrüttung in der Tragödie als fehlgeleitete epistemologische Konstruktionen aufgebrochen. – Das bedeutet nicht, dass Hölderlin Selbstbewusstsein generell verwirft, er stellt ja gerade dar, wie menschliches Selbstbewusstsein sich angesichts der Zerrüttung durch die Begegnung mit dem Göttlichen zu retten versucht. – Dieses durch Technik nicht beherrschbare tragische Geschick lehrt eine Demut und Freiheit, die uns Heutigen zwar essentiell abgeht, die wir aber durch immer neue Ausblendungstechniken und mit immer lauterem Eigendünkel übertönen. Tatsächlich sind gegenwärtig vielfach Bekenntnisse zur Größe einer anderen Kultur zu bloßen Versuchen herabgekommen, sich nicht wirklich mit ihr beschäftigen zu müssen. Mittels einer oberflächlichen Toleranz werden die bei intensiver Beschäftigung mit einer anderen Kultur fälligen Kritikpunkte gar nicht erst erreicht. Bei Hölderlin führt die Intensität seiner Beschäftigung mit den Griechen dazu, dass er von einer überwältigenden Trauer befallen wird, dass es diese Welt nicht mehr gibt und auch nicht mehr geben kann, es also eine kitschige Wirklichkeitsflucht bildet, wollte man die antiken Götter auferstehen lassen. Dabei übersieht Hölderlin aber auch nicht jene Aspekte, die notwendigerweise zum Untergang der antiken griechischen Kulturwelt geführt haben, die Schwäche der Griechen wird nicht ausgeblendet, auch von ihr will Hölderlin lernen. Gleichzeitig strebt Hölderlin eine Transformation griechischer Lebensform in seine gegenwärtige an.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen Wittgenstein und Hölderlin ist nicht zu übersehen, die Rolle der Ontologie: Schaltet der späte Wittgenstein die Seinsfrage aus, so wendet sich Hölderlin mit dem Sein, mit einem spezifischen Erleben der Zeit und der Begrenzung menschlicher Subjektivität in der Zerstörung durch Göttliches, das dem Selbstbewusstsein Grenzen aufzeigt, der Ontologie zu. Dies ist eine Ontologie, die sich gegen die idealistischen Ich-Überschätzungen wendet und dagegen, das Ich zum Prinzip zu erheben.21 Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass nach Wittgenstein die Lebensform als Grund der Sprachspiele vorgegeben ist, dagegen ist bei Hölderlin auch die Lebensform ein Resultat von Lernprozessen. Lernen ist die Lebensform des Geistes und in dieser Lebensform, sofern sie sich mit anderen Lebensformen koordiniert, findet eine höhere Form der Freiheit statt, nämlich die anderes anerkennende Akzeptanz, dass der Geist mannigfaltige Erscheinungsformen hat, die über die bloße Notdurft, das für das Überleben Notwendige souverän hinausgehen. –

Man kann mit Hölderlin ein zweifaches Erlernen der Sprache differenzieren: zunächst ein ungeistiges, abgerichtetes Regelfolgen und dann ein geistiges Erlernen mit und in dem Kontrast zu einer anderen natürlichen Sprache bzw. kulturellen Lebensform. Die anfängliche Entfremdung gegenüber der eigenen Kultur wird also durch eine zweite Ent-Fremdung (im wahrsten Wortsinne) überwunden. Es wird deutlich, dass auch epistemische Methoden wie z. B. die Induktion oder die Transferleistung der Übersetzung u. ä. mittels einer bestimmten Grammatik bereits einer kulturellen Prägung entspringen, die wiederum – wie Hölderlin betont – einer grundsätzlicheren Seinsdisposition des Verstehenden entspringt.

Hölderlin verdeutlicht eine existentielle und ästhetische Dimension von Tod, Zeit, Ordnung, Lebendigkeit, Tragischem, Natur und leiblichem Dasein, die in den beiden Kulturen Hellas und Hesperien gleichermaßen als Horizont gemeinsam da ist und vor deren Hintergrund als Lebensform allererst ein übersetzendes Verstehen der je eigenen und je anderen Kultur/Lebensform möglich wird. Hierin erblicke ich den zuvor genannten dritten Aspekt, der in Quines Theorie des sprachlichen Bezeichnens wesentlich ist, die „Reizbedeutung“ bzw. die Ebene konkreter Sinnlichkeit. Mit Hölderlin lässt sich das dahin gehend präzisieren, dass die existentielle Dimension z. B. des tragischen Todes eine solche Leiblichkeit und Sinnlichkeit erlebbar macht, vor der als gemeinsamem Hintergrund die kulturellen Bedeutungen allererst ausdifferenziert werden können. Hölderlin spricht in diesem Kontext vom „Athletischen des südlichen Menschen“, dem „heroischen Körper“, der „Athletentugend“ und der „Phänomenalisierung der Begriffe“.22 Hölderlin würde also Quine dahin gehend weiterführen, dass das wahre Verständnis des Eigenen allererst durch das Verstehen des Anderen ermöglicht wird; ohne Fremdverstehen bleibt man sich selbst fremd. Zugleich steckt darin eine ontologische Dimension, auf die Hölderlin aufmerksam macht; wenn man seinen Gedanken hier der theologischen Spekulationen entkleidet, bleibt der semantisch bedeutsame argumentative Kern übrig, dass alle grammatische Konstruktion von Wirklichkeit letztlich auf eine sinnliche Gegebenheit auch des eigenen Leibes verwiesen ist, die als Lebensform da ist, eine Seinsfügung. Hölderlin bezeichnet diese Ebene einer Vorgabe von Sein auch als eine „Totalwahrnehmung“ oder als „intellektuelle Anschauung“, der gegenüber sprachliche Urteilung und Differenzierung abkünftig ist, mit dem Wort von Hogrebe: eine „riskante Lebensnähe“.23

Die vorliegende Studie, die immer wieder Hölderlins Konzept der „abendländischen Wendung“ mit neueren Ansätzen der Sprachanalyse, Semantik und Hermeneutik vergleicht, fällt selbst in eine historische Wendezeit. D. h., Hölderlins abendländische Wende wird selbst aus dem Kontext einer geschichtlichen Wende gesehen; in philosophiegeschichtlicher Perspektive aus dem engeren Kontext des linguistic turn oder in größerer historischer Dimension im Kontext der Globalisierung. Innerhalb der Globalisierungen gibt es natürlich auch spezifischere kulturelle Wendungen, z. B. vom „alten Europa“ zur „Neuen Welt“.24 Hölderlins Wende von Hellas zu Hesperien wird also vor dem gegenwärtigen Wendungskontext der Globalisierung gesehen. Man kann selbstverständlich auch eine Art „abendländischer Wendung“ in europäisch-chinesischen Beeinflussungen sehen; wenn z. B. in China Karl Marx ein Denker von staatstragender Bedeutung ist.25 Allerdings darf der Begriff der „abendländischen“ oder der „vaterländischen Wendung“ natürlich auch nicht unzulässig verallgemeinert und damit inhaltsleer werden; sonst könnte man in die Gefahr geraten, mit Husserls Gedanken aus der Krisisschrift, die „Europäisierung der Menschheit“ als sich allein schon durch Verwissenschaftlichung erfüllendes Projekt zu sehen. Daher soll der Begriff im Folgenden nicht generell jede nationale und internationale Beeinflussung bezeichnen, und obgleich viele der spezifischen Einsichten Hölderlins gerade im Kontext gegenwärtiger Globalisierung gültig sind, soll er doch vor allem eine moderne europäische Beeinflussung bezeichnen.26 Deren philosophische Reflexion in dieser Studie fällt eben auch in eine geschichtliche Wendezeit im Sinne Hölderlins. Er brachte damit offenbar nicht nur einen spezifisch für seine eigene Dichtung und sein eigenes Denken wichtigen Zusammenhang auf den Begriff, sondern erschließt zugleich ein politisch-pädagogisch-philosophisch-hermeneutisch-ästhetisches Phänomen von generellem Rang. Die Reflexion auf diesen Kontext stellt also eine Art mentalitätsgeschichtlicher Selbstanwendung der These Hölderlins dar, nämlich der These, dass sich Lebensformen in ihrer Eigenheit nur dann frei verstehen können, wenn sie sich selbst aus dem Fremden heraus allererst ein zweites Mal selbst erkennen und dann, bereichert um das Andere, sich selbst neu erfinden und ihre eigentlichen Bedürfnisse sowie die Dürftigkeit der eigenen Zeit frei erkennen können. Das bedeutet, die europäische Traditionslinie kann sich selbst erst dann frei erkennen, wenn sie sich aus der andersartigen Lebensform reflektiert. Dabei besteht eine Parallele zu Hölderlin darin, dass sich analog zur Entwicklung von Hesperien aus Hellas Amerika aus dem „alten Europa“ entwickelt und vorhandene Traditionslinien solcherart radikalisiert hat, dass sie zu etwas Anderem geworden sind. Eine ganz ähnliche Entwicklung kann derzeit im Verhältnis von Amerika und China gesehen werden, denn der dort propagierte „Chinesische Traum“ ist sicherlich durch den „Amerikanischen Traum“ inspiriert und muss sich in der Dialektik zwischen liberaler Ökonomieauffassung und „Sozialismus mit chinesischem Charakter“ zurechtfinden, droht sich aber in der Fremde (von amerikanischem Kapitalismus und europäischem Kommunismus) zu verlieren, wenn er nicht wirklich frei zu einem Eigenen findet.

Endnoten

1Gegen die Deutungen von Wilhelm Michel Hölderlins abendländische Wendung, Jena 1923, der Hölderlin gar zum „deutschen Führer“ (S. 18) machte, wendet sich zu Recht Wolfgang Janke Archaischer Gesang. Pindar – Hölderlin – Rilke. Werke und Wahrheit, Würzburg 2005, S. 135 ff. Michel deutet, Hölderlin habe sich mit der abendländischen Wendung vom klassischen Ideal der antiken Griechen dem Christentum und besonders einem nationalistischen Deutschtum und von einem „schwärmerischen Pantheismus“ einem abendländisch-christlichen Weltbild zugewandt. Dagegen betont Janke (a.a.O., S. 137): „Das Orientalisch-Griechische und das Hesperisch-Vaterländische stehen einander gar nicht kontradiktorisch feindlich gegenüber, so dass der Aufgang des einen der Untergang des anderen wäre. Ihr Sprachgeist wandert und bewegt sich vielmehr vom Eigenen ins Fremde, um aus der Distanz des Fremden das übermächtige Eigene frei gebrauchen und ‚schicklich‘ gestalten zu können.“ Einen – freilich nicht mehr national chauvinistischen – Nachklang der Deutung von Michel findet man noch in Stephan Wackwitz Friedrich Hölderlin, Stuttgart 1997, S. 137, 143, der betont, mit der vaterländischen Umkehr sei bei Hölderlin eine Abkehr von der Antike und eine Hinwendung zum Abendländischen verbunden; gleichwohl sieht auch Wackwitz, dass z. B. für die späten Hymnen Hölderlins Pindar ein wichtiges Vorbild bleibt; dass dies nicht recht zusammengeht, wird von ihm aber nicht näher reflektiert. Die erste Kritik an Michels Deutung findet sich in Walter Hof Zur Frage einer späten ›Wendung‹ oder ›Umkehr‹ Hölderlins, in: Hölderlin-Jahrbuch 11 (1958 – 1960), S. 120 – 159. Zu Recht verweist Hof darauf, dass sich schon in früheren Entwicklungsphasen von Hölderlins Dichtungs-Denken Ansätze zu den späteren Gedankengängen finden und man daher eigentlich weniger von einer Wendung oder Umkehr als von einer Vertiefung sprechen sollte. Gleichwohl ist die „vaterländische Sangart“ des späten Hölderlin mit einer Zuwendung zu im Abendland beheimateten Themenkreisen verbunden. Ich denke, dass man „abendländische Wendung“, „vaterländische Umkehr“ und „vaterländische Sangart“ in Hölderlins Spätwerk deutlich unterscheiden sollte. Die abendländische Wendung findet sich als Terminus so nicht bei Hölderlin, beschreibt jedoch sehr gut, dass er sich in dieser Schaffensphase (1800 – 1804/06) einerseits ein neuartiges Bild der Antike erarbeitet – er kehrt sich also nicht von der Antike ab, sondern vertieft seine Deutung – und dass er andererseits seine Gegenwart, die ihn umgebende Natur sowie die Mythologie Hesperiens (bes. Deutschlands) neuartig reflektiert. Beides setzt er in ein spezifisches Verhältnis, welches die abendländische Wendung von Hellas zu Hesperien ausmacht und ein sowohl geschichtliches als auch metaphysisches Gesamtgeschehen bildet. „Vaterländische Umkehr“, manchmal auch „vaterländische Revolution“, bezeichnet dagegen einen geschichtlichen Veränderungsprozess, der innerhalb ein und derselben Nation geschieht, z. B. durch kulturelle oder politische Umwälzungen. Die „vaterländische Sangart“ ist eine neuartige, von Hölderlin in seinen späten Werken geschaffene Form der Dichtung, die die abendländische Wendung im Gedicht verarbeitet. Lawrance Ryan „Vaterländisch und natürlich, eigentlich originell“: Hölderlins Briefe an Böhlendorff, in: Hölderlin-Jahrbuch 34 (2004 – 2005), S. 246 – 276, betont die Kontinuität von Hölderlins Konzeption eines spezifischen Verhältnisses von Griechenland und Deutschland von der frühen Schaffensperiode über den Hyperion bis hin zu den späten Vaterländischen Gesängen, den späteren Briefen sowie den Anmerkungen zum Ödipus und denen zur Antigone. Die späten Böhlendorff Briefe bringen somit nur eine grundsätzliche Vertiefung der geschichts-philosophischen Gedanken Hölderlins auf den Begriff. Die Kontinuität zu betonen ist sicherlich korrekt, aber wesentliche Unterschiede und eine grundsätzlich neuartige, freiere Auffassung des Hesperischen beim späten Hölderlin dürfen deswegen nicht nivelliert werden. Dass Christus eine wichtigere Rolle spielt, die Göttin Germania eine metaphysische, friedenstiftende und allseits beratende Rolle bekommt, Rousseau ein Halbgott ist, der Rhein zum metaphysischen Fluss wird, eine Vereinigung von Göttlichem und Menschlichem im Zorn geschehen kann, die Transzendentalphilosophie mit ihrem spezifischen Apriorismus kritischer, ablehnender gesehen wird, die Metaphysik äußerst konkret und prägnant wird, sind sicherlich neuartige Aspekte in Hölderlins spätem Denken und Dichten – die natürlich auch Ryan sieht –. Diese neuartigen Aspekte in der Bestimmung von Hesperien bzw. Hölderlins gegenwärtigem Deutschland verändern auch seine Sicht auf die Griechen und damit natürlich auch den Zusammenhang von Hellas und Hesperien.

2Schon Jochen Schmidt Hölderlins geschichts-philosophische Hymnen „Friedensfeier“ „Der Einzige“ „Patmos“, Darmstadt 1990, S. 281 ff., deutet, dass Hölderlins Dichtung eine ästhetische Hermeneutik ist. Zum zeitgeschichtlichen Kontext der Interdisziplinarität vgl. Jürgen Stolzenberg Subjektivität und Leben. Zum Verhältnis von Philosophie, Religion und Ästhetik um 1800, in: (Hrsg.) W. Braungart, G. Fuchs, M. Koch Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. I: um 1800, Paderborn 1997, S. 61 – 81.

3In: Hermann F. Weiss Ein unbekannter Brief Friedrich Hölderlins an Johann Gottfried Ebel vom Jahre 1799, in: Hölderlin-Jahrbuch 31 (1998 – 1999), S. 7 – 33, hier S. 21.

4StA II/1, 53.

5Vgl. Willard van Orman Quine Wort und Gegenstand, Stuttgart 1998, § 15, S. 129; vgl. auch § 17, wo sich Quine ausdrücklich dem Behaviorismus Skinners anschließt, um den Vorgang des Spracherlernens zu erklären. Interessant ist dabei, dass bereits – mit den Worten Wittgensteins – das „Abrichten“ und „Regelfolgen“, welches die Erzieher beim Kind während des Prozesses des Spracherlernens implementieren, eine bestimmte kulturelle Praxis voraussetzt. Hölderlin würde dies wohl als die ordnungsliebende Grundtendenz des Abendlandes beschreiben. Dass nach Quine die eigene Sprache im Übersetzen eines Feldforschers, der sich anschickt, eine Dschungelsprache zu verstehen, den Ausgangs- und Referenzpunkt des Verstehens bildet, zeigt eine Passage wie die folgende: „Hypothesen muss man sich nämlich erst einmal ausdenken, und der typische Fall des Ausdenkens ist der, dass der Sprachforscher einer funktionalen Entsprechung zwischen einem einzelnen Bestandteil eines übersetzten ganzen Eingeborenensatzes und einem Wort gewahr wird, das einen Bestandteil der Übersetzung dieses Satzes darstellt. Nur auf diese Weise lässt sich erklären, wie man jemals darauf kommt, eine Redewendung der Eingeborenen als Pluralbildung, als Identitätsprädikat › = ‹, als kategorische Kopula oder irgendeinen anderen Teil unseres heimischen Apparats der Bezeichnung von Gegenständen radikal ins Deutsche/Englische zu übersetzen. Überhaupt gelingt es dem Sprachforscher nur durch derartige unmittelbare Projektion vorgängiger Sprachgewohnheiten, in der Eingeborenensprache allgemeine Termini ausfindig zu machen oder diese, nachdem er sie gefunden hat, zu seinen eigenen in Entsprechung zu setzen. Reizbedeutungen reichen nicht einmal aus, um festzustellen, welche Wörter – falls überhaupt – Termini sind, und erst recht nicht, um festzustellen, welche Termini umfangsgleich sind.“ (A.a.O., § 15, S. 132 f.) Es fragt sich natürlich, ob „Projektion“ tatsächlich überhaupt zum Verstehen des Anderen/Fremden führt oder ob es nicht vielmehr die Erkenntnis der Gründe ist, weshalb eine jeweilige Projektion gerade nicht funktionierte, die die Erkenntnis des Anderen ermöglichen sollte. Projektionen verähnlichen und nivellieren.

6Ludwig Wittgenstein Philosophische Untersuchungen, § 32, Frankfurt a.M. 2003, S. 32.

7Vgl. zu dieser Weiterentwicklung des augustinischen Ansatzes in Wittgensteins PU, §§ 5 – 7, 14 f.

8Vgl. hierzu die vorzügliche Studie von Michael Forster Wittgenstein on the Arbitrariness of Grammar, Princeton UP 2005.

9In dieser Richtung deutet den späten Wittgenstein auch Stanley Cavell The Claim of Reason. Wittgenstein, Skepticism, Morality, and Truth, Oxford 1979; dt. Der Anspruch der Vernunft. Wittgenstein, Skeptizismus, Moral und Tragödie, Frankfurt a.M. 2006, 225: „Im Philosophieren muss ich mir meine eigene Sprache und mein eignes Leben vorstellen. Ich verlange, dass die Kriterien meiner Kultur ausgebreitet werden, damit ich sie meinen Worten und meinem Leben gegenüberstellen kann, so wie ich sie aufnehme und wie ich sie mir vorstellen mag, und zugleich um meine Worte und mein Leben, so wie ich sie aufnehme, dem Leben gegenüberzustellen, das die Worte meiner Kultur für mich vorstellen mögen: um die Kultur sich selbst an den Nahtstellen gegenüberzustellen, an denen sie sich in mir begegnet.“ Beeindruckend klar ist hieran, dass Cavell die Aktivität des Philosophierens in der Frage, wie Kultur/Sprache gebildet wird, selbstreferentiell mitberücksichtigt. Cavell sieht die Klärung der Entstehung von Konvention als zentrales Problem des späten Wittgenstein. Für Wittgenstein bestehe Rationalität geradezu darin, einer Regel folgen zu können. Dabei seien Konventionen nicht einfach willkürliche, schnell veränderliche Festlegungen, vielmehr weisen sie eine Stabilität sozialer Praxis auf. Hierzu ist einschränkend zu sagen, dass nicht jedes Regelfolgen und nicht jede Konvention per se rational sind; denn freilich ist es oft rational, einer Regel nicht zu folgen. Manchmal folgt man dann vielleicht auch nur einer anderen Regel; revolutionäre Paradigmenwechsel à la Kuhn in den Wissenschaften oder in der Politik zeigen das. Zugleich wird deutlich, dass Hölderlins „abendländische Wende“ die Frage des Sprach- und Kulturlernens auf höherer Ebene thematisiert, nämlich nachdem auf erster Ebene Konvention erlernt wurde.

10Vgl. Wittgenstein PU, §§ 217, vgl. auch 241, 355.

11Daran wird deutlich, dass Hölderlins „abendländische Wendung“ zwischen antikem Griechenland und modernem Deutschland natürlich auch vor dem literarischen Hintergrund der seit dem Ende des 17. Jahrhunderts einsetzenden ›Querelle des Anciens et des Modernes‹ zu sehen ist. Vgl. hierzu Hans Robert Jauß Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der ›Querelle des Anciens et des Modernes‹, in: (Hrsg.) Ch. Perrault Parallèle des Anciens et des Modernes, München 1964, S. 8 – 64, sowie Manfred Fuhrmann Die ›Querelle des Anciens et des Modernes‹, der Nationalismus und die deutsche Klassik, in: Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen, (Hrsg.) B. Fabian, München 1980, S. 49 – 67, sowie Beda Allemann Hölderlin zwischen Antike und Moderne, in: Hölderlin-Jahrbuch 24 (1984/1985), S. 29 – 62.

12Vgl. Wolfram Hogrebe Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, Berlin 2009, S. 50 ff.; das Szenische als einen notwendigen und vorgängigen „Eigenspielraum des Existierens“ beschreibt Hogrebe auch folgendermaßen:„Es handelt sich immer um ein Szenisches, das wir auf Schritt und Tritt mitnehmen. Der Eigenspielraum bleibt konstant, selbst wenn sich die Szenen ändern. Das Szenische ist insofern keine Form des Gegenwärtigens (Form der Anschauung), sondern das Ereignis seiner ›aufgehellten‹ Möglichkeit, wie sie ›vor Ort‹ realisiert wird.“ (A.a.O., S. 99 f.)Diese Spielräume lassen sich phänomenologisch wohl durch das präreflexive cogito à la Sartre oder (in leiblicher Perspektive) durch die Reduktion auf die Primordialsphäre bei Husserl weiter aufhellen. In transzendentalphilosophischer Hinsicht ist hier Fichtes Konzeption eines reinen Übergehens vom Bestimmbaren zum Bestimmten passend (vgl. Fichte Wissenschaftslehre nova methodo; Nachschrift Krause 1798/99; (Hrsg.) E. Fuchs, Hamburg 1994, S. 37 ff.). Dabei handelt es sich um eine ideale Tätigkeit, die in einem virtuellen Übergehen besteht, woraus Zeit, Raum, Sinnlichkeit und Leiblichkeit allererst entstehen sollen. Jedenfalls liegt ganz auf der Linie Hölderlins, dass das „Szenische“ – wie es Hogrebe entwirft – in seiner medialen Seinsweise weder auf der Subjekt- noch auf der Objektseite und auch weder auf Seiten der Aktivität noch der Passivität zu verbuchen ist; es ist eine Art ursprünglich öffnendes Inter-esse.

14Wittgenstein PU, § 206, 135.

15Wittgenstein PU, § 199, 133.

16Lawrence Ryan Hölderlins Antigone. „Wie es vom griechischen zum hesperischen gehet“, in: Jenseits des Idealismus – Hölderlins letzte Homburger Jahre (1804 – 1806), (Hrsg.) Christoph Jamme und Otto Pöggeler, Bonn 1988, S. 103 – 121, betont zu Recht (bes. S. 104), dass mit der „vaterländischen Umkehr“ im Rahmen von Hölderlins Tragödienkonzeption nicht gemeint ist, dass eine Wendung zum Vaterländischen geschieht, sondern dass sich in dem jeweils Vaterländischen der verschiedenen Lebensformen von Hellas und Hesperien jeweils eine Wendung ereignet, nämlich im Verhältnis von Leidenschaft (Sinnlichkeit/Pathos) zur klärenden sprachlichen Reflexion. Die Wendung geschieht also zwischen Leidenschaft und Klarheit, man kann von dem einen oder dem anderen Pol ausgehen.

17Wittgenstein PU, Teil II, in: ders. Werkausgabe, Bd. 1, 568.

18Wittgenstein sagt damit nicht, dass man den Anderen mit seiner Innensphäre prinzipiell nicht verstehen kann, er sagt nur, dass der Andere rätselhaft erscheinen kann. Damit ist einfach gemeint, dass es zwar Lebensformen gibt, in denen sich eine sprachliche Öffentlichkeit ausprägt und selbst die Sprachspiele der Innerlichkeit von Subjekten intersubjektiv in bestimmten öffentlichen Sprachspielen vermittelt sind und verstanden werden können, aber der Andere verliert dadurch trotzdem nicht eine gewisse Rätselhaftigkeit. Diese ergibt sich aus dem Unterschied von Lebensform zu Lebensform und aus den öffentlich erlernten Sprachspielen der Innerlichkeit.

19StA III, 536.

20Dass Quine in seinem Konzept des Bezeichnens von Gegenständen durch Worte innerhalb des Spracherwerbs die Induktion voraussetzt und nicht eigens begründet, dass und mit welchem Recht es geschieht, wird an einer Wendung wie der folgenden deutlich: „Oder: Da der Lernprozess eine implizite Induktion des Subjekts in Bezug auf den Sprachgebrauch der Gesellschaft ist, …“ (a.a.O., § 26, S. 223).

21Vgl. insgesamt zur Möglichkeit einer nachkantischen Ontologie die differenzierten und weiterführenden Studien von Markus Gabriel Transcendental Ontology: Essays on German Idealism, New York/London 2011.

22Vgl. Hölderlins Brief an Böhlendorff, wahrscheinlich November 1802; StA VI/1, 432.

23Vgl. Wolfram Hogrebe Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, Berlin 2009.

24Die weite Verbreitung dieser europäisch-amerikanischen abendländischen Wendung lässt sich z. B. schon in den Wildwestromanen Karl Mays beobachten, der sozusagen „das Land der Indianer mit der Seele sucht“, oder in Dvořáks 9. Symphonie Aus der Neuen Welt.

25Eine abendländische Wendung ist aus europäisch-chinesischer Perspektive an Werken wie dem Chinesischen Teehaus von Friedrich dem Großen im Park von Sanssouci oder in musikalischer Hinsicht an Mahlers Lied von der Erde erkennbar.

26Im engsten Sinne einer „abendländischen Wendung“ von Hölderlin kann die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Griechenland und Deutschland bei der Fußball-Europameisterschaft 2004 gesehen werden, als Otto Rehhagel die Griechen zum Sieg führte. Eine Wendung ins verballhornt Komische erfuhr die Kehre von Hellas zu Hesperien schon in Grimmelshausens Simplicissimus (III/3 ff.), wo sich ein phantasierender deutscher Dichter für Jupiter hält, der einen „teutschen Helden“ erschaffen wird, welcher die gesamte Welt retten, sie mittels eines Parlaments beherrschen und zu „teutschen Tugenden“ befreien wird… Wenngleich Goethes Sicht des antiken Griechenlands von derjenigen Hölderlins abweicht, kann man doch beim späten Goethe des Faust II eine größere Nähe zu dem Antikenbild Hölderlins feststellen. Ansätze einer „abendländischen Wendung“ Goethes sind darin auszumachen, dass sich der deutsche mittelalterliche Faust bei seiner Zeitreise in die Antike in Helena verliebt, mit ihr den Sohn Euphorion zeugt (freilich eine nicht lange lebende Synthese aus Hellas und Hesperien) und die griechische Helena in das Mittelalter mitnimmt. Dort lernt Helena z. B. den „hesperischen“ gereimten Vers, den sie zuvor in antiker Sprechweise natürlich nicht kannte (vgl. V. 9369 – 9380). In der Antike fühlt sich bekanntlich Mephisto deplaziert, weil es ihm als mittelalterlich-nordischem Teufel dort gar zu sinnlich und lustvoll zugeht. Auch in der Gegenüberstellung der Klassischen Walpurgisnacht mit der Walpurgisnacht auf dem Blocksberg aus Faust I ist eine abendländische Wendung zu erblicken. Mit der Ermordung von Philemon und Baucis bricht Faust seine abendländische Wendung allerdings abrupt ab. Mit Nietzsches und Heideggers intensiver Beschäftigung mit der vorsokratischen Philosophie liegen ebenfalls „abendländische Wendungen“ in Hölderlins Sinne vor. Nietzsches Dionysisches und seine Nähe zu Heraklit bilden genau solche Annäherungen an die „dunkle“ Seite der Antike, die Hölderlin als eine Suche des Modernen nach Geschick, Feuer und Leidenschaft bezeichnet. Es ist dann natürlich bedenklich, wenn Heidegger trotz seines theoretischen Aufbruchs in die Fremdheit der Vorsokratiker letztlich immer „in der Provinz bleibt“ (vgl. Martin Heidegger Schöpferische Landschaft: Warum bleiben wir in der Provinz?, in: ders. GA Abt. I, Bd. 13, Aus der Erfahrung des Denkens (1910 – 1976), (Hrsg.) Hermann Heidegger, Frankfurt a.M. ²2002, S. 9 – 14). 1962 und 1967 hatte Heidegger ja tatsächlich Pauschalreisen nach Griechenland getätigt. Aus seinen Reiseberichten kann man allerdings entnehmen, dass ihn die Gegenwart und das Touristische so sehr abgestoßen haben, dass er meist nur Hölderlin lesend auf dem Schiff verweilte (vgl. hierzu GA Abt. III, Bd. 75, Zu Hölderlin – Griechenlandreisen, (Hrsg.) Curd Ochwadt, Frankfurt a.M. 2000, S. 213 – 273). Die 1933 in Warum bleiben wir in der Provinz? gelieferte Begründung für die Zurückweisung des Rufs nach Berlin hebt ja nicht die Freiheit im Eigenen durch Aufnahme des Fremden hervor oder erarbeitet sie sich; auch nicht die Angst, zum Aushängeschild der Nationalsozialisten zu werden, ist Motivation, in der Provinz zu bleiben, sondern es ist der Einschluss im Bäuerlichen – mit schönem Biss und den üblichen Schimpftiraden wird dieser Zug Heideggers trefflich von Thomas Bernhard in Alte Meister als betulich sentimentaler Ökokitsch kommentiert. Das sagt natürlich nichts Inhaltliches über die tiefsinnigen philosophischen Einsichten Heideggers zu den Vorsokratikern und zu Hölderlin aus.

I. Zeitenwende und Untergang des Vaterlandes – Anfänge und Formen ›abendländischer Wendung‹

Hölderlins Liebe zum Vaterland ist religiös bedingt. In der zweiten Fassung von Der Wanderer (wohl im Spätsommer 1800 entstanden) dichtet er:

Und so bin ich allein. Du aber, über den Wolken,   Vater des Vaterlands! mächtiger Aether! und duErd’ und Licht! ihr einigen drei, die walten und lieben,   Ewige Götter! mit euch brechen die Bande mir nie.Ausgegangen von euch, mit euch auch bin ich gewandert,   Euch, ihr Freudigen, euch bring’ ich erfahrner zurük.Darum reiche mir nun, bis oben an von des Rheines   Warmen Bergen mit Wein reiche den Becher gefüllt!Daß ich den Göttern zuerst und das Angedenken der Helden   Trinke, der Schiffer, und dann eures, ihr Trautesten! auchEltern und Freund’! und der Mühen und aller Leiden vergesse   Heut’ und morgen und schnell unter den Heimischen sei.1

Hier ist das „euch bring’ ich erfahrner zurück“ ein zentraler und changierender Gedanke: Die Göttlichen sind permanent präsent, bilden unsere Gegenwart, „mit euch brechen die Bande mir nie“. Die Realpräsenz der Göttlichen wird nun einerseits vom „Ich“ erfahren, komparativisch sind sie nun mehr vom Ich erfahren. Andererseits handelt es sich aber auch für die Göttlichen um einen Zuwachs an Erfahrensein, sie wurden intensiver zu Erfahrenen. Damit deutet sich ein neuartiger Erfahrungsbegriff an, der sich auch gegen das transzendentalphilosophische Verständnis von Erfahrung bei Kant oder Fichte wendet, denn dass man die Götter bzw. rein Intelligibles erfahren kann, wäre aus transzendentalphilosophischer Sicht ein Widerspruch in sich. Erfahrung setzt dort ein Mannigfaltiges der Empfindung voraus, das begrifflich synthetisiert wird. Hölderlins Empfindungsdaten des Göttlichen sind ihm aber konkret gegeben, er „erfährt“ sie. Eine solche Konkretion des Göttlichen ist aus der Sicht einer am spontanen, apriorischen Subjekt orientierten Transzendentalphilosophie nicht möglich. Hölderlins Metaphysik ist konkret. Wolfram Hogrebe2 legt für den frühen Hölderlin des Hyperion einen „mantischen Empirismus“ einleuchtend dar und dass uns mit der protosemantischen Wahrnehmung und Sensibilität für die Natur ein Sein anspricht, das semantischem Bedeutungswissen „ummantelnd“ vorhergeht und das Bedeutungswissen ermöglicht. Natur ist ein „subsemantisch Entgegenkommendes“,3 eine Ansprache durch die Dinge für unser ontologisches Resonanzorgan. Damit unser Resonanzorgan funktionieren kann, ist aber das entgegenkommende Sein von uns auch in einer Projektion zu beseelen, d. h., es muss für uns sein können. „Es gibt also ein Registrieren, das uns, die Registrierenden zwar nicht vergessen sein läßt, aber ebenso weiß, daß das Registrierte sich in einer Weise darbietet, die nicht allein durch Verweis auf uns verständlich gemacht werden kann.“4 Die Besonderheit von Hölderlins epistemischer Pointe bestehe darin, beide aufeinander zugehenden und Bedeutung konstituierenden Richtungen gesehen zu haben. Dies bilde eine genuine erkenntnistheoretische Leistung Hölderlins, die sich auch gegen Fichtes Verabsolutierung des Subjekts richte. – Man kann noch im Sinne Hölderlins ergänzen, dass diese bipolare Erkenntnisbewegung insbesondere dichterische Mittel erfordert, um tatsächlich beide Seiten zur Geltung kommen zu lassen. Denn mit Lawrence Ryans brillanter Hyperion-Deutung kann man den Hauptsinn dieses Romans in einer Beschreibung des Werdens eines Dichters sehen.5 – Die bipolare Erkenntnisbewegung in Bezug auf den späten Hölderlin weiterführend, kann man sagen, dass dort jene entgegenkommende Bewegung als „Naturmacht“ und als uns treffendes göttliches Sein im Tragischen für uns bedrohlich und feindlich ist, denn es ist nun eine „Einung im Zorn“ und die „Naturmacht“ wirkt bewusstseinszerstörend, wie „Verräter“ und in beidseitiger „Untreue“ verhalten sich dann Gott und Mensch, wenn sie sich begegnen, und der Gang der Natur ist „ewig menschenfeindlich“. Damit versucht der späte Hölderlin – im Unterschied zum frühen, bei dem jene bipolare Begegnung eine harmonische Entgegensetzung innerhalb eines in sich unterschiedenen Einen ist – in seinem Konkretismus noch stärker gegen Fichtes Ichphilosophie aufzuweisen, dass die Ein- und Abkapselungsstrategien des endlich-menschlichen Selbstbewusstseins als Resonanzboden zerstört werden, wenn die konkrete Erfahrbarkeit jener Seinsebene durch einen transzendentalen Apriorismus ausgeblendet wird. Die fast schon solipsistische Abkapselung des menschlichen Selbstbewusstseins ist für den späten Hölderlin nicht einmal mehr eine Leistung des endlichen Selbstbewusstseins, sondern die Göttlichen und das Sein lassen dies zu, damit die Menschen umso schmerzlicher, d. h. deutlicher, wieder ein Resonanzboden sein können. Die Erfahrbarkeit impliziert nämlich von Zeit zu Zeit, „damit der Weltlauf keine Lücke“ hat, dass der bewusste Resonanzboden von seinen Vorurteilen in einem tragischen Geschick gereinigt wird. Die Tragödie rückt die Verhältnisse zurecht und zeigt die den Menschen konstituierende Eingebundenheit in das konkrete Sein. Da diese bipolare Begegnung von entgegenkommendem Sein und Bewusstsein nach dem späten Hölderlin für den Einzelnen tragisch endet, wird der Dichter umso wichtiger, denn nur er kann nach dem Tod oder der Zerrüttung des Helden dieses Ereignis weitergeben. Es gibt aber auch unabhängig vom Phänomen des Tragischen für den Menschen die Begegnungsmöglichkeit mit der Natur bzw. der Naturmacht. Auch hier bewährt sich der mantisch-hermeneutische Deutungsansatz von Hogrebe. In der dritten Fassung von Griechenland, einem der letzten hymnischen Entwürfe, dichtet Hölderlin:

Denn lange schon steht offenWie Blätter, zu lernen, oder Linien und WinkelDie NaturUnd gelber die Sonnen und die Monde,Zu Zeiten aberWenn ausgehen will die alte BildungDer Erde, bei Geschichten nemlichGewordnen, muthig fechtenden, wie auf Höhen führetDie Erde Gott. Ungemessene SchritteBegränzt er aber, aber wie Blüthen golden thunDer Seele Kräfte dann der Seele Verwandtschaften sich zusammenDaß lieber auf ErdenDie Schönheit wohnt und irgend ein GeistGemeinschaftlicher sich zu Menschen gesellet.6

Die Natur steht unserem Lernen offen wie Blätter/Bücher, die Erde verfügt über eine alte Bildung und Gott begrenzt die menschliche Seele, sofern sie unangemessene (Interpretations)‌Schritte vornehmen möchte. Durch die göttliche Begrenzung unserer Seele wird Raum für die irdische Ansprache an uns durch Schönheit und Geist geschaffen. Dass Schönheit und Geist auf der Erde sind, bedeutet in Hölderlins spätem metaphysischen Konkretismus, dass sich dies in einer ganz bestimmten Topographie und bestimmten historischen Situation ereignet. Diese „Mantik“ bedarf einer epistemischen Enthaltsamkeit durch das deutende Subjekt, das sich ansprechen lassen muss. Darin steckt für den späten Hölderlin aber auch eine Gefahr, denn das epistemisch offen-unbestimmte Moment dieser Mantik kann schon wieder als eine Leistung des Subjekts missverstanden werden. In dem Entwurf Wenn aber die Himmlischen … führt Hölderlin aus:

Noch aber hat andreBei sich der Vater.Denn über den AlpenWeil an den AdlerSich halten müssen, damit sie nichtMit eigenem Sinne zornig deutenDie Dichter, wohnen über dem FlugeDes Vogels, um den ThronDes Gottes der FreudeUnd deken den AbgrundIhm zu, die gelbem Feuer gleich, in reißender ZeitSind über Stirnen der Männer,Die Prophetischen, denen möchtenEs neiden, weil die FruchtSie lieben, Schatten der Hölle,[…]Denn es hassetDer sinnende GottUnzeitiges Wachstum.7

Die Dichter haben sich an Zeichen zu halten, d. h., sie deuten die Adler (bzw. den Flug der Adler) als Zeichen des göttlichen Seins, sie können das uns übersteigende göttliche Sein nicht direkt deuten, das führt nämlich wieder in Selbstüberhebung; daher betont Hölderlin hier, dass der zu deutende Sinn nicht mit „eigenem Sinne“ vollzogen werden darf, dieser Eigensinn des mit mantisch-epistemischer Bescheidenheit auftretenden Dichterdeuters könnte nämlich auch schon wieder dialektisch in Unbescheidenheit und Zorn umkippen. Sich für die Ansprache des Seins und der Göttlichen offen zu halten, beweist nicht, dass in dieser Mantik doch das Subjekt das letzte Wort hat und mit seinem Zulassen die Macht darüber hat, was es angeht und was nicht. Man darf die Ahnung des Resonanzbodens nicht schon wieder als Wissen der Ahnung verbuchen. Über dem Adler, den die Dichter als Zeichen göttlichen Seins deuten, befinden sich wiederum die Sterne und Sternbilder („gelbem Feuer gleich“, „über Stirnen der Männer“, „die Prophetischen“, in der folgenden Strophe erwähnt Hölderlin die Dioskuren, Kastor und Pollux und spielt damit wohl auch auf das Sternbild der Zwillinge an),8 die nochmals den „Thron des Gottes der Freude“ weiter dem Blickfeld des Dichterdeuters entziehen. Mit diesem onto-kosmologischen Bild wird die doppelte Vermitteltheit dichterischen Deutens deutlich und damit die vorsichtige epistemische Enthaltsamkeit. Wer diese nicht übt, zieht sich den Hass des „sinnende‍[n] Gott‍[es]“ zu, denn schon solche Überheblichkeit, die im Wissen des Nichtwissens stecken kann, ist „unzeitiges Wachstum“. Das ahnende Deuten des Dichters ist nicht nur in die Richtung des Himmels begrenzt, sondern auch an Zeiten und Orte der Erde zurückgebunden.