Aus meinem Leben - Chaim Cohn - E-Book

Aus meinem Leben E-Book

Chaim Cohn

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Beschreibung

1911 in eine religiöse jüdische Familie Lübecks hineingeboren, emigrierte Chaim Cohn 1930 nach Jerusalem und studierte an einer Jeschiwa in Mea Shearim, dem frommen Viertel der Stadt. In den 1930er Jahren ging er jedoch wieder nach Deutschland, um in Frankfurt ein Studium der Rechtswissenschaften aufzunehmen. 1936 kehrte er ins damalige britische Mandatsgebiet zurück und ließ sich in Jerusalem als Anwalt nieder.

Nach der Gründung des Staates Israel wurde er zum federführenden Juristen des Landes und wirkte als Staatsanwalt, Generalstaatsanwalt, als Justizminister und über Jahre als Richter des Obersten Gerichts. Er arbeitete eng mit Fritz Bauer in Frankfurt zusammen, um Adolf Eichmann vor Gericht zu bringen. Die Urteile, die er fällte, standen immer im Zeichen der Menschenrechte, besonders im israelisch-palästinensischen Konflikt. Und er setzte durch, dass Homosexualität im Staat Israel nicht bestraft wurde, wie es das britische Recht noch für das Mandatsgebiet vorsah.

Chaim Cohns zahlreiche Bücher und Aufsätze zeigen seine profunde juristische wie geistliche Bildung. Seine Autobiographie erweist ihn als einen herausragenden Vertreter des deutschen Judentums in Israel.

2017 ist sein Standardwerk Der Prozess und Tod Jesu aus jüdischer Sicht im Jüdischen Verlag erschienen.

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Seitenzahl: 544

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Chaim Cohn

Aus meinem Leben

Autobiografie

Aus dem Hebräischen von Eva-Maria Thimme unter Mitarbeit von Jonathan Nieraad

Inhalt

1 Lübeck

2 Hamburg

3 München

4 Jerusalem – die Yeschiva von Rav Kook

5 Frankfurt

6 Erste berufliche Erfahrungen

7 Als Rechtsanwalt tätig

8 Ketzerische Gedanken

9 Agnostizismus

10 Glaube an Gott

1. Die kosmologischen Argumente

2. Das teleologische Argument

3. Das ontologische Argument

4. Das emotionale Argument

5. Das ethisch-moralische Argument

11 Die Schoah

12 Glaube an den Menschen

13 Zionismus

14 Die Anfänge des Staates Israel

15 Die Todesstrafe

16 Oberstaatsanwalt

17 Rechtsberater

18 Rabbinische Rechtsprechung

19 Das »Recht auf Rückkehr«

20 Religiöse Gesetzgebung

21 Fanatismus

22 Religiöser Zwang

23 Jesus

24 Erziehung

25 Die Affäre Kasztner

26 Prozesse gegen Nazi-Verbrecher

27 Richter

28 Auf dem Richterstuhl

Hermann Chaim Cohn – Lebenslauf

Bildnachweis

Personenregister

1

Lübeck

Das fromme jüdische Milieu, in dem ich geboren wurde und aufwuchs, war von eigentümlicher Dichotomie: auf der einen Seite die strengste Observanz aller Gebote der Tora, der geringfügigen wie der gewichtigen, ein fraglos-selbstverständlicher, vollkommener und blinder Glaube an den Gott Israels, an dessen absolute Gerechtigkeit, Gnade und Barmherzigkeit sowie an seine Tora, die höchste, unanfechtbare Wahrheit; auf der anderen Seite das tiefe Bewusstsein von den Werten der deutschen Kultur in all ihren Verästelungen und Erscheinungen, dazu auch die sorgfältige Pflege aller weltlichen Wissenschaften und schönen Künste. Wir waren deutsche Juden: Juden, was die Gottesfurcht, die Liebe zum Höchsten und den Lebenswandel auf den von ihm gewiesenen Wegen betraf; und Deutsche hinsichtlich der Sprache, der Kultur und dem Land. Anders gesagt: Als Menschen und in gesellschaftlicher Hinsicht empfanden wir uns nicht als Deutsche. Die Kontakte zwischen orthodoxen Juden und ihren deutschen Nachbarn beschränkten sich auf geschäftliche Beziehungen oder den gemeinsamen Unterricht in Schule und Universität. »Es ist ein Greuel, mit ihnen Brot zu essen«[1] – die Hauptsache war, die Kaschrut einzuhalten; doch bestand auch seitens der meisten Deutschen keinerlei Bedürfnis, mit Juden Umgang zu haben und sie etwa nach Hause einzuladen. Unter diesem Aspekt war unser Deutschtum etwas abstrakt, während das Judentum auch die kleinsten Bereiche unseres Lebens – des inneren, spirituellen wie des äußeren, praktischen – durchdrang.

Die Dichotomie, die ich hier beschrieben habe, war ihrer halachischen Grundlage wegen religiöser Natur. Die Lehrsätze von Rabbi Eliezer ben Azarya – »Ohne Tora keine Lebensart, und ohne Lebensart keine Tora« (BT Nezikin Avot 3,21)[2]– und von Rabban Gamliel, dem Sohn von Rabbi Yehuda ha-Nasi – »Schön ist das Studium der Tora mit weltlichem Tun verbunden, denn auf beides verwandte Mühe lässt die Sünde in Vergessenheit geraten« (ebd. Avot 2,2)[3] – wurden so verstanden, dass mit der »Lebensart« entsprechend der traditionellen Exegese nicht nur die Arbeit für den Lebensunterhalt gemeint war, sondern auch – und vielleicht vor allem – im wortwörtlichen Sinn die Konventionen, das Brauchtum des Landes, in dem wir in der Verbannung lebten. Dabei ging es nicht um den Weg, den die Tora uns zu gehen untersagt (beispielsweise nicht-jüdische Gepflogenheiten zu übernehmen), sondern um jene Lebensweise, die sich aufs Schönste mit der Tora verbindet. Samson Raphael Hirsch, Rabbiner in Frankfurt am Main und einer der führenden Köpfe unter den Gründern der deutschen Orthodoxie, prägte die Formulierung »Tora mit Lebensart« als Losungswort dieser Richtung im Judentum.

Und weil geschrieben steht: »Raum schaffe Gott dem Japhet, dass er wohne in den Zelten Schems« (1. Moses 9,27), lehrten die Weisen, »Schönheit schaffe Gott für Japhet, und er wohne in den Zelten Schems; die Sprache Japhets sei in den Zelten Schems zu finden … das Schönste Japhets sei in den Zelten Schems zu finden.« (BT Moʿed Megilla 9b; Raschi ebd.) Obwohl die Massora den Begriff »Schönheit« (yafyut) im Sinne von »Weisheit« (chokhma) interpretiert und mit der Sprache das Griechische gemeint ist, in denen sich die Nachkommen Japhets auszeichneten, fanden die Rabbiner Deutschlands die wortwörtliche Interpretation angemessener und subsumierten unter »Schönheit« alles Schöne, was es auf der Welt gab und der christlichen Tradition und Kultur zufiel.

Unter den Rabbinern Deutschlands, den Anhängern Samson Raphael Hirschs und jenen, die seiner Richtung folgten, nahm mein Großvater, Rabbi Schlomo Carlebach, Rabbiner in meiner Geburtsstadt Lübeck, einen bedeutenden Platz ein. Er war der Vater meiner Mutter und mein erster Lehrer, und als Kind sah ich in ihm das Sinnbild des vollkommenen Menschen – den jüdischen Gerechten und den deutschen Gelehrten. Er war eine höchst beeindruckende Persönlichkeit, sein Gesicht umkränzt von einer weißen Mähne und seinem weißen Bart, »der hinabwallte, so weit seine Gewänder reichten«[4]; dazu seine strahlenden, funkelnden Augen, das gütige Lächeln auf seinen Lippen. Zu Hause trug er eine große Kippa aus Samt, die er, wenn er unterwegs war, mit einem schwarzen breitkrempigen Hut vertauschte, den er mit einer tiefen Verbeugung zog, wenn er den Gruß von Mitgliedern seiner Gemeinde erwiderte, ja selbst vor den Schülern des jüdischen Lehrhauses nahm er ihn ab. Er kannte alle und erinnerte sich an jeden Einzelnen: Die Gemeinde war verhältnismäßig klein, und der Rabbi galt gleichsam als Vater aller Familien. Jede Angelegenheit, sie mochte geringfügig oder bedeutsam sein, wurde vor ihn gebracht – angefangen von ehelichen Problemen und Fragen der Kindererziehung bis zu geschäftlichen Dingen und finanziellen Streitigkeiten. Er hatte in Lübeck noch zwei Rabbiner eingesetzt, um im Bedarfsfall ein halachisch einwandfreies Bet Din – das rabbinische Gericht – einberufen zu können, und diese verdienten sich ihren Lebensunterhalt, indem sie Talmudunterricht erteilten. Der gute Ruf als väterlicher Typ des idealen orthodoxen Rabbis ging meinem Großvater überall in Deutschland voraus, und obwohl man ihm das Rabbinat in etlichen großen Gemeinden antrug, zog er es vor, in Lübeck zu bleiben. Nicht bloß aus Anhänglichkeit an den Ort und Verbundenheit mit seiner Gemeinde, sondern hauptsächlich deshalb, weil er nur in einer kleinen Gemeinde die meiste Zeit seinem Studium der Tora und dem Schreiben von Büchern widmen und jedem wie jeder aus der ihm anvertrauten Herde seine persönliche Aufmerksamkeit schenken konnte.

Die Bücher, die er schrieb, und die Themen, denen er sich zuwandte, spiegeln seine intellektuelle Vielseitigkeit wider. Zum einen verfasste er drei Bände mit Kommentaren zum Talmud, übrigens in hebräischer Sprache; zum anderen schrieb er auf Deutsch Bücher, die für Laien bestimmt waren: eines zum Thema der rituellen Reinheitsgebote für Frauen, das Reinheitsvorschriften enthielt, die noch heute befolgt werden; ein anderes mit dem Titel Praktischer Ratgeber für das jüdische Haus gab ausführliche Anweisungen, wie ein jüdisches Haus zu führen sei und insbesondere wie man Kinder aufziehen und ihnen den Geist des Erzvaters Jakob einflößen solle; wieder ein anderes beschäftigte sich mit der Geschichte der Juden in Lübeck, das er dem Andenken an dessen Rabbiner und jüdische Einrichtungen früherer Zeiten widmete. Als »Ratgeber für das jüdische Haus« veröffentlichte er einen Katalog von Büchern, die seiner Ansicht nach in jedem guten jüdischen Haus stehen sollten: Nach theologischen Werken – die hebräische Bibel, der Babylonische und der Jerusalemer Talmud, Midraschim, Gebetbücher – und Schriften zur jüdischen Geschichte, die von frommen Juden verfasst worden waren (mit Ausnahme beispielsweise von Heinrich Graetz) folgte eine Liste mit nicht-jüdischen Büchern, die in keiner Bibliothek eines jüdischen Hauses fehlen durften, darunter alle Werke von Goethe, Schiller, Lessing, Rückert, Hebbel, Grillparzer, Geibel, Liliencron, Körner, Kleist, Uhland, Hauff, Börne, ferner die Werke von Shakespeare, Ibsen, Bjørnson, Tolstoi, Racine und Molière und noch viele andere. Dazu kamen noch allgemeine Nachschlagewerke, auch zu Geographie und Geschichte und weiteren säkularen Wissenschaften. Er pries die »Einladung« der Geistesgrößen aller Völker und Generationen, mit ihrer Hilfe das eigene Heim zu zieren. Man durfte selbst am heiligen Schabbat, nachdem man der Pflicht Genüge getan und den Wochenabschnitt samt dessen Kommentatoren studiert sowie auch die Aussagen der mündlichen Lehre gemäß Halacha und Aggada gelesen hatte, zum Vergnügen sich eine Weile mit weltlichen Werken beschäftigen, um gleichsam den Bibelvers zu verwirklichen: »Und du sollst den Schabbat ein Vergnügen nennen« (Jesajas 58,13).

1 Beim Torastudium mit dem Großvater Yosef Cohn, 1926

Ich war etwa drei Jahre alt, als ich bei meinem Großvater anfing, Tora zu lernen. Aus irgendeinem Grund wählte er mich unter all seinen Enkeln aus, um mich nicht durch Hauslehrer, die von einer Anstellung zur anderen wechselten, sondern höchstselbst zu unterrichten. Bis zu seinem Tod, sechs Jahre später, ging ich weder in einen Kindergarten noch besuchte ich eine Schule. Nach dem Morgengebet ging ich mit ihm aus der Synagoge nach oben in seine Dienstwohnung, die sich im selben Haus befand, und nach einem kargen Frühstück betraten wir seine Bibliothek, das Allerheiligste; dann widmete er mir, dem kleinen Knirps, eine volle sehr konzentrierte Stunde, um am Schluss des Unterrichts die Schublade seines Schreibtisches zu öffnen und mir gleichsam als Lehrgeld ein Bonbon zu schenken. Ich erwähne die tägliche Näscherei, weil sie, was meine Ausdauer und meinen Fleiß betraf, von nicht geringer Bedeutung war. Zunächst lehrte er mich Hebräisch (selbstverständlich in der aschkenasischen Aussprache), um die Gebete und die Tora lesen zu können: Die Gebete lasen wir nach der Weise ihrer Melodien, den Pentateuch entsprechend der Intonation der Heiligen Schrift. Ob er – wie Rabbi Yochanan – der Ansicht war, dass, »wer die Schrift ohne Melodie liest und ohne Sang studiert« (BT Moʿed Megilla 32a), Gebote erfülle, die nicht zum Guten dienen, oder ob er meinte, dass es kein probateres mnemotechnisches Mittel als die Melodie gäbe, auf jeden Fall prägten sich meinem Gedächtnis die Texte nicht nur ihrem Wortlaut nach, sondern auch in ihrer Melodik ein. Und erst, nachdem er mich und meinen kleinen Schädel mit dem Unterrichtsstoff aus den Heiligen Schriften vollgestopft hatte, brachte er mir Lesen und Schreiben auf Deutsch, auch ein bisschen Rechnen und weitere Elementarkenntnisse bei – bis es mir in Fleisch und Blut übergegangen war, jeden Tag die erste Hälfte der Unterrichtsstunde dem Studium der Heiligen Schriften, die zweite den säkularen Fächern zu widmen. Seitdem habe ich es immer so gehalten und mir mein Lebtag zur Gewohnheit gemacht, meine Freizeit zu genau gleichen Teilen zwischen jüdischen Studien und der Beschäftigung mit anderen Themen aufzuteilen. Auch wenn meiner Ansicht nach die Wissenschaft des Judentums nicht als religiöse Pflicht, nicht als Theologiestudium angesehen werden kann, ist sie für mich nach wie vor ein unerschöpflicher Quell von Vergnügen und Inspiration. Ich sollte vielleicht noch darauf hinweisen, dass Großvater Nachfahre süddeutscher Landjuden war, die seit Jahrhunderten als Viehhändler lebten. Von ihren Kunden und Lieferanten nahmen sie »zehn Maß« (BT Naschim Kidduschin 49b) ihrer unverwechselbaren schwäbischen Mundart auf, die auch in ihren Gebeten und Gesängen in der heiligen Sprache unverkennbar zur Geltung kam. Sie wahrten die Tradition ihrer Väter und hielten die Gebote, dazu bestellten sie stets einen Lehrer für die Kleinen im Cheder, einen Chazan und einen Schochet. Gelegentlich sogar lauschten sie am Schabbat der Predigt eines von Gemeinde zu Gemeinde ziehenden Rabbiners. Als mein Urgroßvater glaubte, in diesem einen Sohn Zeichen intellektueller Begabung zu entdecken, schickte er ihn auf das Gymnasium in der Nachbarstadt – ein Fußweg von je zwei Stunden hin und zurück. Großvater musste – übrigens auch wir, seine Enkel, sechzig, siebzig Jahre später – zu Beginn jedes Schuljahrs ein Attest vom Rabbiner beibringen, dem zufolge es dem jüdischen Schüler untersagt war, am Schabbat und an den jüdischen Feiertagen die Schule zu besuchen. Von christlicher Seite wurde dieses Dokument aufgrund der Glaubensfreiheit verlangt und respektiert. Die Hoffnungen des Urgroßvaters sollten in Erfüllung gehen: Nachdem sein Sohn mit Auszeichnung das Gymnasium absolviert hatte, erhielt er ein Stipendium der Universität Tübingen und nahm das Studium mit dem Ziel auf, Lehrer zu werden. Als Hauptfach wählte er deutsche Literatur, und seine Doktorarbeit schrieb er über die deutsche Lyrik vor Lessing. Aber der Ehrgeiz seines Vaters gab sich nicht mit einem Deutschlehrer als Sohn zufrieden: Er wollte seinen Sohn als Rabbiner, als einen großen jüdischen Gelehrten sehen. Das von Esriel Hildesheimer gegründete Rabbinerseminar war noch nicht eröffnet. Es war damals üblich, dass die Kandidaten für das Rabbinat bei renommierten Rabbinern – zwei oder drei nacheinander – die Bibel studierten, bis sie für würdig befunden wurden, die Lehr- und Amtsbefugnis als Rabbiner zu erhalten. Fünfundzwanzig Jahre alt war mein Großvater, der Doktor der deutschen Literatur, als er von seinen Lehrern ordiniert und unmittelbar darauf berufen wurde, das Amt des Rabbiners in der kleinen Gemeinde von Lübeck zu übernehmen.

Seit drei, vier Generationen war es üblich, dass der kurz zuvor berufene junge Rabbiner die Tochter seines Vorgängers zur Frau nahm, und es dauerte nicht lange, dass Großvater Esther heiratete, die Tochter seines Vorgängers Alexander Susman Adler. Diese Ehe zwischen dem Sprössling ungebildeter Leute vom Land (in wörtlichem wie übertragenem Sinn)[5] mit der Tochter und Enkelin bedeutender Talmudgelehrter, die aus Osteuropa stammten, war überaus glücklich. Esther gebar acht Söhne und vier Töchter, und fünf der Söhne traten in die Fußstapfen ihres Vaters und wurden berühmte Rabbiner. Um das geringe Einkommen des Rabbiners aufzubessern, zogen die Großeltern in ihrem Heim noch sechs Kinder von auswärts groß, die sie de facto, nicht de jure, an Kindesstatt annahmen. Die Großmutter, bei der wegen der vielen Hausarbeit nachts nie das Licht ausging[6], war mit lyrischem Talent begnadet: Zu jedem freudigen Familienereignis verfasste sie ein Gedicht, das den Held des Tages pries; sie schrieb – ob sich eine Gelegenheit bot oder auch nicht – Liebesgedichte an ihren Mann, und zu jedem Fest und Feiertag reimte sie ein Liebeslied an den Vater im Himmel; schon möglich, dass die poetischen Talente und Neigungen dieser Großmutter meiner Tochter Yehudit vererbt wurden.

Der Bruder der Großmutter, Dr. Efraim Adler, war nicht allein der Vorsitzende der Gemeinde, sondern gehörte auch zu den führenden Köpfen der religiösen zionistischen Bewegung in Deutschland. Die zionistische Einstellung seines Schwagers ärgerte meinen Großvater, im persönlichen Umgang übergingen beide dieses Thema in einvernehmlichem Schweigen, um das enge Verhältnis zwischen ihnen nicht zu beeinträchtigen. Sonst aber sparte der Großvater nicht mit seiner scharfen Kritik an der zionistischen Idee. Das Vorhaben, die Juden aus den Ländern ihres Exils zu holen und ins Land Israel zu bringen, kam seiner Auffassung nach einer Gotteslästerung gleich, einer Grenzüberschreitung gegenüber dem Heiligen, gelobt sei Er, der uns in die Zerstreuung unter den Völkern geführt hatte und dessen Willen es war, uns aus unserem heiligen Land zu verbannen, bis zu dem Tag, da er uns seinen heiligen Messias senden werde, uns zu erlösen und in seinem Erbarmen nach Zion zurückzuführen. Die überstürzte Hast – die ihm als dünkelhaft und anmaßend erschien –, den Wiederaufbau von Zion und Jerusalem vor dem von Gott bestimmten Zeitpunkt voranzutreiben, war nichts anderes als eine Unverschämtheit gegenüber dem Himmel, eine Beleidigung des Schöpfers der Welt. Solange wir unter den Völkern zerstreut lebten, war uns geboten, die Zerstörung von Jerusalem zu beklagen, zu Gott zu flehen, er möge sich der Stadt erbarmen und sie in Bälde wieder errichten, und unsere Liebe zu ihr war von Sehnsucht und nimmermüdem Gedenken geprägt. Verständlicherweise rührte seine Gegnerschaft gegenüber dem Zionismus auch daher, dass die zionistische Idee ja von Beginn ihrer praktischen Umsetzung national-säkular und nicht religiös war. Er sprach der zionistischen Führung jegliche Autorität ab, den Juden neue Mitsvot zu geben, die ganz und gar nichts mit der Halacha göttlichen Ursprungs zu tun hatten. Er befürchtete, dass unter dem Einfluss der zionistischen Wortführer die Juden vom Weg der Tora und der Gebote abweichen würden, insofern ihr Zionismus als Surrogat für Gottesfurcht diente.

Als die Vereinigung der orthodoxen Rabbiner sich allerdings anschickte, Bann und Ausschluss über die zionistische Bewegung zu verhängen, sprangen er und seine Söhne in die Bresche und widersprachen entschieden diesem Vorhaben – nicht, weil der Zionismus etwa des Widerstands nicht würdig gewesen wäre, sondern weil Großvater es zutiefst verabscheute, überhaupt einen Cherem zu verhängen, ganz gleich aus welchem Anlass. Und bei Geldspenden entschied er rein theoretisch, dass es gestattet ist, die Armen Jerusalems, die der Tora und dem Gebet zuliebe dort leben, sogar den Bedürftigen der eigenen Stadt vorzuziehen. Als einer seiner Söhne nach Jerusalem berufen wurde, um an der Lämelschule Mathematik und Naturwissenschaften zu unterrichten, gab er ihm seinen Segen: Es war eine Mitsva, die Kinder des alten Yischuv auch in säkularen Fächern zu unterweisen. Die Broschüre, die er gegen den Zionismus geschrieben hatte, hielt er unter Verschluss, um den Konflikt unter den Juden nicht weiter zu verschärfen. Doch von da bis zur Aliya Tausender Juden ins Land Israel, die es wieder aufbauen und dort leben wollten, klafft ein tiefer Abgrund. Die Ablehnung des Zionismus fand ihre Entsprechung, wenn nicht teilweise ihren Ursprung, in Großvaters Deutschtum. Er war ein glühender deutscher Patriot: Er liebte seine deutsche Heimat und sah in der deutschen Kultur den Gipfel der europäischen Zivilisation. Dieses Deutschtum war für ihn auch ein religiöses Gebot: Es war Gott gewesen, der uns nach Deutschland gebracht hatte, und bei dem, was Gott tat, gab es keine Zufälligkeit und keine Willkür, und wer waren wir, dass wir die Richtigkeit seiner Erwägungen und die Lauterkeit seines Ziels anzweifeln dürften? Die Weisung des Propheten: »Suchet das Wohl der Stadt, in die ich euch verbannt habe, und betet für sie zum Herrn; denn ihr Wohl ist auch euer Wohl« (Jeremias 29,7), war seiner Ansicht nach ein Gebot der Tora, denn es steht geschrieben »Einen Propheten … wird dir der Herr, dein Gott, erstehen lassen … auf ihn sollt ihr hören« (5. Moses 18,15). Mehr noch: Wer sich gegen das Wort des Propheten vergeht, der wird durch die Hand Gottes des Todes schuldig, wie es heißt: »Wer aber auf meine Worte, die er in meinem Namen reden wird, nicht hört, an dem werde ich selbst es ahnden« (5. Moses 18,19; Maimonides, Sefer ha-Mitsvot, Osseh, 172; BT Nezikin Sanhedrin 89a). Und die Zusicherung des Propheten, der zufolge das Wohl Deutschlands auch das der Juden sei, wurde als zufriedenstellender – und verpflichtender – Grund genommen, das Wohl Deutschlands zum höchsten Ziel zu erklären: Es ging nicht bloß darum, für sein Wohl und das seiner Regierung zu beten, sondern es bestand auch die Pflicht eines jeden, seinen Beitrag zu Förderung und Gedeihen des Landes zu leisten. »Drischat ha-schalom« – die unermüdliche Suche nach Frieden, das dringende Fordern desselben – war nicht bloß gleichbedeutend mit äußerlicher Loyalität gegenüber den Gesetzen der Regierung und der Erfüllung staatsbürgerlicher Pflichten, sondern auch ein innerliches Streben mit Herz und Hirn, den Frieden zu mehren – im weitesten Sinn des Wortes. Diese Mitsva war nicht an Bedingungen geknüpft: Die Pflicht, die man gegenüber dem Staat hatte, lag nicht darin begründet, dass der Staat zum Wohle seiner Bürger wirkt und Übles von ihnen abhält; die Mitsva galt auch gegenüber einem antisemitischen Staat. Die Tatsache, dass man staatlicherseits gehasst wird und Hindernisse in den Weg gelegt bekommt, ändert nichts an der religiösen Pflicht, alles in seinen Kräften Stehende zu seinen Gunsten zu tun.[7]

Persönlich war Großvater allem Anschein nach nicht vom deutschen Antisemitismus betroffen oder je irgendwie beleidigt worden. Ganz im Gegenteil: Auch unter den nicht-jüdischen Bürgern hatte er als bedeutender Gelehrter, als begnadeter Redner und als Kenner der deutschen Sprache einen guten Ruf. Er wurde mehrfach einstimmig in die Bürgerschaft der Hansestadt gewählt und verstand es, dessen Mitglieder mit seinen flammenden Reden zu begeistern. Seine patriarchalische Erscheinung gehörte zum Erscheinungsbild der Stadt – und alle brachten ihm Hochachtung entgegen.

2

Hamburg

Mit Großvaters Tod im Jahr 1919 erloschen Glanz und Pracht[8] von Lübeck, und meine Eltern beschlossen, in die große Nachbarstadt, nach Hamburg, zu ziehen. Mein Vater war bereits in Lübeck als Bankier tätig gewesen, und es gelang ihm, in Hamburg ein größeres Bankgeschäft aufzubauen. In jungen Jahren wollte er gern Jura studieren, doch seine Mutter, die Rebbezin, entschied, dass ihr Sohn wie ihr Vater dafür bestimmt wäre, ein großes Vermögen zu erwerben, und schickte ihn als Lehrling zu einer jüdischen Privatbank nach Karlsruhe. Nach seiner Lehrzeit stieß er in einer orthodoxen jüdischen Zeitung auf eine Anzeige, dass eine Bank in Lübeck einen jungen, orthodoxen, dazu erfahrenen Bankier suchte. Und es geschah das Wunder – er fand bei dem Bankier Alexander Carlebach eine Anstellung, dem ältesten Bruder meiner Mutter. Er stieg nicht nur schnell im Geschäft auf und war bald zeichnungsberechtigt, sondern fand zudem im Haus des Rabbiners die Frau seines Lebens.

Mutter war die vierte der Töchter, die drei älteren waren sämtlich schon mit Rabbinern verheiratet. Es hieß vom Großvater, dass er seine Töchter humorvoll so charakterisierte: Die Erste ist die Schönste, die Zweite die Beste, die Dritte die Gescheiteste, und die Vierte – deren Ehemann nicht Rabbiner war – bekam den nettesten Gatten von allen. Sie wusste sehr wohl, wen sie bekommen hatte, und verehrte ihn über alle Maßen – und ich weiß nicht, ob ihre Verehrung der großen Liebe oder umgekehrt ihre Liebe der Verehrung entsprang. Auf jeden Fall war die Liebe gegenseitig und brannte wie ein ewiges Feuer in beider Herzen bis an ihr Lebensende.

Ich wuchs in einem harmonischen Heim auf, in dem die Liebe gleichsam zu Hause war – nicht nur die Liebe der Eltern, sondern auch die der Kinder. Meine drei jüngeren Brüder und ich, der Älteste, genossen alles, was es an Gutem auf der Welt gab. Obwohl unser Vater sehr wohlhabend war, erzog er seine Söhne zur Genügsamkeit: Auf unseren jährlichen Reisen in die Schweizer Berge, deren Gipfel wir von einem bis zum anderen Ende erklommen, stieg er in den prächtigsten Hotels ab, während wir in Jugendherbergen übernachten mussten. Und dies nicht deshalb, weil er seinen Söhnen etwas missgönnte oder es sich sonst nicht leisten konnte, sondern um uns zu Maßhalten und Beherrschung anzuhalten – ich fürchte, dass daher von Kindheit an mein Neid auf den Luxus des Vaters herrührte, der mich mein Lebtag bewog, luxuriöse Hotels zu wählen, insbesondere jene, in denen mein Vater seinerzeit abzusteigen pflegte. Jeden Freitag händigte er uns das Taschengeld aus, dessen Höhe er nach den Zensuren bemaß, die wir in der Schule erhalten hatten, wobei er darauf bestand, dass wir unser Geld nicht für sinnliche Genüsse, sondern als Almosen oder für Geschenke an andere ausgaben. Seit frühester Kindheit wurde es mir zur Gewohnheit, Freitagmittag in die Stadt zu gehen, um das soeben erhaltene Geld auszugeben, und zwar für ein Geschenk an meine Mutter zum Schabbat; seitdem ist mir das Verteilen und Auswählen von Geschenken ein ganz besonderes Vergnügen. Gastfreundlichkeit und Wohltätigkeit gehörten zu den Merkmalen meines Elternhauses: Keine Mahlzeit am Schabbat oder an einem Festtag, an der nicht an unserer Tafel ein auswärtiger Gast teilnahm, den Vater aus der Synagoge mitgebracht hatte, und auch gegenüber den Armen und Ungebildeten unter ihnen verhielt er sich überaus respektvoll. Sowohl Vater als auch Mutter waren in zahlreichen Hilfs- und Wohltätigkeitsorganisationen tätig. Einem von uns Brüdern wurde die Ehre zuteil, am frühen Freitagnachmittag unsere Mutter auf ihrem wöchentlichen Besuch ins Hospiz für unheilbar Kranke zu begleiten – sie setzte sich zu allen und unterhielt sich mit jedem von ihnen und wurde nicht müde, ihnen Mut zuzusprechen, und die Kranken ihrerseits waren von der eleganten Dame höchst angetan, die Anmut und Güte verbreitete. Um ihren Haushalt musste sie sich nicht viel kümmern, denn die für die Küche verantwortliche Haushälterin, eine achtbare verwitwete Dame, war nicht nur mit der Haushaltsführung betraut, sie wies auch die drei (christlichen) Hausangestellten an, von denen jede Einzelne für die Sauberkeit und Ordnung einer der drei Etagen des geräumigen Hauses zuständig war. Im Keller des Hauses befand sich eine separate Wohnung aus zwei Zimmern und einer Küche, die einem christlichen Ehepaar zur Verfügung gestellt worden war; im Austausch für ihre mietfreie Wohnung pflegten sie den Garten, kümmerten sich um die Zentralheizung und fungierten – und das war die Hauptsache – als »Schabbesgojim«, bei denen wir auch vor Pessach alles Gesäuerte deponierten. Wir Kinder besuchten sie gerne und plauderten mit ihnen, dabei bedurfte es nicht weiterer Ermahnungen, kein Essen bei ihnen anzurühren. Und sie ihrerseits achteten peinlich genau darauf, dass wir nichts Trefes in den Mund steckten.

Nach dem Umzug nach Hamburg sah es mein Vater als seine erste und oberste Pflicht an, sich unverzüglich dem »mara de-atra«, dem ortsansässigen Rabbiner, vorzustellen – so war es im Haus seines Vaters und dem seines Schwiegervaters Brauch. Der Oberrabbiner Spitzer stammte aus Ungarn, war Schüler und Verwandter der Gelehrtenfamilie Sofer aus Pressburg. Zwar trug er ebenfalls einen Doktortitel – ohne den er nicht hätte Oberrabbiner in Hamburg werden können –, doch blieb er zeit seines Lebens der ungarischen Schule treu, nahm es äußerst genau mit der Halacha, zeigte keinerlei Verständnis und Geduld gegenüber Zionisten und Reformern und hielt sich von den Mitgliedern seiner Gemeinde fern, denn der Kontakt mit ihnen kam ihm wie Verschwendung jener Zeit vor, die er dem Studium der Tora widmen sollte. Mit meinem Vater fand er irgendwie eine gemeinsame Sprache. Vom ersten Besuch an bis zu seinem Fortgang aus Hamburg war mein Vater ein treuer Anhänger des Rabbiners, und bei den zahlreichen Konflikten zwischen diesem und den Vorstehern der Gemeinde unterstützte er ihn immer und gab ihm Rückendeckung. Ich kann nicht umhin zu vermuten, dass der Rabbiner meinem Vater einen Gefallen tun und sich erkenntlich zeigen wollte, als er ihm nach einigen Jahren vorschlug, mich, seinen ältesten Sohn, im Talmud zu unterrichten – eine absolute Ausnahme, weil der Rabbiner Kindern keinen Unterricht erteilte –, und ich Kleiner sollte das Glück haben, einmal in der Woche bei ihm eine Stunde Unterricht über einen Talmudkommentar zu erhalten, nachdem ich Bar-Mitsva geworden war. Bei ihm lernte ich – ohne mir zu jenem Zeitpunkt dessen bewusst zu sein –, was es mit der Strenge des Gesetzes auf sich hat.

Die »Großgemeinde« von Hamburg trug den Namen »Deutsch-israelitische Gemeinde«. Sie war »groß«, nicht, weil ihr etwa viele Mitglieder angehörten, sondern weil sie alle Strömungen des Judentums in sich vereinigte: Orthodoxe, Konservative und Liberale bzw. Reformer. Im Rahmen der Großgemeinde unterhielt jede Richtung eigene Synagogen und andere Institutionen, doch der Oberrabbiner der gesamten Gemeinde war gemäß den Statuten immer der Rabbiner, der von der orthodoxen Teilgemeinde gewählt worden war. Deren offizieller Name lautete »Deutsch-israelitischer Gemeindebund«. Und nicht umsonst, denn die Zahl der orthodoxen Synagogen in Hamburg betrug über zwanzig, während die Konservativen und die Liberalen nur je ein Gotteshaus hatten. Bei den orthodoxen Synagogen – die sich hinsichtlich der Observanz der Mitsvot nicht unterschieden – hatte jede Einzelne ihren eigenen Rabbiner, und aus diesen Rabbinern setzte der Oberrabbiner im Bedarfsfalle das rabbinische Gericht, den Bet Din, zusammen. Der Oberrabbiner betete ausschließlich in der großen Synagoge – einem überaus prachtvollen Bau, der in der Pogromnacht 1938 zerstört wurde – und auch unser Vater ging aus Respekt vor dem Oberrabbiner nur dorthin. Nicht so wir, die Söhne; jeder von uns betete in einer anderen Synagoge.

Als die Geburt unseres Bruders Schlomo unmittelbar bevorstand und das Haus ruhig und ohne Kinder sein sollte, wurde ich, damals zehnjährig, bei meinem Lehrer untergebracht, der Gabbai in einer der Synagogen war, die in der Nähe unseres Hauses lag, und seitdem ich ihn einmal dorthin begleitet hatte, blieb ich ihr treu. Nachdem ich Bar-Mitsva geworden war, nahm man mich als »baʾal-kore ba-Tora«[9] auf, als Vorleser des Wochenabschnitts, zunächst an jedem Montag und Donnerstag, bald dann auch am Schabbat und an den Feiertagen. Das war für mich nicht nur eine angenehme Erfüllung der Mitsva, sondern zudem eine ausgezeichnete Übung im Auswendiglernen des Textes und ein Gedächtnistraining; ich hatte den Ehrgeiz, absolut genau und ohne jeden Fehler zu lesen. Allerdings begann meine Karriere als »baʾal kore« bereits im Alter von sechs Jahren. Anlässlich der Hochzeit des jüngsten Bruders meiner Mutter kam damals, während des Ersten Weltkriegs, die ganze Familie in einem kleinen Dorf zusammen. Der Großvater, seine Söhne und Schwiegersöhne, die Rabbiner und die übrigen Gäste bildeten den Minyan zum Morgengebet an jenem Tag, an dem aus dem Wochenabschnitt der Tora gelesen wird, und unvermittelt und ohne jede Vorwarnung kündigte der Großvater an, sein kleiner Enkelsohn werde aus der Tora vorlesen! Und sogleich erhob ich meine zarte Stimme und ließ den Bibeltext in der richtigen Betonung vernehmen – ganz wie ein gebildeter und erfahrener Vorleser.

Ungefähr zwei Jahre, nachdem wir nach Hamburg gezogen waren, kamen auch die Eltern meines Vaters nach, Rabbiner Yosef Cohn und seine Frau, die Rebbezin Mirjam, genannt Mieke, und den Platz meines ersten Lehrers, des Vaters meiner Mutter, nahm nun mein zweiter Lehrer ein, der Vater meines Vaters. Zwar ging ich inzwischen wie alle Kinder zur Schule, aber die Nachmittagsstunden verbrachte ich beim Großvater und lernte Gemara. Ich mochte keinen Sport, und die üblichen Kinderspiele langweilten mich. Ich war als »Streber« übel beleumdet, als einer, der nichts mit den anderen zu tun haben wollte. Die Zeit, die mir nach dem Unterricht am Vormittag und dem Talmudlernen am Nachmittag blieb, verbrachte ich mit Lesen – und ich las alles, was mir nur irgend in die Hände fiel. Mein Vater besaß eine recht große Bibliothek der zeitgenössischen Literatur, und ich verschlang alles – in aller Offenheit und vor aller Augen, was ich durfte, und heimlich, was mir untersagt worden war. Einmal wurde ich bei der verbotenen Lektüre eines Romans von Emile Zola erwischt, und nachdem ich eine Ohrfeige vom Vater eingesteckt hatte, wurde beraten, wie man mich in Zukunft vom Genuss verbotener Früchte fernhalten könnte. Die Großmutter entschied – und sie war in unserem Haus die absolut höchste Instanz –, dass man meinetwegen keine Vorbeugungsmaßnahmen zu ergreifen brauchte: Was der Junge nicht versteht, kann ihm nicht schaden, und was er versteht, ist dazu angetan, ihm zu nützen. Von da an war ich frei, meine Lektüre nach Herzenslust zu wählen.

Nicht umsonst trug ich diese oder jene Angelegenheit der Großmutter vor, ehe ich mit dem Großvater, ihrem Ehemann, darüber sprach. So groß dessen Einfluss auf mich und meine Entwicklung auch war, so war doch der der Großmutter stärker. Sie war eine Tochter aus reichem Hause. Es hieß von ihrem Vater, R. Leibl Gutmann, dass er, als seine Tochter das Heiratsalter erreicht hatte, zum Leiter des Rabbinerseminars ging und ihn bat, ihm den begabtesten unter seinen Schülern zum Schwiegersohn zu geben. Der Rabbi schickte ihm unseren Großvater, und als sie ihn sah, entschied sie sich sofort, ihn zu heiraten. Sie war und blieb die Person im Haus, die alles entschied. Als der Großvater ihr über die bittere Armut klagte, die im Haus seiner Eltern herrschte, und über seine vier Schwestern, für die man aus Geldmangel keine Bräutigame finden konnte, schritt sie umgehend zur Tat und teilte ihre beträchtliche Aussteuer in vier Anteile auf – für jede Schwester einen – und alle wurden glücklich verheiratet. Es machte ihr nichts aus, dass für sie und ihren Ehemann überhaupt nichts übrig blieb. Sowieso muss der Mensch ja von seiner Hände Arbeit leben, und das Rabbinergehalt, so jämmerlich es war, musste für ihren Lebensunterhalt eben reichen.

Es verstand sich damals bei uns und unseren Großeltern, dass eine verheiratete Frau nicht ohne Kopfbedeckung ging, sondern eine Perücke trug – eine Maskierung, die meine Großmutter mit Widerwillen erfüllte. Sie bemerkte ihrem Bräutigam gegenüber: »Die Männer, die ihren Kopf bedecken müssen, genügen der Pflicht mit einer kleinen Kippa? Da werde ich eine bestickte Handarbeit tragen, die ich mir auf meine Haare setze«. Und so ging sie zeit ihres Lebens mit einer kleinen gestickten Haube umher – schwarz an den Werktagen, weiß am Schabbat und an den Feiertagen.

Gleich nach ihrer Hochzeit begaben sie sich an den Ort der ersten Rabbinerstelle des Großvaters, eine Kleinstadt in Mähren, und zwar fuhren sie über Wien dorthin. Die Großmutter hatte große Lust, in die Oper zu gehen, allerdings weigerte sich der Großvater, sie wegen der dort auftretenden Sängerinnen zu begleiten.[10] Nachdem sie ihn inständig angefleht und feierlich versprochen hatte, es werde dies das erste und letzte Mal sein, dass er zu einer Übertretung genötigt werde, um seiner Frau eine Freude zu bereiten, gab er nach und begleitete sie. Später, als sie nach Hamburg gezogen waren, wo es auch ein prachtvolles Opernhaus gab, hatte sie ein Abonnement und besuchte jeden Donnerstag eine Aufführung. Und da der Großvater nicht mitging, hatten meine beiden Brüder und ich der Reihe nach die Ehre, sie zu begleiten. Seitdem ist mir die Oper die von allen liebste musikalische Gattung geblieben.

Die Großmutter hatte die Angewohnheit, hinter ihrem Ehemann, dem Rabbiner, Platz zu nehmen, wenn er eine strittige Sache zwischen zwei Parteien zu entscheiden hatte. Nachdem die Gegner jeweils ihre Ansichten vorgetragen hatten, mischte sie sich ein, um sie zu einem Kompromiss zu bewegen. Sie war der Ansicht, dass es Aufgabe des Rabbiners war, ein halachisch einwandfreies Urteil zu fällen, während ihre Funktion darin bestand, Frieden zwischen den Kontrahenten herzustellen. Wenn sich beide Seiten einigten, war alles in Ordnung; wenn sie sich nicht versöhnten, verließ sie das Zimmer und überließ den Kampfplatz ihrem Mann. Aber sie verzieh nie, wenn jemand sich weigerte, einen Vergleich zu schließen, und hartnäckig weiter stritt, dem blieb ihr Haus verschlossen und sie brach jeglichen Umgang mit ihm ab. Und Großvater wusste zu berichten, dass am Vorabend von Yom Kippur alle Familienväter früh bei ihr vorstellig wurden, um sie um Verzeihung für ihre Vergehen zu bitten – wenn es denn welche waren –, und erst dann öffnete die Großmutter wieder ihr Haus und ihr Herz.

Außerdem erzählte Großvater noch eine Geschichte, die sich an einem Freitag, also am Vorabend zum Schabbat zutrug: Es dämmerte bereits, als eine arme Frau mit einem Geflügel in der Hand erschien, um den Rabbiner zu fragen, ob dieses koscher oder trefe sei. Die Großmutter empfing sie und sah sofort, dass das Huhn trefe war. Sie ging zu ihrem Mann, zeigte es ihm, und dieser bestätigte ihr Urteil. Sie ging zu der Frau zurück und verkündete ihr strahlend: »Das Huhn ist nach der Halacha zum Verzehr geeignet. Habt einen fröhlichen Schabbat zusammen!« Dem fügte Großvater noch hinzu: »Sie hat mich besiegt, meine Frau, besiegt hat sie mich!«[11] Wenn es sich so traf und der Großvater am Monatsanfang in die Büros der Gemeinde kam und sah, dass sämtliche Amtsträger der Gemeinde ihr Monatsgehalt abgeholt hatten, wollte auch er seines erhalten. Doch der Schatzmeister der Gemeinde wies das zurück: Man brauchte die schriftliche Bestätigung der Rebbezin, dass das Gehalt ausgezahlt worden war.

Und in der Tat war es eine eiserne Regel der Großmutter, ihren Ehemann von allen weltlichen Angelegenheiten fernzuhalten und streng darüber zu wachen, dass er sich ganz dem Studium der Tora und der wissenschaftlichen Arbeit widmen konnte. Sie erlaubte niemandem, ihn zu stören, sie befragte jeden, der den Rabbiner sprechen wollte, peinlich genau und entschied dann, ob sein Anliegen es rechtfertigte, dass man ihren Mann störte. Und im Allgemeinen war sie es, die zum Rav hineinging, ihm die Angelegenheit des Besuchers darlegte und diesem dann die Antwort übermittelte. Es bestand zwischen ihnen eine systematische Arbeitsteilung: Sie war für alle externen und administrativen Angelegenheiten des Rabbinats zuständig, er musste sich nur um rabbinische Fragen kümmern, die er ihr nicht übertragen konnte.

Und so kam es, dass Großvater sich zeit seines langen Lebens mit Tora und gelehrter Forschung beschäftigte. Der repräsentative und autoritative Aspekt des Rabbinats war ihm zuwider. Selbst in der Synagoge zu predigen war in seinen Augen nicht mehr als eine Bürde, der er sich freilich nicht entledigen konnte. Als einmal die Stelle des Vorbeters frei wurde, verlangte er von den Gemeindeältesten, sich für den Chazan zu entscheiden, der auch predigen könne. An jedem Schabbat nach dem Minchagebet hielt er einen Schiur für alle Gottesdienstbesucher in der Synagoge ab, sei es über einen Midrasch, über die Pirke Avot oder über die Psalmen – doch davon abgesehen verschwendete er seine Zeit nicht mit Unterrichtsstunden – dafür stellte man Lehrer ein. Als er 65 Jahre alt wurde, ließ ihn Gott in seiner Güte ertauben, und da er nun nicht mehr hören konnte, vermochte er auch nicht mehr sein Amt als Rabbiner zu versehen. Nachdem er in Hamburg ungefähr fünf Jahre seiner Arbeit nachgegangen war, widmete er zum ersten Mal in seinem Leben seine Zeit großzügig der Unterweisung. Es war ihm eine Freude, seine Enkel zu unterrichten und ihnen die Fülle seines Wissens zu vermitteln.

Großvater war seiner Natur und Neigung nach ein Philologe: Er kannte sich nicht nur in den geheimsten Schatzkammern der hebräischen und aramäischen Sprache bestens aus, sondern war auch im Assyrischen, Babylonischen, Griechischen, Lateinischen und selbst im klassischen Arabisch bewandert. Seine an der Universität Breslau eingereichte Dissertation hatte er über den muslimischen Philosophen Al Muafa ben Ismail geschrieben, dessen Werke er aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt hatte. Er hielt dafür, dass am Anfang von Weisheit und intellektuellem Vergnügen die Grammatik stand. Er veröffentlichte eine umfängliche Studie über den Dagesch, sowohl den Dagesch chazaq wie den Dagesch qal[12], beschäftigte sich jahrelang mit den Akzenten der hebräischen Sprache; er übersetzte etliche Werke von Philo aus dem Griechischen ins Deutsche, und knapp achtzigjährig kopierte er noch eine in der Vatikanischen Bibliothek befindliche Handschrift von Rabbi Menachem ha-Meʿiri über die Psalmen und veröffentlichte die Abschrift zusammen mit seinen Anmerkungen.

Zum Zeitpunkt, da ich bei ihm zu lernen begann, hatte er sich völlig in den Traktat Avoda Zara (Götzendienst, BT Nezikin) vertieft. Hätte ich die Wahl gehabt, wäre ich kaum auf diesen Traktat gekommen, weil er nicht von sonderlich großer Aktualität ist. Großvater lehrte mich, dass es im Ozean des Talmud nicht darauf ankäme, was man lernt – alles in der mündlichen Lehre wäre von Bedeutung; es gehe einzig darum, wie man lerne. Dieses »Wie«, von dem er sprach, begriff ich rasch: Grundlage seines Unterrichts war die Etymologie. Jeder einzelne Begriff erhielt seine grundlegende Analyse, wobei es nicht nur auf seine Bedeutung ankam; wichtig waren zudem seine Quelle und Entsprechungen in anderen Sprachen sowie seine Veränderungen von einer Sprache zur anderen, von einer Epoche zur anderen. Nachdem wir den Traktat Avoda Zara beendet hatten, verfasste und publizierte er einen langen Essay über unterschiedliche Begriffe in dem Traktat, die Märkte bezeichnen. Nach Avoda Zara entsprach er meiner Bitte, zum zweiten Buch des Talmuds, zum Seder Moʿed, überzugehen, wobei sein Vorgehen dasselbe blieb. Großvater legte in mir das präzise Gefühl und die Genauigkeit im Gebrauch der Sprache an, die Wissbegier, sich in die Geheimnisse der Wörter zu vertiefen, und die Liebe zum Forschen und Lehren um ihrer selbst willen – auch ohne unmittelbaren praktischen Nutzen.

Bei diesen täglichen Unterrichtsstunden saßen wir, Großvater und ich, nicht allein beieinander, stets war auch die Großmutter anwesend. Sie strickte und stickte und nähte die ganze Zeit über, doch ihre Handarbeit lenkte ihre Aufmerksamkeit keinen Augenblick von dem ab, was sie aus unserem Munde vernahm. Sie hörte zu, schwieg aber keineswegs. Jedesmal, wenn sie etwas nicht verstanden hatte, bat sie, dass man ihr es erkläre, und gelegentlich übte sie scharfe Kritik an den Ausführungen dieses oder jenes Tannaiten oder Amoräers. Großvater lächelte, wenn er diese Zwischenrufe vernahm, und fuhr in seinem Unterricht fort, doch in meinem jungen Gemüt hinterließen ihre Reaktionen einen unauslöschlichen Eindruck. Damals schon begann ich zu begreifen, dass man nichts als absolute Wahrheit hinnehmen darf, die über alle Kritik erhaben ist. Dass alles, was man mich lehrte, cum grano salis (BT Moʿed Schabbat 31a – mit einem Kav Salzsand) zu nehmen sei, etwa im Sinne der Redeweise »Respektiere den anderen, aber sei auf der Hut«, und dass ich niemals ein freier Mensch sein werde, wenn ich aufhöre, selbst zu überlegen und nachzudenken.

Anders als der Schwiegervater, der Rabbiner von Lübeck, war der Hamburger Großvater kein Antizionist, allerdings auch nicht zionistisch gesonnen. Bis zur Regierungsübernahme durch Hitler sah er weder Grund noch Anlass, sein Land zu verlassen und ins Land Israel einzuwandern, aber er verstand und respektierte die Auffassung jener, die es als ihre Pflicht ansahen, ins Land zurückzukehren und es aufzubauen. Es lag ihm fern, sich in politische Angelegenheiten einzumischen – weder in jüdische noch allgemeine. Weil jeder Mensch seine eigene politische Meinung je nach Geschmack und Wahl haben durfte, so nahm er sich die Freiheit, sich keine politische Meinung, welcher Art auch immer, zu bilden. Es kommt mir so vor, als sei er der einzige Rabbiner in Deutschland gewesen, der gleichzeitig in allen drei Rabbinervereinigungen Mitglied war – bei den Orthodoxen, den Zionisten und den Liberalen oder Reformern, nicht im Sinne einer politischen Stellungnahme, sondern um praktisch seiner Auffassung Ausdruck zu verleihen, dass alle Juden verpflichtet seien, für einander zu bürgen und einzustehen.[13] Als die Nazis an die Regierung kamen, setzte er alles daran, ins Land Israel zu gelangen und sich in Jerusalem niederzulassen, wo er noch lange und in Frieden lebte.

Nach Abschluss meiner Schulzeit ging ich von unserer Heimatstadt Hamburg an die Universität München – ich war damals 18 Jahre alt. Mit meinem Fortgang endeten auch die tagtäglichen Talmudstunden beim Großvater, aber von da an bis er zu uns nach Jerusalem gezogen war, berichtete ich ihm allwöchentlich und bis ins kleinste Detail in einem Brief von meinen Talmud-Tora-Studien, auch über einzelne, zumal grammatische Probleme, und es entwickelte sich ein lebhafter Briefwechsel zwischen uns mit talmudischen und philologischen Erörterungen – zu meinem großen Bedauern sind diese Briefe verloren gegangen.

Die Schule, die ich verließ, war das städtische »Realgymnasium«. Es hieß deshalb »Gymnasium«, weil auch Griechisch und Latein unterrichtet wurde, und »real«, weil auch Naturwissenschaften auf dem Lehrplan standen. Ich gestehe unumwunden, dass ich in Naturwissenschaften ein sehr schwacher Schüler war: Mit Müh und Not schaffte ich es, versetzt zu werden und dann den Abschluss zu machen. Dafür waren alle Geisteswissenschaften, vor allem die Sprachen, meine Stärke. Wir hatten einige ausgezeichnete Lehrer, keiner war jüdisch, und obwohl ich später hörte, dass die meisten von ihnen in der Nazizeit übernommen wurden und weiter unterrichteten, habe ich in meiner gesamten Schulzeit nicht von einem einzigen auch nur die Spur antisemitischen Verhaltens zu spüren bekommen. Die meisten Schüler in der Klasse waren jüdisch, und wenn es zu Misstönen kam, dann jedesmal zwischen uns, den Orthodoxen (wie mir), die am Schabbat nicht zur Schule gingen, den Konservativen, die zwar kamen, aber nicht schrieben, und den Liberalen, die sowohl kamen als auch schrieben – kein Wunder, dass die Lehrer angesichts einer solchen Religion verwirrt und unwirsch waren.

2 Talmud-Tora-Schule in Hamburg. Chaim Cohn steht in der obersten Reihe als Zweiter von rechts

Auf dem Gymnasium absolvierte ich nur drei Jahre in der Oberstufe. Davor war ich fünf Jahre Schüler der jüdischen Schule »Talmud Tora«. Das war eine Schule gemäß dem Prinzip »Tora mit Lebensart«: einerseits Studium der Heiligen Schriften und orthodoxe Erziehung gemäß den Weisungen der Tora, andererseits weltlicher Unterricht. Leiter dieser Schule war mein Onkel, ein Bruder meiner Mutter, Dr. Josef Zvi Carlebach, der nach dem Tod seines Vaters dessen Nachfolge als Rabbiner in Lübeck antrat. Indessen genügte ihm die Tätigkeit in der kleinen Gemeinde nicht als Herausforderung, und so freute er sich über die Berufung auf den Direktorenposten an einer großen Schule in Hamburg, die in ganz Deutschland einen guten Ruf hatte. Er war ein begnadeter Pädagoge. In den Jahren des Ersten Weltkriegs, in denen er als Feldrabbiner in Litauen diente, gründete und leitete er das Hebräische Gymnasium in Kovno, und noch zehn Jahre zuvor arbeitete er als Lehrer für Mathematik und Naturwissenschaften an der Lämelschule in Jerusalem. Er trat seine neue Stelle in Hamburg mit großer Begeisterung an, und ich wurde – wie alle seine Schüler – von seiner Begeisterung angesteckt. Den Unterricht, in dem die Heiligen Schriften der Kabbalisten, der hebräischen Bibel insgesamt und des Talmud studiert wurden, überließ er erfahrenen Lehrern (die meisten von ihnen junge Rabbiner, die noch auf ihre erste Berufung warteten, oder auch alte Rabbiner im Ruhestand), während er selbst neue Fächer einführte und unterrichtete: Geschichte der jüdischen Philosophie, hebräische Lyrik des Mittelalters, modernes Hebräisch, aber auch Kunst-, Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Das waren die Pflichtfächer, dann gab er noch Stunden in Wahlfächern wie beispielsweise Astronomie. Seiner Bildung und seinem Wissen nach ähnelte er den Persönlichkeiten der Renaissance, dazu war er auch in allen Gebieten der Tora bestens bewandert. Er war für uns Kinder die leibhaftige Gelehrsamkeit – eine Art Atlas, der auf seinen Schultern das ganze Universum von Wissenschaft und Tora trug. Mit den höheren Klassen fanden Ausflüge und Studienfahrten unter seiner Anleitung statt. Ich erinnere mich an eine einwöchige Fahrt an den Rhein, an dessen Ufern die alten jüdischen Gemeinden und die Schlösser der mittelalterlichen Fürsten liegen. Wir besuchten alle Stätten und lauschten seinen ausführlichen Erläuterungen zu deren jeweiliger Geschichte und Bedeutung; in Köln untersagte er mir, mit den anderen in den Dom zu gehen, weil ich, Chaim Cohn, doch ein kohen – ein Nachfahre der biblischen kohanim – sei und Gefahr liefe, mich wegen der in der Kirche befindlichen Grabstätten zu verunreinigen. Auf meinen Einwand, dass Gräber von Nichtjuden keineswegs unrein seien, gab er mir zur Antwort, dass es unter den Bestatteten auch zahlreiche getaufte Juden gäbe, und die seien unrein; dann lauschte ich begierig seinen lehrreichen Erläuterungen über die vielen Bildhauer, welche die Fassade des Doms ausgeschmückt hatten. Er war zudem ein begnadeter Redner, sowohl im Klassenzimmer als auch in Vortragssälen, nicht zuletzt und ganz besonders in der Synagoge. In seinen Unterrichtsstunden gab es keinen einzigen Moment der Langeweile. Er fesselte die Klasse dermaßen, dass er sich nicht weiter mit Fragen der Disziplin abgeben musste. Er ging von einer vergleichend-universalistischen Einstellung aus: Obwohl er keine Kompromisse kannte, wenn es um den Glauben, den Kultus und die Einhaltung der Mitsvot ging, befruchtete er sein Judentum mit allem, was die Menschheit insgesamt an Weisheit, an Schönem und an historischer Erfahrung besaß, und es gab nichts, was für den Unterricht untauglich, nichts, was der Betrachtung, der Bereicherung nicht wert gewesen wäre. So las er uns beispielsweise Passagen aus dem Neuen Testament vor und erläuterte sie anhand der berühmten Polemiker des Mittelalters, um uns die Großartigkeit der Tora, der jüdischen Tradition vor Augen zu führen; oder er gab uns eine Einführung in das Wesen der Bibelkritik, aus dem einzigen Grund, um sie zu widerlegen und ihre Belanglosigkeit aufzuzeigen. Er machte sich anthropologische und humanistische Auffassungen in dem Maße zu eigen, wie es möglich war, diese mit der orthodoxen Glaubensrichtung zu vereinbaren, und er wies keine Ansicht zurück, bevor er sie nicht selbst gründlich geprüft hatte. Er war überzeugt, dass es auf Gottes weiter Welt und im menschlichen Geist keine Erscheinung, kein Empfinden gäbe, denen es nicht eigentümlich sei, der Erkenntnis Gottes und dem Glauben an ihn zu dienen.

Meine begeisterte Hingabe an diesen unerschöpflichen Quell der Tora und des Wissens öffnete mir neue Horizonte, die sich im Laufe der Zeit ständig erweitern sollten. Zweifelsohne langten meine »Horizonte« bei weitem nicht an seine heran: Mathematik und Physik, Chemie und Astronomie blieben für mich Bücher mit sieben Siegeln, während er sich in diesen Wissensgebieten wie ein Fisch im Wasser tummelte.

Nachdem die Nazis an die Macht gekommen waren, amtierte Rabbiner Josef Zvi Carlebach als Oberrabbiner in Hamburg; er starb den Märtyrertod: Er und seine Frau sowie drei ihrer Kinder wurden 1942 in einem Konzentrationslager bei Riga ermordet. Eine umfängliche Auswahl seiner Hauptschriften wurde von seiner Tochter, Miriam Gillis, zusammengestellt und in vier Bänden vor einigen Jahren in Deutschland herausgegeben.[14]

3

München

Nachdem ich das Heinrich-Hertz-Gymnasium in Hamburg absolviert hatte, ging ich zum Studium an die Universität München. Es war damals unter den Studenten in Deutschland gang und gäbe, dass man sich nicht mit einer Universität begnügte, an der man seine gesamte Studienzeit verbrachte, vielmehr besuchte man verschiedene Universitäten – ein Semester hier, ein Semester dort, bis man endlich zu der Universität gelangte, an der man die Abschlussprüfungen abzulegen gedachte. Im Allgemeinen wählte man eine Universität nach den dort tätigen bedeutenden Gelehrten; wer bei dem einem genug gelernt hatte, wechselte die Stadt, um noch bei einem anderen zu studieren. Ich entschied mich für München als ersten Studienort, um bei zwei namhaften Professoren zu hören: bei dem Semitisten Gotthelf Bergsträsser und dem Philosophen Kuno Fischer. Es war der innige Wunsch meiner Eltern, dass ich in die Fußstapfen meiner beiden Großväter träte und Rabbiner würde, und aus Respekt vor ihnen kam es mir gar nicht in den Sinn, etwas anderes als ein zum Rabbinat führendes Studium zu wählen. Ich erwähnte schon, dass auch die orthodoxen Rabbiner verpflichtet waren, einen säkularen akademischen Titel zu erwerben, und wie meine beiden Großväter stellte auch ich mein Universitätsstudium der Ausbildung am Rabbinerseminar voran. Ich hörte hebräische und aramäische Grammatik bei Bergsträsser, griechische Philosophie und Ästhetik bei Fischer, trieb mich auch in anderen Vorlesungen herum, die einem Rabbiner nur nützlich sein konnten, so beispielsweise über Pädagogik bei Kerschensteiner und Rhetorik bei Wolf. Und da alle Vorlesungen jedem Studenten offenstanden, egal, ob man im jeweiligen Fach eingeschrieben war oder nicht, verschlug es mich auch in juristische Veranstaltungen – in die Einführung in die Rechtswissenschaft bei Rothenbücher, Konkursrecht bei Kisch und Strafrecht bei Metzger. Und wenn jetzt jemand fragen sollte, was denn Konkursrecht mit Allgemeinbildung zu tun habe, erwidere ich, dass Professor Kisch, übrigens ein frommer Jude, der beste Rhetoriker von allen meinen akademischen Lehrern war und zu seinen Vorlesungen zahlreiche Nicht-Juristen strömten, um sich an seiner Vortragskunst zu erbauen. Und vielleicht ahnte ich damals schon insgeheim, dass es mich einst zur Juristerei ziehen würde.

München war eine Stadt der Konzerte und Theater, und wie die Universität sich in der Galaxie der Geistesgrößen auszeichnete, so schmückten sich die Bühnen mit den hervorragendsten Künstlern. Ein Student, der auf sich hielt – und nicht zu den Biersäufern und Säbelfechtern zählte –, ging häufig in Konzerte und Theatervorstellungen. Die reduzierten Eintrittspreise für Studenten waren so, dass man kaum mehr als ein paar Groschen bezahlen musste. 18 Jahre alt und schon drauf und dran, dem Gebot der Mitsva folgend meine »Erwählte«, auch sie Studentin, unter die Chuppa zu führen, ging ich mit ihr werktags beinahe jeden Abend in ein Konzert oder in die Oper, in eine klassische Tragödie oder eine leichte Komödie, und mit dem Kunstverständnis bildete sich auch mein künstlerischer Geschmack.

Ich hatte mir einen Tagesplan gemacht, da sich der Verlauf des Abends von dem des Tages merklich unterschied: Ich stand früh auf und ging zur Synagoge, nach dem Morgengebet lernten wir Talmud bei Rabbiner Heinrich Ehrentreu. Am Vormittag hörte ich dann Vorlesungen an der Universität, nach der einzigen Mahlzeit am Tage im koscheren Restaurant verbrachte ich meistens drei, vier Stunden in einer der großen, reich bestückten Bibliotheken und las – Philosophie, Geschichte, Theologie, klassische Literatur, alles, was mir in die Hände fiel und was mir zeitlich möglich war. Das war eine gute Übung, selbständig zu studieren und zu forschen. Von da ging ich zum Mincha-Gebet am Nachmittag, und danach studierten wir bis zum Abendgebet die Werke von Maimonides, einschließlich den Führer der Unschlüssigen bei Rabbiner Dawidowicz, einem aus Litauen stammenden Gemeindevorsteher, der, ein gelehrter, scharfsinniger und höchst umgänglicher Mann, alle für sich einnahm.

Der Schabbat wurde strikt als Feiertag eingehalten und war ganz dem Studium der Tora gewidmet. Ich erinnere mich besonders an eine spannende Lehrstunde bei Rabbiner Dawidowicz über einen Kommentar des Maimonides zum Wochenabschnitt. Auch machte ich meine ersten Schritte als Lehrer: Ich hielt einen Schiur über Midraschim der Halacha vor Mitgliedern der jüdisch-orthodoxen Studentenvereinigung ab. Ich bereitete mich auf diese Schiurim mit großem Eifer vor, insbesondere durch das Auffinden von Parallelen in den beiden Talmudim und den Midraschim sowie dem Vergleich der unterschiedlichen Versionen. Die Treffen dieser Vereinigung fanden zu Ende des Schabbat, unmittelbar nach der Havdala, in der Synagoge statt. Abgesehen von freundschaftlichem Geplauder über dies und das kam es hier zu stürmischen Debatten über Zionismus, Messianismus, über die unterschiedlichen Strömungen im Judentum und die Kontroversen zwischen jenen Rabbinern, die predigten, man solle das nicht-orthodoxe Judentum verlassen (so Samson Raphael Hirsch und seine Schule), und jenen, die zur Geschlossenheit der Gemeinden aufriefen, ferner über jüdische Erziehung und jüdisches Pressewesen sowie über jene daraus sich ergebenden Themen, die auf der Tagesordnung der orthodoxen Juden in Deutschland standen. Mit einigen Mitgliedern der Vereinigung war ich befreundet, mit manchen sogar lange – sie gehörten später zumeist religiösen Kibbuzim in Israel an. Ich führte den Brauch ein, dass von den zwei Stunden, die diese Versammlungen dauerten, mindestens eine Viertelstunde dem Gespräch in der heiligen Sprache (in aschkenasischer Aussprache) gewidmet wurde. Diese Unterhaltung drehte sich zumeist um Themen aus dem Wochenabschnitt.

An den Sonntagen wurde nicht studiert. Alle Mitglieder der Vereinigung samt den von ihnen eingeladenen Freunden und Freundinnen fuhren mit der Eisenbahn in die eine Stunde von München entfernt liegenden Alpen oder an einen der zahlreichen Seen der Umgebung und machten stundenlange Wanderungen mit Rast an besonders schönen Stellen. Zu Beginn der mehrtägigen christlichen Feiertage legten wir größere Entfernungen zurück – einmal in die Tiroler Berge, einmal nach Salzburg, und ich erinnere mich an unsere Morgengebete auf schneebedeckten Gipfeln, mit kraftvollen Stimmen und tiefer Inbrunst stiegen die Worte zum Himmel empor – und ich muss wohl nicht erst sagen, dass wir unseren Proviant in Rucksäcken mitführten, so dass wir außer dem Fahrgeld keinen Pfennig ausgeben mussten.

In München habe ich nur ein Jahr studiert. Ich habe die Zeit etwas ausführlicher beschrieben, weil ich mir der großen Bedeutung bewusst bin, die ihr hinsichtlich der damals gemachten Erfahrungen für die Entwicklung meiner Persönlichkeit zukommt. Damals wurde mir die herausragende Rolle klar, die der Genuss im Leben spielt. Ich verband das Angenehme mit dem Nützlichen und genoss die Lehrer und Professoren und ihre Vorlesungen, die theologischen und weltlichen Werke, die Musik und das Theater, die Wanderungen und die landschaftliche Schönheit, die Tora und die weltliche Lebensart, das Alleinsein und die Geselligkeit – und ich verstand, dass alles Tun unter der Sonne der Mühe wert ist, wenn man nur im Stande ist, es zu genießen, und jede Aufgabe einem um so leichter von der Hand geht, wenn man sie nur gern verrichtet. Es heißt, genießen zu können, sei eine Charaktereigenschaft. Wenn dem so ist, fand ich in München das ideale Feld, sie zu entwickeln und praktisch umzusetzen.

Ich kehrte zu meinen Eltern zurück und teilte ihnen meinen Entschluss mit, meine Verlobte in Kürze zu heiraten. Das hatte man noch nicht bei den deutschen Juden vernommen, dass ein junger Mann von 18 Jahren die Empfehlung der Mischna ernst nahm und eine Frau unter die Chuppa führte, aber meine Eltern wussten ja aus bitteren Erfahrungen, dass ich alles, was in den heiligen Schriften stand – den weniger bedeutenden wie den wichtigen – ernst nahm, insbesondere die »Sprüche der Väter«, deren Grundsätze nicht juristischer, sondern ethisch-moralischer Natur sind. Dieses Mal jedoch widersetzten sich meine Eltern, und ich fand mich im Konflikt zwischen dem biblischen Gebot, Vater und Mutter zu ehren, und den Spruch der Weisen zu respektieren, dem zufolge ein Achtzehnjähriger heiraten solle (BT Nezikin Pirke Avot 5,24). Dasselbe Schicksal traf meine Verlobte: Auch ihre Eltern wollten nichts, aber auch gar nichts von einer Heirat mit einem jungen Menschen wissen, »der unreif ist, der nichts hat und nichts kann und zu nichts fähig ist«. Mein verständnisvoller, weiser Vater fand einen passenden Ausweg, einen Kompromiss. »Du wirst auf jeden Fall zum Studium auf eine Yeschiva gehen müssen und das auch wollen, außerdem wird es dich an eine der derzeit großen Yeschivot ziehen. Das Beste wird sein, du unterbrichst jetzt deine akademischen Studien und widmest zwei Jahre der theologischen Ausbildung. Du hast die Wahl zwischen einer Yeschiva in Litauen, in Polen oder im Land Israel, und wenn du nach Ablauf der zwei Jahre immer noch das junge Mädchen heiraten möchtest, werde ich dir keine Hindernisse in den Weg legen.«

Ich vernahm’s und war sofort einverstanden, auch vermutete ich, dass diese zweijährige Trennung zudem die Eltern meiner Verlobten beschwichtigen würde. Und was die Wahl der Yeschiva betraf, zögerte ich nicht einen Moment: Von Anfang an war es für mich beschlossene Sache, dass, wenn ich auf eine Yeschiva gehen sollte, nur eine in Jerusalem in Frage käme. Mein Freund und Cousin Esriel Carlebach war unlängst von einem Studienjahr an der Yeschiva von Rav Kook zurückgekehrt, und er ermutigte mich, seinen Spuren zu folgen. Auch ohne diesen Zuspruch hätte ich nicht gezaudert.

Meinem Entschluss, ins Land Israel zu gehen, lagen keinerlei »zionistischen« Motive zugrunde – weder bei mir noch seitens meines Vaters oder Großvaters; dieser nahm die Idee begeistert auf und bestärkte mich nachdrücklich in meinem Vorhaben (die Großmutter weilte schon nicht mehr unter den Lebenden). Ob nun die antizionistische Einstellung des Lübecker Rabbiners noch in uns lebendig war oder ob wir es schon auf diese oder jene Weise geschafft hatten, uns von ihr zu befreien – jedenfalls lag uns allen der Gedanke gänzlich fern, ich könnte nach Jerusalem gehen und nicht wieder zurückkehren. Wenn ich Rabbiner würde, war es völlig klar, dass ich es in Deutschland sein werde. Persönlich hatte ich kein einziges Mal unter Antisemitismus zu leiden, und kein Mensch hätte sich vorstellen können, dass es in unserem kultivierten Deutschland den Nazis jemals gelingen könnte, an die Macht zu gelangen.

4

Jerusalem – die Yeschiva von Rav Kook

Meine Eltern hatten Bedenken, mich allein ins »unbestellte Land, in die verdorrte, öde Wüste« (vgl. Joel 2,20) zu schicken, zumal sie sich nicht sicher waren, ob ich mich dort praktisch zurechtfinden würde, insbesondere was die Versorgung mit Lebensmitteln anging. Sie beschlossen – und dies zu meinem großen Glück –, mir meinen Bruder Alexander mitzugeben; er war ein Jahr jünger als ich, und auch er brannte darauf, Tora zu lernen und »die Luft des Landes Israel zu atmen«. Hinzu kam, dass er in Haushaltsführung, Geldangelegenheiten und anderen nützlichen Dingen gewandt und erfahren war. Wir gingen in Triest an Bord eines Schiffes, das uns an die Küste von Jaffa brachte; es war am Vorabend von Purim, dem Fastentag »Taʾanit Esther« des Jahres 1930.

Purim verbrachten wir in Tel Aviv bei alten Freunden aus Hamburg, die schon früher ins Land Israel gegangen waren und sich dort niedergelassen hatten; doch bereits am Tag nach der »Adlajada«, dem karnevalesken abendlichen Fest, bestiegen wir den Bus nach Jerusalem. Wir hatten vor, einige Wochen in der Stadt und ihrer näheren Umgebung umherzuschweifen, gleichsam um dem Gebot des Psalmverses (48,13) zu folgen: »Umkreist Zion, wandert um die Feste herum«, auch um möglichst viele Yeschivot zu besuchen, bevor wir uns für die Yeschiva entschieden, bei der wir um Aufnahme bitten wollten. Wir waren nicht sicher, ob uns die »zionistische« Yeschiva von Rav Kook, die unser Cousin Esriel empfohlen hatte, wirklich zusagen würde. Doch als wir zum ersten Mal zum Haus des Rav gelangten – es war zur dritten Mahlzeit an unserem ersten Schabbat im Land – und ihn da sitzen und die Schrift auslegen sahen (ich meine wirklich sahen, denn wir verstanden schlechthin gar nichts), war es beschlossene Sache für uns, dass wir bleiben und dort studieren wollten. Ich war von den leuchtenden und gütigen Augen des Rav regelrecht fasziniert und konnte meinen Blick nicht von ihm abwenden. Auf seinem Gesicht lag eine Art Heiligkeit, und die Bewegung seiner feingliedrigen Hände und seine ruhige und wohlwollende Redeweise zeugten von seinem geistigen Adel.

Am nächsten Tag begaben wir uns zum Rav und baten ihn, uns in seiner Yeschiva aufzunehmen. Ich dachte, wir würden geprüft, genau in Augenschein genommen und befragt werden, was wir wo gelernt hatten und ob wir auch unter anderen Aspekten der Aufnahme würdig wären, doch als er hörte, dass wir aus Deutschland kamen, fragte er uns, ob wir Rav Josef Zvi Carlebach kennten. Wir antworteten, dass er unser Onkel und Lehrer sei – tatsächlich hatte er 25 Jahre zuvor das Lehrhaus des Rav in Jaffa regelmäßig besucht –, und damit war die Unterredung beendet. Der Rav empfing uns wie verlorene Söhne, die nach Hause zurückgekehrt waren. Er übergab uns Rav Yitzchak Arieli, dem Maschgiach, dem für rituelle und organisatorische Angelegenheiten zuständigen Aufseher der Yeschiva, und dieser begann augenblicklich, uns hinsichtlich unserer Herkunft und unserer Eignung kritisch zu überprüfen und zu verhören.

Die damals an der Yeschiva praktizierte Lehr- und Unterrichtsmethode verblüffte mich. Der Maschgiach wies mir einen Stuhl und ein Pult in einer Ecke zu und fragte, welchen Traktat ich studieren wollte. Ich zögerte, denn ich dachte in meiner Einfalt, dass er es doch war, der meinen Lehrstoff bestimmen müsste. Er schlug mir vor, mit der vierten Sektion des Babylonischen Talmuds, »Naschim« (Frauenrecht), zu beginnen, und ich wählte daraus den Traktat »Ketubbot« (Eheverträge). Er übergab mir noch den Text der Gemara, dann ging er fort. Sollte ich irgendeine Frage haben, sagte er, könnte ich damit immer zu ihm kommen. Bislang hatte ich stets mit einem Lehrer studiert, plötzlich saß ich allein da mit einem Band Gemara. Kein Mensch unterwies mich, niemand war da, mich zu beaufsichtigen oder zu prüfen. Nachträglich begriff ich, dass dies das Ziel war – zu lernen, völlig selbständig zu lernen. Doch auch dies begriff ich, dass weder der