Aus Sicht des Gehirns - Gerhard Roth - E-Book

Aus Sicht des Gehirns E-Book

Gerhard Roth

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Beschreibung

Gerhard Roth verfolgt das Projekt, mit Hilfe der Erkenntnisse der modernen Neurobiologie und Hirnforschung Fragen zu beantworten, die seit jeher Philosophen, Wissenschaftler und alle denkenden Menschen beschäftigt haben: Sind wir Menschen einzigartig? Wie entsteht unsere Bewußtseinswelt? Können wir die Welt erkennen, wie sie ist, oder nehmen wir nur Konstruktionen unseres Gehirns wahr? Auf was sollen wir hören: auf den Verstand oder die Gefühle? Wer oder was formt uns: Gene, das Unbewußte oder die Erziehung? Ist mein Wille frei? Diese und ähnliche Fragen werden in zwölf Kapiteln auf eine Weise behandelt, die keinerlei fachwissenschaftliche Vorkenntnisse erfordert. Das Buch präsentiert die Umrisse eines neuen Menschenbildes, das naturwissenschaftlich begründet ist und zugleich Einsichten der Geistes- und Sozialwissenschaften berücksichtigt.

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Seitenzahl: 359

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3Gerhard Roth

Aus Sicht des Gehirns

Vollständig überarbeitete Neuauflage

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Vorwort zur überarbeiteten Auflage

Vorwort

1. Eine kleine Hirnkunde

Was die Teile des Gehirns tun

Die Großhirnrinde

Das Gehirn – ein vielseitiges Steuerzentrum

2. Welt, Körper, Ich

Merkwürdigkeiten der Raumwahrnehmung

Wie das Gehirn die Welt konstruiert

Funktionsstörungen und ihre Erklärungen

Wie kommt die Innenwelt nach draußen?

3. Was uns Menschen so klug macht

Gehirn und Klugheit

4. Wahrnehmung: Abbildung oder Konstruktion?

Farbwahrnehmung – ein komplizierter Vorgang

Wahrnehmung als aktiver Prozess

Wie verlässlich arbeiten unsere Sinnessysteme?

Die Unspezifität neuronaler Aktivität und der Ortscode

Neurobiologischer und radikaler Konstruktivismus

5. Die Spur der Erinnerungen

Die Zeitstruktur des Gedächtnisses

Gehirn und Gedächtnis

Können wir unser Gedächtnis verbessern, und wenn ja, wie?

6. Wer oder was bestimmt uns?

Was macht Gehirne intelligent?

Persönlichkeit

Neigung zur Gewalt – angeboren oder erlernt?

7. Geist und Gehirn

Was sind Geist und Bewusstsein?

Wo im Gehirn sitzt das Bewusstsein,und wie kann man dies feststellen?

Die zellulären Grundlagen von Bewusstsein

Wozu haben wir überhaupt ein Bewusstsein?

Ist das Geist-Gehirn-Problem damit gelöst?

8. Ich und Es – die Welt der Persönlichkeit und des Psychischen

Das Ich und das Unbewusste

Das limbische System als Sitz des Unbewussten

Krankes Gehirn, kranke Psyche

Hirnforschung und Psychotherapie

9. Verstand oder Gefühle – auf was sollen wir hören?

Möglichkeiten und Grenzen der Verhaltensänderung

10. Freiheit, die ich meine

Subjektives Freiheitsgefühl und Indeterminismus

Determinismus und Indeterminismus in der Natur

Die experimentelle Überprüfung der Willensfreiheit

Das Libet-Experiment und seine Folgen

Was bedeutet dies alles für die Debatte um die Willensfreiheit?

Schuld und Verantwortung

Kurze Schlussbemerkung

11. Über die letzten Dinge

Religion und Wissenschaft

Nahtodeserfahrungen und Hirnforschung

Kann es eine diesseitige Unsterblichkeit geben?

12. Wissenschaft und Wahrheit

Was ist Wahrheit?

Das Postulat der begrifflichen Anschlussfähigkeit

Das Postulat der empirischen Überprüfbarkeit

Die Frage der empirischen Überprüfbarkeit in den Nicht-Naturwissenschaften

Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften –zwei Welten oder eine vielschichtige Einheit?

Kann es eine konstruktivistische Wahrheitstheorie geben?

Weiterführende Literatur

Namenregister

Sachregister

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

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7Vorwort zur überarbeiteten Auflage

Die vorliegende Ausgabe ist eine vollständig überarbeitete Version des 2003 erstmalig erschienenen Buches Aus Sicht des Gehirns. Dessen Erscheinen fiel zeitlich zusammen mit dem Beginn der in der wissenschaftlichen wie medialen Öffentlichkeit heftig geführten Diskussion um die Willensfreiheit. Dabei waren das Kapitel 10 der bisherigen Fassung sowie die ausführlichere Darstellung in der überarbeiteten Auflage meines Buches Fühlen, Denken, Handeln, die zeitgleich ebenfalls im Suhrkamp Verlag erschien, vielzitierter Anlass zu Zustimmung und Kritik. Ich hatte geglaubt, in beiden Texten eine sowohl wissenschaftlich als auch philosophisch ausgewogene Position zu vertreten. Das wurde aber von einer Reihe von philosophischen Kritikern nicht so gesehen; vielmehr unterstellten sie, dass ich – neben anderen Neurobiologen – Willensfreiheit komplett als »Illusion« ablehne und sogar die Existenz eines Willens in Zweifel ziehe. Tatsächlich aber wandte ich mich nur gegen die traditionelle dualistisch-indeterministische Auffassung von Willensfreiheit, die allerdings nicht nur unserem alltäglichen Empfinden der Handlungssteuerung, sondern auch dem deutschen und kontinentaleuropäischen Strafrecht und seinem Schuldbegriff zugrunde liegt.

Es dauerte einige Jahre, bis sich von philosophischer Seite eine differenziertere Wahrnehmung des Standpunkts der beteiligten Hirnforscher herausbildete. Gleichzeitig veränderte sich auch – zumindest bei mir – die Einschätzung der Aussagekraft der vielzitierten Experimente Benjamin Libets und seiner Nachfolger. Und schließlich ergab sich für mich in der engen Zusammenarbeit mit dem Philosophen Michael Pauen eine Neukonzeption des Begriffs »Willensfreiheit«, die den Gegensatz zwischen Willensfreiheit und Determiniertheit philosophisch und wissenschaftlich auflöst. Michael Pauen und ich haben unsere gemeinsame Auffassung in dem Buch Freiheit, Schuld und Verantwortung – Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit dargelegt, das im Herbst 2008 ebenfalls im Suhrkamp Verlag erschienen ist, und ich habe entsprechend das Kapitel 10 des vorliegenden Buches umgearbeitet.

Erfreulich ist, dass nach anfänglicher und zum Teil harscher Kritik von Strafrechtlern, Strafrechtstheoretikern und forensischen 8Psychiatern sich inzwischen eine Offenheit entwickelt, über die – auch in Kreisen der Strafrechtler bekannten – Unzulänglichkeiten des deutschen Strafrechts (insbesondere des § 20) und des ihm zugrunde liegenden Schuldbegriffs zu diskutieren und für die juristische Praxis nutzbar zu machen. Ich habe hierzu mit der Rostocker Strafrechtlerin Grischa Merkel (früher Detlefsen) kürzlich ausführlich Stellung genommen (Merkel und Roth, 2008).

Allerdings hat die Diskussion um die Willensfreiheit die Aufmerksamkeit von anderen neuen, zum Teil bahnbrechenden Erkenntnissen der Hirnforschung und benachbarter Disziplinen etwas abgelenkt. Diese neuen Erkenntnisse betreffen folgende Themenbereiche:

Die Erforschung der neurobiologischen Grundlagen von Bewusstseinszuständen ist durch neuartige Auswertemethoden (z. B. unter Verwendung »lernender« künstlicher neuronaler Netze) weiter vorangetrieben worden. Dadurch gelingt es anders als früher, scheinbar verrauschte Aktivitätszustände im Gehirn, z. B. im primären visuellen oder im präfrontalen Cortex, in ihrem Inhalt zu erfassen und so den Prozess des Bewusstwerdens von Wahrnehmungsinhalten und Entscheidungen noch deutlicher darzustellen. Dies hat auch Auswirkungen auf die Frage nach dem zeitlichen Auftreten des »Willensrucks«, wie sie erstmals von Libet untersucht worden war, und bestätigt die Auffassung, dass geistig-bewusste Zustände unauflösbar mit bestimmten Hirnprozessen verbunden sind, dass man aus der Kenntnis des einen verlässlich auf die Existenz des anderen schließen kann, und dass unbewusste Hirnaktivitäten bewussten Erlebniszuständen in gesetzmäßiger Weise vorhergehen. Ob damit das Geist-Gehirn-Problem von Philosophen demnächst als in befriedigendem Sinne gelöst betrachtet oder weiterhin als »ewiges Rätsel« kultiviert werden wird, sei dahingestellt.

Ein weiteres »ewiges Problem« der Geistesgeschichte ist das »Anlage-Umwelt-Problem«, d. h. die Frage, ob menschliches Handeln hauptsächlich bzw. vornehmlich von »angeborenen Faktoren« (d. h. Genen) bestimmt ist, oder von Lernen, Erziehung und damit von Umwelteinflüssen. Die neue Sicht dieser Zusammenhänge ergibt sich aus der Erkenntnis, dass Gene in aller Regel nicht direkt ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Persönlichkeitseigenschaft bestimmen (etwa als »Verbrecher-Gen« oder »Intelligenz-Gen«), sondern dass an Persönlichkeits- und Verhaltenseigenschaften viele 9Gene meist sehr indirekt (d. h. über komplexe epigenetische Hirnentwicklungsprozesse) beteiligt sind, die sich je nach Umwelteinflüssen in unterschiedlicher Weise im Verhalten ausdrücken. Dabei sind Gen-Varianten, so genannte Polymorphismen, besonders interessant, weil sie in der Normalpopulation auftreten, wenngleich meist in niedriger Frequenz. Ebenso hat sich der seit langem hartnäckig behauptete wie bestrittene Einfluss frühkindlicher Erfahrung, besonders in Form psychischer Traumatisierung infolge Misshandlung, Vernachlässigung, sexuellem Missbrauch usw. voll bestätigt, und dieser Einfluss lässt sich auch neurobiologisch eindeutig nachweisen. Aus heutiger Sicht sind es vier Faktoren, die unsere Persönlichkeit und unser Handeln bestimmen, nämlich genetische Prädispositionen (Polymorphismen), Eigenheiten der Hirnentwicklung, frühe (z. T. vorgeburtliche) psychische Prägungen, insbesondere im Rahmen der Bindungserfahrung, und weitere psychosoziale Erfahrungen in Kindheit und Jugend. Zwischen diesen vier Hauptfaktoren besteht sowohl eine positiv wie auch negativ sich verstärkende oder schwächende Interaktion, wie insbesondere die Studien zur Genese gewalttätigen Verhaltens und psychischer Erkrankungen zeigen.

Das dritte Gebiet, auf dem sich derzeit eine stürmische Entwicklung vollzieht, schließt sich zum Teil hier an und betrifft die Aufklärung der Prozesse, die mit der Entwicklung der Persönlichkeit verbunden sind. Auch hier lassen sich verschiedene Faktoren identifizieren, die unsere Persönlichkeit formen, nämlich erstens genetisch fixierte Verhaltensprogramme, zweitens die Ergebnisse der individuellen emotionalen Konditionierung, drittens die Sozialisation des Verhaltens und viertens kognitive Denk-, Entscheidungs- und Kommunikationsmuster. Diese Faktoren werden zu ganz unterschiedlichen Entwicklungszeiten wirksam und bestimmen unsere Persönlichkeit »von unten nach oben«, d. h., jede frühere Entwicklungsstufe bestimmt weitgehend den Rahmen für die nächste Stufe, aber gleichzeitig bilden sich Kontrollmechanismen in entgegengesetzter Richtung aus. Diese Erkenntnisse betreffen auch die Frage nach der Veränderbarkeit des Menschen in seiner Persönlichkeitsstruktur. Es wird dabei deutlich, warum es so schwierig ist, andere Menschen zu ändern, und besonders schwer, sich selbst zu ändern. Dies wirft auch Licht auf die Frage nach dem Verhältnis von Verstand und Gefühlen und führt zur Erkenntnis, dass auch diese al10tehrwürdige Dichotomie fragwürdig geworden ist.

Das vierte Gebiet hängt wiederum stark vom Erkenntnisfortschritt im zweiten und dritten Gebiet ab und betrifft die neurobiologischen Grundlagen des Psychischen, psychischer Erkrankungen und deren Therapie. Bei psychischen Erkrankungen einschließlich der Persönlichkeitsstörungen, zu denen auch antisoziales, gewalttätiges Verhalten gehört, zeigt sich am deutlichsten die Interaktion zwischen den oben genannten vier Faktoren, wobei der zweite Faktor (Hirnentwicklung) und der dritte Faktor (frühe psychische Prägung und Bindungserfahrung) wohl die wichtigsten sind. Allerdings ist wirklich verlässliches Wissen über die Grundlagen psychischer Erkrankungen noch rar, weil es hier neben dem Mangel an einem guten »Tiermodell« viele große methodische Schwierigkeiten gibt – ganz abgesehen von der hohen individuellen Variabilität. Noch dramatischer sieht es bei der Frage aus, was im Gehirn der Patienten geschieht, deren Psychotherapie erfolgreich war – oder eben nicht. Hier ist das derzeitige Wissen noch unzulänglicher, aber deshalb sind die Forschungsanstrengungen noch intensiver.

Das Bemerkenswerte an diesen Entwicklungen ist, dass es sich hierbei nicht um rein neurobiologische, sondern um eine zutiefst interdisziplinäre Forschung handelt, an der neben den Neurobiologen bzw. Hirnforschern auch Neuropsychologen, Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologen, Psychiater, Psychotherapeuten, Soziologen, Ökonomen und Philosophen beteiligt sind. Diese Interdisziplinarität ist der beste Garant gegen das Schreckensbild eines »Homo neurobiologicus«, d. h. des Menschen, der von Gehirnprozessen vollständig beherrscht wird, kein eigenes Ich und keinen freien Willen mehr hat. Das Gegenbild lautet, dass das Gehirn der Ort des Zusammenwirkens der genannten vier Faktoren und der aktuellen Einflüsse ist, und die Aussage »das Gehirn steuert unser Verhalten« nichts anderes heißt, als dass diese Faktoren über das Gehirn wirken. Worüber sonst!

In der vorliegenden Ausgabe habe ich alle Kapitel überarbeitet, dabei unklare Formulierungen, Fehler zu beseitigen und neue Erkenntnisse einzuarbeiten versucht. Größere Umarbeitungen und Ergänzungen finden sich in den Kapiteln 3, 6, 8 und 9; das Kapitel 10 habe ich vollständig neu geschrieben. Ebenso habe ich Änderungen bei den Abbildungen vorgenommen und die Literaturliste aktualisiert.

Brancoli, August 2008

11Vorwort

Die Hirnforschung dringt in Gebiete ein, die ihr als einer Naturwissenschaft lange Zeit vollkommen verschlossen schienen. Dies gilt für geistige Leistungen des Menschen wie Wahrnehmen, Denken, Vorstellen, Erinnern und Handlungsplanen, inzwischen aber auch für emotionale und psychische Zustände. In diesem Zusammenhang ergeben sich unweigerlich Fragen nach der Natur des Geistes und des Bewusstseins, den Wurzeln der Persönlichkeit und des Ich, den Möglichkeiten und Grenzen von Erziehung und von Psychotherapie und schließlich nach der Existenz von Willensfreiheit.

Dies wiederum führt zur Diskussion um eine grundlegende Änderung des Bildes, das der Mensch von sich selbst entworfen hat, nämlich des Bildes von einem Wesen, das sich aufgrund von Geist, Bewusstsein, Vernunft, Moral und freiem Willen weit über alle anderen Lebewesen erhebt. Diese Diskussion versetzt viele Menschen in große Unruhe. Abhilfe können hier nur sachliche Information und nüchterne Interpretation schaffen.

Ich habe in meinen beiden Büchern Das Gehirn und seine Wirklichkeit und Fühlen, Denken, Handeln sowie in Buch- und Zeitschriftenaufsätzen versucht, hierzu einen Beitrag zu leisten. Obgleich sich die beiden genannten Bücher eines beträchtlichen Erfolges erfreuen, beklagen viele Leser zugleich die Fülle der wissenschaftlichen Details und die Kompliziertheit der Zusammenhänge. Man mag dies mit der Bemerkung abtun, dass man komplizierte Dinge nicht beliebig einfach darstellen kann.

Dann erhielt ich die Bitte des Suhrkamp Verlages, einige Aspekte der Hirnforschung und ihre Bedeutung für das Menschenbild in einer Weise darzustellen, die keine allzu große Geduld und Anstrengung erfordert, und ich habe dies als eine interessante Herausforderung angesehen. Der Leser möge entscheiden, in welchem Maße ich dem gerecht geworden bin. Wichtig ist, dass bei aller Allgemeinverständlichkeit die wissenschaftliche Korrektheit erhalten bleibt. Alle zwölf Kapitel sind eigens für dieses Buch geschrieben; inhaltliche Überschneidungen mit den beiden genannten Büchern wurden dabei bewusst in Kauf genommen. Der Wissensstand der Hirnforschung ist schließlich nicht beliebig vermehrbar.

12Meiner Frau und Kollegin Dr. Ursula Dicke danke ich für zahlreiche fachliche Ratschläge. Für die Durchsicht der Texte danke ich meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Nicole Becker, Christine Egger, Monika Lück, Uwe Opolka und Dr. Daniel Strüber vom Hanse-Wissenschaftskolleg.

Selbstverständlich gehen alle Fehler zu meinen Lasten.

Lilienthal, im Mai 2003

131. Eine kleine Hirnkunde

Manche Menschen, darunter Hirnforscher, sind der Meinung, unser Gehirn sei das komplizierteste System im Universum. Das soll natürlich unserem Selbstwertgefühl schmeicheln. Wer aber kennt schon das Universum?

Klar ist, dass man viele Jahre intensiven Studiums braucht, um das menschliche Gehirn in seinem Aufbau und seinen Funktionen gut zu verstehen. Es gibt allerdings einige Dinge, die einem die Sache erleichtern. Das Wichtigste ist dabei die Erkenntnis, dass das menschliche Gehirn in seinem Aufbau keineswegs einzigartig ist, sondern ein typisches Säugetiergehirn darstellt. Wenn wir also wissen, wie ein Säugetiergehirn aufgebaut ist, dann verstehen wir auch den Aufbau des menschlichen Gehirns. Allerdings sind die Gehirne von Säugetieren, und zwar auch scheinbar »primitive« wie die von Ratten und Mäusen, ebenfalls kompliziert aufgebaut. Hier hilft die zweite Erkenntnis, dass das Gehirn der Säugetiere ein typisches Wirbeltiergehirn ist und entsprechend den Gehirnen von Neunaugen, Knorpelfischen (Haien und Rochen), Knochenfischen, Amphibien (z. B. Fröschen und Salamandern), Reptilien (z. B. Schildkröten, Schlangen, Eidechsen, Krokodilen) und Vögeln im Grundaufbau sehr ähnlich ist.

Als Ausgangspunkt können wir das einfachste Gehirn nehmen, das sich bei den Wirbeltieren findet, und hier bietet sich das Gehirn der Frösche und Salamander an, mit denen ich mich seit vielen Jahren intensiv beschäftige (genauer gesagt handelt es sich um sekundär vereinfachte Gehirne – aber das spielt im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle). In Abbildung 1 sind der Grundaufbau des Wirbeltiergehirns, ein Salamandergehirn und das menschliche Gehirn gezeigt, natürlich in unterschiedlichem Maßstab. Der oberen Abbildung entnehmen wir, dass sich alle Wirbeltiergehirne aus dem Vorderende eines rohrartigen Gebildes, des Neuralrohrs, entwickeln, dessen Wände die Hirnmasse und dessen Hohlraum die so genannten Ventrikel darstellen. Den langen hinteren Teil stellt das Rückenmark dar, das die Wirbelsäule durchzieht und die ursprüngliche Rohrartigkeit noch am meisten beibehält. Der vordere Teil, das Gehirn, unterteilt sich durch Wandverdickungen, Einschnü14rungen und Ausweitungen in fünf Teile. Dabei handelt es sich um das Verlängerte Mark (lateinisch Medulla oblongata) als Fortsetzung des Rückenmarks, um das Kleinhirn (Cerebellum), das Mittelhirn (Mesencephalon), das Zwischenhirn (Diencephalon) und das Endhirn (Telencephalon), auch Großhirn genannt. Das Endhirn oder Großhirn ist in seinem vorderen Teil bei allen Wirbeltieren paarig angeordnet; die beiden Großhirnhälften nennt man Hemisphären (d. h. Halbkugeln). Bei Vögeln und Säugetieren unterscheidet man noch einen weiteren, sechsten Hirnteil, die Brücke (lateinisch Pons), der aber nur ein besonderer Teil des Mittelhirnbodens, des Tegmentum, ist.

15Abbildung 1: Oben links: Aufbau des Wirbeltiergehirns zu Beginn der Entwicklung (nach Zigmond et al. 1999; verändert). Oben rechts: Aufsicht auf ein Salamandergehirn (aus Roth 1987). Unten: Längsschnitt durch das menschliche Gehirn (nach Eliot 2001; verändert).

Diese fünf bzw. sechs Teile sind bei Amphibien und Reptilien und den meisten Fischen hintereinander angeordnet; bei Säugetieren und Vögeln vergrößern sich aber das Zwischenhirn und das Endhirn überdurchschnittlich, und bei Säugetieren vergrößert sich zusätzlich die Hirnrinde und dehnt sich nach allen Seiten aus, so dass sie schließlich bei einigen Säugetieren wie den Primaten die übrigen Teile des Gehirns fast ganz überdeckt. So kommt es, dass beim menschlichen Gehirn ebenso wie bei den Gehirnen anderer großer Säugetiere äußerlich fast nur die Großhirnrinde sichtbar ist (Abbildung 2). Diese eindrucksvollen Veränderungen, die sich sowohl in der Stammesgeschichte (Phylogenese) als auch der Individualgeschichte (Ontogenese) zeigen, ändern aber nichts an der Tatsache, dass der Grundaufbau des menschlichen Gehirns überhaupt nichts Besonderes an sich hat. Bei den Affen, insbesondere den Großaffen, zu denen auch wir Menschen gehören, ist allerdings das Gehirn in Höhe des Zwischenhirns »abgeknickt«, so dass Rückenmark, Verlängertes Mark, Brücke und Mittelhirn eine schräge Position einnehmen und das Endhirn mit der Großhirnrinde waagerecht nach vorn ausgerichtet ist. Dies hängt mit der zunehmend aufrechten Körperhaltung der Affen und der entsprechenden Umformung des Schädels bei diesen Tieren zusammen.

Abbildung 2: Oben: Seitenansicht des menschlichen Gehirns. Sichtbar ist die Großhirnrinde mit ihren typischen Windungen (Gyrus/Gyri) und Furchen (Sulcus/Sulci) und das ebenfalls stark gefurchte Kleinhirn. Abkürzungen: FC Stirnlappen; OC Hinterhauptslappen; PC Scheitellappen; TC Schläfenlappen; 1 Zentralfurche (Sulcus centralis); 2 Gyrus postcentralis; 3 Gyrus angularis; 4 Gyrus supramarginalis; 5 Kleinhirn-Hemisphären; 6 Gyrus praecentralis; 7 Riechkolben; 8 olfaktorischer Trakt; 9 Sulcus lateralis; 10 Brücke; 11 Verlängertes Mark. (Nach Nieuwenhuys et al. 1991, verändert.) Unten: Längsschnitt durch das menschliche Gehirn mit den wichtigsten limbischen Zentren (nach Spektrum der Wissenschaft, verändert).Weitere Erläuterungen im Text.

Das menschliche Gehirn wiegt bei Männern im Durchschnitt 1,35 Kilogramm und bei Frauen im Durchschnitt 1,22 Kilogramm. Dieser Unterschied hängt teilweise mit dem etwas geringeren Körpergewicht von Frauen zusammen, ist aber nicht allein hierdurch erklärbar. Frauen und Männer unterscheiden sich außer in ihrem Körper auch in vielen anderen Dingen voneinander, z. B. wie sie fühlen, denken, entscheiden und sich verhalten. Nichts davon hat 16aber mit diesem Unterschied im Gehirngewicht zu tun, wie überhaupt die Leistungen menschlicher Gehirne, z. B. Intelligenz und Kreativität, und das Gehirngewicht in einer Spannbreite zwischen einem und zwei Kilogramm wenig bis nichts miteinander zu tun haben.

Das menschliche Gehirn ist nicht nur in seiner Grundstruktur sehr konservativ, sondern auch in seinem Feinaufbau. Wie alle anderen Organe unseres Körpers besteht das Gehirn aus Zellen, und zwar aus Nervenzellen, Neurone (oder Neuronen) genannt, und Gliazellen. Nervenzellen sind die direkten Grundbausteine der Funktionen unseres Gehirns, während Gliazellen Stütz- und Versorgungsfunktionen für die Nervenzellen ausüben. Inwieweit sie bei der neuronalen Erregungsverarbeitung mitwirken, ist noch nicht ganz geklärt. Das menschliche Gehirn enthält schätzungsweise hundert Milliarden Nervenzellen, wovon allein das Kleinhirn dreißig Milliarden Nervenzellen beinhalten soll, aber Gliazellen gibt es etwa zehnmal so viele wie Nervenzellen. Allerdings gilt, dass die Zahl der Gliazellen bei einer Vergrößerung des Gehirns gegenüber den Nervenzellen überproportional zunimmt, was zur Folge hat, dass kleine Gehirne viel mehr Neurone als Gliazellen und große Gehirne viel mehr Gliazellen als Neurone haben. Das hängt damit zusammen, dass bei einer Gehirnvergrößerung der Versorgungsaufwand für die Nervenzellen, an denen die Gliazellen beteiligt sind, unverhältnismäßig wächst.

Nervenzellen kommen in vielerlei Gestalten im Gehirn vor. Alle haben aber dieselbe Funktion: Erregung wird aufgenommen, verarbeitet und wieder abgegeben. Wie Abbildung 3 zeigt, besteht eine typische Nervenzelle aus einem Zellkörper, von dem meist viele verzweigte Fortsätze, Dendriten genannt, entspringen, über die sie Erregungen von anderen Nervenzellen aufnimmt, und einem ebenfalls am Zellkörper oder an einem Hauptdendriten entspringenden Fortsatz, Axon genannt (es kann davon auch mehrere geben), über die die Zelle Erregungen an andere Nervenzellen weitergibt. Allerdings gibt es auch Nervenzellen, die axonlos sind, und bei denen die Erregungsverarbeitung zwischen den Dendriten verläuft.

Grundlage der Erregungsverarbeitung im Nervensystem (einschließlich des Gehirns) ist die Tatsache, dass die Hülle (Membran), die die Nervenzellen und ihre Fortsätze umgibt, elektrisch aufgeladen ist. Durch Messungen stellen wir fest, dass das Zell18innere gegenüber der Umgebung eine negative Spannung von 40-70 Millivolt aufweist. Die Spannung der Membran kann sich nun kurzfristig entladen und dadurch elektrische Impulse erzeugen, die über die Oberfläche der Nervenzelle zum Ursprungsort des Axons und über das Axon zu anderen Zellen weiterlaufen. Diese Impulse nennt man Aktionspotentiale.

Eine einzelne Nervenzelle, wie sie in Abbildung 3 gezeigt ist, ist über viele kleine Kontaktpunkte, Synapsen genannt, mit tausenden anderer Nervenzellen verbunden. Diese Synapsen bestehen aus Endverdickungen von Axonen (Präsynapsen genannt), die an einem bestimmten Ort an einer anderen Nervenzelle ansetzen; diesen Ort nennt man Postsynapse. Meist befinden sich Synapsen an den Dendriten der nachgeschalteten Zelle, sie kommen aber auch am Zellkörper vor. Über die Axone laufen Aktionspotentiale vom Zellkörper zur Präsynapse. Bei so genannten chemischen Synapsen lösen diese Aktionspotentiale den Ausstoß von chemischen Boten- oder Überträgerstoffen, Neurotransmitter (oder einfach Transmitter) genannt, aus, die in den winzigen Zwischenraum zwischen Prä- und Postsynapse eindringen und auf die Postsynapse einwirken. Hier bewirken die Transmitter Veränderungen des elektrischen Ladungszustandes des Fleckchens Membran, das sich an der Postsynapse befindet. Dieser Ladungszustand ist im Ruhezustand, wie gehört, negativ, was bedeutet, dass sich gar nichts tut.

19Abbildung 3: Aufbau einer idealisierten Nervenzelle (Pyramidenzelle der Großhirnrinde). Die apikalen und basalen Dendriten dienen der Erregungsaufnahme, das Axon ist mit der Erregungsweitergabe an andere Zellen (Nervenzellen, Muskelzellen usw.) befasst. Links vergrößert drei verschiedene Synapsentypen: oben eine erregende Synapse, die an einem »Dorn« eines Dendriten ansetzt (»Dornsynapse«); in der Mitte eine erregende Synapse, die direkt am Hauptdendriten ansetzt; unten eine hemmende Synapse, die am Zellkörper ansetzt. (Aus Roth 2001.)

Durch Einwirkung der Transmitter auf die Postsynapse kann die Membran nun weniger negativ oder sogar positiv werden (dies nennt man Depolarisation), und dann läuft eine elektrische Erregung von der Postsynapse über die Dendriten zum Zellkörper und weiter zum Axon, wo sie unter günstigen Umständen Aktionspotentiale auslöst. Der Transmitter kann aber auch die postsynaptische Membran noch negativer machen und zum Beispiel auf minus 80 Millivolt treiben (dies nennt man Hyperpolarisation). Dies hemmt die Zelle und hat zur Folge, dass sie für nachfolgende Erregungen von der vorgeschalteten Zelle vorübergehend unempfindlicher wird.

Wir haben damit die beiden wichtigsten Wirkungen kennengelernt, die eine Nervenzelle auf andere Nervenzellen haben kann, nämlich Erregung (Exzitation) und Hemmung (Inhibition), natürlich in abgestufter Weise. Ob eine Präsynapse auf die Postsynapse erregend oder hemmend wirkt, hängt nicht nur von der Art des 20Transmitters ab, der von der Präsynapse ausgestoßen wird, sondern auch von der besonderen chemischen Empfänglichkeit der postsynaptischen Membran. Der wichtigste Transmitter in unserem Gehirn, der überwiegend erregend wirkt, ist Glutamat, die beiden wichtigsten überwiegend hemmend wirkenden Transmitter sind Gamma-Amino-Buttersäure (abgekürzt GABA) und Glycin. Diese drei Stoffe sind an der schnellen Erregungsübertragung an den Synapsen beteiligt, wobei »schnell« wörtlich zu nehmen ist und Vorgänge im Bereich von Tausendsteln einer Sekunde (Millisekunden) bedeutet.

Es gibt daneben Transmitter, die langsamer wirken, d. h. im Bereich von Sekunden, und die Arbeit der »schnellen« Transmitter beeinflussen. Sie werden deshalb auch »Neuro-Modulatoren« genannt. Es handelt sich dabei vornehmlich um die Stoffe Noradrenalin, Serotonin, Dopamin und Acetylcholin. Sie haben zusammen mit anderen chemischen Hirnsubstanzen, Neuropeptide und Neurohormone genannt, eine tiefgreifende Wirkung auf unsere seelische Befindlichkeit, und von ihnen wird deshalb noch ausführlicher die Rede sein.

Im menschlichen Gehirn spielt die Tätigkeit eines einzelnen Neurons kaum eine Rolle, sondern nur im Zusammenspiel mit Tausenden oder Millionen anderer Nervenzellen, die dieselbe Funktion haben. Neurone derselben Funktion sind im Gehirn meist zu anatomisch sichtbaren Gruppen zusammengefasst, die man Kerne (lateinisch Nuclei, Singular Nucleus) nennt. Diese Kerne können sensorische Funktionen haben, wenn sie mit dem Entstehen von Wahrnehmungen befasst sind, oder motorische Funktionen, wenn sie an der Steuerung des Bewegungsapparates beteiligt sind. Geht es um komplexe Wahrnehmungsleistungen, um Denken, Vorstellen und Erinnern, dann haben sie kognitive Funktionen, sind sie am Entstehen und an der Kontrolle von Affekten und Gefühlen beteiligt, haben sie limbische Funktionen, und wenn sie mit der Planung und Vorbereitung von Handlungen zu tun haben, dann handelt es sich um exekutive Funktionen.

Von den Kernen laufen Axon- oder Faserbündel bzw. Trakte (lateinisch Tractus genannt – mit langem u; der Singular heißt Tractus mit kurzem u) zu anderen Kernen im Gehirn. Axonbündel, die aus dem Gehirn austreten oder ins Gehirn eintreten, werden Nerven (lateinisch Nervi, Singular Nervus) genannt. Diese Nerven stellen 21die Verbindungen zwischen Gehirn und Sinnesorganen, anderen Organen (Herz, Lunge usw.) und dem Bewegungsapparat dar. Die Nerven zwischen Nase, Auge, Kopf und Gesicht, Zähnen, Innenohr, Mund, Zunge, Kehlkopf und dem Gehirn, insgesamt zwölf, bilden die Kopfnerven. Der zehnte Nerv, der Nervus vagus (»umherschweifender Nerv«) hat allerdings zusätzlich andere Funktionen, denn über ihn beeinflusst das Gehirn die Eingeweide. Die Nerven zum Bewegungsapparat unseres Körpers (d. h. zu den Muskeln, Sehnen und Gelenken) treten als motorische Nerven nicht aus dem Gehirn, sondern aus dem Rückenmark aus und kehren als sensorische Nerven zu ihm zurück; sie sind also Rückenmarksnerven.

Bevor wir uns mit den Funktionen der einzelnen Hirnteile beschäftigen, müssen wir uns noch mit einigen weiteren Grundbegriffen der Anatomie vertraut machen, die meist aus dem Lateinischen stammen. Das Wichtigste sind die Lagebeziehungen im Körper bzw. im Gehirn. »Dorsal« und »superior« heißt »oben«, »ventral« und »inferior« »unten«. »Rostral« und »anterior« heißt »vorn«, »caudal« und »posterior« »hinten«. »Medial« heißt »zur Mitte hin« und »lateral« »seitlich«.

Was die Teile des Gehirns tun

Das Verlängerte Mark ist die direkte Fortsetzung des Rückenmarks und der Ort des Ein- und Austritts des fünften bis zwölften Hirnnervenpaars (Nervus trigeminus, N. abducens, N. facialis, N. statoacusticus, N. glossopharyngeus, N. vagus, N. accessorius und N. hypoglossus) und enthält die motorischen bzw. sensorischen Kerngebiete dieser Nerven. Diese Gebiete werden umgeben von einer netzwerkartigen, in lose Kerngruppen gegliederten Struktur, »retikuläre Formation« (lateinisch Formatio reticularis) genannt. Diese Struktur zieht sich vom Verlängerten Mark über die Brücke bis zum vorderen Mittelhirn und spielt eine entscheidende Rolle bei lebenswichtigen Körperfunktionen wie Schlafen und Wachen, Blutkreislauf und Atmung sowie bei Erregungs-, Aufmerksamkeits- und Bewusstseinszuständen. Sie bildet zusammen mit dem Hypothalamus (siehe unten) die Grundlage unserer biologischen Existenz.

An das Verlängerte Mark schließt sich nach vorn bzw. oben die Brücke (Pons) an, die eine Reihe wichtiger motorischer und lim22bischer Kerne enthält und die Verbindung zwischen Großhirnrinde und Kleinhirn herstellt. Das Kleinhirn ist auf die Brücke aufgesetzt und gliedert sich anatomisch und von seinen Funktionen her in drei Teile. Der erste Teil hat mit der Steuerung des Gleichgewichts und der Augenfolgebewegung zu tun und wird Vestibulo-Cerebellum genannt. Der zweite Teil wird Spino-Cerebellum genannt und erhält über das Rückenmark Eingänge von den Muskeln und hat mit der Koordination des Bewegungsapparates zu tun. Der dritte Teil, Cerebro-Cerebellum genannt, ist eng mit der Großhirnrinde (Cortex cerebri) verbunden und mit der Steuerung der feinen Willkürmotorik befasst, mit der auch die Großhirnrinde zu tun hat. Wir benötigen diesen Teil des Kleinhirns, wenn wir zum Beispiel mit den Fingerspitzen etwas anfassen oder einen Faden durch ein dünnes Nadelöhr fädeln wollen. Das Kleinhirn stellt in diesem Zusammenhang auch einen wichtigen Ort motorischen Lernens dar.

Das Kleinhirn ist aber keineswegs nur ein Zentrum für die Koordination von Bewegungen, sondern ist auch an kognitiven Leistungen und an Sprache beteiligt, ohne dass dies uns allerdings bewusstseinsmäßig zugänglich ist. Wie diese Beteiligung genau aussieht, ist nicht klar, wahrscheinlich geht es immer um die Feinkoordination von zeitlichen Abläufen, seien dies Bewegungen, Sprachlaute oder Gedankenketten. Insofern ist es nicht so verwunderlich, dass bei fast allen Registrierungen der Hirnaktivität mithilfe so genannter bildgebender Verfahren, von denen noch die Rede sein wird, das Kleinhirn sichtbar wird.

An Brücke und Kleinhirn nach vorn schließt sich das – beim Menschen relativ kleine – Mittelhirn (Mesencephalon) an. Es gliedert sich in einen oberen Teil, das Mittelhirndach (Tectum oder Vierhügelplatte), und einen unteren Teil, das Tegmentum. Die Vierhügelplatte besteht aus den vorderen oder oberen Hügeln (Colliculi superiores) und den hinteren bzw. unteren Hügeln (Colliculi inferiores). Bei Fischen, Amphibien und Reptilien stellen das Tectum bzw. die Colliculi superiores das wichtigste sensorische, insbesondere visuelle Integrationszentrum dar, aber auch bei Vögeln und Säugern spielt dieses Zentrum eine wichtige Rolle bei visuell ausgelösten Blick- und Kopfbewegungen und bei gerichteten Hand- und Armbewegungen und entsprechenden Orientierungsleistungen. Die Colliculi inferiores sind ein wichtiges Zentrum für die unbewusste Verarbeitung von Hörinformation. Das Tegmentum 23enthält Anteile der Formatio reticularis sowie Zentren, die für Bewegung, Handlungssteuerung und Handlungsbewertung wichtig sind, nämlich den Nucleus ruber, die Substantia nigra und das Ventrale Tegmentale Areal. Verlängertes Mark, Brücke und Mittelhirn werden zusammen als Hirnstamm bezeichnet.

Abbildung 4: Querschnitte durch das menschliche Gehirn: (A) Querschnitt auf Höhe des Hypothalamus, der Amygdala und des Striato-Pallidum; (B) Querschnitt auf Höhe des Thalamus und des Hippocampus. 1 Neocortex; 2 Ncl. caudatus; 3 Putamen; 4 Globus pallidus; 5 Thalamus; 6 Amygdala; 7 Hippocampus; 8 Hypothalamus; 9 Insulärer Cortex; 10 Claustrum; 11 Fornix (Faserbündel); 12 Mammillarkörper (Teil des Hypothalamus); 13 Infundibulum (Hypophysenstiel); 14 Nucleus subthalamicus; 15 Substantia nigra; 16 Balken (Corpus callosum). (Nach Kahle, 1976, verändert.)

Das Zwischenhirn hat sich im Zusammenhang mit der enormen Vergrößerung des Endhirns bei Primaten und anderen großen Säugetieren ebenfalls stark vergrößert. Wie in Abbildung 4B gut zu sehen, ist es beim Menschen tief in das Endhirn eingebettet – das Endhirn hat es fast ganz eingehüllt. Es besteht von oben nach unten aus Epithalamus, dorsalem Thalamus, ventralem Thalamus (auch Subthalamus genannt) und Hypothalamus, von denen hier vor allem der dorsale Thalamus und der Hypothalamus interessant 24sind. Der dorsale Thalamus (Abb. 4B) ist ein Komplex aus funktional sehr unterschiedlichen Kernen und Kerngebieten und ist mit der Hirnrinde über auf- und absteigende Fasern verbunden, die das thalamo-corticale System bilden. Hier enden die vom Auge, vom Ohr, vom Gleichgewichtsorgan, von der Haut, den Muskeln und Eingeweiden kommenden sensorischen Bahnen und werden auf Bahnen zur Hirnrinde umgeschaltet. Ebenso enden motorische Bahnen von der Hirnrinde und nehmen dann ihren Weg zum Bewegungsapparat. Entsprechend haben Kerne des dorsalen Thalamus teils sensorische, teils motorische Funktionen, sind aber auch an kognitiven und limbischen Funktionen beteiligt und spielen bei der Regulation von Wachheits-, Bewusstseins- und Aufmerksamkeitszuständen eine wichtige Rolle. In diesem Sinne ist der dorsale Thalamus das Ein- und Ausgangstor der Großhirnrinde.

Der Hypothalamus (Abb. 4A) ist das Regulationszentrum für vegetative Funktionen wie Atmung, Herzschlag, Kreislauf, Nahrungs- und Flüssigkeitshaushalt, Wärmehaushalt und immunologische Reaktionen. Er beeinflusst in diesem Zusammenhang lebens- und überlebenswichtiges Verhalten wie Flucht, Abwehr, Fortpflanzung, Nahrungsaufnahme und Biorhythmen. Er ist zusammen mit der retikulären Formation das Überlebenszentrum unseres Gehirns.

Das Endhirn (Telencephalon, Cerebrum) bildet den größten Teil unseres Gehirns und gliedert sich in die Hirnrinde (Cortex cerebri) und in Teile, die von dieser Hirnrinde umschlossen werden und deshalb »subcortical« genannt werden. Das bei weitem größte subcorticale Gebilde ist der Streifenkörper (Corpus striatum, meist einfach Striatum genannt), dem eng der bleiche Körper (Globus pallidus) anliegt (vgl. Abb. 4A), der eigentlich zum Zwischenhirn gehört. Der obere (dorsale) Teil des Striatum und des Globus pallidus hat mit Handlungsplanung und Verhaltenssteuerung zu tun, der untere (ventrale) Teil mit Emotionen und Verhaltensbewertung (besonders von positiven Ereignissen). Striatum und Globus pallidus bilden zusammen mit anderen Zentren des Zwischen- und Mittelhirns die Basalganglien, die für die Steuerung willkürlicher Bewegungen wichtig sind.

Eine weitere wichtige subcorticale Struktur ist der Mandelkern (Amygdala, Abb. 4A). Die Amygdala ist aus anatomisch und funktional sehr verschiedenen Teilen zusammengesetzt, die mit der Verarbeitung von Geruchsreizen zu tun haben, mit der Steuerung 25von angeborenem Furcht- und Verteidigungsverhalten, mit Stressreaktionen sowie mit emotionalem Lernen, dem Entstehen von Gefühlen und dem Erkennen emotional-kommunikativer Signale wie Gestik und Mimik. Von der Amygdala wird in Kapitel 8 noch ausführlich die Rede sein. Ein Zentrum im Endhirn, das im weiteren Sinne zur Großhirnrinde gehört, ist die Hippocampus-Formation (oft kurz Hippocampus genannt; Abb. 4B). Der Hippocampus und die ihn umgebende Hirnrinde (entorhinaler, perirhinaler und parahippocampaler Cortex) sind der Organisator des deklarativen Gedächtnisses (episodisches Gedächtnis und Wissensgedächtnis). »Organisator« heißt hier, dass diese Strukturen festlegen, was wie in welcher Weise an Inhalten gespeichert wird, wobei der Speicherort die Großhirnrinde und nicht der Hippocampus ist (s. Kapitel 5). Zwischen den soeben beschriebenen Hirnteilen und der Großhirnrinde im engeren Sinne, die im Anschluss behandelt werden wird, gibt es einen an der Mittellinie des Gehirns liegenden Übergangsbereich, der sich wie ein Gürtel, lateinisch Cingulum, um die tief im Innern des Gehirns liegenden Zentren legt und deshalb cingulärer Cortex genannt wird. Er geht über in die bereits erwähnte entorhinale, perirhinale und parahippocampale Hirnrinde, die den Hippocampus umgibt. Schließlich gibt es einen tief eingesenkten Teil der außen liegenden Hirnrinde, insulärer Cortex genannt. Alle drei genannten Hirnrindenbereiche haben mit Gedächtnissteuerung, Aufmerksamkeit, Schmerzwahrnehmung, kognitiver und emotionaler Handlungsbewertung zu tun und werden zum »limbischen System« gerechnet, von dem wir noch ausführlicher hören werden.

Die Großhirnrinde

Die Großhirnrinde im engeren Sinne, Neocortex oder Isocortex genannt, macht beim Menschen etwa die Hälfte des gesamten Hirnvolumens bzw. -gewichtes aus. Die Oberfläche der Rinde ist stark gefaltet, so dass zwei Drittel davon in den Rindenfalten verborgen sind. Die Hirnrinde wird, wie in Abbildung 2 (oben) gezeigt, in vier Lappen (lateinisch Lobi, Singular Lobus) eingeteilt, und zwar in den Hinterhauptslappen (Lobus occipitalis), Schläfenlappen (Lobus temporalis), Scheitellappen (Lobus parietalis) und Stirnlappen (Lobus frontalis). Die Großhirnrinde des Menschen wird in ca. 50 unter26schiedliche Hirnrindenfelder eingeteilt. Diese Einteilung geht auf den deutschen Neuroanatomen Korbinian Brodmann zurück, und deshalb werden die Hirnrindenfelder auch »Brodmann-Areale« genannt. Diese Brodmann-Areale sind in Abbildung 5 dargestellt.

27Abbildung 5: Hirnrindenareale nach Korbinian Brodmann (1909).

Oben: Seitenansicht, unten: Innenansicht der Großhirnrinde. Die Zahlen geben die durchnummerierten Areale an.

Brodmann nahm diese Einteilung aufgrund rein anatomischer Kriterien vor, insbesondere aufgrund des Unterschieds im Vorkommen und in der Anzahl bestimmter Neuronentypen in unterschiedlichen Gebieten der Großhirnrinde. Erst später entdeckte man, dass sich diese anatomisch unterschiedenen Gebiete auch in ihren Funktionen unterscheiden. Das ist aus heutiger Sicht nicht verwunderlich, denn die Funktion eines bestimmten Hirnareals oder -zentrums wird festgelegt durch die Eingänge, die es erhält, die Verknüpfungsstruktur der Nervenzellen, die zu diesem Areal oder Zentrum gehören, sowie die Ausgänge zu anderen Hirnregionen.

Die Großhirnrinde im engeren Sinne, der Isocortex, ist im Vergleich zum restlichen Gehirn nicht nur ungewöhnlich groß, sondern auch ungewöhnlich aufgebaut – nämlich sehr gleichförmig. Das unterscheidet sie mit Ausnahme des Kleinhirns von allen anderen Teilen des Gehirns. Sie ist durchgehend sechsschichtig aufgebaut und besteht überwiegend aus einem einzigen Typ von Nervenzellen, den Pyramidenzellen – so genannt, weil ihre Zellkörper pyramidenförmig aussehen (siehe Abbildung 3). Davon gibt es rund 15 Milliarden. Zwischen den Pyramidenzellen finden sich relativ wenige (aber immer noch einige Milliarden!) erregende und hemmende lokale Schaltzellen. Pyramidenzellen sind alle erregend und zudem untereinander aufs Engste verbunden. Man schätzt die Zahl der Synapsen zwischen den Pyramidenzellen auf rund 500 Billionen. Diese Verknüpfungsstruktur sorgt dafür, dass jede Pyramidenzelle über wenige Zwischenstationen mit jeder anderen kommunizieren kann. Die corticalen Synapsen können ihre Arbeitsweise schnell ändern, und dies ist – wie wir noch hören werden – die Grundlage bewussten Wahrnehmens, Denkens, Vorstellens und Erinnerns. Insgesamt bildet die Großhirnrinde ein äußerst komplexes Netzwerk, dessen Verbindungswege zusammen viele Kilometer lang sind.

Wir werden in den folgenden Kapiteln ausführlicher über die verschiedenen Funktionen der Großhirnrinde hören. Eine Besonderheit sei aber jetzt schon erwähnt: Die Rinde ist zwar mit dem Thalamus über das thalamocorticale Fasersystem eng verbunden, 28das auch alle corticalen Ein- und Ausgänge enthält. Die Zahl der corticalen Ein- und Ausgänge ist aber sehr gering verglichen mit der Zahl der Verbindungen der corticalen Zellen untereinander. Man schätzt dieses Verhältnis ganz grob auf rund Eins zu Hunderttausend, d. h., die Beschäftigung des Cortex mit sich selber ist hunderttausendmal stärker als die Kommunikation mit dem, was außerhalb der Großhirnrinde sonst noch passiert. Angesichts dieser Tatsache dürfte es uns nicht mehr wundern, dass in diesem Teil des Gehirns besonders merkwürdige Dinge ablaufen, z. B. das Entstehen von Bewusstsein.

Dennoch kann sich die Großhirnrinde nicht vom Rest des Gehirns absondern, und zwar vor allem deshalb nicht, weil vergleichsweise kleine Kerngebiete des Gehirns, in denen die oben genannten Neuromodulatoren Noradrenalin, Serotonin, Dopamin und Acetylcholin produziert werden, diese äußerst wirksamen Stoffe über lange Fasern in den gesamten Cortex schicken und ihn so massiv beeinflussen. Die Produktionsstätten von Noradrenalin, Serotonin und Dopamin sitzen in dem häufig gering eingeschätzten Hirnstamm, sie haben aber den Cortex »im Griff«. Die spannende Frage wird sein, wer oder was wiederum diese Neuromodulator-produzierenden Zentren kontrolliert – und damit indirekt den Cortex.

Das Gehirn – ein vielseitiges Steuerzentrum

Zusammenfassend können wir die Tätigkeit des menschlichen Gehirns in folgende Bereiche einteilen: Der erste Bereich sorgt dafür, dass unser Körper mit seinem Stoffwechsel und Kreislauf und den damit verbundenen vegetativen Funktionen gut funktioniert, und dass wir Dinge tun, die unsere biologischen Grundbedürfnisse erfüllen, nämlich Schlafen und Wachen, Essen und Trinken, Sexualität, Verteidigung, Angriff oder Flucht bei Bedrohung. Hiermit sind neben Müdigkeit, Hunger, Durst und sexueller Begierde auch die Gefühlszustände verbunden, die wir Affekte nennen, z. B. Panik, Wut, Zorn und Aggressivität. All dies wird durch den Hirnstamm (dort besonders durch eine Region namens Zentrales Höhlengrau), den Hypothalamus und Teile des Mandelkerns zusammen mit den vegetativen Zentren des Hirnstamms geleistet.

Der zweite Bereich des Gehirns hat mit Wahrnehmungen zu 29tun. Wir haben Sinnesorgane für das Gleichgewicht (vestibuläres System), die im Innenohr lokalisiert sind (dem so genannten Labyrinth mit den auffallenden Bogengängen), von wo aus Nervenbahnen zum Verlängerten Mark, zum Mittelhirndach, dann zu Umschaltkernen im Thalamus und schließlich zur Großhirnrinde ziehen, wo sie im vorderen Bereich des Scheitellappens enden. Dieses Gleichgewichtssystem signalisiert die Lage unseres Körpers im Raum und die Veränderungen dieser Lage durch aktive und passive Bewegungen. Eng damit verbunden sind die Sinnesorgane für unsere Körperempfindungen, die in der Haut, in den Muskeln, Gelenken und Sehnen sitzen und unser Gehirn über Wärme und Kälte, Berührung, Druck, Gelenkstellung, Streckung und Beugung des Bewegungsapparates unterrichten. Sie bilden die Grundlage für das somatosensorische System. Die Nervenfasern dieser Sinnesorgane ziehen ebenfalls in das Verlängerte Mark ein, von dort zum Mittelhirn und zum Thalamus und enden ebenfalls im vorderen Bereich des Scheitellappens.

Das Sehsystem (visuelles System) nimmt seinen Ausgang von der Netzhaut des Auges, von wo aus der Sehnerv vornehmlich zum Mittelhirndach und zum Thalamus des Zwischenhirns zieht. Vom Thalamus zieht dann die »Sehstrahlung« zum Hinterhauptslappen des Cortex, der die Gebiete enthält, die mit Sehen zu tun haben. Das Sinnesorgan für Hören (auditorisches System) ist im Innenohr dem Organ für den Gleichgewichtssinn eng benachbart und sitzt in der so genannten Schnecke (lateinisch Cochlea). Von dort zieht der Hörnerv zum Verlängerten Mark, und von dort ziehen Nervenbahnen zum Mittelhirndach, wo sie auf Eingänge vom visuellen und somatosensorischen System treffen. Weiter geht es zum Thalamus des Zwischenhirns und von dort zum oberen Rand des Schläfenlappens, wo die für das Hören zuständigen Hirnrindenbereiche liegen. Von diesen Systemen unterscheiden sich die Sinnessysteme für Geschmack und Geruch erheblich. Sie sind die beiden chemischen Sinne, denn ihre Sinnesorgane sprechen auf feste, in Flüssigkeit gelöste und gasförmige chemische Substanzen an. Organe für Geschmack liegen im Mundraum und auf der Zunge (gustatorisches System). Der Geschmacksnerv zieht wie die meisten anderen Nerven zum Verlängerten Mark. Von dort ziehen Nervenfasern zum Thalamus und von dort hauptsächlich zum insulären Cortex und zum unteren Stirnlappen, dem orbitofrontalen Cortex. 30Das Geschmackssystem meidet also die »üblichen« Sinnesbereiche des Gehirns im Hinterhaupts-, Scheitel- und Schläfenlappen. Das Riechsystem (olfaktorisches System) nimmt seinen Ausgang von der Riechschleimhaut der Nase. Von hier aus zieht der Riechnerv zum benachbarten Riechkolben (Bulbus olfactorius), von dem aus Nervenbahnen zur Riechrinde, die den Zentren des limbischen Systems eng benachbart sind. Das olfaktorische System ist das einzige Sinnessystem, das nicht den Weg über den Thalamus zur Großhirnrinde nimmt, sondern gleich in das limbische System eindringt. Gerüche, insbesondere Körpergerüche, haben deshalb eine Wirkung auf Gefühle und Erinnerungen, ohne dass wir dies immer im Detail bewusst wahrnehmen.

Der dritte Bereich der Hirnleistungen betrifft die Steuerung der Bewegungen unseres Körpers und wird motorisches System genannt. Grundlage dieses Systems sind die so genannten motorischen Kerne im Mittelhirn, Verlängerten Mark und im Rückenmark, die unmittelbar für die Bewegungen der Augen, der Gesichtsmuskeln, des Kopfes, Rumpfes und der Gliedmaßen zuständig sind. Diesen Motorkernen sind eine Vielzahl von Zentren im Verlängerten Mark, in der Brücke, im Kleinhirn, Mittelhirn und Zwischenhirn zugeordnet, die völlig unbewusst arbeiten und entsprechend alle Bewegungen steuern, die wir nicht bewusst oder »willentlich« ausführen müssen. Für die »willentlichen« oder »willkürlichen« Bewegungen sind hingegen die motorischen Bereiche der Großhirnrinde zuständig, die im hinteren Stirnlappen vor der Zentralfurche und damit direkt vor den somatosensorischen Hirnrindenbereichen im vorderen Scheitellappen liegen. Allerdings sind nach neueren Erkenntnissen auch einige der zuvor genannten, außerhalb der Großhirnrinde liegenden motorischen Zentren an der Willkürmotorik beteiligt. Dies gilt vor allem für die bereits genannten Basalganglien.

Der vierte Bereich der Hirnfunktionen umfasst die kognitiven Leistungen, also komplexe Wahrnehmungen, Vorstellungen, Erinnerungen und Handlungsplanungen; auch Sprache gehört hierzu. Diese Funktionen finden sich, soweit sie bewusst ablaufen, in den Teilen der Großhirnrinde lokalisiert, die man assoziativen Cortex nennt. Damit meint man alle Teile, die nicht sensorische oder motorische Hirnrindenareale sind. So finden komplexe Sehleistungen im vorderen Hinterhauptslappen, im mittleren und unteren Schläfenlappen sowie im unteren Scheitellappen statt. Für das Hören 31von Geräuschen, Musik und Sprache ist der obere und mittlere Schläfenlappen zuständig, für die bewusste Körperempfindung, für Raumwahrnehmung und Raumorientierung einschließlich der Orientierung unserer Augen- und Greifbewegungen der hintere Scheitellappen.

Die assoziative Großhirnrinde ist auch Sitz unseres bewusstseinsfähigen Gedächtnisses, das vom Hippocampus gelenkt und organisiert wird, der außerhalb dieser assoziativen Großhirnrinde sitzt. Mit bewusster Handlungsplanung und Handlungsvorbereitung ist neben Bereichen des Scheitellappens vor allem das Stirnhirn, genauer der präfrontale Cortex befasst. Er steht in enger Verbindung mit den soeben beschriebenen kognitiven Bereichen des Scheitel-, Schläfen- und Hinterhauptslappens sowie mit dem Hippocampus und muss die schwierige Frage beantworten, was angesichts einer bestimmten inneren und äußeren Situation als Nächstes zu tun ist. Die dort getroffenen Entscheidungen gehen in Zusammenarbeit mit dem limbischen System an das motorische System.

Der fünfte Bereich ist das limbische System