Landläufiger Tod - Gerhard Roth - E-Book

Landläufiger Tod E-Book

Gerhard Roth

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Beschreibung

Bienen durchsummen Gerhard Roths monumentalen Roman aus dem Jahr 1984, in dem Tiere, Blätter und Steine sprechen können und Flüsse über den Himmel fließen. Seine Hauptfigur ist der stumme und »verrückte« Sohn eines Imkers, der mit der Fähigkeit begabt ist, die Welt hinter der sichtbaren Welt zu sehen. »Ein großartiges Monstrum« nannte die FAZ dieses Buch im Jahr seiner Erstveröffentlichung, »ein Abenteuer«. Jetzt, 33 Jahre danach, erscheint ›Landläufiger Tod‹ zum ersten Mal in der ursprünglich vorgesehenen Fassung, erweitert und neu durchgesehen. Ein Traum- und Märchenbuch für Erwachsene. Ein großartiges Zauberkunststück der Literatur.

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Seitenzahl: 1262

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Gerhard Roth

Landläufiger Tod

Erweiterte Neufassung. Erste vollständige Ausgabe

FISCHER E-Books

Roman

 

Mit Illustrationen von Günter Brus

Inhalt

Die Archive des SchweigensAbbildung1. Buch Dunkle ErinnerungCircus Saluti12345678910Totenstill123456789Auf dem SchneebergLandläufiger Tod1232. Buch Berichte aus dem LabyrinthSieben nicht abgeschickte Briefe aus dem IrrenhausDie SchöpfungDas gefrorene ParadiesDas Alter der ZeitDorfchronikMorgenMittagNachmittagAbendNacht3. Buch MikrokosmosDie ÜbermachtDas eigenartige NetzDie VorspiegelungDer FlohmeisterDie Schilderung des FreundesSchön und lupenreinSchwierige EntscheidungDie DoppelwendungHineingezogenWerkzeuge und Geräte des ImkersSchattenspieleDie ZiegelfabrikDie Sehweise der BieneBegrenzte WeltDer TreffpunktDie Schilderung des FreundesDer BrandstifterDas Antlitz der SterneVon den Fesseln befreitDas SägewerkDas Haus des ErhängtenDer BienDie Sprache der SteineDie Einsamkeit des TraumesDie Farben des Himmels über dem LandStrahlenVon der geistigen UmnachtungDie Frage an die ZeitGenauigkeitDer letzte WilleDas Denken im SchlafAbschiedDie Schilderung des FreundesDer General greift einDas SchulhausDie SonntagsorganistinVogelstimmenGroße StilleMorgendämmerungGegenfelderDie Schilderung des FreundesDer BahnhofAufzeichnungen über den SchullehrerDie Drohnenschlacht vor dem WinterDoppellebenMein HerzDie WolkenDie JagdSprücheDer verlorene SommerDie Schilderung des FreundesVerschiedene AnsichtenDie KircheKalenderJännerFebruarMärzAprilMaiJuniJuliAugustSeptemberOktoberNovemberDezemberDie Schilderung des FreundesGrasFossilErloschene VulkaneEine AbenteuergeschichteFarben der MessgewänderDas LaubDas Fraßbild des BorkenkäfersVon der Sprache der BienenTodesstrafeIn der AnstaltTollwutDie BefestigungsanlageDer Blick eines MördersDie Hochzeit des HauptmannsVon zwei SeitenDie Schilderung des FreundesApoplexieDer selbstlose Kreisrichter123Das Ende eines ParteigängersÜberlistetDer UnfallKindheitserinnerungen eines SchlangenfängersEine SkizzeAscherDas VersteckspielUnterirdische LandschaftenDie TotenTaubenfangenTrugbilderDer RusseGesucht und gefundenDer Tod eines ArtistenDurch die TürWenn der geworfene Stein ein Bewusstsein hätte, so würde er sagen, ich fliege, weil ich will (Pascal)SonntagDas PostamtDas RüsthausDas SchlachthausDer FriseurSommerfestHahnlosers EndeEindrücke von einer Raubtierfütterung123456789Wanderung zum Gletscher12345678910111213141516171819202122Die heilige WahrheitHellsichtDrei ToteLebenslauf eines Zwillingspaares12345678Nebelstille und glückliche Wallfahrt12345678910111213141516Eine kriegerische EisenbahngeschichteBeim Aufbau des ZirkuszeltesLetzte KriegstageEine Bootfahrt durch überschwemmtes GebietDie tätowierteste Zirkusdame der WeltDie Schilderung des FreundesNotizen von einem SommertagMetamorphose eines FrühstücksDas Ohr des RhinozerosDer Tod des alten MautnerHeimkehrDas Irrenhaus der KanarienvögelDas Lied vom schönen ScheinDie Schilderung des FreundesDie HöllenmaschineDer ZirkusDer ZahnreißerDas Verstummen des Jünglings im FeuerofenWidersprüchliche Berichte über eine angebliche HimmelserscheinungTraumlogikDer süße HonigEin ornithologischer VortragVerwischte SpurenGeschichte für einen dreibeinigen HundDer Gesang des BrandvogelsMeine KindheitDie Nacht der JägerDer Traum der AlpenGockel1234567891011121314151617181920212223242526Ich denke an das LandDie Krankheit im GeisteDas Testament des GeneralsDer Fall des GendarmeriekommandantenDie Schilderung des Freundes4. Buch Aufbruch ins UnbekannteDer Tod des GeneralsZwischen Himmel und ErdeabcdefghijklmnoDas Töten des BussardsABCDEFGHIJKLMNOPQRSTU5. Buch Märchen1 Die junge Braut2 Drei Männer aus dem Altersheim3 Das Porträt eines alten Zirkuslöwen4 Die verzagten Soldaten5 Die verrückten Schuhe6 Der verzauberte Ruf7 Die Frau mit dem Spazierstock8 Das gelbe Pferd9 Fingerhut10 Der Apfel11 Ewiges Leben12 Der Handgeher13 Die Strafe14 Vom Jäger und dem Kind15 Der Gesang der Nachtigall16 Unglaubwürdige Erklärung17 Der Riese18 Die Zauberin19 Die Wahrsagerin20 Ein Landpfarrer21 Zwillinge22 Das geraubte Herz23 Der neugierige Sohn24 Die Strafe25 Der Holzsoldat26 Der Gewichtheber27 Der Stern28 Der Sprachschöpfer29 Der ärmste Knecht30 Das Kreuzworträtsel31 Der wunderbare Igelknochen32 Der Insektenforscher33 Die Tabakdose34 Der Sonderling35 Tief innen36 Der Sohn des Generals37 Reiselust38 Das Loch im Himmel39 Das Lügenmärchen40 Gesichter machen Leute41 Die Hexe42 Die Kreuzotter43 Der Soldat44 da fraunz, da hauns und da koal45 Alles Zufall46 Der Augenblick der Mächtigkeit47 Die Fliege und die Spinne48 Der Mann aus Stein49 Der faule Apfel und der fleißige Apfelbaum50 Der Tod des siamesischen Zwillings51 Mensch, Tier und Engel52 Der Mann, der seinen Augen nicht traute, und der Mann, der nur glaubte, was er sah53 Auch ein Dummer findet manchmal Holz54 Die unbekannten Ungeheuer55 Der Riss in der Welt56 Der Mensch, der ein Spiegel war57 Das Gesicht der Zeit58 Die Welt ist voller falscher Urteile und Vorstellungen59 Die Vergessenen60 Das andere Universum61 Der Taubstumme62 Das zweite Ich63 Die Pest64 Der kluge Grenzposten65 Die Dreifaltigkeit kam in Form eines Zirkusartisten auf die Welt66 Das letzte Märchen6. Buch TagebuchTagebuch»Nein«7. Buch DokumenteDas verschlafene NestDer TagesablaufDie Sonne tritt in das Zeichen des KrebsesTaubstummenalphabetDer erste Anfang des BuchesEine EntenjagdAnhangÜber BienenÜber die Apis mellifica carnica

Die Archive des Schweigens

Band 3

Alle Personen und Geschichten sind aus der Luft gegriffen

1. BuchDunkle Erinnerung

Circus Saluti

1

Wenn der Zirkus kommt, fahre ich zur Abendvorstellung nach Wies. Natürlich versuche ich, in Begleitung meines Freundes zu sein, ohne den ein Gespräch nicht zustande käme, da ich stumm bin. Mein Freund ist so alt wie ich, studiert in Graz Jus und ist wegen der langen Semesterferien und der zahlreichen kirchlichen Feiertage häufig bei uns.

Wir trinken im kleinen und schäbigen Café an der Bundesstraße Bier, und mein Freund unterhält sich mit einem Zirkusarbeiter, der uns beim Abschied verspricht, vor dem Eingang auf uns zu warten.

Das Zelt ist hinter dem neuen Rüsthaus der Feuerwehr neben der Friedhofsmauer aufgestellt. Noch bevor ich es sehe, erblicke ich es in den Pfützen, denn ich bin mit gesenktem Kopf gegangen.

»Du kannst sicher sein«, sagt mein Freund, »wir werden uns amüsieren. Amüsiert uns nicht die Großartigkeit, dann amüsiert uns die Armseligkeit. So oder so ist es dasselbe.« Er erwartet nicht, dass ich ihm antworte. Nur wenn ich auf ihn zornig bin oder meine Meinung allzu sehr von seiner abweicht, stoße ich einen Laut aus oder schüttle heftig den Kopf und schreibe auf ein Stück Papier (das ich immer bei mir habe), was mich bewegt.

Die meisten Zuschauer kommen mit Traktoren, in deren Anhängern Frauen, Kinder, Verwandte und Nachbarn hocken, die kleinen Berge und Hügel herunter, fahren stumm durch die Ortschaft bis zum Zirkus und treten dort flüsternd oder raunend in das große Zelt oder gehen mit Verwunderungsrufen von einem zum anderen Käfig der Tierschau.

Wir müssen häufig an den Straßenrand treten, um den Fahrzeugen auszuweichen.

Entlang der Straße, die schwarz und von Reifenspuren durchfurcht ist, wuchert Unkraut. Über die Gräber im Friedhof schauen wir auf den gelben Kirchturm mit der runden Uhr und dem zwiebelförmigen Dach.

Nach der Vorstellung erzählt uns der Zirkusdirektor, dass er durch Begräbnisse, die gleichzeitig mit der Nachmittagsvorstellung stattfänden, des Öfteren gestört würde. Er ist ein kleiner, untersetzter Mann mit einer gebrochenen Nase, einem dunklen Schnurrbart, langen, nach hinten gekämmten Haaren und einem breiten Gesicht. Besonders das Glockenläuten vom Kirchturm und die Trauermärsche der Musikkapellen seien ärgerlich, manchmal aber auch die Grabrede eines Vereinsobmannes oder Pfarrers und das laute Gebet der Trauergäste. Er wiederum könne sich denken, fährt er fort, dass seine über Lautsprecher verstärkte, von Schallplatten kommende Zirkusmusik oder seine eigenen Ansagen über das Mikrophon und das darauf folgende Gelächter, aber auch der Applaus des Publikums bei einem Begräbnis beanstandet würden. Solche Zusammentreffen ließen sich jedoch nicht vermeiden. Er könne wegen eines Begräbnisses nicht die Nachmittagsvorstellung absagen, und die Angehörigen des Toten könnten wegen des Zirkus nicht die Beerdigung verschieben. Er sei ohnedies geschickt und nehme auf alle Zwischenfälle, soweit es ihm möglich sei, Rücksicht.

(Da ich dem Ablauf der Ereignisse vorgegriffen habe, möchte ich gleich auf die Eigenart, mit der der Zirkusdirektor seine Gedanken vorbrachte, eingehen.)

Der Schankraum im Wirtshaus ist dunkel, und wir sind mit den Tierwärtern die letzten Gäste. Stets blickt der Zirkusdirektor zuerst meinen Freund und dann mich an und richtet nach unserem Gesichtsausdruck seine Erzählweise ein; er wird eindringlicher, wenn unser Interesse nachlässt, gelingt es ihm trotzdem nicht, uns zu fesseln, wechselt er das Thema. Andererseits wiederholt er Sätze oder lässt sich mit dem Fortführen der Geschichte Zeit, sobald er bemerkt, dass wir ihm aufmerksam folgen; er lehnt sich zurück, stellt eine Frage und wischt sich mit dem Handrücken über den Schnurrbart. Nie verliert er die Beherrschung, weder wird er von Erinnerungen gerührt, noch überkommen ihn Nachdenklichkeit oder Freude. Er lacht nur aus Lust, uns mit seinen Geschichten im Ungewissen zu lassen, während er das Ende längst kennt. Zumeist beginnt er mit einer Frage:

»Der Bauer, auf dessen Wiese ich mein Zelt aufstellen wollte«, fragt er, »ist vor meinem Eintreffen plötzlich gestorben. Was habe ich gemacht?«

Oder: »Meine Pythonschlange ist, weil die elektrische Wärmelampe ausfiel, verendet – raten Sie, was ich getan habe.«

Oder: »Die Gendarmen haben mir das Aufstellen von Zirkusplakaten ohne behördliche Genehmigung verboten, was war zu tun?«

Eine andere Frage: »Zwei Zirkusarbeiter sind plötzlich verschwunden, wie sollte ich rechtzeitig das Zelt aufstellen?«

Und: »Jemand aus dem Publikum will meine Zauberkunststücke stören, da er meine Tricks durchschaut hat, und meldet sich als Versuchsperson. Was hätten Sie an meiner Stelle gemacht?«

Schließlich: »Die Fliege, wie in der Sprache der Schausteller ein Zuschauer genannt wird, der einem Artisten nach vorheriger Abmachung bei einem Kunststück behilflich ist, meldet sich bei der betreffenden Nummer nicht – und jetzt?«

Für die Antworten meines Freundes (mir wäre ohnedies nichts eingefallen), die der Zirkusdirektor jedes Mal abwartet, indem er seitlich zu Boden blickt, hat er nur ein kurzes Kopfschütteln übrig, dann erklärt er rasch, was er unternommen hat, um meinem Freund nicht die Möglichkeit einer zweiten Antwort zu geben (denn er würde es nicht ertragen, wenn jemand anderer auf dieselben Gedanken käme wie er). Übrigens machte er jedes Mal das Einfachste und Naheliegendste, während mein Freund stets an das Entfernteste und Komplizierteste dachte.

Der Frau des verstorbenen Bauern, auf dessen Anwesen er sein Zelt aufstellen wollte, habe er mit einem Kranz einen Besuch abgestattet, worauf sie ihm die Wiese für die gewünschte Zeit »um ein Spottgeld« vermietet habe.

Die erfrorene Pythonschlange wiederum habe er im Gebüsch hinter dem Zirkuszelt versteckt und in der nächsten Vorstellung bekanntgegeben, dass sie entflohen sei. Auch habe er die Zuschauer gebeten, ihm bei der Suche behilflich zu sein, was diese mit großem Eifer getan hätten. Nachdem das Reptil gefunden worden sei, habe er erklärt, es sei erfroren, weil es aus dem geheizten Käfig entwichen sei. Das habe ihm – wie er es nannte – »Propaganda« eingebracht. Auf die Frage eines »Provinzjournalisten« – hier gebe es eine Reihe merkwürdiger, aber von den Bewohnern häufig gelesener Zeitungen wie die »Weststeirische Rundschau«, das »Neue Land«, die »Sonntagspost«, den »Fortschrittlichen Landwirt«, die »Landwirtschaftlichen Mitteilungen« sowie Fachzeitschriften für Jäger, Fischer und Bienenzüchter (die auch mein Vater bezieht) und natürlich verschiedene Pfarrblätter, Kirchenzeitungen und Gemeindenachrichten, über die er nicht lächle, sondern die er zu benutzen trachte (die meisten, so behauptet er, ohne dabei ein Triumphgefühl verbergen zu können, seien stolz darauf, dass er sie verständige oder ihnen Eintrittskarten mit der Bitte um eine Ankündigung schicke) – auf die Frage eines »Provinzjournalisten« also, welchen Wert die Schlange gehabt habe (»Was glauben Sie, habe ich zur Antwort gegeben, als er mich gefragt hat, welchen Wert eine Pythonschlange besitzt?«) –, habe er erwidert: Für ihn sei das Tier mehr wert als ein »Mercedes«, dadurch hätte er die Phantasie des späteren Lesers angeregt, sich vorzustellen, welchen tatsächlichen Wert eine Pythonschlange habe. Es sei allgemein bekannt, was ein »Mercedes« koste, also könne man sich leicht ausrechnen, welcher Preis für das Reptil bezahlt werden müsse. (Natürlich koste es nicht so viel wie ein »Mercedes«, er habe jedoch ohnedies nur behauptet, dass es für ihn denselben Wert darstellte.)

Den Gendarmen wiederum, die ihm das Plakatieren verbieten wollten, habe er eine größere Anzahl von Eintrittskarten geschenkt, worauf die Tafeln hätten stehenbleiben dürfen. Und was die verschwundenen Zirkusarbeiter betreffe, so nehme er auf der Fahrt zum nächsten Ort, in dem Vorstellungen geplant seien, stets Anhalter mit. Den Anhaltern gebe er Geld mit der Aufforderung, zum Friseur zu gehen, denn zumeist seien Autostopper, die von einem Zirkus mitgenommen werden wollten, verkommen und ungepflegt. Er kümmere sich jedoch nicht darum, ob die Betreffenden wirklich einen Friseur aufsuchten. Dieses Verhalten leuchte ihnen gleichzeitig ein und verblüffe sie. Sie glaubten, Dankbarkeit zeigen zu müssen, und böten – als Nächstliegendes – an, ihm beim Aufstellen des Zeltes behilflich zu sein. So komme ihn, den Zirkusdirektor, die Arbeit billiger, als wenn er Hilfskräfte bezahlen müsse. Auch fragte er absichtlich nie nach der Vergangenheit der Gelegenheitsarbeiter, denn Herumstreunende, die zum Zirkus wollten, seien zumeist Irre oder Vorbestrafte.

Den Zuschauer schließlich, der »auf meine Kosten«, wie er sich ausdrückte, beabsichtigte, seine Zauberkunststücke zu stören, und dem seine Tricks und versteckten Handgriffe durch mehrmaligen Besuch der Vorstellungen bekannt seien, beschimpfe er mit zwar flüsternder, aber scharfer Stimme; er scheue auch nicht davor zurück, ihm ins Ohr zu spucken, und gebe ihm sodann Befehle. Eine »Versuchsperson« sei – um ein Beispiel anzuführen – zu seiner Taschendiebnummer mit leeren Hosensäcken und ohne Uhr in die Manege gekommen, so dass es nichts zu stehlen gegeben hätte. Dies habe er sofort erkannt, sie auf einem Stuhl Platz nehmen lassen und beschimpft. Im Scheinwerferlicht, wenn plötzlich das Publikum um sie sitze, gehorchten die Menschen aufgrund der neuen Situation automatisch. Auch die Übelsten hätten schließlich widerspruchslos seine Anweisungen befolgt. Da es nichts zu entwenden gegeben habe, habe er die »Versuchsperson« stattdessen hypnotisiert. Zumeist verwende er beim Hypnotisieren ein oder zwei Fliegen (also Besucher, mit denen er sich im Vorhinein abgesprochen habe). In Fällen, in denen er rasch handeln müsse, sei er jedoch gezwungen, auf Fliegen zu verzichten. Umso besser müsse dann die Ansage gelingen. Sie habe so gehalten zu sein, dass das Publikum schon in den Bann der kommenden Ereignisse gezogen werde. Sei sie geschickt vorgetragen, würde jeder Hypnotiseur, der nur einigermaßen Bescheid wüsste, Erfolg haben. Die »Versuchsperson« würde nämlich die Befehle, ohne zu zögern, ausführen, aus Angst, ansonsten wirklich hypnotisiert zu werden. Auch wenn ihm das eine oder andere Vorhaben misslinge, sei es nicht weiter schlimm, denn dies würde nur »Mundpropaganda« für den Zirkus zur Folge haben. (Die Leute merkten sich nämlich den Vorfall und erzählten ihn weiter, was das Wichtigste sei.) Bei dem Zuschauer, der mit leeren Hosensäcken auf die Bühne gekommen sei, sei ihm geistesgegenwärtig die Ansage, die er beim Hypnotisieren verwende, eingefallen, und schließlich sei es ihm auch gelungen, dem Burschen seinen Willen aufzuzwingen. (Wie die Ansage für das Hypnotisieren lautet, verschwieg uns der Zirkusdirektor.)

Und zuletzt erklärt er uns auch, was er unternehme, wenn eine Fliege sich nicht, wie abgesprochen, im Zuschauerraum befinde. Dann, so belehrt der Zirkusdirektor mit erhobenem Zeigefinger und hochgezogenen Brauen meinen Freund – mich beachtet er wegen meines Schweigens nicht, dessen Ursache ihm ja unbekannt ist –, suche er sich im Publikum einen Menschen aus, der einen ungeschickten Eindruck erwecke. Mit der Unbeholfenheit jenes Menschen, über die er sich lustig mache, lenke er die Anwesenden ab, und im Falle, dass der tölpelhafte Mensch tatsächlich nicht in der Lage sei, auf die gewünschte Weise mitzuspielen, frage er die Zuschauer, ob sich nicht ein Gewandterer zur Verfügung stellen könne. Dieser (den er sorgfältig aus den sich Anbietenden auswähle) sei dann stets bis zur Unterwürfigkeit bemüht, zum Gelingen des Kunststückes beizutragen, da er ja seine Geschicklichkeit unter Beweis stellen wolle.

So redete mit uns der Zirkusdirektor, indem er vom Hundertsten ins Tausendste kam; er aß (nur) Eis und trocknete sich den Schweiß ab. Meinen Freund sprach er des Öfteren mit »Sie als gebildeter Mensch …« an. Die Bewohner jedoch bezeichnete er als »Gelbfüßler« und »Gscherte« (worüber mein Freund laut auflachte).[1]

2

Als wir das Zirkusgelände betraten, entdeckte uns der Arbeiter aus dem Café und lud uns, obwohl wir unsere Eintrittskarten bereits gelöst hatten und in den Händen hielten, ein, die Vorstellung zu besuchen. Rasch fügte er hinzu, dass er in Wirklichkeit Tigerdompteur sei, er studiere jedoch seine Nummer erst ein und dürfe im Augenblick daher nicht auftreten. Wir sind durch die weiß und blau gestrichene eiserne Absperrung über eine Holzbrücke, die unter einen von brennenden Glühbirnen geschmückten Girlandenbogen führte, gegangen und stehen mit dem Rücken zum Zelt. Die Eintretenden halten vor den Plakaten an, auf denen Dompteure in blauen Uniformen mit brennenden Reifen in den Händen zu sehen sind, springende Löwen und Tiger, Clownsgesichter, als Maharadschas verkleidete Zauberkünstler sowie Krokodile mit weit aufgerissenen Rachen.

»Wir haben keine Krokodile«, sagte der Zirkusarbeiter, »Sie verstehen: Die Plakate hängen wir nur auf, um die Dorfbewohner neugierig zu machen.«

Der Zirkusdirektor ergänzte später voll Stolz, es handle sich um italienische Plakate, auf die er nur den Namen seines Unternehmens drucken lasse. Er bestelle sie in großen Mengen und hänge sie überall auf, um Publikum »anzulocken« und es »in die richtige Stimmung zu versetzen«, so dass es förmlich darauf warte, an der Nase herumgeführt zu werden. Würde bei der Vorstellung dann »der Schwindel« ausbleiben, würden die Zuschauer sich sogar betrogen vorkommen.

Der Zirkusdirektor meint, dass er uns empfänglich für Illusionen machen müsse. Aber ich widerspreche ihm. Ich nehme das Papier aus der Tasche und schreibe: »Nicht wir sind stumpf – wir sind es gerade, die sich in Träume stürzen, unser Leben ist ein einziger Wachtraum. Nur weil wir die Bereitschaft haben zu träumen, weil wir die Eigenschaft besitzen, in Träumen zu leben, nur darum können Sie Ihre Geschäfte machen.« Ich schiebe dem Direktor das Papier hin, und als er es nicht beachtet, nimmt es mein Freund und zeigt es ihm.

»Kannst du nicht sprechen!«, fährt mich der Direktor an. Ich sage nichts. Der Direktor wendet sich meinem Freund zu, streckt kurz die Zunge heraus und verdreht die Augen, um anzudeuten, ich sei schwachsinnig. Vor Wut steigen mir Tränen in die Augen, warum liest er nicht, was ich aufgeschrieben habe?

»Er ist in Ordnung«, sagt mein Freund, und ich hasse ihn in diesem Augenblick. In Ordnung! In Ordnung! Was will er damit ausdrücken? Dass ich so bin wie er, wie alle? Und hat er nicht bemerkt, dass der Direktor mich duzt?

Mein Freund, der mich kennt, weiß, wie mir zumute ist, und fängt mich zu loben an.

»Erst durch einen Unfall in unserem Sägewerk« (er meint das Sägewerk seines Vaters) »hat mein Freund seine Stimme verloren … sehen Sie die Narbe an seinem Hals … wir haben gemeinsam das Gymnasium besucht, müssen Sie wissen …« – Nachdem ich mit der Faust auf den Tisch geschlagen habe, hört er zu reden auf, und ich gehe auf die Toilette hinaus. Als ich zurückkomme, bemerke ich, dass der Zirkusdirektor über mich Bescheid weiß. Ich lasse mir jedoch nichts anmerken, nehme einen Schluck Bier aus meinem Glas und zünde mir eine Zigarette an.

»Vergessen Sie nicht, dass ich seit dreißig Jahren einen Wanderzirkus betreibe«, sagt der Direktor unvermittelt (und natürlich fällt mir auf, dass er nun per Sie mit mir spricht), »ich muss also wissen, wovon die Menschen träumen. Glauben Sie mir, sie träumen nur Träume, die ihnen vorgeträumt werden. Ich träume ihnen einen Traum vor, und sie träumen mit. Alle Träume, die diese Menschen träumen, sind längst erdachte, längst gelebte Träume. Was Sie als Absolvent eines Gymnasiums nicht überraschen wird: Die Menschen lieben die Wiederholung. Durch sie erst fühlen sie sich bestätigt, während sie das Neue, das wirklich Neue stets abstößt. Mit nichts können Sie größeren Schrecken oder größere Wut erzeugen als mit Neuem. Die Menschen wollen sich bestätigt fühlen und wiedererkennen. Im Geläufigen eben fühlen sie sich wohl … Nur eine einzige Vorstellung anzusehen und sich keine Gedanken darüber zu machen, was im Zirkus geschieht, auf welche Weise die Artisten leben, ist der wirkliche Traum. Der wahre Traum ist die Illusion, die Illusion von Zeitlosigkeit, Besitz, Macht. Die Menschen würden erschrecken, wenn die Illusion sich als Wirklichkeit herausstellen würde.«

Als ich daraufhin schreibe, er benutze die Menschen, antwortet er, ohne eine äußere Regung zu zeigen, er sei zwar auch ein Menschenverächter (»Das Leben hat mich dazu gemacht, wie Sie sich denken können.«), andererseits möge ich berücksichtigen, dass er Irren und Verbrechern Arbeit gebe.

Darauf will ich nicht weiter eingehen. Ich schreibe nur, dass die Gründe, aus denen er Irre und Verbrecher beschäftige, mit den Folgen nichts zu tun hätten, und er erwidert: »Am liebsten würde auch ich Ihnen schriftlich antworten, hahaha, Herr … ich weiß nicht einmal Ihren Namen.«

»Lindner«, antwortet mein Freund, und ich bin neuerlich wütend auf ihn.

»Herr Lindner. Ich könnte Bücher schreiben, glauben Sie mir, aber es fehlt mir an Zeit. Beurteilen Sie mich nach den Tatsachen und nicht nach den Absichten, die Sie mir unterstellen. Ich kann mich ja selbst nur nach Tatsachen richten, von den Absichten will ich gar nichts wissen, verstehen Sie?« Meinen Einwand, den ich in fliegender Eile und unter dem Gelächter und den spöttischen Bemerkungen des Zirkusdirektors niederschreibe, »dass man Tatsachen und Absichten kennen müsse, um zu einem Urteil zu kommen«, liest er laut vor, fragt: »Was heißt das?« Und als er auf diese Weise endlich die Aufmerksamkeit aller gewonnen hat, ruft er unter allgemeinem Gelächter: »Dieser Herr ist ein Philosoph und schreibt Traktate.« Aber mit unerwarteter Plötzlichkeit macht er ein ernstes Gesicht, wodurch auch das Gelächter der Übrigen verebbt, und beantwortet mein Schreiben mit einem Redefluss, bei dem er wieder vom Hundertsten ins Tausendste kommt und der ihn von unserem Gesprächsthema abbringt.

3

Der Zirkusarbeiter ist plötzlich verschwunden, und während mein Freund nach Bekannten ausschaut, werfe ich einen Blick in das Zelt: Das Abendlicht fällt durch die gelben und blauen Streifen der Planen und das weiße Zackenmuster, das aussieht wie das Gebiss eines phantastischen Tieres. Das Zelt ist an mehreren Halb- und Kranmasten befestigt. Lange Reihen von Klappstühlen sind auf die gemähte, grünleuchtende Wiese hingestellt. Dahinter stehen die Heuhaufen des Bauern (einige ragen durch Schlitze im Zelt ins Freie), und sogar Obstbäume erheben sich zwischen den Sitzreihen. Der Zirkusdirektor ist der Ansicht, es sei am besten, alles: Bäume, Sträucher, Kürbishaufen, kleine Maisfelder, in das Zelt miteinzubeziehen, wenn es keine ordentlichen oder billigen Wiesen zu mieten gebe. In Bad Gleichenberg habe er fünf oder sechs Pappeln mit dem Zelt überdeckt, in Eibiswald eine Wallfahrtskapelle. Das störe ihn nicht, die Verpächter der Wiesen hingegen wünschten, möglichst wenig Umstände zu haben, und die Bewohner seien sowohl den Anblick der Natur als auch ihrer Kapellen gewöhnt. Außerdem stelle er nicht die Bänke auf wie in der Stadt, in die er nur selten komme. Denn würde er noch die Bänke aufstellen, fasse der Zirkus mehr als tausend Besucher. »Und wo soll ich jeden Abend tausend Zuschauer hernehmen?«, schloss er.

Inzwischen ist der Zirkusarbeiter wiedergekommen, wir sprechen jedoch nicht miteinander, bis er sich vorstellt. Er heißt Friedrich Sommer und stammt, wie er übergangslos hinzufügt, aus Klosterneuburg. Früher habe er im »Circus Althoff« Eisbären vorgeführt, dann aber sei er ohne Engagement gewesen und zum »Circus Saluti« gegangen. Es komme oft vor, dass ein Artist von einem Unternehmen nicht mehr länger verpflichtet werde, erklärt er, für ihn habe sich jedoch die Angelegenheit zum Nachteil entwickelt, denn die Dame, die seine Nummer beim »Circus Althoff« übernommen habe, sei schon bei der ersten Probe von den Eisbären angefallen und getötet worden. Das sei in Jugoslawien geschehen. Um möglichst lange beim »Circus Althoff« bleiben zu können, habe er nämlich die Eisbären auf Angriff und nicht auf Belohnung abgerichtet. Dadurch sei er zwar bei den Vorstellungen und Proben selbst ständig in Gefahr gewesen, er habe jedoch die Hoffnung gehabt, dass kein anderer Dompteur es wagen würde, seine Nachfolge anzutreten.

Der Dompteur ist ein mittelgroßer, muskulöser Mann mit langem braunem Haar, dünnem Schnurrbart und Pickeln im Gesicht, seine Augen sind grau und lebhaft und mustern mich die ganze Zeit über, während er mit mir spricht. Er ist schäbig gekleidet, trägt einen abgerissenen Pullover und gestreifte Hosen, die ebenfalls Löcher aufweisen. An seinem Handgelenk fällt mir eine billige Uhr mit Kunststoffband auf, am Hals ein Silberkettchen mit einem Anhänger, auf dem ein Engel über einer blauen Wolke schwebt. Schon als wir ihn im Café sahen, tat er mir leid. Auf welche Weise kann ich ihm zeigen, dass ich sein Schicksal begreife? Andererseits schäme ich mich, etwas aufzuschreiben, was ihn vielleicht trösten könnte. Ausgerechnet von mir einen Zettel vor das Gesicht gehalten zu bekommen müsste seine Niedergeschlagenheit noch vertiefen. Auch kann er nicht wissen, dass ich mich auf eine ähnliche Weise wie er mit Tieren beschäftige. Mein Vater ist Bienenzüchter. Nach meinem Unfall, bei dem ich in die Kreissäge geriet, bin ich zu Hause geblieben und arbeite als Imker. Nicht, dass ich mich mit dem Dompteur auch nur im Entferntesten vergliche, aber es besteht ein – wenn auch winziger – Zusammenhang zwischen der Tätigkeit eines Bienenzüchters und der eines Dompteurs. (Die Bienen sind nämlich Wildtiere geblieben, obwohl sie seit Jahrtausenden von den Menschen genutzt und gepflegt werden.)

Der Zirkus lebe von der Veränderung, fährt der Dompteur fort. Nur um dem Zuschauer Abwechslung bieten zu können, müssten die Artisten immer wieder aus dem jeweiligen Zirkus ausscheiden und anderen Platz machen. Die Unternehmer seien gezwungen, wenn sie nach einiger Zeit wieder in derselben Stadt gastierten, fremde Artisten und unbekannte Illusionen zu zeigen, die das jeweilige Publikum dann für neu halte. Kein Besucher wünsche nämlich nach ein paar Jahren wieder dasselbe Programm zu sehen, während in anderen Städten und Landstrichen gerade das alte Programm unbekannt und darum neu sei. Weil die bewusste Dame im »Circus Althoff« aufgetaucht sei und angegeben habe, sie wolle mit seinen Eisbären arbeiten und mit ihnen jene Nummern einstudieren, die sie selbst am besten beherrsche, habe er endgültig den Abschied nehmen müssen … Wäre der Dompteuse nicht – wie er insgeheim gehofft habe – der tödliche Unfall zugestoßen, hätten auch andere Hippodrome ihm Bären anvertraut, so aber fürchteten sie, der Fall könne sich wiederholen und ihre Tiere würden, wenn er mit ihnen arbeite, für zukünftige Dompteure unbrauchbar.

»Wollen Sie die Tierschau besuchen?«, fragte er unvermittelt. Mein Freund, der sich mit niemandem, wie ich bemerken konnte, verabredet hatte (denn die Frauen kommen zu einer Zirkusvorstellung zumeist in Begleitung), antwortete, dass wir ohnedies beabsichtigt hätten, die Tiere noch vor der Vorstellung zu sehen: Es bestünde ansonsten die Gefahr, dass man sie, wenn man sie bereits in der Manege beobachtet habe, nachher in den Käfigen als eine Art verwandelter Menschen betrachte. Aus den Tieren spreche jedoch nur der Dompteur. (Mein Freund schweift, hat er einmal zu reden begonnen, leicht ab.) Er studiere die wechselhafte Wirkung von Eindrücken von Berufs wegen, erläutert er unserem schweigenden Begleiter. Denn gerade in den Rechtswissenschaften, mit denen er sich befasse, komme es darauf an, die Dinge von verschiedenen Seiten zu betrachten. Die Frage nach Schuld zwinge einem geradezu diese Vorgangsweise auf. »Mich interessieren in erster Linie Tatbestände und die Ursachen von Ereignissen«, fährt er fort, »und ich bin zur Erkenntnis gekommen, dass es keine Schuldigen gibt, aber auch keine Unschuldigen.« Schuld und Unschuld seien Ausschnitte, die zu praktischen Zwecken herausgegriffen würden. In einem höheren Sinne gebe es nur Ankläger und Angeklagte. Was nun die Tiere betreffe, die eingesperrt, abgerichtet und vom Menschen zerstört mit dem Zirkus reisten, so wünsche er ihr ganzes Elend zu sehen, bevor sie ihm noch durch ihre Geschicklichkeit im Scheinwerferlicht der Arena den Eindruck von menschlichen Wesen vermittelten.

Der Halbmond steht blass über dem Zelt, und wir begeben uns zu den Wagen, in denen die Tiere in der Dunkelheit schlafen oder kauend auf uns starren. Der Dompteur zeigt uns, während wir von Käfig zu Käfig gehen, die Löwen, den Leoparden, den Puma, den Steppenwolf und den Mungo, den Rhesusaffen, das Lama, den Polarfuchs, die Paviane und die Kragenbären, aber ich kann die Zirkustiere nicht ohne Bedrückung ansehen. Zum Schluss führt uns der Tierbändiger vor den Tigerkäfig. »Ich brauche noch ein halbes Jahr für die Nummer, bevor ich auftreten kann«, erklärt er uns, inzwischen betätige er die Zugmaschine, die das Zirkuszelt und die Masten von Stadt zu Stadt schleppe.

»Sie sollten sich jetzt in das Zelt begeben«, schließt er, »damit Sie die Vorstellung nicht versäumen.« An unserem Schweigen hat er erkannt, dass uns der Anblick der Tiere betroffen gemacht hat.

Wir nehmen auf den Klappsesseln Platz, aus den Lautsprechern tönt Musik, und auf der Bühne in der Manege steht ein Raubtierkäfig. Dort, wo die Masten in der Kuppel mit dem Zelt verbunden sind, können wir, wenn wir die Köpfe heben, zwischen den blendenden Lichtern von Scheinwerfern den nachtblauen Himmel sehen. Ein Trapez hängt über uns, und bei dem Gedanken, ein Mensch werde sich an ihm durch die Luft schwingen, werden wir vom Schwindel erfasst. Im zusammenlegbaren Eisenkäfig entdecken wir die blau- und rotbemalten Gestelle, auf denen die Raubkatzen Platz nehmen. Der Boden der Holzbühne selbst ist mit einem großen gelben Stern bemalt, der vom blauen Boden absticht und wie eine geheimnisvolle Einteilung aussieht. Es riecht nach frisch gemähtem Gras, die Zuschauer – das Zelt ist halb voll – warten auf den Klappstühlen, und der Sohn des Zirkusdirektors, der eine große Brille trägt, schminkt sich in einer leeren Reihe mit einem Rasierspiegel in der Hand als Clown zurecht. Auf dem Boden neben ihm liegt ein Fernrohr aus Pappmaché, daneben steht ein großer Koffer.

Später sagt der Zirkusdirektor, ein guter Clown müsse alt sein. Das Alter und eine damit verbundene, zumindest andeutungsweise vorhandene Gebrechlichkeit seien die Voraussetzung dafür, dass ein Spaßmacher das Publikum allein durch seine Erscheinung zum Lachen bringe. Natürlich könne ein Spaßmacher auch jünger sein, wenn seine Gebrechlichkeit dafür umso stärker hervortrete, jedoch würden selbst stark behinderte Clowns erst im Alter den Höhepunkt ihres Könnens erreichen. Nicht behindert zu sein bedeute für einen Clown einen groben Mangel. Infolgedessen müsse er ein Gebrechen vortäuschen. Das sei äußerst schwierig, da die Darsteller leider dazu neigten, ihre vorgeblichen Gebrechen zu übertreiben, was mit der Zeit ermüdend wirke. »Auch Sie lachen doch am herzlichsten über jemanden, der tatsächlich stottert, und nicht über das nachgemachte Stottern irgendeines zweitklassigen Schauspielers«, sagte der Zirkusdirektor, »oder denken Sie nur an die schlechtgespielten Hustenden und Betrunkenen, die über unsere Bühnen torkeln, während die tatsächlich Hustenden oder Betrunkenen uns zum Tränenlachen reizen.« Der Sohn des Zirkusdirektors ist im Gegensatz zu den Behauptungen seines Vaters höchstens zwanzig Jahre alt. (Misstraut der Zirkusdirektor den anderen? Will er mit ihnen nicht die Clownnummer einstudieren? Geht es ihm vielleicht gegen den Strich, sich von ihnen in den Hintern treten, mit einem Kübel Wasser anschütten oder ohrfeigen zu lassen? Womöglich befürchtet er, dass, verlöre er im Spiel den Respekt, er ihn alsbald auch im täglichen Umgang nicht mehr besäße, weshalb er es vorzieht, mit dem eigenen Sohn aufzutreten, als – und wenn auch nur im Spiel – Opfer der Späße von anderen zu werden.)

Ohne Ankündigung oder irgendein Vorzeichen ist es dunkel geworden, die Stimmen der Zuschauer verstummen, und nur ein Scheinwerferlicht, das kegelförmig auf die Bühne fällt, erhellt das Zelt. Sogleich erfasst es den Direktor, der in einem schwarzen, von goldglitzernden Fäden durchzogenen Smoking auftritt. Er hat, so können wir an den zischenden »S« feststellen, ein künstliches Gebiss und bemüht sich auf eine Art, die uns Scham empfinden lässt, leutselig zu sein. Zwei Löwenweibchen und ein Löwe werden durch einen Tunnel in den Käfig getrieben, indessen hält der Zirkusdirektor einen Stab mit Fleischstücken in der Faust: Sobald die Raubtiere seine Anweisungen befolgt haben, füttert er sie, stößt ihnen jedoch gleich darauf mit dem Eisenstab in den Körper, damit sie nicht auch nur für einen Augenblick seine Macht vergessen. Wir sitzen ganz nahe hinter den Löwen und können, wenn sie ihre Haltung verändern, sehen, wie es beim Atmen aus ihrem Maul dampft. Mein Freund und ich werfen uns einen Blick zu, der keinen Zweifel darüber lässt, dass wir uns vor den Löwen fürchten.

Der Zirkusdirektor aber sagt uns später, dass unsere Furcht »umsonst« gewesen sei. Wären die Löwen auf Angriff dressiert und hätte er nicht selbst die Abrichtung vorgenommen, so wagte er sich naturgemäß nicht in den Käfig. Mit Löwen aber, die auf Belohnung dressiert seien, könne jeder umgehen, der über genügend Mut verfüge … (Seine Frau beispielsweise, führt der Direktor aus, die erst am heutigen Tag von der Geburt ihres neunten gemeinsamen Kindes aus dem Krankenhaus entlassen worden sei, habe, obwohl sie für mehr als vierzehn Tage getrennt gewesen seien, bei der Dressurnummer nicht einmal in das Zelt geschaut, so sicher wisse sie ihn im Löwenkäfig.) Mit den Tieren umzugehen und sie abzurichten sei in erster Linie eine Sache der Beobachtungsgabe. Mein Freund und ich geben ihm recht. (Ich kann darüber hinaus, was die Bienen betrifft, von derselben Erfahrung sprechen. Mein Vater beobachtet sie sein ganzes Leben lang – auch durch häufige Stiche lässt er sich nicht davon abhalten. Und obwohl er dieselben Schmerzen bei den Stichen verspürt wie am Anfang – nur die Schwellungen bleiben aus –, ist er durch nichts davon abzubringen, mit ihnen umzugehen. Bei unseren Völkern und in den Stöcken kommt es daher kaum zu Zwischenfällen, die uns überraschen könnten, da mein Vater schon die kleinsten Vorzeichen zu deuten weiß.)

Zum Mut gäbe es weiter nichts zu sagen, fährt der Zirkusdirektor fort, denn er müsse vorhanden sein, was jedoch die Beobachtungsgabe betreffe, wolle er einige Bemerkungen machen: »Wenn Sie, um nur ein Beispiel zu nennen, wünschen, dass eine Ziege lernt, rückwärts zu gehen, wie würden Sie das bewerkstelligen?«, fragt er uns.

Da wir die Frage nicht beantworten können und mein Freund – Unkenntnis zeigend – die Hände und Schultern hebt, antwortet der Direktor nicht ohne Schadenfreude über unsere Ahnungslosigkeit, man müsse ihr bloß die Nasenlöcher zuhalten, dann gehe sie von selbst zurück.

Oder ob wir wüssten, dass ein Krokodil sein Bewusstsein verliere, wenn man es auf den Rücken lege? Solche Erkenntnisse dürfe ein Dompteur nicht außer Acht lassen, sondern habe sie für sich nutzbar zu machen. Die Menschen wüssten einfach nichts, wüssten und dächten nichts, das sei der Grund ihrer Verwunderung im Zirkus. In Wirklichkeit beruhe alles auf Beobachtung, alten Tricks und selbstverständlich auf der Darstellung. Auf die Darstellung komme es zumeist in gleichem Maße an wie auf die genaue Beobachtung, wenn nicht gar die Darstellung das Wichtigste überhaupt sei. Denn was nutzen alle Kenntnisse, was nutze das gesamte Wissen, wenn man es nicht gegen das Publikum ausspielen könne und nicht jene vorgetäuschte Wirklichkeit zu erzeugen in der Lage sei, die die Menschen unsicher werden lasse, ob nicht am Ende doch alles mit rechten Dingen zugegangen sei …

Gebannt verfolgen wir, wie die Löwen durch einen brennenden Reifen springen (was mir wie ein merkwürdiges Gleichnis erscheint). Sodann befiehlt der Zirkusdirektor den Raubtieren, die Mäuler aufzureißen, um ihnen seinen Kopf in den Rachen zu stecken. Und obwohl es mich bei der Vorstellung schaudert, die Löwen könnten zubeißen, empfinde ich mit derselben Aufwallung die Erniedrigung, die mit der Geste des »Den-Kopf-in-den-Rachen-Steckens« verbunden ist. Doch selbst wenn die Löwen diese Demütigung nicht hinnehmen würden, selbst wenn sie in einer plötzlichen Rückbesinnung auf ihre Kraft den Schädel des Zirkusdirektors mit ihren Kiefern zermalmten, was könnten sie anderes gewinnen als den Tod? (Denn der Rückweg ist ihnen abgeschnitten.)

4

Aus der Dunkelheit des Zuschauerraumes ist der Sohn des Direktors als Clown verkleidet mit Geschrei auf die Bühne gestürmt, er trägt riesige rote Schuhe (die der Anlass seines unsicheren Ganges und unseres Gelächters sind), den Koffer, aus dem Wasser rinnt, und das Fernrohr, durch das er blickt, als schaute ein Forschungsreisender in einer unendlich weiten Landschaft nach einem Punkt aus, der es ihm gestattet, sich zurechtzufinden. Tatsächlich entdeckt er den Zirkusdirektor und beginnt mit ihm schon von weitem zu zanken, und beide schreien in einer verstümmelten Sprache aufeinander ein, von der wir kein Wort verstehen. Inzwischen gibt der Zirkusdirektor vor, ein Kunstschütze zu sein, der versucht, dem Clown Luftballons aus der Hand zu schießen; jedes Mal jedoch, bevor er nach gründlichem Zielen abdrücken könnte, ist der Ballon durch die Unbeholfenheit des Clowns bereits mit einem lauten Knall zerplatzt.

Als der Zirkusdirektor schließlich eine brennende Kerze aus der Hand seines Sohnes schießen will, isst dieser sie blitzschnell auf, beugt sich vor und zeigt dem Kunstschützen, und damit auch uns, ein Licht, das in seinem Hintern brennt. Dann tritt er ab, und der Zirkusdirektor tut, als widmete er sich mit größtem Eifer kleinen Zaubereien, die er mit bunten Tüchern und Bändern vorzeigt. Wir haben inzwischen längst bemerkt, dass sein Sohn wieder auf die Bühne gekommen ist und nun stillschweigend ebenfalls damit beginnt, Kunststücke zu machen. Gerade als der Vater seine Ausführungen beendet hat und auf Applaus wartet, zieht der Sohn hinter einem Tuch verschiedene Tiere: ein lebendes Küken, einen Frosch, einen Kanarienvogel und eine Ringelnatter, hervor, die er in seiner Jackentasche verschwinden lässt. Daraufhin steigert sich die allgemeine Heiterkeit. (Vielleicht sind wir deshalb geradezu lachbereit und benötigen nur den Hauch eines Anstoßes, die kleinste Anregung, weil das Entsetzliche am stärksten zum Lachen reizt. Wie haben wir aufgejubelt, als der Sohn des Zirkusdirektors die Ringelnatter »irrtümlich« in seine Jacke stopfte, und wie nahm unsere Begeisterung noch zu, als er in jäher Einsicht, dass er dabei war, eine Schlange einzustecken, erschrocken aus dem Zelt lief, während das Reptil noch aus seiner Tasche baumelte … und wie müssen wir weiterlachen bei dem Gedanken, was nun in der Jackentasche vor sich gehen mag, in der sich unversehens ein Küken, ein Frosch, ein Kanarienvogel und eine Schlange zusammengefunden haben! Im Zirkus vermuten wir uns in Sicherheit, wähnen uns von Vorspiegelungen und Fingerfertigkeit ohnehin auf die Probe gestellt, und was könnte das Spiel mit dem Erschrecken anderes für uns sein als der Einfall eines Zauberkünstlers!)

Im Gasthaus fragt uns der Direktor: »Machen Sie auch das, was die Leute wollen? Entsprechen Sie ihren Wünschen?« – Mein Freund schweigt, ich aber schreibe auf das Papier: »Wenn ich den Wünschen ›der Leute‹ entspreche, dann nur, sofern ich dazu gezwungen bin (manchmal jedoch auch aus Mutlosigkeit). Ist es nicht eigenartig, dass die Vorstellung, mit der wir unsere Person im Alltag schützen, auf uns den Zwang ausübt, tatsächlich scheinheilig zu sein! Nur weil wir unsere eigenen Schwächen und Wünsche, unsere Eigenschaften und Meinungen zurückhalten in dem Glauben, die anderen wollten es so, entschädigen wir uns mit der nächsten Lüge, dass dies richtig sei. Was wir uns verbieten, glauben wir als monströse Wucherung an uns festzustellen, während wir annehmen, die anderen dächten und seien so, wie sie sich nach außen hin geben. Wir empfinden uns gegenüber Scham, weil wir glauben, wir seien mit bestimmten Gedanken und Taten allein oder in der Minderzahl, und helfen dadurch – ohne es zu wissen – mit, dass dieser Zustand für alle anderen ebenso aufrechterhalten bleibt wie für uns selber. Indem wir machen, was ›die Leute‹ wollen, erhalten wir die Scheinwelt aufrecht, in der wir und die anderen leben.«

»Ich meine etwas anderes«, antwortet der Zirkusdirektor, bevor er noch mein Schreiben zu Ende gelesen hat. Und nach kurzem Nachdenken: »Mir ist es egal, was Einzelne von meinen Darbietungen halten, solange nur das Publikum davon angezogen wird.«

5

Nach einer kurzen Unterbrechung kündigt der Zirkusdirektor eine Akrobatin an, ein zwölfjähriges Mädchen, das er als Luft- und Vogelmenschen bezeichnet, wobei er uns nicht verheimlicht, dass es sich um seine Tochter handelt. Er bittet um äußerste Ruhe.

Sofort ist es so still, als hätte uns die Erde verschlungen. Unter einem Arm des Mädchens kann ich – als es einen Handstand auf den Schultern seines Vaters macht – deutlich ein Loch im Trikot erkennen. Wie ein an den Köpfen zusammengewachsenes siamesisches Zwillingspaar stehen sie jetzt vor uns. Der Reihe nach kommen die jüngeren und jüngsten Söhne des Zirkusdirektors in blauen, silberbestickten Anzügen aus der Kulisse und führen die verschiedensten Körperkunststücke vor.

Die Mücken im Zelt stechen uns eifrig, und so schlagen wir – die Stille durchbrechend – ab und zu auf unsere Rücken ein, versetzen uns klatschende Ohrfeigen, geben uns Klapse auf die Handrücken, kratzen Arme, Beine und Schenkel, was sich insgesamt komisch anhört und wodurch die ganze Zeit über im Zirkuszelt eine eigentümliche Bewegung herrscht. Endlich erscheint auch der italienische »Kraftkünstler«, auf den wir schon sehnsüchtig gewartet haben. Viele erheben sich von den Stühlen, lassen sich erst auf die Zurufe der hinter ihnen Sitzenden wieder nieder oder treten vollends bis zur Bühne vor, um den Ereignissen aus der Nähe folgen zu können. Der »Kraftkünstler« ist ein junger Mann mit langem schwarzem Haar und den Gesichtszügen der Athleten. Ohne die geringsten Anzeichen von Mühe oder Schmerz zerschlägt er Ziegelsteine, Stuhlbeine, ja sogar Felsbrocken, um dann unter unserem Beifall mit einem Schritt aus dem Scheinwerferkegel in die Dunkelheit zu verschwinden.

6

Nach der Pause lässt der Direktor einen bemalten Kasten auf die Bühne tragen, durch den er zwölf Schwerter bohrt; sodann öffnet er eine Seitenwand und fordert uns auf zu überprüfen, ob die Klingen den kleinen Schrank vollständig durchstoßen haben. Natürlich lässt er ihn in alle Richtungen drehen, damit sich jeder von uns überzeugen kann, dass die Schwerter im Kasten stecken. Wir bestätigen das durch Kopfnicken, Raunen und Flüstern, daraufhin schließt der Zirkusdirektor die Wand wieder, um einen Deckel abzuheben und unsere Verblüffung zu genießen, als seine Tochter graziös heraussteigt und vor uns einen Knicks macht.

7

Der Zirkusdirektor ist mit einem Turban und einer schwarzen Augenbinde auf dem Podium erschienen. Was hat er vor? Wozu der Turban, wenn wir doch wissen, dass es sich um den Zirkusdirektor handelt? Warum wechselt er in einem fort seine Anzüge, während sein Auftreten immer dasselbe bleibt? – Er will unseren »inneren Vorstellungen gerecht werden«, erklärt er im Nachhinein meinem Freund, denn die Leute verbänden in ihrer Einbildung alles mit bestimmten Erwartungen und seien enttäuscht, wenn diese nicht erfüllt würden. Er wolle sich jedoch nicht selbst schaden, sondern in jedem Augenblick den Anforderungen, die an einen Zirkus gestellt würden, gerecht werden. Und schon kündigt er sich als »Hellseher« an. Bei dem Wort »Hellseher« wird es im Zirkus dunkel, und nur ein Scheinwerfer beleuchtet die Bühne mit seinem Lichtkegel. Kaum haben wir ausgelacht, lässt der Zirkusdirektor einen seiner Söhne aus einer Glastrommel den Abriss einer Eintrittskarte ziehen und die Nummer aufrufen. Er selbst sitzt mit dem Rücken zum Publikum. Als der betreffende Zuschauer die Bühne betritt, befiehlt er ihm stehenzubleiben, dann herrscht Stille.

Nach einer Weile nennt er zögernd den Namen des Mannes, seinen Beruf und das Alter. Wir kennen den Zuschauer, er ist nicht jemand, der mit dem Zirkusdirektor Absprachen trifft. Und während wir noch staunen und dabei sind, uns von unserer Verblüffung zu erholen, fährt der Zirkusdirektor fort: »Waren nicht Sie es, der gegen einen gewissen Resch im Kartenspiel ein Schwein verloren hat?« Auch das stimmt. Der Mann ist so unsicher geworden, dass er nicht mehr weiß, wie er sich verhalten soll, und der Zirkusdirektor nutzt die Gelegenheit und schickt ihn als Verdatterten zurück auf seinen Platz.

Im Gasthaus erklärt uns der Zirkusdirektor seine Hellseherfähigkeit. Nur wenn es ihm gelinge, einen im Dorf beheimateten Arbeiter anzuheuern, der ihm beim Aufstellen des Zeltes behilflich sei, trete er überhaupt als Hellseher auf. (Denn natürlich müsse er jede Einzelheit vorher genau genannt bekommen.) Zu diesem Zweck sitze der Arbeiter mit ihm im unbeleuchteten Kassenwagen und nenne ihm zwei oder drei Personen, die gerade eine Karte kauften. Er, der Zirkusdirektor, notiere sich in der Folge die Nummern der Eintrittskarten, die der Betreffende erstehe, und alles, was der Arbeiter über ihn wisse. (Sein Sohn müsse sich sodann nurmehr die angegebenen Nummern merken.) Daher sei es für ihn nicht weiter schwer, wenn es darauf ankomme, das Notwendige zu erraten. Zur Sicherheit sitze der Arbeiter während der Vorstellung hinter einem chinesischen Wandschirm, der im Dunkeln aufgestellt sei, und warne ihn, wenn Karten oder Personen vertauscht würden. In so einem Fall schicke er die betreffende Person mit der Begründung, dass er keine »Einstellung« zu ihr gefunden habe, in den Zuschauerraum zurück. Das mache ihn nur noch glaubwürdiger. Nachdem uns der Zirkusdirektor schon eine Reihe von Taschenspielertricks verraten hat, überraschen uns seine Ausführungen nicht mehr. »Glauben Sie mir«, brüstet er sich, »es würde nicht einmal einen Unterschied machen, wenn die Leute Bescheid wüssten, wie ich sie hineinlege. Denke ich beispielsweise an meine Hellsehernummer, so müsste ich meine Sätze und Inhalte nur noch schärfer formulieren. Ich brauchte den Leuten nur mitzuteilen, wovon sie ohnedies Kenntnis haben, und das Gelächter wäre womöglich noch größer. Über nichts unterhalten sich Menschen mehr, als wenn sie von einem Fremden bestätigt bekommen, was sie selbst längst wissen. Ich könnte Betrüger als Betrüger entlarven, Trinker als Trinker bezeichnen, ich könnte alles und jeden beim Namen nennen, denn ich ziehe weiter und bin im Grunde über nichts im Bilde.« Die Ortsbewohner hätten ihre Schadenfreude, und die Bloßgestellten, das sei die Überraschung, kämen sich dadurch, dass man über ihre Geheimnisse und Heimlichkeiten, ihre schamvoll gehüteten Eigenschaften und Vorlieben Bescheid wisse, früher oder später befreit vor, und nach einem Jahr könne er wieder auftauchen, ohne irgendwelche Folgen befürchten zu müssen. Im Gegenteil, er sei der Überzeugung, dass seine Hellsehernummer dann mit noch größerer Spannung erwartet würde als zuvor. »Zunächst aber denke ich nicht daran, sie zu ändern«, bekräftigt der Zirkusdirektor. Erst wenn bekanntgeworden sei, wie es sich damit verhalte, werde er sie möglicherweise umstellen. »Der Schwachpunkt der neuen Nummer wäre nämlich, dass meine Informanten aus Angst vor der Rache der Dorfbewohner ausbleiben könnten. In diesem Falle wäre nicht nur meine alte, sondern auch die neue Hellsehernummer ›gestorben‹. Sie können sich vorstellen, wie die Zuschauer darauf reagieren, wenn sie erwarten, jemand würde ihnen die Wahrheit ins Gesicht sagen oder die Lebenslüge ihres Nachbarn aufdecken – und ich muss die Nummer ausfallen lassen, weil mir niemand Bescheid gegeben hat. Trotzdem habe ich keine Angst, dass die Arbeiter, die mir im Kassawagen die Auskünfte geben, hernach in den Gasthäusern mit ihrem Wissen aufschneiden – letztlich ist auch der aufgedeckte Schwindel nur Reklame für mich.«

Beim Sprechen hat der Zirkusdirektor seinen wuchtigen Oberkörper über den Tisch gebeugt. Als er noch Artist gewesen sei, führt er aus, habe er sich eine Eisenplatte zwischen die Schultern geklemmt und bis zur Zirkuskuppel daran hängend hochziehen lassen, wobei sich noch zwei andere Männer an ihm festgehalten hätten. Er studiert meine Zettel, die vor ihm liegen, und sagt plötzlich zu mir: »Ihr Schreiben hat mich übrigens auf die Idee gebracht bekanntzugeben, auf welche Weise ich hellsehe. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und mir: Sie haben geschrieben« – er nimmt den Zettel in die Hand und sucht die Zeile: »›Wir empfinden uns gegenüber Scham, weil wir glauben, wir seien mit bestimmten Gedanken und Taten allein oder in der Minderzahl, und helfen dadurch – ohne es zu wissen – mit, dass dieser Zustand für alle anderen ebenso aufrechterhalten bleibt wie für uns selber … ‹ Wenn das wahr ist, habe ich mir gedacht, während ich noch mit Ihrem Freund und Ihnen gesprochen habe, könnte ich mir Ihre Erkenntnisse für mein Geschäft nutzbar machen. Und ich gebe zu, dass Ihre Einsichten für mich mittlerweile interessant geworden sind. Der Unterschied zwischen Ihnen und mir ist, dass Sie Beobachtungen machen und darüber nachdenken, hingegen nichts beeinflussen können. Ich aber vermag die Erkenntnisse, die ich gewinne, zu meinem Vorteil anzuwenden, während Sie damit die Menschen höchstens belästigen oder belustigen.« Er wiederholt die beiden ähnlich klingenden Wörter aus Freude, mich damit vielleicht zu treffen. Schon der Tonfall, in dem er zu mir spricht, ist eine Verhöhnung, und gleich darauf macht er sich noch einmal über mich lustig, indem er genussvoll die Zettel einsteckt.

8

Am meisten bewundern wir die Tochter des Zirkusdirektors. Sie trägt ein goldenes Trikot und wird an einem Seil in die Zirkuskuppel gezogen, wo sie hoch über uns mit den Füßen am Trapez hängt, worüber wir insgeheim erschrecken. Der Zirkusdirektor steht in der Manege, den Kopf gespannt in die Höhe gereckt, bereit, sie aufzufangen. Aber wer sagt uns, dass er dazu imstande ist? Das Haar des Mädchens hängt schlaff, bewegungslos, das Gesicht verdeckend herunter wie vom Körper einer Toten. Die Schallplatte, von der die Musik durch die Lautsprecher ertönt, rauscht und knistert, und das Zirkuszelt ist jetzt in ein gelbes Licht getaucht. Wir sind auf gespenstische Weise fröhlich. Einerseits können wir unsere Augen nicht von der Tochter des Zirkusdirektors lassen, wie sie, nachdem sie sich wieder mit einer Schlaufe am Seil befestigt hat, langsam einen Spreizschritt macht, als sei es die natürlichste und genussvollste Sache der Welt, andererseits hüllt uns im Augenblick eine so angenehme Atmosphäre der Unwirklichkeit ein, dass wir in ihr verbleiben wollen und tatsächlich nur durch den Sturz der Akrobatin aus ihr gerissen würden, wenngleich wir nicht sicher sind, ob ein tödlicher Unfall unsere Gefühle nicht noch verstärkte. Die junge Artistin schlingt sich um das Seil, berührt wie ein knochenloses Wesen mit dem Kopf die Zehen und beugt sich weit, mit ausgestreckten Armen in den Raum hinaus, als wollte sie jetzt und jetzt den Fuß aus der Schlaufe ziehen und durch das Zirkuszelt fliegen wie ein goldener Vogel. Schon bilden wir uns ein, sie schweben zu sehen, schon glauben wir nicht mehr daran, dass sie das Seil benötigt, um sich festzuhalten, als sie jählings vor unseren Augen herabstürzt, im gleichen Augenblick, wie sie – was wir erst nachträglich wissen – vom Seil zurückgerissen wird und über unsere Köpfe schwebt, so dass wir vermeinen, ihr Haar berühre uns. Als sie wieder auf festem Boden steht und vor uns einen Spagat macht, können wir die blauen Flecken an ihren Beinen sehen, die sie sich beim Üben und den täglichen Vorstellungen zugezogen hat, und obwohl wir nicht allzu sehr davon überrascht sind, holt uns diese Beobachtung doch wieder auf unsere Stühle zurück, auf denen wir uns sitzen spüren. Und erst als das Mädchen mit einem Glaskrug im Zuschauerraum zu sammeln beginnt, fühlen wir uns nicht mehr wohl. Die Tochter des Zirkusdirektors hat ein schläfriges Gesicht aufgesetzt und bleibt vor jedem gelangweilt stehen – als suche der Betreffende in seinen Taschen nach Münzen, fände sie jedoch nicht – und löst dadurch endlich den Griff nach dem Geldtäschchen aus, während sie so lange wartet (und damit dem Zuschauer die Sicht verstellt), bis es im Glaskrug klimpert. Sie bedankt sich nicht, schaut niemandem in die Augen, sondern hat ihren Blick in die Ferne gerichtet (auch als mein Freund sie anlächelt). Indessen ist der Zirkusdirektor mit dem Programm fortgefahren. Zu unserer Überraschung hat er zwei Sulmtaler Hühner mit gelben Füßen hereingetragen, von denen wir sofort annehmen, dass es sich nicht um dressierte Tiere handeln kann, da sie aus unserer Gegend stammen. Andererseits ist es natürlich möglich, dass gerade unsere Hühner besonders intelligent und für Zirkuskunststücke zu gebrauchen sind.[2]

Der Zirkusdirektor hat die Hühner sogleich in die Höhe gehoben, sie uns betrachten lassen, ist zur ersten Sitzreihe gegangen, hat sie herumgezeigt und von uns die Bestätigung verlangt, dass es sich um völlig gesundes und normales Sulmtaler Geflügel handle, er habe es von einem Landwirt, der sich unter den Zuschauern befinde, gekauft, und er weist auf einen älteren Mann mit einem braunen Hasenbalghut, der uns vom Sehen her bekannt ist. Daraufhin ist der Zirkusdirektor wieder auf die Bühne gesprungen mit der Ankündigung, er werde die Hühner hypnotisieren. Das ist mehr, als wir vertragen können. Schon bei der Ankündigung unterhalten wir uns königlich. Unsere Hühner! – Im Übrigen sind wir dadurch sogar noch mehr gefangengenommen, dass der Zirkusdirektor Kunststücke mit den Tieren vorführt, die wir kennen, und nicht mit exotischen! Denn unsere Hühner kennen wir, und da kann uns niemand etwas vormachen. Wir sind äußerst wachsam, werfen unsere Spenden rasch in den Glaskrug der jungen Artistin, um nur ja nicht durch einen Moment der Unaufmerksamkeit etwas zu übersehen, was wir dem Zirkusdirektor als Entdeckung höhnisch an den Kopf werfen könnten. Der Zirkusdirektor reicht eines der Hühner seinem Sohn, kniet nieder und drückt das andere Huhn am Hals gegen den Boden, dann holt er ein Stück Kreide aus der Tasche und macht vom Schnabel weg einen Strich. Wir trauen unseren Augen nicht, aber das Huhn bleibt mit nach hinten gedrehtem Kopf und aufgestellten Füßen auf der Bühne liegen und starrt den Kreidestrich an. Noch ehe wir uns fassen können, ist der Direktor mit dem zweiten Huhn auf dieselbe Weise verfahren. In der Zwischenzeit hat der Sohn ein weiteres Paar Hühner hereingetragen, mit dem der Direktor dasselbe anstellt, während ein Zirkusarbeiter schon mit dem nächsten wartet. Erst als zwei Dutzend Hühner auf der Bühne liegen, ist die Nummer beendet, und wir kommen aus dem Staunen nicht heraus. »Lauter Gelbfüßler«, ruft der Zirkusdirektor. Wir begreifen den Spott, die Zweideutigkeit seiner Erklärung, trotzdem können wir ihm unsere Achtung nicht versagen. Zwar lacht keiner der Zuschauer auf diese Bemerkung hin, aber wir klatschen uns nahezu die Hände wund. (Am nächsten Tag haben wir übrigens alle versucht, unsere Hühner zu hypnotisieren, und je länger der Zirkus gastierte, desto mehr verbreitete sich diese Seuche. Hypnotisierte Hühner lagen in Vorhäusern und Küchen, in Schlafzimmern, Kaufhäusern, Gaststuben. Mein Freund und ich konnten nicht umhin, von Massensuggestion zu sprechen. Der Wahrheit halber geben wir jedoch zu, dass auch wir unsere Hühner hypnotisiert haben. Mit den gelben Beinen in der Luft, die Augen starr auf den Kreidestrich gerichtet, lagen sie in unserem Hof. Manchmal konnten wir in diesen Tagen, wenn ich mit meinem Vater unterwegs war, um Bienenmagazine zu überprüfen, ganze Bauernhöfe voller hypnotisierter Hühner sehen. Mein Vater erzählte sogar, in der Kirche seien einige gelegen, aber niemand konnte sagen, wie sie dahin gekommen waren. Uns ging es bald auf die Nerven, in jedem Haus und jedem Hof auf hypnotisierte Hühner zu stoßen. Von weitem hatte man den Eindruck, massenweise abgestochenes Geflügel zu sehen. Nur die in die Luft gestreckten gelben Beine waren ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Hühner nicht tot, sondern nur vorübergehend hypnotisiert waren. Sie blieben stundenlang in derselben Stellung liegen, bis man sie aufhob, dann liefen sie, wie beim Zirkusdirektor am Ende der Nummer, herum, als sei nichts geschehen, waren nicht verschreckt, schliefen nicht ein, waren nicht besonders hungrig. Es machte den Eindruck, als hätten sie vollständig vergessen, was mit ihnen geschehen war, so dass wir sie unverzüglich wieder packen und mit einem Strich auf dem Boden in Trance versetzen konnten. Erst als der Zirkus abreiste, wurden auch keine Hühner mehr hypnotisiert. Derzeit mag bei uns niemand vom Hühnerhypnotisieren auch nur mehr das Geringste hören.)

Die aufgeweckten Hühner lässt der Zirkusdirektor herumstolzieren, zwischen den Sesselreihen nach Würmern in der Wiese picken und nur allmählich von den Zirkusarbeitern einfangen, die alles ohne viel Aufsehen zu erledigen trachten. Aber wir sind erfahrene Hühnerfänger, schließlich machen wir uns einen Spaß daraus, dem Geflügel ein Stück nachzulaufen, es einzufangen und den Zirkusarbeitern zu übergeben, wodurch eine merkwürdige Unruhe in die Vorstellung kommt.

Der Zirkusdirektor lacht, während er redet, und spricht glucksend, als sei er glücklich. Er hält sich, so sagt man uns später, für einen Schauspieler, mehrmals nennt er sich selber »Wir Komödianten«. (Ich habe übrigens die gesamte Vorstellung noch einmal gesehen. Ich bin dem Zirkus nach Schwanberg nachgefahren. Es war ein trüber, nebliger Abend. Im Zirkuszelt war es feucht, und aus dem Wiesenboden ragten große Erdflecken hervor, und da so wenig Besucher anwesend waren, hatte der Zirkusdirektor nur die halbe Beleuchtung eingeschaltet. Jeden Satz sprach er in demselben zugleich unterwürfigen wie aufmüpfigen Tonfall, jedes Wort betonte er gleich, er lachte auch so glucksend-glücklich an derselben Stelle der Ansage wie in Wies.) Aber noch während wir Jagd auf die Sulmtaler Hühner machen, die erschrocken auffliegen oder, schwerfälligen Vögeln gleich, über die Sesselreihen flattern, so dass Wirbel von kleinen Federn zu Boden tanzen, während wir uns noch anstrengen, sie zu fangen, indem wir ihnen unter den Stühlen durch das Zelt nachkriechen, ja, sie sogar gackernd anzulocken versuchen, was allgemeine Heiterkeit auslöst und schließlich in ein offenes Gegacker mündet, mit dem wir die Hühner und unsererseits den Zirkusdirektor verhöhnen, beginnt dieser mit neuen Zaubereien, indem er unser Gegacker einfach übergeht (im Nachhinein jedoch kommen mir Zweifel, ob er uns nicht alle hypnotisierte, denn er lässt uns gackern, lächelt und fährt fort, seine Kunststücke zu machen). Er versucht nicht einmal, uns umzustimmen, während einige von uns sich schon Tränen lachend und gackernd von den Sitzen erheben und mit den ausgestreckten Armen Flatterbewegungen machen, andere, als seien sie aufgezogene Maschinenwesen, in einem fort gackern, darüber längst ihr Lachen vergessen und vor Atemlosigkeit rote Gesichter haben. Ich verspüre keine Lust zu gackern. Auch könnte ich es nicht. Mein Freund lacht böse, gackert jedoch nicht.

Vergeblich hat der Zirkusdirektor einen Geldschein, auf den wir unter anderen Umständen in Kürze unsere schweigende Aufmerksamkeit gerichtet hätten, aus der Hand eines Zuschauers (der gackernd und stöhnend vor Gelächter auf die Bühne kam) in die zuvor mit einem Seidentuch verbundene Hand einer Frau gezaubert – ob