Aus unseren Feuern - Domenico Müllensiefen - E-Book

Aus unseren Feuern E-Book

Domenico Müllensiefen

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Beschreibung

Nominiert für den Theodor-Fontane-Literaturpreis 2023! Requiem auf eine verlorene Generation. Sie sind jung, und sie heißen Heiko, Mandy Jana oder Raik. Sie sind die Witzfiguren und die Arbeitstiere unserer Gesellschaft. Sie sind müde, sie sind wütend, sie rauchen. Doch sie leben jetzt. Aus ihren Feuern. Bevor Heiko, Thomas und Karsten vor Langeweile sterben, legen sie lieber Feuer. Sie träumen davon, mit einem Mädchen zu schlafen. Der eine soll den elterlichen Schlachthof übernehmen, der andere will nach Amerika ausreisen. Der dritte, Heiko, muss in dunklen Gängen Kabel verlegen und saufen lernen. Als er Jana trifft, verliebt er sich in sie. Doch Jana hütet ein Geheimnis, das er zu spät lüften kann. Das Glück kommt einfach nicht näher, und Heiko wird Bestatter. Eines Tages wird er an eine Unfallstelle gerufen, und dann fängt seine Geschichte noch einmal vor an. – Ein grandioser Arbeiter- und Nachwenderoman über drei Freunde, die ihre Herkunft nicht als Urteil und ihre Klasse nicht als Schicksal hinnehmen wollen. Hart und zart, in der Tradition von Wolfgang Hilbig und Clemens Meyer geschrieben.

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Domenico Müllensiefen

Aus unseren Feuern

Roman

In Erinnerung und Dankbarkeit an Steffen Mohr.

Du hast mir gesagt, dass ich Sprache habe, und doch fehlen mir die Worte. Genau wie du.

ISBN 978-3-98568-015-3

eISBN 978-3-98568-016-0

1. Auflage 2022

© Kanon Verlag Berlin GmbH, 2022

Umschlaggestaltung: Anke Fesel / bobsairport

Unter Verwendung einer Fotografie von Markus Werner

Herstellung: Daniel Klotz / Die Lettertypen

Satz: Marco Stölk

Druck und Bindung: Pustet, Regensburg

Printed in Germany

www.kanon-verlag.de

Domenico MüllensiefenAus unseren Feuern

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Dank

1

Im Herbst 1998 hatten wir eine Themenwoche in der Schule. Es ging um unsere Heimat, also um Leipzig. Und dazu gehörte auch ein Ausflug in das Alte Rathaus am Markt. Dort gibt es ein Modell vom historischen Leipzig, noch mit der alten Burg, da, wo jetzt das Neue Rathaus steht. Ich war hin- und hergerissen. Einerseits fand ich das Modell nicht sonderlich gelungen. Es gab zwar eine Menge Häuser und Bäume auf der Platte, allerdings vermisste ich die Details. Aber es war halt auch verdammt groß. Dieses Modell war beeindruckend. Ich wollte auch so etwas haben. Also ging ich auf dem Heimweg von der Schule zu dem Spielwarenladen von Herrn Marquart und schaute mir die Modelle an. Ein Modell von Leipzig zu bauen kam für mich nicht in Frage. Ich fing bescheiden an und kaufte mir einen heruntergesetzten Formel-1-Rennwagen. Einen Williams von 1994. Das Auto, mit dem sich Ayrton Senna totgefahren hatte. Im selben Jahr wurde Schumacher zum ersten Mal Weltmeister.

Der Modellbau ist mir aus meiner Kindheit erhalten geblieben. Nächtelang kann ich in meiner Wohnung sitzen und die Teile zusammensetzen, sie bekleben und lackieren und dann für eine gewisse Zeit lang ausstellen, bis ein anderes Modell den Platz braucht. Dann kommt das alte Modell in eine Kiste, und diese Kiste stelle ich zu den anderen, die sich im Flur stapeln.

Nur wenige Sets schaffen es, über mehrere Jahre oder sogar für immer in meinen Vitrinen zu stehen. Der 94er Williams zum Beispiel, so schlecht gemacht, wie er auch ist, er hat immer den besten Platz. Und das Auto, an dem ich gerade seit drei Abenden arbeitete, würde mehr sein als irgendein Modell.

»Ich weiß gar nicht, was du daran findest«, sagte Raik, als ich ihm von dem Wagen erzählte.

»Was denn?«, sagte ich. »Das ist was Besonderes, und genau mit so einem Auto sind wir durch Europa gefahren.«

»Wie kann das was Besonderes sein? Ich war mit dem Leichenwagen schon auf Cres. Weißt du, wo das ist? Das ist in Kroatien.«

»Willst du mich verarschen? Ich habe dir doch sogar die Route rausgesucht und dir gesagt, dass du nicht durch die Tschechei fahren sollst.«

»Warst du das? Kann sein. Ich dachte, Markus war das.«

»So weit denkt Markus nicht, der hätte dich da durchfahren lassen.«

»Ist doch egal.«

»Nein, ist es nicht. Das war die richtige Entscheidung, die Tschechen hätten nachts die Karre geklaut, und dann hätten wir die Scheiße gehabt. Ging doch mal einem Kollegen aus Berlin so.«

»Wem?«, Raik sah auf.

»Kenne ihn nicht persönlich. Habe ich nur gehört. Aber die Polen haben dem die Karre mehr oder weniger unter dem Arsch weggeklaut, und da war ein kleines Mädchen drin. Ein Mädchen! Zehn Jahre alt. Und der Bestatter hält zum Tanken an und geht pissen. Und als er wieder rauskommt, ist die Karre weg. Und dann steht er da, ganz allein in Polen.«

»Fuck. Wieso in Polen?«

»Keine Ahnung. Die Leute sterben doch überall. Was war mit der Leiche auf Cres?«

»Ach, der war voller Krebs und wollte es noch mal schön haben.«

»Siehst du.«

»Aber ein zehnjähriges Mädchen?«

»Ich denke mal, dass die Eltern dabei waren, was weiß ich. Jedenfalls haben die den Wagen dann auf einem Maisfeld bei Grünberg in Schlesien gefunden. Zwei Tage später. Der Wagen stand die ganze Zeit in der Sonne, und die Kleine war nur noch Matsch. Dass du nach Kroatien musstest, war schon heikel genug. Keiner weiß, wie die da drüben ticken. Wenn es nach mir gehen würde, würden wir diese Osteuropafahrten nicht mehr machen. Irgendwann müssen wir noch Tote aus Bosnien holen. Na prost Mahlzeit.«

»Ich würde wieder hinfahren«, sagte Raik und lehnte sich zurück. Dann sagte er: »Ist ja auch egal, aber warum macht man das?«

»Keine Ahnung, was die sich dachten, wollten wohl mal eine Runde mit einem Leichenwagen rumheizen. Oder die Karre zerlegen und dann verticken. Keine Ahnung. Aber dann haben die hinten reingeschaut und kalte Füße bekommen.«

»Das meine ich nicht.«

»Was meinst du denn dann?«

»Modellbau, warum macht man das? Mach doch mal was Sinnvolles.«

»Was ist denn sinnvoll? Zum Fußball gehen und den Chemikern die Fresse einhauen?«

»Ich bin dabei«, sagte Markus, den ich gar nicht reinkommen gehört hatte.

»Was interessiert mich Chemie? Ich gehe zu RB.«

Markus und ich sagten nichts. Markus war Lokfan, mir war das eigentlich egal. Bei Lok hingen mir zu viele Nazis und bei Chemie zu viele linke Spinner rum. Aber deswegen zu Red Bull? Dann lieber zu Lok.

»Da gibt es eben nicht auf die Fresse«, rechtfertigte er sich, und das Gespräch erstarb. Diese Unterhaltung hatten wir alle schon zu oft gehört, um sie noch weiterführen zu müssen.

»Wo schaut ihr heute das Spiel?«, versuchte Raik das Gespräch wiederaufzunehmen.

»Den Mist tue ich mir nicht an, vor dem Halbfinale braucht keiner ankommen«, sagte Markus.

»Was bist du denn für ein Fußballfan? Mich anquatschen wegen RB und dann nicht mal das Spiel gegen Frankreich schauen wollen? Was ist das denn?«

»Du kannst mich mit deinem Red Bull mal in Ruhe lassen. Und Länderspiele schaue ich mir an, wenn dort wieder Nationalmannschaften auflaufen.«

»Hä?«

»Siehst du das, Heiko? Der kapiert gar nichts. Alter, bei den Franzosen spielt Pogba mit. Sieht der für dich aus wie ein Franzose?«

»Das hängt mit den Kolonien zusammen«, sagte ich.

»Aus welcher Kolonie kommt denn Özil? Deutsch-Südosteuropa?«

»Das ist doch vollkommen Wurst. Es geht um Fußball!«, sagte Raik.

»Habt ihr eigentlich nichts zu tun?«

»Nichts los heute. Nur die beiden Leichen heute Morgen, dann eine ganze Weile nichts, und vor einer Stunde kam noch der Rentner aus dem Altenheim in Miltitz rein. Den haben wir schon in der Kühlung, und am Montag geht der ins Krematorium. Da fehlt noch der Personalausweis, der ist irgendwo verlorengegangen«, sagte ich und zündete mir eine Zigarette an. Markus winkte mit der Hand, und ich warf ihm die Schachtel rüber.

»Warum habt ihr ihn nicht gesucht?«

»Den muss die Tochter haben. Zu Hause.«

»Und warum seid ihr dann nicht bei der gewesen?«

»Die lebt in Ingolstadt.«

»Da war ich letzte Woche«, sagte Markus und zog an seiner Zigarette.

»Wo bist du eigentlich immer? Immer bist du weg«, sagte Raik, der auf einem Zahnstocher rumkaute, aber Markus ging nicht auf ihn ein und sagte: »Warum schleppt die den Perso nach Ingolstadt? Ist die bescheuert?«

»Vielleicht traute die dem Heim nicht. Oder ist einfach so passiert. Wer weiß.«

»Und wegen der Ziege sitzt ihr hier blöde rum. Was machst du da?«, fragte er Raik.

»Ich will weniger rauchen.«

»Und deswegen frisst du Holz?«

Raik wurde rot und warf den zerkauten Zahnstocher in den Papierkorb, dann beugte er sich zu meiner Zigarettenschachtel und zündete sich auch eine an.

»Das ist mir zu ruhig«, sagte Markus, nachdem er seine Kippe ausgedrückt hatte: »Fürs Rumsitzen bezahle ich euch jedenfalls nicht. Särge fertig?«

Wir nickten.

»Kissen gestopft?«

Nicken.

»Muss keiner ins Krematorium gebracht werden?«

»Doch. Aber halt nur der Opa, und ohne Perso kommen wir da nicht weiter. Am Montag dann.«

Markus war unzufrieden und fragte weiter: »Autos gewaschen?«

»Den Leichenwagen nicht. Aber eigentlich geht der noch.«

»Wie, der geht noch?«

»Etwas Dreck unten. Sieht man kaum.«

Markus holte tief Luft und sagte nicht, was er gerne gesagt hätte. Er sagte: »Na, dann los. Waschen gehen. Und wenn dann nichts kommt, ist Wochenende, und ihr könnt unserer ruhmreichen Nationalmannschaft zusehen, wie sie sich von ein paar waschechten Franzosen aus dem Turnier ballern lässt.«

»Welches Spiel ist das genau?«, fragte ich.

»Heike! Was ist nur los mit dir? Hast du letzten zwei Wochen geschlafen? Wir stehen im Viertelfinale!«

»Aber mal im Ernst, warum machst du das?«, sagte Raik, als wir im Auto saßen. Ich fuhr.

»Lass uns gleich noch tanken«, sagte ich, ohne auf Raik einzugehen, aber der redete sowieso schon weiter: »Das ist doch was für Kinder. Ich meine, du hast doch mehr drauf als das. Ein Kinderhobby ist das.«

»Was ist denn dein Hobby?«

»Darum geht es doch nicht.«

»Du willst mir einreden, dass ich ein Kinderhobby habe. Und dein Hobby bleibt geheim? Also Fußball ist es nicht, sonst würdest du ja nicht zu RB gehen.«

»Was?«

»Soweit ich weiß, gehen echte Fußballfans zu Lok oder Chemie. Zu RB gehen doch nur Kunden. Du Kunde.«

»Ich muss mich doch dafür nicht rechtfertigen.«

»Aber ich? Ich muss mich für Modellbau rechtfertigen? Ich mag das einfach. Es macht mir Spaß. Und es ist schön, wenn in meinen Händen was wächst.«

»Wenn in meinen Händen was wächst, hole ich mir danach einen runter«, sagte Raik. Ich fuhr grinsend weiter und steckte mir eine Kippe an.

»Wir finden schon noch ein ordentliches Hobby für dich. Wie wäre es mit einem Kleingarten?«, fragte Raik, und ich fing an zu husten.

»Ich glaube, ich gehe doch lieber Chemiker verkloppen. Ich kenne sogar einen, der direkt mitmacht. Kleingarten, geht’s noch? Du schimpfst doch immer, dass du dich um den Garten deiner Eltern kümmern musst, wenn die nicht können.«

»Hör auf, das ist gerade richtig scheiße. Mein Vater ist zur Reha, und nun habe ich den ganzen Dreck an der Backe, weil meine Mutter den andauernd besucht. Wenn der zu Hause ist, machen die beiden alles, um sich aus dem Weg zu gehen, und nun verfolgt die ihn bis in die Rhön.«

»Die will nur auf Nummer sicher gehen.«

»So krass ist die nicht drauf. Was machst du nächstes Wochenende?«

»Du suchst doch einen, der dir im Garten deiner Eltern hilft. Was muss denn gemacht werden?«, langsam ließ der Husten nach.

»So klang ich auch bei meiner ersten Zigarette«, sagte Raik. »Der eine Apfelbaum gammelt gerade weg, und die Pflaume ist bestimmt acht Meter hoch. Die Beete sehen aus wie Sau, und meine Mutter meinte neulich zu mir, dass ich endlich mal die Satellitenschüssel auf digital umstellen soll.«

»Ja, du kannst die Alten doch nicht im Garten ohne Fernseher lassen. Wie sollen die denn Formel 1 gucken?«

»Ich glaube, das machen die gar nicht mehr. Ich glaube, die interessieren sich nur noch für Volksmusik, und Fußball schauen die dann abends zu Hause.«

»Gehen die auch zu RB«?

»Heiko, was soll das?«

»RB ist kacke!«

»Viele Vereine sind kacke. Schalke ist kacke!«

»Da sind wir uns einig«, sagte ich.

»Du findest Schalke kacke? Warum?«

»Könnte ich dich auch fragen.«

»War früher Dortmund-Fan.«

»Und dann kam RB? Und dann wurde der große Dortmund-Fan zum RB-Fan?«

»Warum suchst du Streit?«

»Ich suche keinen Streit. Tat ich noch nie«, sagte ich und stieg aus. Wir waren da.

Ich steckte den Tankrüssel in den Wagen und zündete mir eine Zigarette an.

»Auch eine?«

»Geht’s noch?«

»Ist nur Diesel.«

»Ja. Der entzündet sich selbst.«

»Zündet.«

»Was?«

»Selbstzündung, nicht Selbstentzündung.«

»Kannst du jetzt mal die Kippe ausmachen?«

Raik sah sich nervös um.

»Hier kann nichts passieren, das ist Diesel.«

»Wenn das einer sieht, rufen die in der Firma an, und dann bekommen wir einen Anschiss.«

»Alter, mach dir keinen Kopf. Es ist Fußball. Du und Markus, ihr redet doch die ganze Zeit davon. Deutschland gegen Frankreich. Da kann man eh machen, was man will. Wir könnten die Tankstelle überfallen, und niemand würde es merken.«

»Ja, aber das Spiel geht doch erst um sechs los.«

»Raik. Es ist halb sechs.«

»Ja, und?«

»Markus hat recht. Du verstehst von Fußball noch weniger als ich.«

»Machst du bitte endlich mal die Kippe aus?«

»Bin schon fertig, vollgetankt. Ich schlage vor, dass du bezahlen gehst und ich meine Zigarette im Auto aufrauche. Dann stehe ich damit nicht neben der Zapfsäule.«

»Nein. Du gehst bezahlen. Wer raucht, der bezahlt auch.«

»Geht nicht. Ich kann die Zigarette hier nicht austreten, hier sind überall Benzinpfützen.«

»Ich denke, bei Diesel ist das kein Problem.«

»Bei Diesel nicht, aber bei Benzinpfützen ist das anders. Hier, ich hätte gerne noch eine Packung Zigaretten. Und vergiss den Chip für die Waschanlage nicht«, sagte ich und steckte Raik einen Hunderteuroschein in die Brusttasche.

Ein paar Minuten später saßen wir wieder im Auto und betrachteten die Wasserströme, die die Windschutzscheibe hinunterliefen, nur um von der großen Bürste nach oben getrieben zu werden.

»Technisch gesehen, dürften wir hier auch nicht rauchen«, sagte ich, während die Bürsten neben mir den Seitenspiegel an den Wagen knallen ließen.

»Markus will das auch nicht«, sagte Raik und zeigte auf den Aufkleber mit der durchgestrichenen Zigarette auf dem Armaturenbrett. »Was sollte das eben?«, fragte er.

»Es passiert nichts mehr. Jeder Tag ist gleich. Vielleicht hätte man den Tag so aufbrechen können.«

»Alles in Ordnung?«

»Geht dir das nicht so?«, fragte ich, als die Bürste vor uns mit der Windschutzscheibe fertig war und sich nun um das Dach kümmerte.

»Ich verstehe nicht, was du meinst. Dir ist alles zu langweilig, und du machst Modellbau. Das passt doch hinten und vorne nicht zusammen.«

»Doch. Genau das passt zusammen. Das war doch damals auch so.«

»Wovon redest du? Welches Damals?«

»Ich bin damals mit meinen Jungs losgefahren. An einem Freitag wie heute. Wir haben uns gegenseitig angerufen und sind dann losgefahren. Einfach so. Nach Amsterdam. Oder nach Prag. Wir waren auch einmal in Basel. Mit dem Auto, das ich als Modell aufbaue.«

»Moment mal, du fährst nach Prag und hast Angst vor den Tschechen?«

Plötzlich knackte es laut. Eine kleine Deutschlandfahne flog vor uns auf die Scheibe, ich machte den Scheibenwischer an, und die Fahne war weg.

»Die müssen wir bezahlen. Hätten wir sehen müssen«, sagte Raik.

»Der Spinner, dass der überhaupt so einen Mist an die Autos tackert.«

»Bringt gute Publicity, meinte er.«

»Ich habe keine Angst vor Tschechen«, sagte ich und nahm das Gespräch wieder auf. »Ich trau denen nicht.«

»Und was ist dann in Basel anders?«

»Basel liegt in einem richtigen Land. Außerdem wollten wir mal gucken, wie es da so ist.«

»Heiko, du redest Dreck«, sagte Raik, als sich das Gebläse einschaltete.

Wassertropfen schoben sich auf der Windschutzscheibe hinauf zum Dach.

»Wieso denn? Es passiert nichts. Und das will ich ändern. Es muss was passieren.«

»Such dir endlich eine Freundin. Oder fahr mal nach Polen!«

Ich sagte nichts mehr und er auch nicht. Keine Entschuldigung, kein Themenwechsel, nur Ruhe. Wir ließen die Trocknung über uns ergehen, irgendwann öffnete sich das Tor, und ich fuhr aus der Waschanlage, warf meine Kippe aus dem Fenster und zündete mir eine neue an. Das Telefon klingelte, Markus war dran, und meine Stimmung war nun vollkommen am Nullpunkt: »Wochenende muss warten. Südlich von Taucha auf der Hirschfelder Straße ist richtig was los. Heute machen wir die fette Marie! Ihr müsst euch beeilen. Ich habe denen vom MDR gesagt, dass ihr in einer halben Stunde da seid.«

»Denen vom MDR?«

»Ja, wem denn sonst?«

»Den Bullen?«

»Was interessieren mich die Bullen? Ich will ins Fernsehen. Wenn ihr euch beeilt, zeigen die das schon in der Halbzeit. Beeilt euch, halbe Stunde!«

»Das schaffen wir nicht.«

»Doch. Ihr müsst das schaffen. Das Ding wird groß! Scheiße, ich wäre gern selbst dabei, aber ich habe hier noch was Wichtiges. Scheiße!«, sagte Markus und legte auf.

»Na bitte, jetzt passiert doch was«, sagte Raik.

»Was soll der denn Wichtiges zu erledigen haben? Der spinnt doch!«

»Wer es bis Basel schafft, für den ist doch die Hirschfelder Straße kein Problem.«

Nachdem wir aus Leipzig raus waren, ging es los, die Straße war schon für den Durchgangsverkehr gesperrt, und wir mussten uns durch einen kleinen Stau von verirrten Pendlern quälen. Fast alle hatten Fahnen an den Dächern. Einer hatte sich sogar eine auf die Motorhaube gespannt.

»Der wird kotzen«, sagte Raik. »Der verpasst die erste Halbzeit komplett.«

»Ja. Dem geht’s wie uns. Und wenn er an der Glotze sitzt, sieht er uns, wie wir einen Toten durch die Gegend schieben«, sagte ich und lachte.

An der Absperrung angelangt, wurden wir von einem Polizeifahrzeug eskortiert, das mit Blaulicht vorausfuhr. Es war total lächerlich, schon an normalen Tagen war hier alles ruhig, und wir hatten Freitagabend, während des Viertelfinals!

Die Straße machte einen langen Linksbogen, führte über eine Anhöhe und ging in eine tiefe und langgezogene Senke. Links und rechts Raps, in der Mitte der Fläche eine ganze Reihe von Fahrzeugen: zwei Polizeiautos mit Blaulicht, dahinter ein Passat und tatsächlich ein Übertragungswagen vom MDR, dann ein Abschleppwagen mit eingeschaltetem Rundumlicht, auf dessen Ladefläche ein zerstörter Renault Clio lag, und am Straßenrand, von hier aus noch nicht zu erkennen, die Leiche. Ich schaltete das Radio aus, nahm den Gang raus und ließ den Wagen rollen.

»So einen Aufriss hatte ich lange nicht mehr«, sagte ich.

»Wieso ist das Fernsehen schon hier?«

»Markus. Der fickt und kokst mit einer beim MDR. Die haben mal eine Reportage über den Bestatterkrieg in Deutschland gemacht, und Markus hat denen die ganze Scheiße erzählt, die die hören wollten. Das waren 45 Minuten kostenlose Werbung.«

»Ja, aber warum sind die schon hier?«

»Der hat die vor uns angerufen.«

»Was?«

»Damit die auch filmen, wie wir ankommen, je mehr von uns im Fernsehen läuft, umso mehr rufen in der Firma an.«

»Das glaube ich nicht.«

»Doch, das stimmt. Die Leute sind bekloppt. So, Haltung und Fresse halten!«

Ich fuhr langsam an den Zirkus heran. Das Kamerateam hielt auf uns drauf, ich sah geradeaus und achtete nur auf den Bullen, der mich an den Straßenrand lotste.

Als ich ausstieg, fuhr der Abschleppwagen gerade los. Das Fernsehteam hielt voll drauf, der Kameramann ging sogar extra in die Knie und schwenkte dann auf den Acker, als der Laster außer Sichtweite geriet. Das Auto auf der Ladefläche war vollkommen hinüber. Vier zerfledderte Reifen, die Scheiben geborsten, das ganze Fahrzeug in sich selbst zerdrückt, als hätte eine riesige Faust immer wieder von oben auf das Dach eingeschlagen. Die Fahrertür war aufgerissen und umgeklappt, ein Spanngurt hielt sie am Clio und am Abschleppwagen fest. Der weiße Wagen war voll mit Erde, Gras, Schlamm und auch Blut. Ich sah dem Lkw noch ein paar Sekunden hinterher, ich sah das Kennzeichen des Renaults, und mir wurde flau. Ich schüttelte den Kopf, ich sah mich um, die Polizisten redeten zehn Meter neben mir bereits mit Raik. Das Kamerateam filmte jeden unserer Schritte. Haltung, Persberg. Haltung! Im Straßengraben sah ich die Aluminiumplane. Ich ging erst langsam. Dann schneller.

Mir wurde heiß, meine Krawatte saß zu eng. Ich war da. Hinter mir die Kamera. Beschissener Markus! Ich stand vor der Plane. Ich hatte schon oft so vor einer Leiche gestanden, doch sonst war es mir egal gewesen. Heute nicht. Ich zog die Plane vom Toten herunter. Ein nackter, viel zu junger männlicher Körper. Abgeschürfte Haut, eingedrückter Kopf, herausstehende Knochen, ein offenstehendes und blutunterlaufenes Auge. Eine Tätowierung auf dem rechten Oberarm: Carpe Diem. Über dem Schriftzug eine kleine Windmühle. So eine Tätowierung hatte ich auch.

Neben dem Toten die Kleidung, die der Arzt zur Untersuchung zerschnitten hatte. Langsam ging ich in die Knie, beugte mich über ihn und drückte ihm, ohne dass ich Handschuhe trug, die Augen zu. Mit geschlossenen Augen sah er besser aus.

Ich griff die Plane und deckte Thomas wieder zu.

»Alter, hier ist vielleicht was los. Der Typ soll eine Bombe gelegt haben. Aber die wissen nicht, wo sie liegt«, sagte Raik, als er zu mir kam.

»Was?«, sagte ich. Thomas. Du dumme Sau. Warum fährst du dich hier tot?

»Eine Bombe. Die sind alle ganz aus dem Häuschen. Ich glaube, Markus lag goldrichtig. Das bringt uns direkt in die Tagesschau. Ich muss meine Mutter anrufen, hoffentlich haben die dort einen Fernseher in der Rhön.«

»Was?«

»Heiko, was ist los?«

Ich sagte nichts, sah auf den Ackerboden und zuckte mit den Schultern.

»Du kennst den?«

Raik! Sei still!, dachte ich und schaute auf Thomas. Carpe Diem und diese dumme Windmühle. Wessen Idee war das gewesen? Karstens? Meine? Oder doch die von Thomas? Ich wusste es nicht, hatte es nie gewusst. Wir waren zu besoffen gewesen. Zu bekifft. Wir waren alles. Und vor allem waren wir unsterblich gewesen. Damals.

Nach ein paar Sekunden sagte ich: »Nein.«

»Na dann los, sonst denken die noch, wir sind irgendwelche Freaks. Die sind sowieso schon so aufgekratzt«, sagte er und ging zum Auto.

Ich sah ihm hinterher, am liebsten hätte ich mich auf den Ackerboden zu Thomas gesetzt und eine geraucht.

Es war klar, dass der Tag kommen würde, an dem ich jemanden holen muss, den ich kenne. Man holt Rentner aus Heimen, Arme aus Sozialwohnungen, Trinker, Messies und Drogensüchtige. Leichen, die voller Keime und Viren sind. Man holt Kinder, Krebsleichen, Selbstmörder, Ermordete, Unfallopfer, Ertrunkene. Man dringt in Familien ein, holt die Menschen ab, die anderen lieb und wichtig sind, beziehungsweise wichtig waren. Man nimmt Hoffnungen und Wünsche mit. Der Tod begegnete mir jeden Tag. Jetzt war er mir so nah wie noch nie zuvor, denn die Leiche war noch immer ein Freund, und der Wagen, mit dem sich Thomas totgefahren hatte, hatte einmal mir gehört.

Oft sagte ich zu den Angehörigen, dass alles, was ich jetzt sagen könnte, nicht den Schmerz lindert, den sie gerade spüren. Ich sagte ihnen, dass man nur die richtigen Worte finden kann, wenn man selber gerade einen Menschen verloren hat, der einem wichtig ist. Aber auch das sind Floskeln, denn als ich auf dem Acker stand und auf den zugedeckten Thomas sah, fühlte ich nichts in mir. Gar nichts.

»Heiko! Los jetzt!«

»Ja. Es … Entschuldige. Nicht mein Tag heute«, sagte ich, und wir machten uns an die Arbeit.

Ich holte die Trage aus dem Auto und legte sie neben Thomas. Raik kramte währenddessen an der Seitentür herum und holte eine Unfallhülle. Als er wieder bei mir war, griff ich die Beine und er den Kopf, dann legten wir Thomas und seine Kleidung in die Hülle. Wir schlossen die Reißverschlüsse und zogen die Gurte fest. Dann schlossen wir die Trage und brachten Thomas zum Auto. Jetzt erst bemerkte ich das Kamerateam wieder, das die ganze Zeit hier war und nun voll auf uns draufhielt. Der Kasper an der Kamera hängte sich mächtig rein, ging leicht gebückt rückwärts vor uns her und war sichtlich angestrengt. Ich versuchte das Auto zu fixieren, und am liebsten hätte ich diesem Affen die Kamera weggenommen und ihm den Arsch aufgerissen, stattdessen schoben wir stumm die Trage zum Wagen und wuchteten sie in den Laderaum. Nachdem Raik die Trage in den Wagen geschoben hatte, verbeugte ich mich vor meinem Freund. Raik ging zu den Polizisten, um den Papierkram mit ihnen zu erledigen, und für das übliche Geschwätz. Ich setzte mich in den Leichenwagen, fummelte an meiner Zigarettenschachtel herum und dachte die ganze Zeit an Thomas’ Eltern, die noch gar nicht wussten, dass ihr Sohn tot war. Schon in ein paar Tagen würde hier ein Kreuz stehen, und immer wieder würden Menschen herkommen, Blumen und Kerzen niederlegen und fragend auf die Straße schauen und nicht begreifen, wie er sich hier totfahren konnte. Und andere Autofahrer würden diese Stelle passieren, das Kreuz bemerken oder auch nicht. Vielleicht würde irgendwer vorsichtiger fahren. Meiner Erfahrung nach nicht. Straßentote kamen nicht oft, dafür aber regelmäßig vor. Ich hatte schon einige von ihnen geholt, meistens Männer, meistens jung. Aber auch Alte waren dabei. Herzinfarkt während der Fahrt, oder eingeschlafen, oder das Gebiss war rausgefallen. Was auch immer.

Raik stieg zu mir ins Auto, und ich fuhr sofort los. Kurz überlegte ich, ob ich den Kamerafuzzi einfach umfahren sollte. Als er im Seitenspiegel immer kleiner wurde, steckte ich mir endlich die Zigarette an. Ich brauchte vier oder fünf Versuche, bis das Feuerzeug zündete.

Die Sonne blendete während der Fahrt. Meine Sonnenbrille lag irgendwo zu Hause. Oder in der Firma. Bis zur Stadtgrenze fuhr eins der Polizeifahrzeuge vor uns. Eine an der Tür angebrachte Deutschlandfahne krümmte sich im Wind. Dann fuhren die Bullen Richtung Revier, und wir brachten Thomas zur Rechtsmedizin in die Innenstadt.

Wir luden Thomas in der Rechtsmedizin aus. Raik brachte die Trage rein, und ich zog das Blech aus der Kühlkammer auf den Hubwagen. Dann zogen wir die Unfallhülle auf das Blech. Ich versuchte an nichts zu denken.

»Bist du irre? Du kannst doch nicht einfach so während der Fahrt aus dem Auto krauchen?« – »Reg dich ab Heiko, das musste jetzt mal sein.« – »Karsten, sag du doch auch mal was.« – »Ach, komm, lass ihn doch. Thomas ist erwachsen. Der weiß, was er macht.« – »Ihr habt doch beide einen am Zaun. Ich drehe wieder um. Wir fahren zurück nach Hause.« – »Reiß dich zusammen, Persberg. Das ist unser Urlaub, und den stehen wir gemeinsam und zu dritt durch. Als Freunde. Einer für alle, alle für einen, und das für immer!« – »Na, wenn du das sagst.« – »Schau mal, Karsten, er ist wieder ganz bei sich. Scheiße! Wir sind tatsächlich in Holland. Das ist die beste Zeit unseres Lebens. Das wird nie wieder so geil. Der blöde Heiko wird bestimmt bald die komische Tussi heiraten. Aber jetzt, das ist unsere Zeit! Jetzt zünden wir unsere Feuer!« – »Was werde ich?« – »Heiraten.« – »Davon weiß ich nichts.« – »Wenn das meine wäre, würde ich die festnageln. Du hast die sowieso nicht verdient.« – »Was willst du?«, rief ich und drehte mich um. – »Pass auf!«, brüllten beide, und ich wäre vor Schreck beinahe in die Leitplanke gefahren.

»Alter, was ist denn los mit dir? Komm, mach Feierabend und lass mich den Papierkram erledigen«, sagte Raik.

»Nein. Es ist in Ordnung. Geh du rauchen. Es ist in Ordnung.«

Ich darf nicht nachdenken. Nicht nachdenken. Heiko, du darfst jetzt nicht nachdenken! Du darfst nicht nachdenken. Du musst diese Zettel ausfüllen. Die Zettel ausfüllen, und dann darfst du nach Hause gehen. Und dort ist alles gut. Dort ist Ruhe. Greif jetzt diesen Stift und fülle die Zettel aus, und hör gefälligst auf nachzudenken!

Name: Thomas Meier

Geboren: 17.01.1985

Gestorben: 04.07.2014

Wohnung: Gundermannstraße 8, 04329 Leipzig

Ort der Abholung: Hirschfelder Straße, zwischen Baalsdorf und Zweenfurth

Bestatter: Legebrecht

Ich legte den Stift weg und sah auf den Zettel. Sonst musste ich immer die Todesbescheinigung öffnen, die vom Arzt ausgefüllt wurde, um an diese Daten zu kommen. Heute konnte ich den Zettel zum ersten Mal ausfüllen, ohne den Totenschein zu öffnen. Aber ich musste trotzdem reinschauen. Was, wenn eine meiner Angaben falsch wäre? Hatte ich das richtige Geburtsdatum eingetragen? Lebte Thomas noch immer im Leipziger Osten? Wann hatte ich ihn zum letzten Mal besucht? Das musste 2006 gewesen sein. 2006, als die Italiener die Deutschen rausgeworfen hatten. Vielleicht war es gar nicht Thomas? Vielleicht war es jemand, der Thomas nur sehr ähnlich sah?

»Alter, was ist denn das?« – »Was?« – »Schau dir mal meinen Arm an. Scheiße, ist das hässlich.« – »Was steht da? Carpe Diem? Beschissener geht’s wohl nicht.« – »Warum …?« – »Keine Ahnung.« – »Schau mal, Karsten hat dort auch einen Verband, ob der das merkt, wenn ich da mal dran ziehe?« – »Sei vorsichtig. Moment mal. Ah, du hast das ja auch. Haha. Wir haben alle diese hässliche Tätowierung. Junge, sind wir bekloppt.« – »Was ist los? Warum machst du mich wach?« – »Schlaf weiter, Karsten. Du bist tätowiert, aber das bist du morgen früh auch noch.« – »Was bin ich?« – »Schlaf weiter.« – »Okay.« – »Siehst du? Er schläft wieder.« – »Carpe Diem, warum so was Beschissenes? Hatten die nichts anderes?« – »Mir egal. Und nun schlaf du auch. Gute Nacht.« – »Gute Nacht, Thomas.«

»Komm, ich mach das«, sagte Raik, der auf einmal neben mir stand und sich die Todesbescheinigung griff.

»Ich muss noch das Armband ausfüllen«, sagte ich, und Raik schob mich aus dem Raum.

»Du musst jetzt gar nichts mehr. Du musst dich ausruhen. Jeder hat mal so einen Tag. Auch einer wie du, Heiko. Das reicht jetzt«, sagte er und drückte mir zwei Zigaretten und ein Feuerzeug in die Hand.

Die Zigarette schmeckte nicht. Raik rauchte schwarze JPS, widerlich. Lieber hätte ich einen Zahnstocher gefressen. Ich nahm noch einen Zug und wartete darauf, dass Raik endlich fertig wurde, damit wir hier wegkonnten. Ich wollte nach Hause. Und ich musste mich bei Karsten melden. Der wusste nicht, was gerade passiert war. Die Zigarette war runter, ich zündete die zweite an.

»Raik? Was dauert da so lange?«, rief ich in das Gebäude.

»Gleich fertig.«

»Alles gut?«, fragte er, als wir wieder im Auto saßen.

»Ich bin müde«, sagte ich.

»Du kannst ja gleich pennen.«

»Glaub ich nicht.«

»Wird schon«, sagte er, und wir schwiegen lange.

Ich dachte daran, dass ich Karsten Bescheid sagen musste. Nur wie? Wie sagt man einem Freund, dass der eine aus dem Trio tot ist? Dass man nur noch zu zweit ist.

Kurz vor Grünau sagte Raik: »Finde ich gut mit dem Clio. Dass du den als Modell aufbaust. Finde ich richtig gut.«

Ich sagte nichts und sah die Plattenbauten am Fenster vorüberziehen.

Eine Viertelstunde später waren wir in der Firma. Raik stieg aus dem Auto, um das Tor zu öffnen. Als es offen war, klingelte sein Handy. Raik ging ran, winkte mir zu und verschwand im Bürogebäude. Sicherlich ein neuer Fall, doch das ging mich nichts an, dieses Wochenende hatten Raik und Markus Bereitschaft. Ich brachte den Leichenwagen in die Garage, lud neue Tücher und Unfallhüllen auf, und kaum war der Wagen fertig, stand Raik schon wieder vor mir, gab mir die Hand und ich ihm die Schlüssel. Markus hatte sein Telefon am Ohr und plapperte von einem großen Erfolg und dass der heutige Tag auf jeden Fall ein Meilenstein sei und man aber auch nicht vergessen dürfe, dass er sich das von Grund auf selbst erarbeitet habe. Und natürlich würde er gerne noch den Rest des Spiels sehen, aber jetzt müsse er los. Es gehe ja schließlich nicht nur um ihn, sondern vor allem um das Wohl seiner Mitarbeiter. Und da müsse er als Chef ein Vorbild sein und könne sich nicht vor der Arbeit drücken. Außerdem würden die Deutschen, auch ohne ihn, das 1:0 schon über die Zeit tragen. Man spiele ja nur gegen so einen zusammengewürfelten Haufen und nicht gegen richtige Franzosen wie Platini oder Deschamps. Dann stieg er auf den Beifahrerplatz, und die beiden fuhren los.

So schnell ist man also allein, dachte ich mir und zündete eine Zigarette an. Ich setzte mich auf den Betonboden, lehnte mich an die Lagerhalle und versuchte nicht an Thomas zu denken. Unmöglich. Hatten wir uns nach dem Italienspiel noch mal gesehen? Manchmal hatte ich den Clio irgendwo stehen sehen. Fiel mir immer sofort auf. Ein weißer Clio. Baujahr 92. Kein ABS, kein Airbag, keine Elektronik, keine elektrischen Fensterheber, keine Zentralverriegelung, keine Klimaanlage, keine Wegfahrsperre. Einfach nur ein Auto. Irgendwann hatten Karsten, Thomas und ich sogar den Beifahrersitz rausgeworfen.

»Ein fahrendes Sofa«, hatte Karsten gesagt, und Thomas hatte nur geschnaubt.

Thomas, Karsten und Heiko. Das war einmal eine Gang gewesen. Und jetzt? Thomas tot, Karsten USA. Und dann war da noch ich.

Nach der Zigarette schob ich das Tor zu und ging mich umziehen. Manchmal duschte ich auch in der Firma, aber das war heute nicht nötig, keine Gammel- oder Wasserleichen dabeigehabt. Nur drei langweilige Leichen und zum Schluss das Highlight mit Thomas.

Als ich endlich im Bus nach Hause saß, wäre ich am liebsten bis Holzhausen durchgefahren, wobei das nicht ging, ich hätte in Grünau umsteigen müssen, und da ich dort eh wohnte, konnte ich auch gleich nach Hause gehen. Was sollte ich auch in Holzhausen? Das hätte alles nur wieder aufgewühlt, ich hätte an unser altes Haus denken müssen. Und an den Partykeller meiner Eltern.

Holzgetäfelte Wände und braungefliester Boden. Rolf Persberg, Schützenkönig 1987, Sofa mit Blumenmuster und Häkelkissen. Mein Vater hatte es gerne gemütlich. Sitzecke, Ochsenjoch und Bieruntersetzer. Vitrine, Pilstulpen und Sammeltassen. Tresen, Reudnitzer und kleine Rehgeweihe. Kompaktstereoanlage, Papiergirlanden und Matthias Reim. Zu jedem Geburtstag: dicke, betrunkene Männer. Die da oben, das muss man ja mal sagen dürfen, und früher war alles besser.

Neben dem Partykeller ein Scheißhaus, das meine Mutter regelmäßig von Kotze befreien musste. Meinen ersten Rausch hatte ich in dieses Klo gefeuert. Ich war 14, es waren die Sommerferien mit der Sonnenfinsternis. 1999. Meine Eltern waren mal wieder im Oderbruch zelten und dachten, ich wäre bei den Eltern von Thomas, bei denen es damals noch recht gut lief. Man konnte sich jedes Jahr einen Urlaub auf Gran Canaria leisten, und Thomas hatte seinen Eltern gesagt, dass er so lange bei Familie Persberg unterkommen würde. Eine große Lüge war das alles nicht. Wir waren mal hier und mal da. Und Karsten war immer mit dabei. Der hatte dann auch die Kiste Reudnitzer gefunden, die mein Vater unter der Sitzbank versteckt hatte, aber das reichte ihm nicht. Karsten suchte weiter. Der ging einmal durch das ganze Haus, und in der Vitrine der Wohnzimmerschrankwand fand er dann alles, was er brauchte: zwei Flaschen Eierlikör und einen Apfelkorn. Und dann auch noch den Diesdorfer Bretterknaller, den mein Vater sich immer von einem Kollegen mitbringen ließ, der Familie in der Altmark hatte und auf dieses Zeug schwor.

Nach zwei Stunden kniete ich vor dem Klo und reiherte mir die Seele aus dem Leib, während Thomas und Karsten im Partykeller Arm in Arm und ohne Rhythmus »Verdammt, ich lieb dich!« brüllten. Sicher, es ging mir in diesem Moment hundeelend, ich wusste nicht, was ich machen sollte, und doch wollte ich mit Thomas und Karsten weiter trinken.

Aber es änderte sich erst mal gar nichts. Nur der Kater am Morgen war neu, das hatte ich bis dahin nicht gekannt. Zusammen mit Karsten und Thomas saß ich am Küchentisch meiner Eltern, und selbst Thomas, der sonst keine Gelegenheit ausließ, Karsten zu beschimpfen, war vollkommen still. Wir plünderten die letzten Reste meiner Cornflakes, und nach dem Frühstück verabschiedeten sich die beiden wortlos.

Dann ging ich in mein Zimmer und setzte mich auf den Rand meines Bettes. Mir war langweilig. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, konnte nichts mit mir anfangen. Ich saß da und fühlte nichts in mir. Normalerweise beschäftigte ich mich mit Modellbau, wenn ich alleine war. Das sollte ich jetzt machen, dachte ich mir. Doch ich wollte und konnte nicht. Sonst konnte ich immer sofort mit dem Modellbau loslegen. In nicht einmal einem Jahr hatte ich mehrere Formel-1-Rennställe und einige Panzer und Flugzeuge aus dem Zweiten Weltkrieg gebaut. Sogar mit richtigen Hakenkreuzen an den Steuerrudern. Im Schubfach meines Schreibtisches lagen auch noch einige unfertige Modelle herum. Da war das Modell der Motorkutsche von Daimler und auch der Bausatz der Mutter-Heimat-Staute, die sich die Russen nach dem Krieg in Stalingrad aufgestellt hatten. Ich zog das Schubfach heraus und betrachtete die Kästen, in denen die Bausätze lagen. Dann schob ich das Fach wieder zu und sah aus dem Fenster. Draußen war nichts los. Ich beneidete Karsten. Der wohnte an der Prager Straße, dort ging oft der humpelnde Flaschensammler durch die Straße, oder ein Krankenwagen holte einen der Rentner aus den Nachbarhäusern ab. Aber hier war einfach nichts los. Nichts passierte. Und ich konnte noch so oft durch mein Zimmer latschen oder auf dem Boden liegen, es wurde nicht besser. Ich fragte mich, wie das sein konnte. Gestern war doch alles noch so gut gewesen, und nun das?

2

Ich fühlte mich wie 1999, nichts war los, und zu tun gab es auch nichts. Früher setzten wir uns ins Auto und fuhren an den Wochenenden weg. Früher. Heute stand ich gegen Mittag auf und wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Auf das Modell hatte ich keine Lust mehr, ich überlegte, es wegzuwerfen. Einfach loswerden. So, als würde ich meine Erinnerungen und vor allem den gestrigen Tag gleich mitentsorgen können. Besser noch: Gleich ein neues Leben anfangen. Weg mit dem halbvollen Müllsack und her mit einem frischen, den man mit neuem Leben und Müll füllen konnte. Andererseits hatte das alles keinen Sinn. Wenn ich ein neues Leben anfangen wollte, hätte ich den alten Müllsack doch immer mit mir herumgezerrt, den konnte ich jetzt nicht mehr loswerden. Das sah man doch immer bei VOX, bei den ganzen Auswanderern. Die fingen kein neues Leben an, die wollten ihr altes wegwerfen und schleppten es mit sich rum und sammelten dabei zwei weitere halbvolle Säcke mit ein.

Als ich vor lauter Langeweile nichts Besseres wusste, als in meinen Mülleimer zu schauen, sah ich, dass dort noch viel Platz drin war, und so schlimm roch er auch noch nicht, dass ich ihn unbedingt hätte wechseln müssen.

Ich setzte mich aufs Sofa und schaltete den Fernseher ein. Die Deutschen hatten die Franzosen am Vorabend mit eins zu null geschlagen. Sonst kam nichts. Nach zehn Minuten schaltete ich ihn wieder aus. Weitere zehn Minuten später schaltete ich ihn wieder ein. Immer noch Fußball, ich schaltete ihn wieder aus.

Mein Blick fiel auf meinen Schreibtisch. Dort stand er, der Clio. Die zerkratzten Kotflügel waren noch nicht richtig. Die echten Kratzer sahen anders aus und gingen tiefer als am Modell. Ich setzte mich an den Tisch, rauchte und betrachtete den Wagen. Der Beifahrersitz musste auch noch raus, genau wie die Hutablage. Kein Mensch braucht eine Hutablage. Vorsichtig öffnete ich den Kofferraum und wackelte an der Ablage. Das Ding war ein festes Formteil, direkt verbunden mit dem Rücksitz. Warum konstruiert man so eine Scheiße? Ich überlegte, wie ich die Ablage abbekommen konnte. Lötkolben? Zu unsauber. Schere? Kommt man nicht ran. Skalpell? Da kann man die Kraft nicht so auf den Punkt bringen wie mit der Schere oder dem Lötkolben. Ich schob das Modell weg, drückte meine Zigarette aus und zündete mir eine neue an.

Es war hoffnungslos.

Ich sah auf mein Telefon. Ich hätte Karsten eine SMS oder E-Mail schicken sollen. Bisher wusste nur ich davon. Ich musste ihn informieren.

Wie schreibt man so was?

»Hey Karsten, der Thomas ist tot. Wollen wir uns nicht mal wieder treffen? Wann bist du wieder in Deutschland?«

Ich nahm mein Handy und checkte meine Mails und schrieb ihm nicht. Dann ging ich auf die Website vom MDR und sah mir selbst zu, wie ich Thomas in den Leichenwagen schob, wie ich mich vor ihm verbeugte und schließlich, wie Raik und ich wegfuhren. Dann zeigten die noch den Clio, und die Stimme im Off quasselte von einem tragischen Unfall und so weiter. Hatte Raik gestern nicht von einer Bombe gesprochen? Hatte er nicht gesagt, dass die eine Bombe bei Thomas vermutet hatten, aber nicht wussten, wo die sein könnte? Ich sah im Polizeiticker nach. Unfall, junger Mann, in der Nähe von Taucha, blabla. Kein Wort von der Bombe. Ich musste mich verhört haben. Unfallursache unklar, aber keine Bombe.

Es gab mal eine.

Vor langer Zeit.

Karsten hatte ihr auch einen Namen gegeben, so wie er es immer tat. Die Bombe war weg, sie wurde ihm geklaut. Karsten hatte Thomas in Verdacht, aber sein Flug wurde schon durchgesagt, und Thomas weigerte sich, auf Karstens Fragen einzugehen.

Und dann stieg Karsten in den Flieger und war weg. Irgendwann hatte ich die Bombe vergessen.

Wo konnte das Ding nur sein? Hatte Thomas sich wirklich darangemacht und die Bombe gesucht? Oder war sie längst weg? Wollten Karsten und Thomas mich vielleicht auch nur verarschen, und es gab gar keine Bombe?

Ich packte mein Handy weg, steckte mir eine an und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Woher wussten die Bullen von der Bombe? Nur drei Menschen wussten davon, und wenn die Bullen von ihr wussten, dann wussten die doch auch von mir und von Karsten sowieso. Vielleicht hatten die ihn auch schon? Gut möglich, dass er in irgendeinem Kellerloch gerade von der CIA oder vom FBI zerlegt wurde. Die tauchten sicher auch gleich bei mir auf. Gleich würde die Tür durch den Flur fliegen, und dann war hier Achterbahn. So wie damals, als der Alte in Eli’s guter Stube die Stunde der fliegenden Aschenbecher eingeläutet hatte. Ich war fällig.

Langsam stand ich auf und warf meine halbfertige Zigarette in eine leere Bierflasche, ich schüttelte sie ein wenig, damit der Stummel nicht darin rumqualmte. Dann ging ich vorsichtig zum Fenster, schob die Gardine zur Seite und äugte auf die Straße. Ein paar Ausländerkids mit einem alten BMX, eine Oma, die versuchte, sich schnell an den Knirpsen vorbeizudrücken, mit ihrem Rollator aber kaum vorankam. Als ich in deren Alter war, nannte man die noch Kanaken. Später waren die dann Jugoslawen, Araber und eine Zeit lang sagte man Türken, und jetzt hießen die Syrer. Mein Vater nannte die immer »unsere ausländischen Freunde« und fing an zu grinsen, wenn er das sagte. Und als er mich mal zur Loksche mitnahm, brüllte der ganze Block »Bimbo raus«, als ein Verteidiger unseren Stürmer umholzte. Papa und ich brüllten auch.

Die Oma war durch, die Kids waren noch immer mit ihrem BMX beschäftigt. Dafür tat sich was an meinem Eingang. Das Pärchen von zwei Etagen weiter unten kam aus dem Haus. Jetzt hatten die auch noch einen Hund. Einen Mops, der aufgeregt hoch und runter sprang. Manchmal drangen die Schreie der Frau bis zu mir ins Wohnzimmer, zwischen uns wohnte noch der alte Opa, dessen Fernseher immer auf Anschlag lief. Ich hatte schon einige Male überlegt, in die Bude zu marschieren, den Typen am Kragen zu packen und einfach rauszuwerfen. Der war nur um die 1,70 groß, etwa in meinem Alter und hatte schon einen Säuferbauch. Den sollte man zu packen bekommen. Der würde gar nicht damit rechnen, dass man den greift. Auf Frauen einkloppen, dafür reichte es. Was aber, wenn ein Mann ihm eine drückte?

Ich tat es nicht. Immer ging ich wortlos an beiden vorbei. Zwei Gründe: Zum einen hätte sie ihm die Tür wieder geöffnet. Zum anderen war es nicht mein Problem. Sie musste ihn rauswerfen. Da konnte ihr keiner bei helfen.

Ich sah mir den Hund an und schüttelte den Kopf. Wenn es mit den Hunden anfängt, werden die Frauen kurz danach schwanger, und dann verdrücken sich die Typen. Vielleicht war das sogar ihre Taktik. Zur Mutti werden und ihm so die Tür öffnen. Für sie blieben die drei K: Kippe, Köter, Kind.

Bevor die beiden sich auf die Bank vor unserem Eingang fläzten, breitete er dort eine Deutschlandfahne aus. Er soff, sie rauchte.

Ich ließ die Gardine zurückrutschen und setzte mich beruhigt auf mein Sofa. Wenn da unten irgendwo Bullen oder andere komische Typen wären, wären die Kids nicht so entspannt, und der Typ würde dort auch nicht rumlungern. Das Asozialenbarometer, es zeigte präzise die Wahrscheinlichkeit von plötzlichem Bullenalarm an. Hier hatte jeder seine Leichen im Keller, aber wenn man das außerhalb unseres Viertels ansprach, hieß es immer, man würde verallgemeinern und blabla. Diese Sprüche kamen von Leuten, die dann sagten, dass die Eisenbahnstraße eine normale Straße wäre und dass Integration funktionieren würde. Ich würde den Schwachsinn vielleicht auch sagen, wenn ich in einem piekfeinen Viertel wie der Südvorstadt oder dem Waldstraßenviertel wohnen würde.

Ich öffnete mir ein Bier. »Wo hast du die Bombe versteckt?«, fragte ich mit geschlossenen Augen in den Raum hinein und sah einen grinsenden Thomas, der mit ausgebreiteten Armen mit den Schultern zuckte.

Ich musste Karsten anrufen, ihm schreiben. Aber was, wenn die nur darauf warteten, dass ich ihn herlockte? Wie war wohl unsere Wertigkeit? Erst Thomas, dann Karsten und zum Schluss ich? Aber Thomas war tot und Karsten in den Staaten.

Die wären schon längst hier gewesen, sagte ich mir. Die hätten mich gestern direkt mitnehmen können. Die wussten nichts. Die konnten gar nichts wissen. Thomas war freigedreht, und das war alles, und vermutlich war die Bombe auch längst Geschichte. So ein Teil hält doch keine acht Jahre. Oder? Ich musste Karsten fragen, ich musste ihn informieren.

Mein Handy vibrierte. 14 Uhr. Zeit für den wöchentlichen Besuch bei meiner Mutter.

Ich ging ins Bad, warf mir etwas Wasser ins Gesicht, anstatt zu duschen, sprühte ich mich mit Deo ab. Kurz überlegte ich, ob ich mir nicht ein anderes Shirt anziehen sollte, ließ es dann aber bleiben. Ich schnappte mir mein Rad, das ich immer in meiner Wohnung stehen hatte. Eigentlich eine fast unnötige Sicherheitsmaßnahme, da ich kein altes DDR-Fahrrad hatte, welche in Leipzig seit einiger Zeit wieder schwer angesagt waren. Auch besaß ich kein Rennrad. Eine Mischung aus beidem, also ein DDR-Rennrad, besaß man hier nicht lange. Zu viele Hipster im Süden, Osten und Westen der Stadt, die so etwas für ihren Lifestyle brauchten, und zu viele Junkies auf der Eisenbahnstraße und in Grünau, die die Dinger vertickten, um sich ihren Stoff zu besorgen. Ich fuhr ein altes, schon damals billiges Trekkingrad aus den Neunzigern, potthässlich und schwer. Und doch wollte ich es in diesem Viertel nicht auf der Straße stehen lassen.

Ein paar andere Figuren hatten sich inzwischen zu meinen Nachbarn gesellt. Mit dabei der Typ, den alle nur Amok nannten, ich glaube nicht, dass der seinen richtigen Namen noch kannte. Dann noch eine Frau ohne Zähne, aber mit Kinderwagen und Köter. Sah mit seiner platten Schnauze und den langen Beinen wie eine Mischung aus Kampfhund und Modepudel aus. Der Mops meiner Nachbarn rannte sabbernd um das hässliche Vieh herum.

»Persenberg, bring ma Bier mit«, sagte mein Nachbar, doch ich antwortete nicht und fuhr los.

Meine Mutter wohnte im Seeburgviertel, einer kleinen Plattenbausiedlung zwischen Innenstadt und Universitätsklinikum. Hier war der Massenmörder Fritz Honka zur Welt gekommen und vor 150 Jahren hatte es in der Ecke wohl einige Bordelle gegeben. Und dann kamen die amerikanischen Bomben und später die DDR-Architekten. Heute war die Siedlung einfach nur abgeritten. Seit einigen Jahren versuchte ich meine Mutter dazu zu überreden, dass sie doch endlich mal in ein anderes Viertel, vielleicht sogar in einen Altbau ziehen sollte. Vergeblich, ihr Hauptargument war, dass ich schließlich auch nur in Grünau wohnen würde.

Ich brachte mein Rad in ihren Keller. In die Wohnung durfte es nicht, und so hatte ich Schlüssel für Haus und Keller. Oben sah ich, dass ein paar fremde Schuhe vor der Tür standen, als ich meine abstreifte. Ich überlegte kurz, ob ich nicht doch lieber wieder abhauen sollte, aber da war es zu spät, denn meine Mutter öffnete die Tür und empfing mich lächelnd.

»Da bist du ja endlich, mein Großer. Schön, dass du da bist. Ich habe Besuch. Habe ich dir schon von Juliane erzählt?«

»Nein, ja. Oder weiß ich nicht.« Ich stieß sie leicht von mir weg. Dann sagte ich: »Waren wir uns nicht einig, dass so was nie wieder passiert?«

»Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst. Komm mit in die Stube. Wir wollen sie doch nicht warten lassen.«

Während ich mich in die zu kleinen Hausschuhe zwängte, überlegte ich, ob ich irgendwann mal von einer Juliane gehört hatte. Ich konnte mich nicht erinnern, ging aber davon aus, dass Juliane bereits alles von mir wusste. Angefangen damit, dass ich mir in der vierten Klasse beim Bockspringen die Hose aufgerissen hatte, oder auch die Story mit den Büchern. Ich tippte auf die Bücher und ging ins Wohnzimmer.

Juliane saß auf dem Sofa. Genau an der Stelle, die ich sonst immer bekam. Und wie sie dort saß. Dass ich mal eine Frau in grauen Jeanshotpants auf diesem Sofa sitzen sehen würde, hätte ich nicht erwartet. Die hellen Beine als leichtes X aneinandergelehnt. Konzertbänder am rechten Arm, der auf einer Handtasche ruhte. Ein Trägertop, an dem sich die Schalen ihres BHS abzeichneten. Ihr eigentlich dunkles, aber hellgefärbtes Haar lag auf ihren Schultern und fiel in Strähnen in ihr Dekolleté. Um den Hals hatte sie ein schwarzes Bändchen hängen, ein weißer Holzring hob und senkte sich mit jedem ihrer Atemzüge. Sie lächelte aus ihren braunen Augen, über denen fast zu dicke Augenbrauen standen. Die obere Lippe schmal, die untere etwas voller. Und dann hatte sie noch diesen kleinen Fleck unter ihrem Mundwinkel und dieses Piercing in der Nase.

Am liebsten hätte ich sie zu mir hochgezogen, sie umarmt und laut »Meins!« gerufen.

Stattdessen stand ich vor ihr und sagte gar nichts.

»Hallo. Ich bin Juliane«, sagte sie zu mir und reichte mir ihre Hand.

Ich nuschelte ein »Heiko« heraus, das eher nach »Heiho« klang. Ich fühlte diese weiche Haut in meiner Hand. Wann hatte ich das letzte Mal eine so weiche Hand angefasst? Weich und warm. Die Hände der Toten waren immer hart und kalt. Mutters Hände waren früher auch weich gewesen. Aber das war lange her. Inzwischen waren sie rau und faltig. Ich sah auf meine Füße und versuchte diese Hand nicht loszulassen, konnte aber auch nicht zugreifen. Für sie musste es sich anfühlen, als wenn man ihr einen nassen Fisch zur Begrüßung reichen würde. Langsam zog sie ihre Hand zurück, mein Blick ging nach oben und streifte kurz den ihren, und ich sagte noch immer nichts.

Was sollte das? Thomas fährt sich tot, und meine Mutter schleppt diese Sexmaus an, die ich noch nicht mal unter irgendwelchen anderen Umständen angesprochen hätte. Hatte die keinen Freund? Und wie hatte meine Mutter es geschafft, sie verdammt noch mal hierherzubekommen?

»Die ganzen Männer sind schrecklich. Ich wurde schon wieder verarscht.« – »Ach, du musst mal meinen Heiko kennenlernen. Der wäre was für dich. Der ist ganz anders.« – »Ja? Dann komme ich doch gerne mal zu dir und schaue ihn mir an. Ist er denn lieb?« – »Ein ganz Lieber.« – »Wann kann man ihn denn sehen?« – »Samstag.« – »Ja, das passt gut.« – »Na dann. Da wird er sich sicher freuen. Er hat ja sonst nichts.«

Meine Mutter kam mit zwei großen Tellern Kuchen aus der Küche. Juliane sprang auf, ging seitlich an mir vorbei, sodass ihre Brüste kurz meinen Oberkörper streiften, und ich stand regungslos da wie der letzte Idiot, während Juliane meiner Mutter mit dem Kuchen und dann sogar mit dem Kaffee half.

»Heiko, nun setz dich doch mal«, sagte meine Mutter, und ich schaute mich um. Juliane hatte eben auf der rechten Sofaseite gesessen. Mir fiel kein Szenario ein, das es mir erlaubte würde, direkt neben ihr zu sitzen. Vielleicht wenn wir meiner Mutter erklärten, dass wir heirateten und Juliane mit Drillingen schwanger sei. Ich schaute mich um. Der Sessel war der Thron meiner Mutter, das schied auch aus. Wobei ich kurz überlegte, dass das vielleicht ganz witzig wäre, wenn meine Mutter neben Juliane sitzen würde. Es gab noch einen vierten Platz, den der Katze. Immer wenn ich meine Mutter besuchte, lag die Katze auf der linken Seite vom Sofa. Die Katze und ich waren in den letzten Jahren gut damit gefahren, dass wir uns gegenseitig ignorierten. Ich fackelte nicht lange und packte die knurrende Katze und warf sie knapp über dem Boden ab. Das Vieh fauchte und zog davon, ich konnte mich setzen.

Meine Mutter verteilte Kuchen, und Juliane schenkte ungefragt Kaffee ein. Es gab sogar Schlagsahne.

War die vielleicht eine Schwester, von der mir meine Eltern nie erzählt hatten? Ein Kind, das kurz vor der Wende geboren wurde, meinen Eltern vom Staat aber entrissen worden war, weil uns irgendwer für irgendwas bei der Stasi angeschissen hatte? Das wäre das beste Szenario gewesen. Man verliert einen Freund und bekommt eine Schwester. Alles gleicht sich aus. Wir würden uns alles voneinander erzählen können, könnten vollkommen befreit über die Karl-Heine- oder Karl-Liebknecht-Straße flanieren und würden Eis essen. Und vor allem wäre dieser Druck weg, dass hier gleich irgendwas laufen soll. Wie stellte sich meine Mutter das denn vor? Ich bring mal zwei junge Leute zusammen und beobachte, wie sie sich in meinem Wohnzimmer umwerben? Konnte sie sich nicht, wie jede andere Mutter auch, damit begnügen, irgendwelche Tierreportagen zu schauen? Solches Zeug kam am Wochenende doch immerzu im Fernsehen.

Der Kuchen war hart und staubtrocken. Ich zerdrückte ihn in kleine Teile und vermengte alles mit der Sahne, so ging es.

Meine Mutter redete: »Die Juliane arbeitet bei uns in der Firma. Sie hat letzte Woche ein neues System entwickelt, mit dem wir die Akten besser archivieren können.«

»Aha«, sagte ich. Warum hatte die keinen Freund? »Der schmeckt gut«, sagte ich leise und deutete auf den Staub-Sahne-Klumpen auf meinem Teller.

»Danke«, sagte Juliane.

»Erzähl doch mal was von dir«, sagte meine Mutter und stupste mein Knie an.

Mein Gesicht wurde warm, in meinem Magen lag ein Stein.

Dann sagte ich: »Ich arbeite als Bestatter. Schleppen von Fetten und Bergen von Zwergen. Haha.«

Juliane verzog den Mund, und nun wurde das Gesicht meiner Mutter auch warm. Es glühte praktisch.

»Das klingt spannend«, sagte Juliane.

»Ist ganz okay. Einer muss das ja machen.«

»Wie wird man denn Bestatter?«

»Man macht das einfach.«

»Man macht das einfach?«

»Ich habe dem eine Pizza gebracht, und dann habe ich ihn gefragt, ob ich bei ihm anfangen kann.«

»Du lieferst Pizzen und holst Tote?«

»Nur noch die Toten. Sonst würde ich noch durcheinanderkommen und Tote liefern und Pizzen abholen.«

Juliane fing tatsächlich laut an zu lachen. Sie lachte aber nicht normal. Wenn man Al Bundy schaut, kann man die Lacher aus dem Off hören, da quiekt auch eine Frau. Und genau so klang Juliane. Meine Mutter stimmte mit ein und lachte ihr röhrendes Lachen, das klang, als würde man einen alten Rasenmäher anwerfen, ihn aber nicht zum Laufen bekommen. Ich stellte mir vor, wie wohl der Arbeitsalltag der beiden aussah. Was passierte, wenn dort mal jemand einen Witz erzählte? Aber ich durfte mich nicht beschweren, einmal war mir beim Lachen Bier aus der Nase geschossen. War voll auf meiner Hose gelandet, sodass Thomas dumme Sprüche machte.

»Wie ist denn diese Arbeit?«, fragte Juliane, nachdem die beiden sich wieder beruhigt hatten.

»Eigentlich immer gleich. Man bekommt einen Anruf, holt den Toten und bringt ihn zur Firma oder zur Rechtsmedizin.«

Wann würden sie Thomas aufschneiden und zerlegen, sich durch seine Därme wühlen und alles protokollieren? Hatten sie ihn schon aufgemacht? Vermutlich nicht, wir hatten Samstag. So arbeitsgeil kann kein Obduktionsarzt sein. Also Montag. Übermorgen war der Tag, an dem sie ihn öffnen würden.

Einmal durfte ich bei einer Obduktion dabei sein. Ich stand rauchend auf dem Hof, und der Arzt fragte mich, ob ich mir das denn nicht mal mit ansehen wollte. Ich zuckte mit den Schulten, sagte: »Klar, warum nicht?«

Im Gang vor dem Obduktionsraum standen zwei Ärzte neben einem Rollwagen. Darauf waren grüne Einmalanzüge gestapelt, daneben Masken, Handschuhe, Desinfektionsmittel und Haarnetze.

»Herr Persberg ist so oft bei uns, da habe ich ihn gefragt, ob er zuschauen will«, sagte der Arzt, und ich ärgerte mich, dass ich seinen Namen nicht wusste.

Ich nickte den anderen zu, und einer deutete auf den Rollwagen und sagte, dass wir uns die Schutzausrüstung anlegen müssten.

Schweigend zogen wir die Kittel, Handschuhe, Mundschutz und Haarnetz an und betraten den gelb gefliesten Kellerraum. Blaues Licht aus breiten LED-Streifen an der Decke, nur wenig Sonne kam durch die schmalen Fenster und blieb in den Jalousien hängen. An der rechten Wand standen niedrige Schubladenschränke, die aussahen wie Küchenschränke, nur waren hier keine Töpfe und Pfannen in den Schubladen, sondern Skalpelle, Nierenschalen, Zangen, Brustkorbspreizer und andere Dinge. Ich lehnte mich an einen der Schränke und sah mich um.

In der Mitte des Raumes waren die Obduktionstische aus Edelstahl. Drei Stück, alle fest mit dem Boden verschraubt. An den Fußenden waren große Waschbecken eingelassen. Der mittlere Tisch war belegt, ein weißes Leinentuch lag über der Leiche. Ein großer Säuferbauch zeichnete sich unter dem Tuch ab, irgendwas stimmte mit dem rechten Bein nicht.