Ausbrecherkönig Stürm - Reto Kohler - E-Book

Ausbrecherkönig Stürm E-Book

Reto Kohler

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Beschreibung

Walter Niklaus Stürm (1942–1999) war ein notorischer Krimineller, der in den 1980er-Jahren von den Medien in der Schweiz als «Ausbrecherkönig» und Sozialrebell gefeiert wurde. 2021 kommt sein Leben in die Kinos. Reto Kohler rekonstruierte 2004 in seinem Buch ‹Stürm – Das Gesicht des Ausbrecherkönigs›, von dem sich der Kinofilm inspirieren liess, Stürms einzigartigen und gleichermassen exemplarischen Werdegang vom anfänglichen Kleinkriminellen zur vermeintlichen Ikone im Kampf gegen den Kapitalismus. Der Autor zeigte auf, wie eine politische Grundstimmung das journalistische Urteilsvermögen so massiv beeinträchtigen konnte, dass eine völlig falsche öffentliche Meinung daraus resultierte: Der selbstsüchtige Dieb wurde zum Freiheitskämpfer hochstilisiert. Freiheitskämpfer sicherlich. Aber ausschliesslich in eigener Sache. Die Opfer gingen darüber vergessen. Die Verfilmung gibt nun Anlass, Kohlers Zeitdokument in einer überarbeiteten und ergänzten Neuaufl age herauszubringen. Die Wiederentdeckung eines kontrovers diskutierten Buches, vom Autor neu kommentiert und mit einem Nachwort des forensischen Psychiaters Frank Urbaniok versehen.

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Inhalt

Cover

Impressum

Titel

Widmung

Vorwort zur 2. Auflage

Ausbruch aus dem Atomkraftwerk der Macht

Strafanstalt Regensdorf / Eine junge Frau befreit ihren Liebhaber / Seine Kunst, ein Netzwerk aufzubauen, hat funktioniert / Ein kleiner Grieche kommt mit

Vom schmächtigen Angeber zum schweren Jungen

Die Kinder vom See / Walter verteilt Geld / Mädchen und Motoren / Lehrjahre bei Thomas Eigenmann

Drei Stümper in Allschwil

Angestellte aus dem Knast / Hächler dreht durch / Wer schlug Berta Rüegg?

Aktion Strafvollzug

Nikki Herzog wird zum Rebellen / Widerstand in der Einzelhaft / Der Knast wird politisch / Die Astra formiert sich / Eine Villa in Bern

Ein edler Dieb im Wohnmobil

Stürm flieht aus Basel / Er richtet sich bei der Astra ein / Die Kunst des Einbruchs / Raubzüge mit Tunker / Aussenseiter im Sitzungszimmer

Die vereitelte Entführung

Stürm lernt Bianca Fäh kennen / Er plant mit Helmuth Egger die Entführung von Paul Sacher / Die lange Fahrt nach Afghanistan

Prügel für einen Türken

Foucault, Binswanger und das Strafsystem / Solidarität mit der RAF / Stürms noble Fassade stürzt ein / Noch einmal kassiert er gross ab

Liebesbriefe eines Polizisten

Verhaftung / Die Ermittler setzen das Puzzle zusammen / Fäh wird gesprächig / Prügel für Wachtmeister Gall / Polizist Kummer schreibt Briefe / Auch Tunker geht ins Netz

Baader, Meinhof und die Haftdiskussion

Die Knastdebatte wird radikaler / Beschwerden im Akkord / Binswangers Modell / Das Komitee gegen Isolationshaft (KGI) / Stürm will ein neues Leben anfangen

Abbildungen

Das Leben als Refrain

Stürm bleibt stur auf Kurs / Die Psychopathie-These / Verfolgungsjagd am Grossen St. Bernhard / Wer ist Bernard Rambert? / Stürm schreibt für ‹focus›: Dichtung und Wahrheit

Psychiaterkrieg Reller vs. Keller

Stürm in Isolationshaft / Eine geglückte Gefangenenbefreiung / Besuch bei Ramberts Tante / Terrormassnahmen in Champs-Dollon / Die Gutachter / Das Inserat

Vom Räuber zum Popstar

Ramberts Verhaftung / Ostereier / Cognac für Gäbi Lutz

Olé!

Barcelona: Stürm wird bestohlen / Die feinen Künste von Maître Vergès / Mit Gäbi Lutz auf Gomera / Kein Gefühl für spanischen Lebensstil / Barbara Hug übernimmt

Atemnot und Jerry Cotton

Einbrechen wird schwieriger / Stürm betrügt Mitarbeiter Rignanese / Komplize Graber erzählt / Die Zwangsrasur

Kein Ausweg in Sicht

Direktor Conrad bleibt hart / Der grosse Hungerstreik / Hedi Langs Sofa / Adolf Muschgs Appell / Das verbogene Rückgrat / Señor Peter auf der Insel

Das Ende

Nachwort des Autors zur 1. Auflage 2004

Nachwort von Frank Urbaniok

Anmerkungen des Autors zur Neuauflage

Die Knastdebatte

Die Familie

Coole Kriminelle

Die Anwältin

Ein falsches Erweckungserlebnis

Über das Buch

Über den Autor

Reto Kohler

Ausbrecherkönig Stürm

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021 – 2024 unterstützt.

Überarbeitete und ergänzte Neuauflage des 2004 erschienenen Titels «Stürm – Das Gesicht des Ausbrecherkönigs» (ISBN 978-3-7296-0673-9)

© 2021 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, BaselAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Hugo Ramseyer (Neuauflage: Barbara Lehmann, Thomas Gierl)Korrektorat (Neuauflage): www.korrigieren.bizCoverbild: CONTRAST FILM Zürich/Philippe Antonello,mit Joel Basman und Marie LeuenbergerCovergestaltung: Kathrin Strohschnieder

Reto Kohler

Ausbrecherkönig Stürm

Im Gefängnis der Lügen

Dieses Buch widme ich meinem Hund. Seine Zuversicht ist ungebrochen.

Zugunsten des Persönlichkeitsschutzes wurden manche Namen im Text verändert. Die Schauplätze entsprechen, mit einer Ausnahme, alle der Realität. Die Textzitate wurden teilweise sanft redigiert, Fehler korrigiert und die Orthografie wurde der modernen Rechtschreibung angepasst.

Vorwort zur 2. Auflage

Als Bub bin ich mit meiner Mutter ans Ende der Strasse gefahren – zum Tessiner Gefängnis ‹La Stampa›. Aus Neugier. Hände ragten aus den vergitterten Fenstern. Ich hatte Angst – und Mitleid. Was hatten die Männer getan, dass sie in der Bruthitze nach Luft hecheln mussten? Eingesperrt in einem Betonbau? «Übles», sagte meine Mutter. Wir kehrten um und fuhren an den See.

Das Gefängnis ist – vielleicht zusammen mit dem Bordell – einer der wenigen Orte, von denen kaum jemand weiss, was drinnen wirklich geschieht. Ausser man war schon mal da. Ich habe unterdessen mehrere Gefängnisse von innen gesehen. Als Besucher. Es war schlimm. Zwar gibt es keine Folter mehr – und kaum mehr blinde Willkür. Aber die Trostlosigkeit schreit aus allen Wänden. Die Angehörigen weinen im Besuchszimmer. Die Insassen saugen jede Sekunde des Besuchstages auf. Niemand lebt im Jetzt. Alle zusammen steuern sie auf einen Fluchtpunkt zu. Auf ein Irgendwann, wenn sie sich wieder in Freiheit treffen können. Haft ist nicht cool.

Und dennoch umgibt die Welt des Gefängnisses eine Aura der Faszination. Alcatraz. Stammheim. Supermax. Wer drinnen war, dem ist eine Form düsterer Anerkennung sicher. Ein Raunen: «Der war schon Mal im Knast.»

Auch Walter Stürm genoss diesen zwielichtigen Ruhm. Er ist der bekannteste Verbrecher der Schweizer Kriminalgeschichte. Er kannte die Welt hinter Gittern. Mehr noch: Er wusste sich im Knast zu wehren. Schrieb Berge von Beschwerden an die Gefängnisleitung – für sich und andere. Und er brach regelmässig aus dem Knast aus. All das machte ihn zum Liebling der revolutionären Jugend der 70er- und 80er-Jahre. Und dazu kam sein Talent am Schneidbrenner. Er konnte Tresore aufschweissen wie kein Zweiter. Auch das brachte ihm Ruhm.

Ruhm für einen Kriminellen? Das tönt aus heutiger Sicht fremd. In den vergangenen Jahren hat das Volk nicht zuletzt an der Urne immer wieder kundgetan, was es von Gesetzesbrechern hält. Nichts. Keine Gnade. Wer das Gesetz bricht, soll betraft werden – das zeigen unter anderem die Resultate der Verwahrungsinitiative und der Ausschaffungsinitiative.

Diese Haltung war nicht immer selbstverständlich. In meinem Buch aus dem Jahr 2004 – ‹Stürm. Das Gesicht des Ausbrecherkönigs› – zeige ich einen anderen politischen Diskurs auf. Ab den 60er-Jahren begannen linke Kreise auch in der Schweiz Sympathie für Knastis zu hegen. Aktivisten wollten das Gefängniswesen grundlegend reformieren. Sie hinterfragten klassische Täter-/Opfer-Rollen. Waren wir nicht alle Opfer? Opfer einer falschen Gesellschaft? Walter Stürm war in der Schweiz der Kristallisationspunkt dieser Debatte.

Dem Bürgertum Geld zu klauen galt damals als revolutionärer Akt. Umverteilung. Alles gehört allen. Stürm, der manische Einbrecher, tat das Richtige. Er verteilte um. Er untergrub das kapitalistische System. Er zeigte es den Bonzen.

Was Stürms Anhängerschaft geflissentlich übersah: Viele Bestohlene waren gar keine Bonzen, keine amoralischen Multis, sondern kleine Handwerker, die ihre KMU mit eigener Kraft aufgebaut hatten – und die nun über Nacht Hab und Gut verloren, weil Walter Stürm und seine Komplizen ihnen alles klauten. Trotzdem fanden viele Journalistinnen und Journalisten Stürms Raubzüge irgendwie noch ganz cool.

Endgültig zur Kultfigur machten ihn aber seine Ausbrüche. Jedes Mal, wenn er wieder aus der Haft entkam, was oft vorkam, jubelte das Land. Viele Linke nahmen die Schweiz damals als ein einziges Gefängnis war. Eine Empfindung, die Friedrich Dürrenmatt 1990 in seiner legendären Rede ‹Die Schweiz – ein Gefängnis› auf den Punkt brachte. Tenor: Wir sind alle Gefangene und Aufseher zugleich. Stürms Fluchten befeuerten die Fantasie der Unzufriedenen. Abhauen, einfach abhauen – wohin auch immer. Stürm wurde zum Posterboy jener, die im Schweizer Staatswesen eine kapitalistische Diktatur und keine direkte Volksdemokratie sehen wollten.

So nahm Walter Stürm, der Ausbrecherkönig, in der Schweizer Politszene eine ähnliche ökologische Nische ein wie die RAF-Terroristen in der Bundesrepublik Deutschland. Er war Trägerrakete für die Diskussion um Isolationshaft und staatliche Repression. Nicht zuletzt liess er sich von Anwälten verteidigen, die sich auch um echte Terroristen kümmerten.

Der Anzug des Revoluzzers stand Stürm bei Lichte betrachtet schlecht. Einer seiner Komplizen nannte ihn «Buchhalter Nötzli» – das ist viel zutreffender. Im Herzen war er Bürgersohn geblieben – ein Vertreter seiner Klasse. Aber bei Bedarf konnte er das revolutionäre Parlando nachäffen wie ein Sittich. Zoologen nennen dieses Phänomen Mimikry.

Die Maskerade liess ihn in linken Medien als glaubhaften Systemkritiker in Erscheinung treten – obwohl ihn politische Visionen, die ausserhalb des eigenen Ich Geltung fanden, gar nicht interessierten.

Vor allem spätere Stürm-Chronisten waren erschreckend unkritisch gegenüber dem Promi Stürm. Das Leiden der Opfer spielte in der Berichterstattung kaum mehr eine Rolle. Das Bild des harmlosen, vom Schweizer Justizsystem übel gepiesackten Politmaskottchens Stürm setzte sich fest.

Es musste korrigiert werden.

Ich selbst fing im Jahr 2001 an, mich mit Stürms Geschichte zu befassen. Damals arbeitete ich als Redaktor beim Zürcher ‹Tages-Anzeiger›. Im Papierarchiv der Zeitung fand ich einen ganzen Ordner mit Stürm-Artikeln. Ich las ihn in einem Zug durch.

Ich erkannte, was jeder Unvoreingenommene in meiner Situation gesehen hätte. Die öffentliche Wahrnehmung war einseitig bis falsch. Denn die Sicht der Opfer, die in den jeweiligen Strafprozessen ausführlich zur Sprache kam, fehlte in den Zeitungen fast ganz.

Wer der Opferoptik aber Raum lässt, erkennt sehr schnell: Stürm war kein Freiheitsheld, sondern ein rücksichtsloser Schwerkrimineller, der unzähligen Unschuldigen geschadet hat.

Bei meinen Recherchen standen mir umfangreiche Gerichts- und Polizeiakten zur Verfügung. Die darin aufsummierten Schadensummen sind immens. Vom menschlichen Leid ganz zu schweigen. Zudem sprach ich mit Dutzenden von Zeitzeugen. Mit dem Buch, das aus diesen Recherchen entstand, gelang es mir, den gängigen Robin-Hood-Mythos, der Stürm umwehte, zu vertreiben.

Mit dem Kinofilm ‹Stürm – bis wir tot sind oder frei› schlägt der Regisseur Oli Rhis 2021 nun ein weiteres Kapitel in der Verarbeitung des historischen Phänomens ‹Stürm› auf. Rhis nimmt mein Buch und erlaubt sich mannigfaltige künstlerische Freiheiten, um daraus einen spannenden Spielfilm zu drehen. Das Experiment ist geglückt. Die Zuschauerinnen und Zuschauer können nochmals in die Zeit von Stürms Ruhm abtauchen – und somit eine einzigartige Epoche der Schweizer Geschichte noch einmal miterleben.

Für diese Ausgabe des Buches haben wir den Haupttext nur sanft nachredigiert. Den Stand der Dinge haben wir allerdings beibehalten. So manche Zeitzeugen sind mittlerweile verstorben. Zuallererst Barbara Hug. Im Buch leben sie noch, weil wir den ursprünglichen Charakter des Textes erhalten wollten.

Dennoch wollten wir die ursprüngliche Ausgabe auffrischen. Dem Haupttext ist deshalb ein ‹Nachwort des Autors› mit Aktualisierungen angehängt, die uns wichtig erschienen. Allerdings erhebt dieser Appendix keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Zu meiner grossen Freude erfuhr das Buch eine weitere wesentliche Ergänzung: Der forensische Psychiater Frank Urbaniok hat sich bereit erklärt, ein Nachwort zu schreiben. Darin kontextualisiert und analysiert er das ‹Phänomen Stürm› aus seiner Sicht. Für diesen wichtigen Beitrag bedanke ich mich bei Herrn Urbaniok ganz herzlich.

Mein besonderer Dank gilt zudem Barbara Lehmann. Sie hat mich in Fragen der Strafjustiz beraten.

Verlagsleiter Thomas Gierl danke ich für seine Geduld. Und den Verantwortlichen des Schweizer Radio und Fernsehens dafür, dass sie bei der Umsetzung des Filmprojektes an mich gedacht haben.

Zu guter Letzt danke ich Dave Tucker, Ivan Madeo und Oli Rihs für die beständige Zusammenarbeit.

Ohne meine Frau und meine Kinder stünde die Welt still.

Ausbruch aus dem Atomkraftwerk der Macht

Strafanstalt Regensdorf / Eine junge Frau befreit ihren Liebhaber / Seine Kunst, ein Netzwerk aufzubauen, hat funktioniert / Ein kleiner Grieche kommt mit

Bianca Fäh hatte in ihrem Leben noch nie einen Führerschein. In der Nacht auf den 18. Juli 1976 war ihr das egal. Kurz nach 24 Uhr hatte sie sich ans Steuer eines Renault 4 gesetzt und war nach Regensdorf gefahren. Dort traf sie eine halbe Stunde später ein, parkte den Wagen am Waldrand in der Nähe der Strafanstalt, stieg aus und legte sich neben dem Auto ins Gras.

Es war ein heisser Sommer. Selbst in der Nacht fiel das Thermometer selten unter 20 Grad. Fäh lag da und wartete. Sie hörte Tiere rascheln und fragte sich, um welche nachtaktiven Wesen es sich wohl handeln mochte. Füchse, Mäuse oder eine Katze? Sie wusste es nicht.

Fräulein Fäh, wie Fahnder sie nannten, hat lange schwarze Haare und auf ihren Lippen trägt sie ein Lächeln, das selten ganz verschwindet, nicht einmal auf dem Stuhl des Polizeifotografen.

Am Tag vor ihrer nächtlichen Ausfahrt waren in Montreal die 21. Olympischen Sommerspiele eröffnet worden. Ihr Star wurde Nadia Comăneci, Kunstturnerin aus Rumänien. Die Vereinigten Staaten von Amerika feierten ihr 200-jähriges Bestehen. Jimmy Carter, Erdnussbauer aus Georgia, würde bald Präsident des Landes sein. ABBA etablierte sich als beliebteste Band der Welt. Seveso wurde zum Schauplatz einer Chemiekatastrophe. Eine Schachtel Zigaretten kostete 1 Franken 60. Es starben die englische Krimiautorin Agatha Christie (85), der chinesische Parteichef Mao Tse-tung (82) und die deutsche Terroristin Ulrike Meinhof (41).

Doch all das hatte mit Bianca Fähs Mission eigentlich nicht viel zu tun.

Die gelernte Telefonistin, Tochter eines Chemikers, Vaters liebstes Kind, war gekommen, um ihren Liebhaber aus dem Gefängnis zu befreien. Einen Liebhaber, den sie, wie sie sich Jahre später eingestehen sollte, eigentlich gar nie richtig geliebt hatte. Trotzdem hatte sich die junge Frau lange auf diese Nacht vorbereitet. Sie wollte sich, vor allem aber ihm, dem Bankräuber und Meister des Einbruchs, beweisen, dass sie diesen Coup planen und erfolgreich durchziehen konnte. Sie liebte ihn zwar nicht. Und trotz der langen Reisen, die sie zusammen unternommen hatten, war er ihr immer fremd geblieben. Aber in seinem Fach, in seinem Beruf, war er ein Könner. Es gab niemanden, der das bestritt. Das weckte ihren Ehrgeiz. Sie begann, sich mit ihm zu messen. Sie wollte ihm ebenbürtig sein, wenigstens in dieser Nacht. Und er traute ihr das zu. Er wusste, dass er ihr vertrauen konnte. Obwohl auch er sie nie richtig durchschaut hatte, weil sie einfach zu unterschiedlich waren, wusste er das. Sie war zwar eigensinnig, aber durch und durch verlässlich, eine Frau, die auch dann das Richtige tat, wenn sie auf sich selbst gestellt war. Er nannte sie ‹Zusle›, was im Ostschweizer Dialekt ‹zerzauste wilde Katze› bedeutet.

Ein halbes Jahr war vergangen, seit er aus Bern hierher nach Regensdorf überbracht worden war. Bianca hatte angefangen, ihn zu besuchen. Anfangs einfach nur so. Weil sie doch irgendwie Verbündete waren, Freunde, die Erinnerungen an schwerelose Zeiten teilten, an das Erlebnis einer absoluten Freiheit, wie sie nur wenige Menschen je erfahren. Eine Freiheit, nach der beide sich sehnten. Aber wenn es nach dem Willen der Richter ginge, würde er noch mindestens sechs Jahre hier einsitzen. Das war zu lang. Sechs Jahre – das war wie lebenslänglich. Deshalb begannen sich die Gespräche während der Besuche mehr und mehr um ein Thema zu drehen: die Flucht.

Erst entwarfen sie die einzelnen Episoden des Vorhabens, überlegten, woher sie den Wagen zur Flucht organisieren sollten, wie sie das Werkzeug zum Zersägen der Gitterstäbe in die Zelle schmuggeln konnten, wann welcher Aufseher wo war, und dann dachten sie darüber nach, wo sie später in der Nacht, wenn alles vorbei wäre, Unterschlupf finden würden.

Diese Bruchstücke verzahnten sie so lange ineinander, bis sie das ganze Bild des Fluchtplans vor sich sahen. All das besprachen sie bei ihren Besuchen, wenn gerade niemand zuhörte. Oder sie notierten es in einem geheimen Zahlencode auf kleine Zettel, die sie einander zukommen liessen. Und jetzt, als sie auf der Wiese lag, wusste sie, dass es gelingen würde.

«Ich fürchtete mich vor nichts», sagt sie im Gespräch. «Ich war sicher, dass er kommen würde. Wenn er sagte, dass es klappen würde, dann standen die Chancen nicht 50:50, sondern 90:10.»

Zumindest damals war das noch so, im heissen Sommer des Jahres 1976.

Noch am Tag seiner Ankunft im Zuchthaus von Regensdorf – dem «Atomkraftwerk der Machtpathologien», wie ein ehemaliger Gefängnispsychiater den Bau nennt – hatte er begonnen, ein feines Netz von Günstlingen und Sympathisanten zu spinnen. Für die Schwächen und Begehrlichkeiten anderer Menschen hatte er schon immer ein feines Gespür gehabt. Das war erstaunlich. Denn er hatte auch ganz andere Seiten. In vielen Situationen war seine Menschenkenntnis grobkörnig. Oft vertraute er den Falschen, und jene, die ihn wirklich mochten, vergraulte er mit unverzeihlichen Misstritten.

Doch in einem Punkt konnte er sich immer auf sich selbst verlassen: Er wusste in jeder Situation, wer oben war und wer unten. Die Mechanik dieser Hierarchie wusste er zu nutzen wie kaum ein Zweiter.

Er war kein Intellektueller, aber geistig um einiges beweglicher als die meisten seiner Mitgefangenen. Schon nach kurzer Zeit hatte er unter den knapp 300 Männern, die damals in Regensdorf inhaftiert waren, einige Chronische identifiziert, die er beeindrucken konnte. Delinquenten, die immer wieder straffällig wurden und an denen jeder Versuch der Resozialisierung so folgenlos abperlte wie Regen an der Windschutzscheibe. Hoffnungslose Fälle. Männer, die der Idee eines bürgerlichen Lebens nichts abgewinnen konnten. Unter diesen suchte er sich die besten und verlässlichsten Handwerker aus. Berufsleute, die juristisch zwar stets in Rücklage waren, denen er aber nicht erklären musste, was ein Schraubenschlüssel ist und wie sie ihn handhaben müssen. Das konnten seine Kandidaten im Schlaf. Sie verfügten über ein technisches Repertoire solider Handgriffe, die sie ohne Anleitung ausführen konnten. Genauso wichtig war es ihm aber, dass sie, wenn er ihnen etwas befahl, gehorchten. Widerspruchslos und sofort.

Von denen, die diese Qualifikationen besassen, nahm er einige Auserwählte unter die Fittiche und half ihnen, sich im Vorschriftendschungel innerhalb der Anstalt und draussen vor der Mauer zurechtzufinden. Einer seiner Schützlinge war der griechische Berufstaucher Constantinos Spingos. Als Taucher hatte Spingos gelernt, unter Wasser Schiffe zu reparieren. Er war ein geschickter Handwerker. Aber er war beim Stehlen erwischt worden und sass in Regensdorf eine Zuchthausstrafe von zweieinhalb Jahren ab.

Biancas Bankräuber kannte die Kommaregeln nicht so genau. Aber er machte dieses Defizit mit einer sonderbaren Gabe wett: Er konnte den Tonfall amtlicher Dokumente nachäffen wie ein Papagei das Klingeln eines Telefons. Seine Eingaben zu lesen ist ein sonderbares Erlebnis. Vordergründig stimmt alles. Die Regeln der Form, die einem amtlichen Dokument sein Gewicht verleihen, scheinen gewahrt zu sein. Und trotzdem ist alles leicht verschoben, wie die Tonspur in einem schlecht synchronisierten Film. Alle seine Texte, nicht nur die juristischen, lesen sich wie ein verzerrtes Echo der Realität.

Und in dieser Kunstsprache schrieb er Hunderte von Beschwerden für seine Kumpane, vor allem aber für sich selbst. Die Schriften füllen ganze Regale von Bundesordnern. Seinen Schützlingen zeigte er so, dass sie der Willkür der Aufseher, der Polizei und der Justiz nicht dermassen hilflos ausgesetzt waren, wie sie meinten. Er gab ihnen Selbstvertrauen, weil er ihnen – vielleicht als Erster überhaupt in ihrem Leben – das Gefühl vermittelte, sich wehren zu können.

Die Beratungsgespräche, die er führte, verliefen wie ein Arztbesuch. Er war der Behandelnde, der Wissende. Er kannte die Regeln und er beschied seinen Patienten, was sie zu tun hatten. Er war der Anwalt, sie waren die Klienten. Und die dankten es ihm – manche tun das heute noch. Die Selbstverständlichkeit, mit der er mit Paragrafen und Reglementen jonglierte, verschaffte ihm hinter Gittern Respekt. Und am Schluss der Konsultationen war er immer oben. Er war der Chef. So war es letztlich sein Gespür für das Oben und Unten, das seine Handlungen diktierte. Auch dann, wenn er half.

Es liegt auf der Hand, dass er sich bei den Aufsehern eine andere Strategie überlegen musste. Als Teil der natürlichen Ordnung im Kerker waren ja diese immer oben. Zu ihnen suchte er deshalb ein kollegiales Verhältnis, eine Art Kameradschaft unter Männern oder eine Kumpanei, wie sie unter Handwerkern üblich ist. Da konnte man sich schon mal auf die Schulter klopfen. Und dann fühlten sich die Aufseher ernst genommen. Für einige Momente vergassen sie sogar, dass sie Wärter waren und 300 eingekerkerte Männer bändigen mussten, von denen jeder Einzelne sie hasste. Wenn er sie wie Berufskollegen behandelte, dann waren sie es auch, dann schlüpften sie ganz gerne für ein paar sorgenlose Momente in die Rolle des Kameraden. Genau diese kleinen Momente der Nachsicht sind es, die im System des Zuchthauses den Unterschied machen. Und diese Oasen der Menschlichkeit hatte der Meisterdieb während der letzten Monate geortet und gefördert. Hier setzte er an und begann zu bohren. Ganz nach seinem Gutdünken hätschelte er seine Umgebung oder er tadelte sie. Er lobte, beriet, gängelte, schüttelte Hände, ermahnte, belehrte und klopfte Schultern. So schuf er um sich herum eine Burschenschaft von Gefangenen und Aufsehern, die ihm Wohlwollen entgegenbrachten. Dieses Netz verschaffte ihm Privilegien und damit eine gewisse Ellbogenfreiheit im totalen Kerkersystem.

Der berühmte französische Grosskriminelle Jacques Mesrine hat die Gefängnisse dieser Welt einst als «grosse Menschenfresser» bezeichnet.

Der Menschenfresser von Regensdorf existierte 1976 schon seit 75 Jahren. Davor hatte während 250 Jahren das Kloster Oetenbach als Zuchthaus gedient. Im 19. Jahrhundert war Karl Gottlieb Wegmann während drei Jahrzehnten patriarchalischer Vorsteher des antiken Besserungshauses gewesen. Er hatte bereits die Anstaltsordnung reformiert, die bis zu diesem Zeitpunkt ein Manifest der Willkür gewesen war. Doch dabei wurde ihm klar, dass der moderne Strafvollzug, wie er ihn verstand, nur durch einen Neubau oder zumindest einen radikalen Umbau möglich sein würde. Immer wieder bedrängte er deshalb die Behörden des Kantons Zürich und verlangte Geld für seinen Plan. Schliesslich wurde er erhört. Im Jahre 1868 begann der Umbau.

Zehn Jahre später, im Dezember 1878, schrieb Wegmann:

Jetzt ist der Bau der Strafanstalt so viel als vollendet, und es lässt sich nicht mehr viel daran ändern. Es ist den vorher vorhandenen Übelständen abgeholfen und die Anstalt genügt nun dem Bedürfnis des Kantons. So mag sie, wie sie nun ist, ihrem Zweck dienen, bis einmal die Zeit kommt – und sie wird kommen –, wo der Erlös aus ihr die Kosten einer neu zu erbauenden, noch besseren, deckt.

Karl Gottlieb Wegmanns Prophezeiung sollte bald in Erfüllung gehen. Er selbst erlebte es aber nicht mehr, da er im April 1891 verschied, «in seinem angetretenen 73. Altersjahre».

Sein Nachfolger Doktor Ferdinand Curti betrat die Bühne forschen Schrittes. Schon kurz nach Amtsantritt geisselte er in einer «einlässlichen Denkschrift mit Datum vom 1. Oktober 1891 die inhärenten Übelstände», die seiner Meinung nach in der Strafanstalt im Oetenbach herrschten.

1895 erschien eine Studie, welche die Zustände in Oetenbach ebenfalls beanstandete. Vor allem einer Methode des Strafvollzuges könne man im alten Bau nicht genug Rechnung tragen – der Einzelhaft. Das müsse sich ändern, denn schliesslich sei man zur Ansicht gelangt, «dass ein verständiger Strafvollzug, welcher wirklich im Kampf gegen das Verbrechen von Nutzen ist», nur «bei möglichst ausgedehnter Durchführung der Einzelhaft» möglich sei.

Plötzlich ging alles schnell.

Am 3. Juli 1898 stimmte das Volk dem Bauvorhaben mit 33 830 zu 8200 Stimmen zu. Für 110 000 Franken kauften die Bauherren 2000 Aren Land. In Regensdorf sollte im Morgengrauen des 20. Jahrhunderts im Staat Zürich ein neues Zeitalter des Strafvollzugs anbrechen. Es war höchste Zeit. Das Handwerk des Strafens hatte sich in den vergangenen 200 Jahren radikal verändert.

Einstmals nämlich waren es blutrünstige Feste der Marter, des Räderns, des Vierteilens, des Peinigens und des Brandmarkens gewesen, die in den Städten gefeiert wurden. Doch die makaberen Schauprozesse waren verschwunden. Irgendwann begannen die Justiz und ihre Vollzugsorgane davon abzusehen, den Verurteilten Gliedmassen abzutrennen, ihre Körper von Pferden zerreissen zu lassen und das, was nach diesen Prozeduren noch übrigblieb, in schaurigen öffentlichen Zeremonien zu verbrennen.

Denn die Techniken dieser Bestrafung begannen ihr Ziel immer weiter zu verfehlen. Die Exzesse des Quälens weckten Widerstand. Vor dem Volk genossen die Gemarterten plötzlich den Status von Helden statt den von Geächteten. Die Geschichten ihrer Verbrechen wurden zu Legenden. Und bewundert wurden jene am meisten, die der Justiz am längsten die Stirn geboten hatten. Die, die nie um Gnade flehten, auch dann nicht, wenn die Flammen des Scheiterhaufens schon an ihren Waden hochzüngelten. Die Orgien der blutrünstigen Bestrafung wurden so zu Festen des Widerstands gegen die Obrigkeit. Also stellte die Justiz die Delinquenten irgendwann nicht mehr aus, sondern sperrte sie weg. Das war die Geburtsstunde des Gefängnisses.

Bald jedoch begannen die Vollzugsorgane, mit den Eingekerkerten Experimente zu machen. Gefängnistheoretiker entwickelten immer neue Theorien, wie die Häftlinge am besten zu unterjochen seien. Sie wollten die Straffälligen gewaltlos gefügig machen, und zwar so eindringlich, dass die Männer auch nach ihrer Freilassung rechtschaffen und untertänig bleiben würden. Um die Delinquenten auf den richtigen Weg zu bringen, musste man sie deshalb in den Anstalten auf Schritt und Tritt überwachen können. Den Aufsehern musste es möglich sein, jede Bewegung der Häftlinge zu beobachten und zu dokumentieren.

Man wollte die Fortschritte und die Verfehlungen jedes einzelnen Sträflings minutiös festhalten. Dazu musste man sie aber sehen, und zwar am besten rund um die Uhr. Man wollte die Straftäter in allen ihren Regungen beobachten können – wie Fische in einem Aquarium. Die Gefängnisse mussten also durchsichtig werden.

Jeremy Bentham (1748 – 1832) war der Erfinder einer neuen Bauweise, die dies erlaubte. Er nannte sie «Panoptikum». In seiner ursprünglichen Form besteht Benthams transparente Maschine der Unterwerfung aus einem ringförmigen Gebäude, das gegen beide Seiten von Fenstern durchbrochen ist. Und zwar so, dass das Licht den Bau sowohl von innen als auch von aussen durchfluten kann. Dieses Ringgebäude ist in Einzelzellen unterteilt. In jeder sitzt ein Sträfling.

Im Inneren des Rings steht ein Turm. Weil das Licht den Ringbau durchdringt, kann der Aufseher im Turm alles sehen, was in den Zellen geschieht. Er selbst hingegen weiss sich stets unbeobachtet. Jalousien an den Fenstern des Turmzimmers schützen den Aufseher vor den Blicken der Häftlinge.

Im Ringbau entsteht so ein geschlossener, parzellierter, lückenlos überwachter Raum. Jeder hat genau seinen Platz. Alle sind eingespannt. Die geringste Bewegung wird kontrolliert und sämtliche Ereignisse werden registriert. Das verhüllte Auge im Zentralturm sieht alles. Mit dem Panoptikum schuf Jeremy Bentham – lange vor der Erfindung der Überwachungskamera – einen Ort der totalen Kontrolle. Viele Architekten nahmen sein System auf und variierten es. Das Grundkonzept blieb aber mehr als hundert Jahre gültig.

Dr. Ferdinand Curti war ein Kenner dieser Materie. Auf dem Gebiet des Strafvollzugs war er ein Experte. Während der Planungsphase der neuen Strafanstalt Regensdorf erörterte und evaluierte er immer wieder die unterschiedlichen Unterwerfungstechnologien, welche die Vollzugsbehörden in verschiedenen Ländern an Gesetzesbrechern ausprobierten.

Auch die Idee des panoptischen Baus überzeugte ihn.

So begann er zusammen mit Kantonsbaumeister Fietz mit der Planung eines strahlenförmigen Panoptikums. Aus der Vogelperspektive sieht das Gebäude nicht aus wie ein Ring, sondern wie ein Kreuz. Im Herzen des Kreuzes befindet sich die so genannte ‹Centralhalle›, ein Ort, der die Grundform eines gleichseitigen Achteckes und einen inneren Durchmesser von 13,5 Metern hat. Darin wollten die Männer eine Kanzel bauen, auf der rund um die Uhr ein Aufseher sitzen sollte.

Die Dachkuppel über der Kanzel war so konzipiert, dass immer viel Tageslicht auf die Kanzel fiel; so konnte der Mann, der darauf stand, jede Bewegung, die um ihn herum geschah, registrieren. Nichts sollte ihm entgehen. Er war das zentrale Auge.

Um die Centralhalle herum sollten sich vier Gebäudetrakte gruppieren, die jeweils in einem rechten Winkel zueinander standen. Einer davon war der Verwaltungstrakt, der auch das Büro des Direktors beherbergte. Die anderen drei waren Zellentrakte.

Das alte Kloster Oetenbach war eine Festung der Finsternis. Sie erinnerte an einen Maulwurfbau. Der Grundriss des neuen Regensdorfer Panoptikums war dagegen hoch organisiert und federleicht. Kein undurchdringlicher Wirrwarr von Schächten und Gängen, in die dunkle Verliese zur Verwahrung von Sträflingen eingelassen sind, sondern eine hoch strukturierte, fast schon luftige Konstruktion. Die Einzelzellen regelmässig angeordnet wie Waben in einem Bienenstock. Im Schnitt sollten sie etwa 27 Kubikmeter gross werden. Das entspricht einem Würfel von drei Metern Seitenlänge.

Alles in allem eigentlich ein wunderschönes Gebäude – hätte es nur einem anderen Zweck gedient.

1899 begann man mit den Bauarbeiten. Diese verschlangen 1 943 531.72 Franken – 200 000 mehr, als budgetiert waren. 1901 war die neue Strafanstalt fertig.

Vor genau dieser Anstalt sass jetzt, in gebührendem Abstand, 75 Jahre später, Bianca Fäh im Gras und wartete. Düster starrten die Mauern des Gefängnistraktes sie an. In der Dunkelheit versteckt wartete der R4.

Und plötzlich hörte sie ein Geräusch, das nicht von einem Tier stammte.

Sie schaute auf die Uhr. Es war vier Uhr morgens. Ihr Freund, der Bankräuber, und sein Komplize, der griechische Berufstaucher, robbten auf das Auto zu. «Wie Infanteristen», dachte sie.

In den letzten Wochen hatte der Einbrecherkönig in der Gefängniswerkstatt gearbeitet. Dort hatte er heimlich eine Leiter gebaut. Werkstattchef Otto Fehr hatte davon nichts bemerkt. Die Leiter bestand aus einem einzelnen Holm und kleinen Stufen, die man so am Rohr anschrauben konnte, dass sie abwechselnd je links oder rechts eine Trittfläche boten. Das Klettergerät stand also auf einem Bein. Deshalb war es nicht ganz so stabil wie eine normale Leiter. Dafür war es zerlegbar und mobil. Eine geniale Konstruktion. In der Gartenabteilung eines Einkaufscenters würden sich Käufer dafür finden.

Bevor sie mit dieser Leiter über die Mauer klettern konnten, mussten sie mit Biancas Sägeblättern in stundenlanger, schweisstreibender Handarbeit die Gitterstäbe durchsägen. Dann schoben sie sich durchs Fenster und klebten die Gitterstäbe mit Isolierband wieder fest. Bald würde es hell werden. Der Nachtwächter sollte erst möglichst spät merken, dass etwas nicht stimmte.

Dann seilten sie sich ab und kletterten mit der Leiter über die Mauer.

Jetzt, als sie vor der schwarzhaarigen Frau standen, lief ihnen der Schweiss in kleinen Rinnsalen am Körper hinunter.

Fäh begrüsste den Griechen. Der lächelte zurück. In seinem Mund funkelten zwei Goldzähne. In ihren Augen war er ein quirliger, warmherziger Südländer. Sie mochte ihn. Andere hielten ihn für gefährlich. «Er konnte ziemlich brutal sein», sagt einer, der ihn einige Tage nach dem Ausbruch kennenlernen sollte.

Flink stieg Spingos hinten in den Renault ein und begann sich umzuziehen. Er streifte die braune Häftlingskleidung ab und zog die neuen Sachen an, die Bianca mitgebracht hatte.

Sie liess sich auf den Beifahrersitz fallen. Ans Steuer setzte sich ihr Freund und sagte: «Gut gemacht, Zusle. Es hat geklappt.» Man sah ihm die Strapazen, die er in den letzten Stunden durchgemacht hatte, kaum an.

«Er konnte etwas aushalten», sagt Fäh. Seine körperlichen und seelischen Schmerzgrenzen waren weit gesteckt.

Bald würde der Alarm losgehen. «Wir müssen möglichst schnell aus Zürich raus», sagte er und startete den Motor. Sie fuhren los.

Bei Tagesanbruch waren sie auf dem Weg nach Bern. Sie kannten die Hauptstadt gut und hatten dort viele Freunde. Doch die liessen sie diesmal links liegen und fuhren weiter ins Wallis nach Leysin, wo Bianca einen Unterschlupf organisiert hatte.

«In einer Feriendestination fällt man nicht weiter auf», sagt sie. «Die Einheimischen sind es gewohnt, dass ständig Fremde kommen und gehen.»

Kurz nachdem sie angekommen waren, machte sich Bianca auf den Rückweg. Sie wollte daheim sein, wenn die Polizeibeamten klingeln und sie verhören würden. Dass sie kommen würden, war klar. Ihre Beziehung zum Einbrecher war aktenkundig.

Als sie gegangen war, schliefen die beiden Männer ein.

Während die beiden Einbrecher in Leysin schliefen, war in Zürich Hektik ausgebrochen. Bei der Polizei, in der Strafanstalt Regensdorf, aber auch auf den Redaktionen der Zeitungen.

Als Erstes befragten die Ermittler Bianca Fäh. Natürlich verlief das Gespräch ergebnislos. Fäh kannte diese Unterhaltungen und begegnete ihnen mit Sportgeist.

«Ich war immer stolz, wenn es mir gelang, einen Polizisten um den Finger zu wickeln», sagt sie. Bis heute weiss fast niemand, dass sie es war, die die beiden befreit hat.

Auch den Verantwortlichen in der Strafanstalt Regensdorf machte der Ausbruch arg zu schaffen. Otto Fehr fühlte sich schuldig, weil er nicht gemerkt hatte, dass man in seiner Werkstatt eine Leiter gebastelt hatte. Er war enttäuscht, dass man ihn so übers Ohr gehauen hatte. Noch enttäuschter war Anstaltsdirektor Bernhard Conrad.

Mittlerweile war die Presse angerückt und stellte giftige Fragen. Für den kleinen Griechen interessierte sich niemand. Das Interesse galt dem Bankräuber. Wie war es ihm gelungen, so klammheimlich eine Leiter zu bauen, ohne dass es jemand gemerkt hatte? Warum durfte er in der Werkstatt arbeiten – er, der für sein handwerkliches Geschick ebenso berühmt wie gefürchtet war? Die Journalisten warfen Conrad vor, er hätte wissen müssen, dass er es nicht mit einem unbeschriebenen Blatt zu tun habe. Trotzdem hätte der Flüchtige sein Verschwinden offenbar in aller Seelenruhe vorbereiten können. Wie war das möglich?

Bernhard Conrad, ein rechtschaffener, stämmiger, ehrlicher Emmentaler, reagierte ungehalten. In seiner Heimatstadt Burgdorf erzählt man sich heute noch, er sei als Jugendlicher ein Haudegen gewesen. Die Schule habe ihm nie viel gesagt. Seine Begeisterung galt der Schweizer Armee, wo er es bis zum Oberstleutnant brachte. Diese Karriere hat ihm eine gewisse Härte verliehen.

Doch in dieser Situation verlor Conrad etwas die Fassung. Der Bankräuber habe ihm «hoch und heilig versprochen, er wolle mit seiner Vergangenheit Schluss machen. Er verlangte deshalb eine für seine Resozialisierung nützlich erscheinende Arbeit. Als dies nicht sofort geschah, reichte er Beschwerde ein. Der Entschluss, ihn in der Schlosserei zu beschäftigen, fiel uns nicht leicht», so Conrad zum Zürcher ‹Tages-Anzeiger›.

Der ‹Blick› brachte den Vorfall sogar auf der Frontseite. «Ein Ausbruch wie im Krimi», titelte das Boulevardblatt.

Vom Zürcher Trubel bekamen die beiden Männer im Wallis wenig mit. Kaum hatten sie sich von den Strapazen der Flucht erholt, begannen sie, die ersten Einbrüche zu planen und auszuführen. Zehn davon hat Spingos später in einem Verhör gestanden. Genützt hat es ihm wenig. Später, nach einem Fluchtversuch, wurde er von der Polizei erschossen.

Auch auf den Bankräuber würde bald geschossen werden. Aber er hatte mehr Glück als der kleine Grieche und überlebte. Doch sein Leben hatte nach dieser Nacht im Juli 1976 eine entscheidende Wende genommen: Ihm war es gelungen, dem panoptischen Bau in Regensdorf zu entkommen. Und mehr als je zuvor waren jetzt die Blicke auf ihn gerichtet. Die Flucht hatte ihn zum Helden gemacht. Er war berühmt geworden.

Eine ganze Nation wollte wissen, wo er war und was er gerade tat. Wo ist er untergetaucht? Wo versteckt er sich? Im Jura? Hat er dort ein Schuhgeschäft ausgeraubt? Oder ist er in Spanien? Oder in Frankreich? Oder sonst wo? Trägt er einen Bart? Oder doch nicht? Hat er blonde, schwarze oder braune Haare? Hat er wirklich jemanden niedergeschlagen? Hat er einen Polizeiposten ausgeraubt? Hat er sich als Frau verkleidet?

Er wurde zum bekanntesten Sträfling, den die Schweiz je hatte. Die Menschen feierten ihn wie einen Popstar. Mehr noch. Sie adelten ihn.

Walter Niklaus Stürm hatte in dieser Nacht eine Verwandlung vollzogen.

Er war jetzt nicht mehr einfach nur ein Bankräuber.

Ab jetzt war er Walter Stürm, der Ein- und Ausbrecherkönig.

Und das ist seine Geschichte.

Vom schmächtigen Angeber zum schweren Jungen

Die Kinder vom See / Walter verteilt Geld / Mädchen und Motoren / Lehrjahre bei Thomas Eigenmann

Goldach, ein 8000-Seelen-Dorf am Bodensee.

Im Sommer hat der Ort ein maritimes Flair. An der Strandpromenade lustwandeln Hundebesitzer, junge Mütter, Eis essende Rollerskater. Grau melierte Besitzer von Segelbooten machen sich an ihren Schiffen zu schaffen. Junge Ausländer treffen sich zum Kaffee. Die Zuwanderung, vor allem jene aus dem Balkan, ist erheblich.

Die Gegend wurde vor rund 1500 Jahren von zuwandernden Alemannen besiedelt, die dort ein reiches Trinkwasservorkommen und fruchtbaren Boden vorfanden.

Die Meinungsmacher der Stadt stammten stets aus den «hablichen Bauerngeschlechtern» Rennhas, Brager, Lindenmann, Egger und Stürm.

In diese Umgebung wurde am 4. August 1942, einem Dienstag, Walter Niklaus Stürm geboren. Den Stürms war stets ein reicher Kindersegen beschieden. So hatte auch der kleine Walter vier Geschwister. Zwei Brüder, Eduard und Urs, und zwei Schwestern, Carola und Erika. Dazu kamen zahlreiche Cousins und Cousinen im gleichen Alter.

Walters Vater Eduard Stürm betrieb in Goldach am See ein Sägewerk. Er führte damit eine alte Familientradition fort, die 1842 begonnen hatte, als sein Vorfahr Karl Stürm auf demselben Platz ein Handelsunternehmen für Rundhölzer aufgezogen hatte. Heute beansprucht die Firma etwa die Fläche eines Fussballfeldes. Das Areal ist gross und hat überall versteckte Winkel – ein idealer Spielplatz für Kinder.

Stürms Mutter Ida, geborene Schnetzer, wird von allen, die sie kennen, als zierliche, fromme und ausserordentlich gutmütige Frau beschrieben. «Zu gutmütig vielleicht», sagt einer. Sie ist fast 100 Jahre alt und lebt noch immer in der Gegend. Aber sie ist einen langen Leidensweg gegangen und lehnt jede Aussage zu ihrem schwierigen Sohn ab. Auch die anderen Mitglieder der Familie wollen nicht über Walter Stürm reden.

Auch die Einwohner von Goldach reagieren zurückhaltend auf Fragen. Jeder kennt jeden. Und alle kennen die Stürms und ihren Einfluss. Niemand will sich mit einer unbedarften Äusserung in die Nesseln setzen. Niemand will riskieren, im Ruderclub oder im Turnverein blöd dazustehen oder Aufträge von einem der vielen Betriebe der Stürms zu verlieren.

Wer nach Goldach fährt und sich nach Walter Stürms Kindheit erkundigt, dem gehen die Einheimischen kopfschüttelnd aus dem Weg. Türen schlagen zu.

Die wenigen, die doch reden, sind entweder Emigranten, die in Zürich wohnen, oder Freigeister, die sich eine eigene Existenz aufgebaut haben und sich den Mund nicht verbieten lassen. Stück für Stück muss man sich so ein Bild dessen zusammensetzen, was sich vor einem halben Jahrhundert am äussersten Rand der Ostschweiz zugetragen hat.

Walter Stürm selbst sagte später, er habe innerhalb der Familie stets als deren dümmster Sprössling gegolten. Ob die anderen das auch so gesehen haben, muss offenbleiben. Tatsache ist jedoch, dass Walter Stürm schon früh auffälliges Verhalten an den Tag gelegt hat. Der kleine Walter hatte immer Geld. Von Kindsbeinen an hat er versucht, sich so die Zuneigung seiner Klassenkameraden zu erkaufen. «Wer immer bezahlt, der hat schnell Kollegen», sagt einer, der ihn als Kind gekannt hat.

Stürm entwickelte ein Gespür dafür, wen er mit Geld am meisten beeindrucken konnte. Es waren die, die selbst keins hatten. Max Ebert zum Beispiel. Ebert ist ein Bauernsohn. Seine Eltern waren arm. Der kleine Max hat nie mehr gehabt, als er zum Überleben brauchte. Dann lernte er Walter Stürm kennen. Dieser hat Ebert und einen weiteren Kollegen zu wahren Fressorgien eingeladen. Sie seien jeweils in einen Laden gegangen, wo Stürm so viel Süssigkeiten gekauft habe, dass sie gar nicht alles hätten essen können. «Wir stopften die Ware in uns rein, bis uns schlecht wurde», erinnert sich Ebert. «Den Rest warfen wir weg.» Max, der ausser Entbehrungen vorher nichts gekannt hatte, liess sich jeweils nicht lange bitten, wenn Stürm zu einem Gelage lud. Er habe das Geld für ihre Shoppingtouren in den Schuhen versteckt gehabt, sagen seine Gefährten. «Dort hatte er immer ein Zehnernötchen oder so.»

Natürlich wollten seine Begleiter wissen, woher die Reichtümer seien, die sie so verschwenderisch verprassten. «Er erzählte uns, dass er es dem Vater gestohlen habe», sagt Ebert. Walter habe das Geld einfach aus des Vaters Tresor gestohlen. Ob das wirklich stimmt, lässt sich nicht mehr nachprüfen.

Walter hatte zu seinem Vater Eduard schon früh ein sehr zwiespältiges Verhältnis. Eduards Vater, Walters Grossvater also, muss ein starker, autoritärer Mann gewesen sein. Eduard Stürm seinerseits sei ebenfalls darum bemüht gewesen, stark und autoritär aufzutreten. Doch das sei ihm nie richtig gelungen. Bei ihm sei die Aura der Herrschaftlichkeit stets eine Farce geblieben. Der kleine Walter habe das schnell gemerkt. Ihm habe der rechte Respekt vor dem Familienoberhaupt gefehlt. Der Vater sei aber von seinem Machtanspruch nie abgerückt. Deshalb sei es dauernd zu Spannungen gekommen. Mutter Ida wurde zum Prellbock zwischen den beiden. Sie war immerzu darum bemüht, den Zwist zu schlichten. Manche Mütter, die diese Sandwich-Rolle spielen, versuchen, den Hausfrieden mit Geld zu retten, das sie den Söhnen geben, sagen Psychologen.

Folglich sind zwei Szenarien wahrscheinlich, wie Walter zu seinen frühen Geldern kam. Entweder hat er dem Vater das Geld tatsächlich gestohlen. Der Mangel an Respekt macht diese Variante plausibel. Oder aber die Mutter versorgte ihn mit den Mitteln, um ihn vom Zwist mit dem Vater abzulenken.

Bei allen Varianten steht eines fest: Geld hat im Leben von Walter Stürm schon sehr früh eine zentrale Rolle gespielt. Es wurde für ihn zum Rohstoff, der die Welt in Bewegung hält. Es verschaffte ihm Achtung. Für ihn wurde Geld immer mehr zum organisierenden Prinzip jeder menschlichen Beziehung.

Max Eberts Vater, der Bauer, sah, dass seinem Sohn die Beziehung zu Walter Stürm nicht guttat. Das Geld verwirrte den Sprössling. Er sorgte dafür, dass Max sich von Stürm zurückzog.

Walter änderte seine Taktik nicht. Weggefährten erzählen, er habe in dieser Zeit Leute angeheuert, die ihm gegen entsprechende Bezahlung die Hausaufgaben erledigt hätten. Sein sozialer Umgang sei dadurch nicht besser geworden. Hauptsächlich mit zwei anderen Jungs soll er unterwegs gewesen sein. Einer davon war ein Bub namens Axel Schönenberger.

Im Dorf hatte die Bande um Stürm bald einen einschlägigen Ruf. Die Knaben heckten dauernd neue Streiche aus. Und wenn irgendetwas passierte, waren Lehrer und Dorfpolizisten mit eilfertigen Verdächtigungen schnell zur Stelle.

Marlies Walz, eine Jugendfreundin von Stürm, erzählt, Walter habe sich mit der Zeit kaum mehr gegen die Anschuldigungen gewehrt. «Ich bin halt der Stürm», habe er gesagt. «Mir glaubt sowieso niemand etwas.»

Auch auf Familienausflügen sei Walter hervorgestochen. Er und sein Lieblingscousin Hans Stürm seien die Leitwölfe des Rudels von Kindern gewesen, das sich jeweils bildete, wenn verschiedene Flügel des Clans gemeinsam wegfuhren. Einmal habe die ganze Brut in grossen Zelten übernachtet. Am Morgen seien die Kinder aufgewacht, weil Kühe gerade dabei waren, die Wimpel, die an den Zelten hingen, zu fressen. «Hans und Walter waren die Einzigen, die nicht vor Schreck erstarrten. Sie hatten den Mut, die Viecher zu verjagen», erzählt die spätere Lebensgefährtin von Hans, Bea Michel.

Neben allerlei Unfug, den Walter mit seinen Kollegen angestellt hat, soll er auch weiterhin seinen Vater bestohlen oder aus dessen Betrieb Holz entwendet und an den Meistbietenden verhökert haben, wie einem späteren Polizeibericht zu entnehmen ist.

Stürm muss schon sehr früh bewaffnet gewesen sein. Irgendwann ist er unvermittelt bei Max Ebert aufgetaucht und hat ihm eine Schreckschusspistole in die Hand gedrückt. «Bewahre das für mich auf», sagte er dem Bauernjungen. Der hat die Waffe noch heute.

Unterdessen war die zweite Hälfte der 50er-Jahre angebrochen. Die Faszination für alles, was einen Motor hatte, war allenthalben grenzenlos. Hersteller wie Alfa Romeo, Ferrari und Jaguar hatten Modelle auf dem Markt, die manch einem noch heute die Augen feucht werden lassen. Es war das Goldene Zeitalter des Automobils. Walter Stürm wurde von diesem Fieber voll erfasst.

In der Nähe der Schule, die er besuchte, hatte der Karosseriespengler Thomas Eigenmann sein Geschäft eröffnet. Er stammte ebenfalls aus der Gegend um Goldach. Seine Lehre als Autospengler hatte er bei der Saurer AG gemacht. Danach ging er auf Wanderschaft und arbeitete in der ganzen Schweiz auf seinem Beruf. Am besten gefiel es ihm in Thun, wohl deshalb, weil es auch dort einen See hat. 1956, Eigenmann war 26 Jahre alt, bekam er die Gelegenheit, in Goldach eine Werkstatt zu mieten. Er sagte schnell zu und zog zurück in die Heimat.

In der Freizeit, nach der Schule, tauchten Stürm und drei, vier seiner Kollegen immer öfter in Eigenmanns Garage auf und schauten dem Handwerker bei der Arbeit zu. «Manchmal war das ganz gut», erinnert sich dieser. «Da ich alleine war, konnte ich hin und wieder einen brauchen, der mir half, schwere Teile herumzutragen. Und weil ich selber noch ziemlich jung war, verstand ich mich mit den Schülern bestens. Die Buben waren begeistert von all der Technik, die da so herumstand.»

Walter Stürms unbeschwerte Jugend hatte kaum begonnen, da war sie schon vorbei. Was wirklich passierte, lässt sich nicht mehr genau eruieren.

Axel Schönenberger war bei der Tat dabei. Vielleicht war er sogar die treibende Kraft. Er lebt noch immer in der Umgebung. Auf Anfragen reagiert er mit heftiger Ablehnung.

Fest steht, dass Stürm zusammen mit Schönenberger versucht hat, eine Serviceangestellte zum Sex zu zwingen. Die beiden sollen die Gastarbeiterin aus Italien gezwungen haben, sich nackt auszuziehen. Danach hätten sie die Frau an einen Baum gefesselt und zu vergewaltigen versucht. Zur Zeit der Tat muss Stürm rund 15 Jahre alt gewesen sein. Es ist nicht klar, welche Rolle er bei der Tat gespielt hat. Hatte er Schönenberger angestiftet oder war es andersherum?

Marlies Walz hat beide gekannt. Sie verteidigt Stürm. «Für solche Dinge hatte ich immer ein gutes Gespür», sagt sie und betont, dass Stürm nie ein zudringlicher Typ gewesen sei. «Im Gegenteil.» Einmal sei sie in Ufernähe in einem Boot von einem anderen Jungen bedrängt worden. Stürm habe das gesehen. Er sei sofort ins Wasser gesprungen und habe sie aus den Fängen des anderen befreit. Deshalb glaube sie, Walter sei bei der Tat mit der Gastarbeiterin nur ein Mitläufer gewesen.

Trotzdem wurde er von der Schule verwiesen. Vom Kantonsgericht Sankt Gallen wurde er 1958 der versuchten ‹Nötigung zu einer unzüchtigen Handlung› schuldig gesprochen. Das war seine erste Vorstrafe.

Bei den Stürms war es Usus, dass alle Männer in ein teures Internat gingen und die Matur machten. Im Fall von Walter war daran jetzt nicht mehr zu denken. Er sollte eine Lehre machen.

Walter war in dieser Zeit immer häufiger bei Thomas Eigenmann in der Werkstatt. Wäre der nicht der ideale Lehrmeister? Die Stürms trugen dem Handwerker ihr Anliegen vor. Eigenmann hatte vorher noch nie einen Lehrling gehabt. Und eine Meisterprüfung hatte er auch nicht. Doch einen Mitarbeiter konnte er schon brauchen, und weil Walter oft bei ihm war, konnte er davon ausgehen, dass der Industriellensohn sich wirklich für das Handwerk interessierte.

Auf Anfrage und nach einer Prüfung seiner Qualifikationen erteilten die Behörden Eigenmann die Bewilligung, Walter Stürm zum Karosseriespengler ausbilden zu dürfen. Am 4. Dezember 1958 unterschrieben die Beteiligten den Lehrvertrag. Walter konnte anfangen. Er zeigte sich interessiert. Das Leben des jungen Mannes schien wieder in geregelte Bahnen zu kommen.

Im ersten halben Jahr konnte er nicht viel mehr tun, als dem Lehrmeister hinterherzulaufen und ihm zuzuschauen. Danach konnte er auch eigene Arbeiten übernehmen. «Er war ein guter Lehrling», sagt Eigenmann. Walter sei stets pünktlich zur Arbeit erschienen und habe fleissig gearbeitet, ohne zu murren.

Eigenmann hatte während seiner Wanderjahre gelernt, wie man neue Karosserieteile herstellt und sie diese millimetergenau an das zu reparierende Automobil anpasst. «Das lernte Walter ziemlich schnell», sagt Eigenmann. Auch die Kunst des Schweissens hat er ihm perfekt beigebracht.

Die erste Zeit der beiden Männer verlief problemlos. Doch bald musste Eigenmann feststellen, dass sich Stürm in seiner Freizeit offenbar nicht so tadellos betrug wie am Arbeitsplatz. «Etwa jedes halbe Jahr hatten wir die Polizei in der Werkstatt», erinnert er sich. Walter hatte ein Motorrad der Marke Kreidler Florett. Doch der Tüftler konnte es nicht dabei belassen, die Maschine so zu fahren, wie er sie gekauft hatte. «Er frisierte den Töff. Das frisierte Motorrad machte einen enormen Lärm. Die Polizei war schnell zur Stelle.»

Bald wurden Stürms Vergehen schwerer. Es folgten die ersten Auto- und Motorraddiebstähle. Mit 17 wurde er deswegen und wegen Fahrens ohne Führerschein von einem Jugendgericht zu einer Busse von 60 Franken verurteilt.

Eigenmann steht trotzdem noch heute zu seinem Lehrling. «Was er getan hat, ist doch nicht so schlimm», sagt er. «Vielleicht hätte man dem Buben einfach zum richtigen Zeitpunkt ein paar hinter die Ohren geben müssen.»

Dann erwarb Stürm den Führerschein. Und wieder waren ihm die gängigen Modelle zu langsam. Rennwagen mussten her.

Um sich die entsprechenden Autos leisten zu können, bestahl er wieder den Vater, wie den Unterlagen einer späteren Gerichtsverhandlung zu entnehmen ist. Hinter Vaters Rücken verkaufte Stürm Pneus aus der Firma und kaufte sich vom Erlös einen Rennwagen für 8000 Franken.

Vierzig Jahre später beschrieb er seine Faszination für den Rennsport in einem Brief an den Journalisten Urs Frieden:

Autorennen haben mich von klein auf so fasziniert, dass ich eine Gänsehaut kriegte, wenn ich einen Rennmotor nur schon hörte [...] nach Erklärungen dafür habe ich nie gesucht. 1961 habe ich mit einem Cooper Formel 3 in Saint Ursanne-Les Rangiers zum ersten Mal an einem Rennen teilgenommen. 1962/63 fuhr ich dann so ziemlich überall in Europa, wo es Rennen gab, mit und das Ergebnis war sehr viel Spass, gute Erlebnisse und Erkenntnisse und die Einsicht, dass die Konkurrenten offenbar bedeutend talentierter waren als ich, womit die Sache für mich dann auch gegessen war.

Unter der Ägide des strengen, aber verständnisvollen Lehrmeisters Eigenmann war es Stürm scheinbar doch noch gelungen, die schwierigsten Klippen der Adoleszenz zu umschiffen. 1962 schloss er die Lehrabschlussprüfung mit einem überragenden Notendurchschnitt von 1,2 ab. Die Bestnote 1 verpasste er also nur um Haaresbreite.

Die Abschlussfeier war für alle ein Moment der Erleichterung. Thomas Eigenmann war zufrieden, dass er seinen ersten und zudem schwierigen Lehrling so erfolgreich ans Ziel gebracht hatte. Der Vater erlebte einen der seltenen Momente des Stolzes auf seinen Sohn. Und Stürm war froh, dass seine Lehrzeit zu Ende war. Danach arbeitete er nämlich keinen einzigen Tag mehr bei seinem Chef.

Nur einmal kam er noch in die Werkstatt zurück. Er stahl Eigenmann dessen Händlerautonummer und den dazugehörigen Fahrzeugausweis.

Daneben stahl er Autos.

Die nächste Verurteilung liess nicht lange auf sich warten. Wegen wiederholten Diebstahls verurteilte ihn das Bezirksgericht Rorschach zu einer bedingten Gefängnisstrafe von zwei Monaten. Die erste Haft rückte näher.

Stürm war jetzt ein erwachsener Mann.

Laut verschiedenen Steckbriefen war er 177 cm gross. Doch er wirkte kleiner. «Er war nur etwa 160 cm», sagt ein späterer Komplize. Auch seine Jugendfreunde schildern ihn als zarte Erscheinung. Bei den Gleichaltrigen galt er als Sonderling. «Auf Frauen machte er keinen Eindruck», sagt einer.

Stürm tat sich mit einem jungen Mann zusammen, dessen Wesenszüge seine Defizite wettmachten. Hans Brückner, der nicht mehr lebt, war gross und attraktiv. «Er sah aus wie Alain Delon», erinnert sich ein Weggefährte. Die Damenwelt umschwärmte ihn. Stürm versuchte den Antipoden Brückner an sich zu binden. Auf einem nahegelegenen Gehöft hatte er unterdessen eine Werkstatt aufgemacht. «Dort standen immer 50 bis 60 Autos herum», erinnert sich ein anderer. Auf Brückner müssen diese Autos eine so grosse Anziehungskraft ausgeübt haben, dass er immer mehr Zeit mit Stürm verbrachte. Brückner habe für Stürm sogar manchmal den Chauffeur gespielt. Stürm habe dann im Fond des Wagens Platz genommen, während Brückner den Wagen pilotierte und dabei eine Uniformmütze trug. Einem späteren Kumpan erzählte Stürm, dass er mit Brückner als Chauffeur einmal in einem gestohlenen Rolls-Royce vor einem Sankt Moritzer Nobelhotel vorgefahren sei und sich dort als Prinz von Saudi-Arabien ausgegeben habe. Die beiden hätten in der Nobelherberge logiert und seien ein paar Tage später wieder verschwunden. Ohne die Rechnung zu bezahlen, wie sich versteht. Ob sich die Anekdote tatsächlich oder nur in Stürms Fantasie zugetragen hat, ist letztlich unwichtig.

Brückner führte Stürm in den Kreis seiner Freunde ein. Die Männer, die sich schon seit der Kindheit kannten, waren alle ungefähr 20 Jahre alt. In Rorschach und Goldach gab es damals die Tradition, dass jeder junge Mann einmal für einige Zeit im Ausland gewesen sein musste. «Danach durfte man immer wieder zurückkommen. Aber wer den Schritt in die Fremde nie wagte, der war gesellschaftlich erledigt», sagt Erich Rueber, einer von Brückners Freunden.

Die meisten Mitglieder von Brückners Clique waren gerade dabei, ihre Auslandserfahrung zu machen, zu planen oder zu verdauen. Manche von ihnen waren nur am Wochenende daheim und erzählten bei diesen Gelegenheiten, wie es ihnen in der Fremde ergehe. Stürm, der älter war als diese Männer, hatte nichts dergleichen zu erzählen. Er hatte noch nie eine Anstellung im Ausland gehabt. Wenn er die Schweiz verliess, dann nur, um Autos zu klauen.

Die Gruppe traf sich regelmässig im Café Niederer an der Hauptstrasse in Rorschach. Das Lokal ist noch heute am selben Ort. Auch Stürm tauchte dort immer öfter auf. Während die anderen laut und heftig über die verschiedensten Themen debattierten, sass Stürm nur da und hörte den Kollegen zu. Zur Diskussion trug er nichts bei. Er fiel durch sein absonderliches Verhalten auf, wie verschiedene Mitglieder der Gruppe unabhängig voneinander berichten. «Stürm hatte immer eine geschnitzte Holzfigur dabei», sagt einer. «Sie hatte die Form eines Penis.»

«Wenn junge Frauen ins Café Niederer kamen, hat Stürm die Holzfigur hervorgezogen und hinter dem Rücken der Mädchen obszöne Andeutungen gemacht.» Manche Männer fanden die Gesten unterhaltsam, andere nicht. Klar ist aber, dass Stürms Verhalten dazu beigetragen hat, dass er innerhalb der Gruppe ein Sonderling blieb. «Er war irgendwie pervers», sagt ein anderer.

«An den Wochenenden traf man sich zum Tanz im Seerestaurant Rorschach. Die Männer warteten mit Anzug und Krawatte auf und versuchten, den Mädchen den Hof zu machen und sie zu einem Kuss zu überreden. Was in den meisten Fällen misslang», erinnert sich einer aus der Gruppe.

Einmal hatte sich Stürm heftig in ein Mädchen von Goldach verliebt. Sein Werben jedoch blieb erfolglos, was ihn sehr betrübte, berichtet die Jugendfreundin Marlies Walz. Auch sie habe ihn nur als Kollegen geschätzt, der ihr Fahrunterricht erteilte und mit dem sie unbeschwerte Stunden verleben konnte. «Ich habe ihm schnell zu verstehen gegeben, dass zwischen uns nichts läuft», erinnert sie sich. «Lass uns Freunde sein», sagen Frauen in solchen Momenten. Stürm habe das immer respektiert.

Weil er bei den einheimischen Mädchen keinen Erfolg hatte, wich er ins Ausland aus. An die Tanzanlässe im Seerestaurant brachte er Frauen aus dem benachbarten Österreich mit, Mädchen, die niemand kannte. «Die schienen eher von der billigen Sorte zu sein», sagt einer der Männer aus dem Café Niederer. «Solche halt, die sich mit Geld beeindrucken liessen.» Bei diesen Frauen scheint Stürms Charme besser angekommen zu sein. «Er brachte aber nie zweimal die Gleiche mit.»

Stürm fuhr die fremden Damen jeweils mit teuren Autos an die Tanzabende. Manchmal soll er vor dem Restaurant mit dem Gaspedal gespielt und Kavalierstarts hingelegt haben.

Auch die Kommunikation mit Männern lief über Autos.

Stürm hatte sich ein Rennauto Lotus Formel 3 gekauft. Auf einem noch unfertigen Teilstück der Autobahn oberhalb von Rorschach reizten Stürm, Hans Brückner und ein weiterer Kollege den Wagen aus. Manche wollen das Röhren des Boliden bis ins Dorf gehört haben.

Die meisten Gleichaltrigen waren weit davon entfernt, sich ein eigenes Auto leisten zu können. Noch lange nach der Lehre liehen sie sich Vaters Wagen aus, wenn sie etwa nach Zürich an ein Jazzkonzert gehen wollten.

Stürm fing an, diesen Bedarf zu decken. Wenn einer ein Auto brauchte, dann lieh er ihm einen der Alfas, die bei ihm in der Werkstatt standen. Dank seinen Autos gelang es Stürm immer, eine Gruppe junger Motorenthusiasten um sich zu scharen. Dabei war er tunlichst darauf bedacht, dass die Autos der Polizei nicht auffielen.

Einmal hatte einer auf halber Strecke nach Paris eine Panne mit einem von Stürms Wagen. Als dieser davon erfuhr, schickte er sofort einen Vasallen aus seiner Werkstatt hin, um das Auto zu reparieren. Er wollte um jeden Preis verhindern, dass der Pannendienst das Fahrzeug genauer unter die Lupe nahm.

Die meisten Kollegen machten sich über Stürms Treiben wenig Gedanken. In ihren Augen war er ein kleiner Angeber, der im Luxus schwamm und sich damit wichtigmachte. Erich Rueber wollte dieser Fraktion nicht angehören. Rueber störte sich daran, dass manche seiner Freunde schwach wurden und Stürm gehorchten, nur weil sie geblendet waren von seiner Grosszügigkeit.

Einmal im Café Niederer stellte er Stürm zur Rede. «Woher hast du die Autos und all das Geld?», schrie er ihn an. Er warf Stürm vor, er sei ein Dieb, der mit seinem Luxus den anderen den Kopf verdrehe. Rueber packte Stürm am Kragen. Es kam zu einem Handgemenge.

Rueber hatte sich nicht getäuscht. Obwohl Stürm damals erst knapp 22 Jahre alt war, stand er schon mit beiden Füssen in der Delinquenz.

In seiner Garage verkaufte er Luxusautos. Deren Lieferfristen waren bei anderen Händlern unerträglich lang. Deshalb stahl er die Wagen im Ausland zusammen und schmuggelte sie in die Schweiz. Als sich Kunden bei anderen Garagisten beschwerten, dass Stürm dieselben Modelle viel schneller liefern konnte, begannen die Ausgebooteten der Sache auf den Grund zu gehen.

Dann liess sich Stürm auch noch beim Versuch eines Versicherungsbetrugs erwischen, den er zusammen mit Hans Brückner geplant hatte.

Am 5. November verurteilte ihn das Bezirksgericht Sankt Gallen wegen gewerbsmässigem Diebstahl, wegen Betrug, vollendetem Betrugsversuch, einfacher und qualifizierter Urkundenfälschung, Begünstigung und wegen fortgesetztem Missbrauch von Ausweisen zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von drei Jahren. Dieses Urteil zementierte Stürms Schicksal. Es folgte ein Dauerregen von Verfahren. Stürm war in so viele Prozesse verwickelt, dass die Juristen 20 Jahre später Mühe hatten, die einzelnen Urteile auseinanderzuhalten.