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Dr. Sâra D. Aytaç

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Beschreibung

Dr. Sâra Aytaç, Oberärztin in der Unfallchirurgie, liefert einen schonungslosen Bericht aus ihrem Klinikalltag: Sie berichtet von den vergessenen Alten, deren adäquate Behandlung keinen Profit verspricht. Sie erzählt von lebensgefährlichen Kommunikationsproblemen im Schmelztiegel Krankenhaus, ebenso fatalen Personalengpässen, unqualifizierten Aushilfskräften und dem Ausverkauf des ärztlichen Ethos. Ihre schockierenden Geschichten aus Notfallaufnahme, Schockraum und OP zeigen: Wir brauchen endlich wieder ein menschliches, das heißt allein am Patientenwohl orientiertes Gesundheitssystem.

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungProlog3 Uhr nachts: Die Welt und mein Patient schlafen24/7: Immer zu DienstenDienste ohne EndeWarten, bis der Arzt kommtLangeweile gepaart mit Katastrophen: Der ganz alltägliche Horror der NotfallmedizinFehlalarm?Menschlichkeit, ein letztes MalKein goldener SchussHappy End?Schöner Wohnen und SterbenDie WG des HerrnHappy End, leider ausverkauftDon’t blame lifeNotaufnahme, das Absurditätenkabinett: Von Notfall-Shoppern und Helmut DreikommaachtEin langer Weg für das bisschen IxodidaLumbo-Dumbos und null KörpergefühlDer letzte LuxusWut ohne MorgenWo darf das Päckchen hin?Zu spät, zu kaputt, zum TeufelMasturbifanten und Lebensgefahr durch ÜberforderungJeder findet einen OperateurFick dich, Helikopter-AuraEndstation HelmutZombieprojekt ZNANervige Gerontosaurier: Der missachtete betagte PatientDas Drama nimmt seinen LaufSchneegestöberGrausames Déjà-vuProphylaxe ist nicht profitabelIst doch kein Beinbruch? Doch!Heilung!DNRPropofol marsch!Quo vadis, und vor allem mit wem? Von Perlhühnern, Dandys und keinem NachwuchsNull InteresseKörperpflegeMeerschweinchenKajütentennisAbstiegskampfLaienschauspieler gesucht: Dein Arzt, dein SchicksalGuten Tag, Sie haben einen Arzt bestellt!Verstehn Sie?Ein Messer wäre jetzt nettFrauen und UhusBlut in der BirneDie Guten gehenKann kommen, immer, alles: Vom Schockraum und anderen TheaternMensch unter LkwKaputte Ärzte, na und?Hauptsache TittenEin wiederkehrendes ProblemPatient zweiter KlasseReit- und FeldstudienFür die Tonne?KopfschussschmerzenDas gefickte EichhörnchenBBQ, unnerumBissfestLeergeblutetWas darf’s denn bitte sein?ErnieWir brauchen das GesichtProblemwolfDixi ohne BluesDas Bauchgefühl der KatzeTicking ClockHippokrates’ langes Sterben: Der Ausverkauf des ärztlichen EthosUnwürdiges CockpitSchon lange egalDiagnose: privatversichertVia falsa: Erweiterter Suizid und nichts wie weg!Der LungenfrisörFünf-Dollar-NutteKaputtgeschrubbtRuhe vor dem Sturm: Große und kleine Krankenhäuser am Rande des WahnsinnsAbschläge, Strafen, Schließungen3 Uhr nachts, mal wiederDanksagungAnmerkungen

Über dieses Buch

Dr. Sâra Aytaç, Oberärztin in der Unfallchirurgie, liefert einen schonungslosen Bericht aus ihrem Klinikalltag: Sie berichtet von den vergessenen Alten, deren adäquate Behandlung keinen Profit verspricht. Sie erzählt von lebensgefährlichen Kommunikationsproblemen im Schmelztiegel Krankenhaus, ebenso fatalen Personalengpässen, unqualifizierten Aushilfskräften und dem Ausverkauf des ärztlichen Ethos. Ihre schockierenden Geschichten aus Notfallaufnahme, Schockraum und OP zeigen: Wir brauchen endlich wieder ein menschliches, das heißt allein am Patientenwohl orientiertes Gesundheitssystem.

Über die Autorin

Dr. Sâra D. Aytaç ist Oberärztin für Unfallchirurgie und Orthopädie am SHG-Klinikum in Idar-Oberstein. Geboren 1983 in Wolfenbüttel, verbrachte sie ihre Jugend in Berlin und Istanbul. Nach ihrem Medizinstudium in Heidelberg absolvierte sie ihre Facharztausbildung an einem Haus der Maximalversorgung, an dem sie zuletzt die stellvertretende Leitung der Sektion für Akuttraumatologie war. Um einen ganzheitlichen Blick zu bekommen tourte sie danach mehrere Monate als Honorarärztin durch diverse städtische, private und kirchliche Krankenhäuser und stellte fest: Das Leiden der Betroffenen und der ökonomische Irrsinn sind überall gleich.

Dr. med. Sâra D. Aytaç

AUSGEBLUTET

Als Ärztin im Schockraum unseresmaroden Gesundheitssystems

Lübbe

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Michael Schickerling, München

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

Einband-/Umschlagmotiv: © Jo Kirchherr Photographie, Köln

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-1856-1

luebbe.de

lesejury.de

Für Phaidros.Mal wieder.

Prolog

Wir befinden uns heute, im Dezember 2021, mitten in der vierten und hoffentlich letzten Welle der gegenwärtigen Geißel der Menschheit, SARS-CoV-2. Und wie absurd es auch klingen mag: Einem höchstens 140 Nanometer durchmessenden Virus könnte gelingen, was all die Brandbriefe, empörten Aufrufe, Streiks und Proteste der Beschäftigten im Gesundheitssystem seit Jahren vergeblich versuchen klarzustellen: Es muss sich Grundlegendes ändern.

Das Virus selbst führt dazu, dass wir nicht umhinkommen, dieses System wie unter einem Mikroskop zu betrachten. Mit Schrecken zeigt sich bei einer 250-fachen Vergrößerung ein Zellverband, dessen einzelne Zellen im Sterben begriffen, apoptotisch, sind: Zellen, die keine intrazellulären Ressourcen mehr haben, keine Verbindungen mehr zu dem umliegenden Gewebe aufweisen und randvoll mit toxischen Metaboliten sind. Analog zu den schwindenden und aufgebrauchten personellen Ressourcen, Kompetenzen, Flexibilität und letztlich Erfolgsaussichten dieses ganzen Systems.

Wie es sich nun anfühlt als gewissenhafter Arzt, im Speziellen als Chirurg, in diesem deutschen Gesundheitssystem zu arbeiten?

Zum besseren Verständnis und Empathie dieser Situation gegenüber zitiere ich einen sehr engagierten Kollegen, der diesen Einsatz entgegen allen Widrigkeiten brachte und dies regelmäßig mit seiner eigenen Gesundheit bezahlte: »Wir fahren mit 300 Kilometern pro Stunde über die Autobahn, das Gaspedal ist komplett durchgedrückt, wir können uns vor lauter Angst und Panik auf nichts anderes mehr konzentrieren als auf die paar Meter Asphalt vor unserer Nase. Aber unsere Sichtweite beträgt – drei Meter.« Drei Meter sind nicht viel. Der tödliche Frontalzusammenstoß ist absehbar, deswegen sollte jemand freundlich vorab darauf hinweisen.

Es ist mehr eine Pflicht, gar eine Bürde, als dass es eine Erleichterung oder gar Absolution bedeuten könnte. Dieses Buch ist entstanden aus ärztlichem Ethos, der Pflicht und der Loyalität einem ausgelieferten Patienten gegenüber, der in der rasanten Abwärtsspirale des deutschen Gesundheitssystems und dem einhergehenden Ausverkauf der Versorgungsqualität der große Verlierer und Leidtragende ist. Doch während die zuständigen Politiker und Lobbyisten mit schweißnassen Händen und hechelnd wie fette Freier vor ihren noch fetteren Lieblingshuren aus lauter Angst vor einer Niederlage in der nächsten Wahl diese bittere Realität als harmlose Nichtigkeit abtun, wissen alle meine Kollegen und ich: Es geht nicht mehr um die Frage, ob Patienten zu Schaden kommen, sondern nur noch um das Ausmaß der Folgen einer zunehmend schlechteren Medizin.

Ja, die Angst der Aesculap-Schlange um ihren klapprigen Arsch ist sehr berechtigt. Denn leider beruhen alle Schilderungen auf der nackten, zum Himmel »Scheiße!« schreienden Wahrheit, wie sie sich jeden Tag aufs Neue in zahlreichen Variationen in leider zu vielen deutschen Krankenhäusern wiederholt.

3 Uhr nachts:Die Welt und mein Patient schlafen

Ich bin Chirurgin und stehe im OP. Warum genau weiß ich nicht mehr, nach knapp zwanzig anstrengenden Stunden im Dienst bin ich zu müde, mich darüber aufzuregen, dass der Operationspunkt mühelos medizinisch sinnvoll auch morgen Vormittag von einem ausgeruhten Team gemacht werden könnte. Aber das morgige OP-Programm ist voll. Und mein Chef, der lange schon keine Dienste mehr machen muss, hat festgelegt, dass alles nachts wegoperiert wird, um das Programm des Folgetags nicht durcheinanderzubringen.

Meine Waden sind aus Blei, meine Augen brennen in der trockenen Luft. Ich habe Durst. Mein Assistent hängt schlafend an einem OP-Haken – ich wecke ihn, als ich diesen neu platziere. Die Schwester ist sonst immer in der Geburtshilfe und Frauenheilkunde eingesetzt, sie kennt keinen der Bohrer oder sonst irgendein Instrument des Oberschenkelnagels für diesen hüftgelenksnahen Bruch. Die OP-Zeit wird dadurch mindestens zwanzig Minuten länger dauern. Der Patient ist 82 Jahre und krank, hat gute Chancen, die OP nicht wegzustecken. Ich gähne unter meinem Mundschutz. Mein Assistent zuckt abermals zusammen, als ich seine Hand berühre und den Haken neuerlich umsetze.

»Tschulligung, rough day at the office today«, murmelt er und schüttelt seinen Kopf, um wach zu werden. In Gedanken bin ich bei der Blutkrebspatientin, die ich bei einem komplexen Schulterbruch heute zwei Stunden lang unter hochkarätigem seemännischem Gefluche versorgt habe. Ich hatte für sie postoperativ ein Bett auf der Intensivstation reserviert, denn aufgrund ihrer desolaten Blutwerte brauchte sie viele Blutkonserven und ließ sich dennoch kaum stabilisieren. Wenige Minuten vor Beendigung der OP kam der Anruf von der Intensiv: Man könne kein weiteres Bett belegen, es gebe nicht ausreichend Pflegepersonal. Ich blicke ungläubig zum Anästhesisten, der mir die großartige Nachricht überbringt. Ich frage: »Und nun? Soll ich die Patientin mit heimnehmen?« Sie landet über Nacht im Aufwachraum, die für sie sicher unangenehmste und für alle Beteiligten aufwendigste dämliche Lösung. Ich schaue jede Stunde nach ihr und fühle mich mies, dass sie hier wie auf der Autobahnraststätte zwischengeparkt ist.

Unsere Blutkonserven neigen sich dem Ende zu, eine Operation für den Folgetag wird abgesetzt, weil der Patient selbige Blutgruppe hat und meine Patientin die letzten zwei Konserven bekommt. Nachschub ist nicht in Sicht, und zwar nachhaltig nicht – Blutspende in Zeiten von Urlaub und Pandemie ist so mies wie schon lange nicht mehr. Hätte ich gewusst, dass einige Tage später ein Kollege in den Abendstunden mit einer Genehmigung in letzter Sekunde und ein paar Styroporboxen auf dem Rücksitz nach Luxemburg in seinem privaten Pkw bollern wird, um Blutkonserven mitzubringen, wäre ich sicher auch jetzt um kurz nach 3 Uhr morgens wach – und könnte heulen.

Im Moment bin ich es wegen etwas anderem. Nicht wegen der Operation, die ich gerade mache: Die ist Routine, und ich beherrsche sie auch müde und auf Hirnstammniveau, selbst wenn es ätzend ist. Aber mein Blick fällt auf eine Führungshülse. In ihrem kanülierten, also hohlen Teil, sehe ich etwas Dunkles stecken. Ich lasse mir eine Pinzette geben und fische vorsichtig nach dem Stückchen. Es ist ein Stückchen Knochen von der Vor-OP.

Steril ist das nicht, steril geht anders: Aufbereiten der benutzten Operationsinstrumente im Sinne einer Dampfsterilisation, die alle bekannten Keime abtötet und das Material wieder einsetzbar macht für die nächste Operation. Doch das Personal im Sterilisationsbereich ist ausgedünnt, und man hat auf eine Leihfirma zurückgegriffen. Das weiß ich. Dass diese jedoch nicht weiß, dass man alle mobilen Teile bis ins Letzte auseinanderschrauben muss, bevor man sie in den Sterilisator verfrachtet, ist mir neu.

Das benötigte Sieb haben wir nicht noch mal. Ich kann nicht auf ein anderes Verfahren umsteigen: Das würde eine Verlängerung der OP um mindestens 90 Minuten und ein sehr schlechtes Ergebnis seitens der Bruchstabilisierung bedeuten – dem Patienten nicht zumutbar. Ich kann den Bruch aber so nicht weiter versorgen, denn das Sieb ist per definitionem nicht steril, da sich Gewebe vom vorangegangenen Patienten darin befindet. Mein Hirn steht still. Ich lasse alle Instrumente in Desinfektionsmittel einlegen, fünf Minuten lang, dann klar abspülen. Und mache weiter.

Mein Assistent hat nichts mitbekommen, er lehnt an dem OP-Tisch und hat die Augen zu. Jede Minute rinnt mir der Schweiß unter der kiloschweren Bleischürze den Rücken und die Beine hinab. Ich möchte ein Röntgenbild. Mein Springer ist keine erfahrene OTA, die wir gleich näher kennenlernen, sondern Zahnarzthelferin. Ich sage ihr, sie möge das Röntgengerät weiter hinunter zum Boden fahren, um einen größeren Bildausschnitt zu bekommen. Sie macht ein Bild, und ich bekomme nicht mit, dass sie gar nicht bodenwärts gefahren ist. Ich schaue auf den Monitor. Warum sehe ich den Bereich unterhalb der Schoßfuge? Ich wollte doch Hüfte?

»Warum machen Sie ein Bild von der Symphyse?«

»Von der was?«

»Von dem vorderen Beckenring, da, wo die Eier dran hängen.«

»Sie haben doch gesagt: Hodenwärts.«

»Bodenwärts! Warum zum Teufel sollte ich ein Bild von den Klöten haben wollen, wenn ich das Hüftgelenk operiere?!«

Eine nicht gerechtfertigte Röntgenuntersuchung ist Körperverletzung. Das Sieb ist nicht steril. Meine Blutkrebspatientin gurgelt im Aufwachraum vor sich hin. Die OP-Schwester sieht das Sieb zum ersten Mal – und würde den richtigen Bohrer nicht mal dann finden, wenn ich mit übermenschhohen flackernden Neonlettern draufzeigen würde. Mein Assistent schläft. Dem Patienten werden die Eier verstrahlt.

Die Zeit, die ein Chirurg tatsächlich am Patienten performt und ihm sein ganzes Können zugutekommen lässt, beträgt nur einen Bruchteil der gesamten Operation. Ich laufe im höchsten Drehzahlbereich, aber auf der Straße kommt keine Performance an. Sie verpufft in einem Wirrwarr aus Unqualifiziertheit, Inkompetenz, Desinteresse und schierer Überlastung. Und diese Operationen können dem Operateur tatsächlich körperliche Schmerzen zufügen, vor lauter nicht selbst verschuldeten Katastrophen und einem blutenden Gewissen. Es fühlt sich an, als würde man mit seinem weichen, fleischigen Teil der empfindsamen Seele über rauen dreckigen Asphalt gezogen werden. Eine wunde chirurgische Seele.

Diese Operation hier ist so eine.

Meine Augen brennen. Ich will nur noch, dass die Sonne aufgeht. Und dann schlafe ich drei Tage lang. Und suche mir ’nen neuen Job, in dem ich nicht alle Fehler am Patienten von anderen zu verantworten und auf meinen Schultern zu tragen habe.

24/7:Immer zu Diensten

Wo ist der Unterschied zwischen Gott und einem Unfallchirurgen? Gott glaubt nicht, dass er Unfallchirurg ist. Aber selbst der Chirurg, der – verdient oder unverdient – bis zum Hals in Selbstverliebtheit badet, benötigt ein Team.

In Abhängigkeit vom Schweregrad der Operation, vorgegeben durch Häufigkeit einer Verletzung oder Erkrankung, gepaart mit individuellen anatomischen Gegebenheiten, setzt sich das OP-Team so zusammen: aus einem dem Anspruch des Eingriffs gerecht werdendem Chirurgen mit Fach- oder Oberarztqualifikation, meist einem erfahrenen Assistenten und einem jungen Assistenten oder Medizinstudenten »fürs Grobe«, also Arbeiten auf Zuruf ohne Mitdenken.

Man benötigt zudem einen Operationstechnischen Assistenten (OTA), der die Instrumente anreicht und idealerweise den nächsten OP-Schritt und mögliche Komplikationen kennt. Der OTA steht allerdings wie der Chirurg mit seinem Team eingewaschen, also steril, am Tisch. Material und Instrumente, die man während der Operation braucht, werden vom Springer herangebracht, der, nicht steril, frei für diese Dinge verfügbar ist. Ebenso wie für das Bedienen und Heranfahren des Röntgengeräts, das Umstellen der Lampen oder zum Ausschalten der Deckenbeleuchtung und anderes mehr.

Auf der Seite der Anästhesie haben wir den Narkosearzt, der zusammen mit einem Anästhesiepfleger die Narkose einleitet, überwacht und zum gewünschten Zeitpunkt wieder beendet. Eine Vollnarkose muss aktiv beendet werden, eine Rückenmarksnarkose klingt langsam ab und erlischt durch Abbau des Medikaments in der Rückenmarksflüssigkeit.

Somit kommen wir bei einem handelsüblichen Eingriff auf sieben Beteiligte, den Patienten ausgeschlossen. Das ist die ideale Situation und personelle Ausstattung. Diese korreliert verdächtig selten mit der Realität und lässt sich eher mit folgendem Gleichnis beschreiben:

Sie sollen mit Ihren sieben Ruderkameraden und dem Steuermann im Achter olympisches Gold holen. Und den Weltrekord brechen. Weil Sie danach noch auf eine Folgeveranstaltung müssen. Wenige Minuten vor dem Start erfahren Sie per Zufall, dass zwei Ihrer Kollegen vom Betriebsrat nach Hause geschickt wurden, weil sie aufgrund ihrer immens hohen Überstundenzahl das Bootshaus respektive das Ruderboot nicht mehr betreten dürfen. Einer ist an ein Nachbarboot ausgeliehen, das sonst überhaupt nicht ablegen kann. Der Steuermann muss ein weiteres Boot am anderen Ende der Wettkampfstrecke mitbetreuen und ist berechtigterweise entsprechend am Ausrasten und brüllt Sie ungeniert an. Von den verbliebenen fünf rudernden Kollegen hat einer gestern gekündigt, noch während seiner Probezeit. Einer muss zu Hause die Kinder hüten, weil der Partner ebenfalls im Bootshaus arbeitet und dort völlig unersetzbar ist; er wird also auf gar keinen Fall pünktlich zum Startschuss erscheinen. Der Drittletzte hat seine Antidepressiva gegen den Burn-out durcheinandergebracht und wird erst in fünf Tagen wieder aufwachen. Die übrigen beiden sind zwar da, verstehen aber kein Wort Deutsch und waren vorher kein einziges Mal beim Training, kurzum: Sie können einen Skull nicht von einem Schneebesen unterscheiden.

Das sind die Umstände tagsüber. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fallen nach Mitternacht keine qualifizierten Fachkräfte vom Baum und zum Beispiel direkt in den OP-Saal.

Und so kommt es, dass des Nachts bei einer Notsectio, dem häufigen Kaiserschnitt, das gesamte Team inklusive Narkosearzt und -pfleger, OTA und Springer aus dem Saal rennen und mich mit meinem Patienten allein lassen. Der hängt derweil an der Beatmungsmaschine oder liegt mit Rückenmarksnarkose friedlich und nichtsahnend auf dem OP-Tisch oder darf die Kacheln an der Decke zählen. Es wäre ja viel zu teuer, zwei komplette Teams in Bereitschaft zu halten! Und so müssen die verantwortlichen Chirurgen sich schon sehr gut überlegen, was nachts auf den Tisch kommt – nämlich nur absolute Notfälle. Für alles andere am besten nur Eingriffe, die man schlimmstenfalls auch komplett allein weiterführen kann.

Bei vielen Patienten führt das zu Unverständnis: »Ich kam mit einem gebrochenen Bein ins Krankenhaus, und diese Barbaren haben mich erst am nächsten Morgen operiert.« Stimmt. Denn auch diese Barbaren haben nur zwei Hände. Wie soll man einen gebrochenen Unter-, besser noch Oberschenkel allein operieren, wenn der Assistent in der Ambulanz mit nichtigem Blödsinn beschäftigt ist, bei Besoffenen Kopfplatzwunden zutackert oder auf Station die Arbeit der Schwester übernimmt, weil die sich weigert, Blut abzunehmen, oder sich nicht imstande sieht, eine Gipsschiene neu anzulegen? Wie soll ich gleichzeitig den in allen drei Ebenen im Raum wieder eingerichteten Knochen mit zwei Händen halten, einen Nagel oder eine Platte am Knochen befestigen, dabei noch röntgen und mir den Bohrer für die nächste Schraube anreichen?

Dienste ohne Ende

Endloses Elend, der Dienstplan! Man muss unterscheiden zwischen Anwesenheitsdiensten, bei denen man die ganze Zeit über physisch im Krankenhaus im Einsatz ist, und das nicht selten für vierundzwanzig Stunden. Diese Anwesenheitsdauer ist natürlich nur dann möglich, wenn die Bereitschaftsdienstzeit – sechzehn Stunden, die sich an einen regulären Acht-Stunden-Arbeitstag anschließen – eine durchschnittliche Belastung von unter 50 Prozent ausweist. Ist das nicht der Fall, benötigt man Schichtdienste – etwa auf einer Intensivstation, wo klar ist, dass 24 Stunden lang durchgeschafft wird.

Diese Anwesenheits- oder Vordergrunddienste werden in der Regel von einem Assistenzarzt, in großen Kliniken von einem Facharzt mit weiteren Kollegen, abgedeckt. Diese Vordergrunddienste sind durch das Engagement der Ärztegewerkschaft Marburger Bund auf maximal vier Stück im Monat begrenzt. Doch das gilt nur für Assistenzärzte respektive Vordergrunddiensthabende.

Als Oberarzt habe ich Rufdienste. Das heißt ganz praktisch: Meine reguläre Arbeitszeit geht beispielsweise um 16.15 Uhr zu Ende, und ab dann muss ich bis zum nächsten Morgen um 7 Uhr jederzeit telefonisch immer erreichbar sein – und wünschenswerterweise in spätestens zwanzig Minuten nach einem Anruf im Falle eines Notfalls, den der Assistent nicht allein behandeln kann, im Krankenhaus auflaufen. Während solcher Rufdienste kann ich also schlecht meine Freunde in weiter Entfernung besuchen oder im nahen Schwimmbad versacken, im Kino ohne Handyempfang sitzen oder einfach nur etwas Aufwändiges Kochen oder sonst irgendeine Arbeit anfangen, die keine Unterbrechung verträgt.

Für diese Rufdienste gibt es allerdings arbeitsvertraglich keine festgelegte Höchstgrenze. So kommt es, dass bei Krankheit oder Kündigung oder sonstiger Reduktion des Oberarztteams eines Krankenhauses plötzlich die verbliebenen beiden Oberärzte jeweils fünfzehn Dienste zu machen haben. Welchen Unmut das mit sich bringt, kann man sich gut vorstellen – vor allem, wenn die Verwaltung aus Gründen der Kostenersparnis auch keine Anstalten macht, dass die offene Stelle schnellstmöglich besetzt werden soll.

Wenn dann auch noch zu allem Überfluss mein Assistent im Vordergrund die fachliche Kompetenz einer kalten Dose Katzenfutter hat, werde ich stündlich – natürlich auch nachts – angerufen und fahre für jede noch so dämliche Bagatelle rein. Da ich aber »nur« Rufdienst hatte, muss ich am nächsten Tag um 7 Uhr wie immer zum Dienst erscheinen und den ganzen Tag die Ambulanz bespaßen, Sprechstunden abhalten und operieren.

Ein Rufdienst darf übrigens nur dann als solcher gelten, wenn die Inanspruchnahme bei nicht mehr als insgesamt 50 Prozent der Zeit liegt. Klar: Hierbei wird sehr viel getrickst, unter Druck gesetzt und die Belastung so hingebogen, dass man auch ja beim Modell »Rufdienst« bleiben kann. »Personalneutral« nennt sich das, ohne dass man, wie für ein zwangsläufig korrektes Schichtmodell notwendig, mehr Leute einstellen muss.

Als Arzt hat man vielleicht auch das außerordentliche »Glück«, in einigen der wenigen Häuser arbeiten zu »dürfen«, bei denen man beim Einstellungsgespräch so begrüßt wird: »Kommen Sie mir hier nicht mit dem Arbeitszeitgesetz, das interessiert hier niemanden. Wenn Sie Dienste haben, operieren Sie, was vom Tag noch aussteht, und wenn es die Wirbelsäulen-OP ist, die siebzehn Stunden dauert. Und am nächsten Tag gehen Sie auch erst, wenn das nächste Opus fertig ist. Sie sind hier schließlich an einer der besten Kliniken des Landes, da erwarte ich das als Minimum an Arbeitseifer und Einsatz von Ihnen, oder?«

Sehr, sehr gern hatte mein Kollege dort dann 36 Stunden am Stück gearbeitet und operiert, stoppte jeden Abend an derselben Döner-Bude, um auf den Stufen hoch in die Wohnung die einzige warme Mahlzeit des Tages zu sich zu nehmen. Die leere Flasche des obligatorischen Biers zum Betäuben für einen traumlosen Schlaf stellte er irgendwo ab. Als er eines Morgens feststellte, dass es nicht mal mehr drei Quadratzentimeter Platz in der Wohnung gab, um eine weitere leere Bierflasche abzustellen, da er es schlicht nicht zum Supermarkt schaffte, um diese zurückzubringen, merkte er: Es ist Zeit, einem anderen sich selbst hassenden Idioten die Möglichkeit zu geben, sich in dieser Maschinerie zu Tode zu arbeiten.

Solche Arbeitsalltage waren Usus in der Generation der jetzt berenteten alten Chirurgen: Man lebte für und in der Klinik, tagelang am Stück. Auch diese Umstände haben systematisch dazu geführt, alle potenziell Interessierten und Befähigten in die weite Flucht zu schlagen.

Warten, bis der Arzt kommt

Der erschreckende Trend der letzten Jahre zeigt in zunehmendem Maß eine Zentralisierung zahlreicher Arbeitsabläufe in Richtung auf die Schlüsselrolle Arzt. Nicht erst seit 2003 mit der Einführung der »German Diagnosis Related Groups«, also der berüchtigten Fallpauschalenvergütung und der damit einhergehenden notwendigen Fallzahlsteigerung bei immer geringerer Verweildauer im Krankenhaus, nimmt der außerärztliche und -pflegerische dokumentatorische und administrative Irrsinn stetig zu. Für die ureigene Tätigkeit der Patientenversorgung seitens Arzt und Pflege bleibt immer weniger bis gar keine Zeit.

Fragt man heute Pflegepersonal im mittlerweile fortgeschrittenen Alter, so wünschen sich fast alle ausnahmslos die Zeiten vor zahlreichen aufeinanderfolgenden Reformen herbei, die letztlich etwa Mitte der Neunzigerjahre in einer Unselbstständigkeitskatastrophe der Pflege mündeten. Aktuell zeichnet sich zwar stellenweise eine langsame Wiedereingliederung der damals abgegebenen pflegerischen Tätigkeiten ab, diese sind jedoch nicht verbindlich oder gar flächendeckend. Blutentnahmen, das Legen von Venenverweilkanülen für die Gabe von Infusionen, unkomplizierte Verbandswechsel, Anlegen einfacher Schienen oder ruhigstellender Verbände sind nur einige wenige Beispiele der Tätigkeiten, die damals wieder in den ärztlichen Aufgabenbereich zurückgegeben wurden. Aber ganz ehrlich: Braucht es dafür wirklich einen prächtigen Facharzt für irgendetwas oder gar eine Unfallchirurgin wie mich? Können das erfahrene Pflegekräfte nicht sehr viel besser, einfühlsamer, schneller und, ja, auch kostengünstiger?

Im Gegensatz zu Skandinavien, aber auch Amerika und sogar dem afrikanischen Kontinent, hat die Pflege in Deutschland auffällig wenig eigenständige Kompetenzen und strukturiert den Großteil ihres Arbeitsalltags nach dem Motto: »Warten, bis der Arzt kommt.« Es überrascht entsprechend nicht, dass in Deutschland 38 Prozent der Pflegekräfte, in Österreich 30 Prozent, in Großbritannien 31 Prozent, in Frankreich 20 Prozent und in den Niederlanden 18 Prozent der Meinung sind, dass es Kompetenzen gibt, die besser in den Bereich der Pflege gehören.

In Großbritannien und den Niederlanden werden regulär Pflegehilfsmittel und selbst Extubationen – also die Beendigung einer künstlichen Beatmung, sobald der Patient wieder ohne maschinelle Unterstützung atmen kann – durch die Pflege verordnet, hierzulande nicht. Pflegekräfte in Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden übernehmen viele Aufgaben, die in Deutschland dem ärztlichen Personal vorbehalten sind. Eine Bezirkskrankenschwester in Schweden macht beispielsweise Hausbesuche und darf häufig benötigte Medikamente verschreiben. Hierbei ist festgelegt, welche Qualifikation die Pflegekraft haben muss und welche Gruppen von Arzneimitteln bei welchen Diagnosen in ihren Verantwortungsbereich fallen, zum Beispiel Penicillin bei Scharlach. Pflegekräfte absolvieren in Skandinavien ein in der Regel vierjähriges Studium, das zur unabhängigen und eigenverantwortlichen Tätigkeit befähigt – und den Beruf zugleich aufwertet und für den Nachwuchs interessanter macht.1

Ganz anders in Deutschland. Eine gute Freundin, eine altgediente und sehr erfahrene Krankenschwester, hat es mal auf den Punkt gebracht: »Das, was ich vor zwanzig Jahren konnte, habe ich ja heute nicht verlernt. Glaubst du, ich arbeite im Krankenhaus, um Ärsche abzuwischen und in der nächsten Runde Essen auszuteilen? Das kann auch ein dressierter Affe. Ich kann gipsen, Verbände machen, Wunden nähen, Drainagen rein und raus, Blut abnehmen, Kanülen legen – warum soll ich das heute nicht mehr tun?« Die Attraktivität der Berufsbilder, die in diesem System unweigerlich Hand in Hand gehen, beeinflussen sich wechselseitig in Krisenzeiten mehr denn je. Strategien, die gegen diese Unzufriedenheit funktionieren können, müssen nicht erst erfunden werden:

Sogenanntes »Task-Shifting« – sprich Verschieben von Aufgabenbereichen vom ärztlichen in den pflegerischen Verantwortungsbereich – wurde als eine erfolgreiche Strategie identifiziert, um den Beruf attraktiver zu gestalten und um Pflegeknappheit entgegenzuwirken. Es reduziert den Pflegemangel, steigert die Qualität und Effizienz von Pflege. Die Studie kategorisiert drei Gruppen mit »Extensive Task-Shifting«, bei welcher eine Pflegekraft einen Patienten nahezu allein visitieren kann, »Limited Task-Shifting«, in welcher Länder Verantwortlichkeiten ausgeweitet haben, aber weiterhin begrenzt sind, und die letzte Gruppe »No official Task-Shifting«, in welcher es kaum Entwicklungen gibt. Deutschland gehört laut Studie zur schwächsten Gruppe, was das Verschieben von Verantwortlichkeiten zugunsten der Pflege betrifft.2

Eine Pandemie bringt, erstaunlicherweise, keine akute Besserung der Lage: 72,2 Prozent der Gesundheitsfachberufstätigen fühlten sich während der dritten Corona-Welle überlastet. 95,9 Prozent der Gesundheitsfachberufstätigen sahen sich von der Politik im Stich gelassen. 93,5 Prozent der Gesundheitsfachberufstätigen und 80,3 Prozent der Ärzte glaubten nicht, dass die Intensiv-, Notfall- und Rettungsmedizin nach drei Corona-Wellen strukturell und personell für die Zukunft ausreichend aufgestellt ist. 97,1 Prozent der Gesundheitsfachberufstätigen empfanden den Ärzte- und Pflegemangel nach der Pandemie als noch ausgeprägter. 99,8 Prozent der Gesundheitsfachberufstätigen und 98,7 Prozent der Ärzte meinten, dass es eine nachhaltige Krankenhausreform mit Stärkung der Intensiv- und Notfallmedizin sowie bessere Arbeitsbedingungen brauche.3 Das sind: alle!

Noch zu Beginn einer blutjungen Pandemie waren die Zahlen bereits erschreckend, denn schon damals waren 120.000 zusätzliche Vollzeitstellen zu besetzen. Bei Berücksichtigung der Teilzeitquoten sind das 200.000 examinierte Pflegekräfte. Hinzu kamen zu dem Zeitpunkt bereits unbesetzte Stellen, welche sich auf 20.000 bis 30.000 beliefen.4 Die Kündigung von 9.000 Beschäftigten allein aus dem Bereich der Pflege zwischen Anfang April und Ende Juli 2020 spricht für sich5 – und gegen die miserablen Arbeitsbedingungen.

Mittlerweile sind wir bereits mehrere Pandemiewellen weiter. Die Realität der Personalengpässe und -mängel wurde und wird immer noch weggeschwiegen. Die Personaldecke ist mittlerweile so dünn, dass ein oder zwei weitere Regentröpfchen eines nahenden Pandemiegewitters ausreichen werden, um das Ganze zerreißen zu lassen – wie ein klatschnasses winziges Stück Löschpapier, mit dem man versucht, ein Fußballfeld abzudecken. Good luck!

Langeweile gepaart mit Katastrophen:Der ganz alltägliche Horror der Notfallmedizin

Personalmangel war das Stichwort, als ich an einem Hochsommermorgen in letzter Sekunde aus dem OP abgezogen und dem Notarzteinsatzfahrzeug, kurz NEF, zugeteilt wurde. Mein sorgsam geplantes, jetzt leider ohne mich beginnendes OP-Programm explodierte erneut. Und ein sehr lautes hässliches Rrrraaaaaatsch verriet mir das Schicksal des Nervenkostüms meines Teams, welches innerhalb einer Sekunde auf sich allein gestellt war und nun auf Station einem Patienten, dessen Operation es allein nicht durchführen konnte, blödsinnige Ausreden auftischte, warum er heute nicht operiert werden könne.

Leider steckte ich noch in den falschen Klamotten, einen wütenden Spurt an den Spind später war ich in einer todschicken dunkelblauen Sackhose aus Polyester (kostengünstig, hat sicher nie jemand probegetragen, der den Preis unschlagbar fand) und in kiloschweren Sicherheitsrettungsstiefeln mit orthopädischem Phänotyp. Ich war gerade rechtzeitig im NEF-Zimmer, um mein Namensschild, auf Klett gedruckt, an die Jacke zu klatschen – da ging der Alarm.

Das kuschelige NEF war nie allein unterwegs, immer in Begleitung mit Kranken- oder Rettungswagen, im Jargon kurz KTW oder RTW, manchmal primär schon angefordert, manchmal durch erstversorgende Sanitäter nachgefordert. Gemäß dem Motto: »You’ll never walk alone.« Auch wenn einen das nicht davor bewahrte, allein ganz tief in die Scheiße zu greifen. Diesmal primärer Einsatz. Kurz nach 8 Uhr morgens war es schon flauschig warm in der Karre im Plastikoutfit.

Wenn man auf den ersten verschwitzten Blick die Zahlen betrachtet, sollte man meinen, dass wenigstens im Notfallversorgungssystem einiges besser funktionieren müsste. Schließlich sind in Deutschland mehr als doppelt so viele Krankenhäuser für Akutfälle mit Notfallabteilungen vorhanden (2 pro 100.000 Einwohner) als beispielsweise in Dänemark (0,87), den Niederlanden (0,78) oder England (0,78). Auch werden in Deutschland mit 48,8 Prozent deutlich mehr Patienten aus der Notfallambulanz stationär aufgenommen als in Frankreich (21,7 Prozent), England (26,7 Prozent) oder Dänemark (28,7 Prozent).6

Aber selbst Champagner schmeckt nicht unbedingt besser, weil die Flasche schick und unverschämt teuer ist – auf den Inhalt kommt es an. Ist kein qualifiziertes, erfahrenes Personal vor Ort, hilft das schönste und bestausgestattete Krankenhaus nichts. Denn das Gebäude selbst stellt keine Diagnosen und behandelt auch keine zeitkritischen Notfälle.

Entsprechend schlecht ist das Überleben bei diesen im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarn: Die Mortalität von Herzinfarkten und weiteren ischämischen Herzerkrankungen lag 2017 in Deutschland bei 102 pro 100.000 Einwohnern, verglichen mit 38 Verstorbenen in Frankreich, 43 in den Niederlanden und 50 in Belgien. Die Sterblichkeit aufgrund von Schlaganfällen lag bei 46,1 pro 100.000 Einwohnern in Deutschland, in der Schweiz bei 32,9 und in Frankreich bei 34,8 im selben Jahr.7 Und nun meine Frage an Sie: In welchem Land wollen Sie lieber die 112 rufen, wenn es mal sein muss?

Fehlalarm?

Billig war der Spaß mit dem Notfallwesen noch nie. Der Trend der letzten Jahre zeigt jedoch einen zunehmenden inflationären Gebrauch, sodass sich zwischen 2008 und 2016 die Kosten fast verdoppelten und bereits damals bei 2 Milliarden Euro pro Jahr lagen. Auch weil der Notarzt für immer mehr Hilflosigkeit und Blödsinn gerufen wird,8 so wie in diesem Fall: Einsatz in Berufsschule, junger Kerl, keine zwanzig, beim Halten eines Vortrags kollabiert. Vor Aufregung, wie sich herausstellte. Nur hatte ungünstigerweise irgendjemand beiläufig erwähnt, besagter junger Mann habe ja so viele Allergien. Arzt, sofort, jetzt.

Als ich ankam, wurde eine Belagerung durch vier Sanitäter aufrechterhalten, die so viel auf die Waage brachten wie acht. Wie wollten die eigentlich reanimieren, ohne selbst dabei draufzugehen, fragte ich mich kurz. Aber egal: Dem Patienten ging es gut, kein anaphylaktischer Schock, höchstens Vortragsallergie. Damit er vor Hyperventilation nicht mit Pfötchenstellung in den Krankenwagen gebracht werden musste, gab es erst mal schön Dormicum, ein Beruhigungsmittel – sollte sich für ihn ja auch gelohnt haben. Mit seligem Lächeln ab in eine internistische Notfallambulanz, die sich arg freuen würde. Im Grunde ein völlig sinnbefreiter Einsatz, der nichts als Kosten verursachte und für einen Bruchteil des Aufwands hätte versorgt werden können.