Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein Aufenthalt in einer Geburtsklinik wird zum Horrortrip: Was ein freudiges Ereignis sein sollte, erlebt eine junge Mutter, wie sie schreibt, als "Mental-Fukushima" und "9/11 für die Seele". Unverstanden, alleingelassen und hilflos einer Klinik-Maschinerie ausgeliefert fühlt sich eine junge Frau in Kreißsaal und Wochenstation, aber nicht in einem Entwicklungsland, sondern in Deutschland 2009. Ihr Bericht, der neben der Warnung vor Ähnlichem auch der persönlichen Aufarbeitung dient, wird ergänzt durch den fachlichen Kommentar eines Frauenarztes, der auch selbst lange in der Geburtshilfe tätig war und der zusammen mit der Betroffenen die Gründe analysiert und Möglichkeiten aufzeigt, wie sich Schwangere richtig auf den Aufenthalt in einer Geburtsklinik vorbereiten.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 156
Veröffentlichungsjahr: 2015
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Wir widmen dieses Buch allen im wahren Sinne des Wortes „mündigen“ Patientinnen und Patienten, die echte Partner/-innen in einem Behandlungsprozess werden wollen.
Vorwort
Geburtstrauma – Einschätzung eines Gynäkologen
Geburtstrauma – ja, gibt´s das denn?
Nichts wie raus aus diesem kranken Haus – Teil 1
Fachärztliche Anmerkungen zur Betreuung nach der Einweisung
Nichts wie raus aus diesem kranken Haus – Teil 2
Fachärztliche Anmerkungen zur eigentlichen Geburt
Nichts wie raus aus diesem kranken Haus – Teil 3
Fachärztliche Anmerkungen zur Nachgeburtsperiode mit Komplikation, Nachblutung, Operation
Nichts wie raus aus diesem kranken Haus – Teil 4
Fachärztliche Anmerkungen zur Situation in den ersten Wochenbetttagen bis zur Entlassung
Auf den Hund gekommen
Fachärztliche Anmerkungen zur medizinischen Betreuung nach der Entlassung
Gesicht bewahrt, Sohn verloren?
Fachärztliche Anmerkungen zur Untersuchung der Harnröhrenfehlbildung und zum Verhalten der gesetzlichen Krankenkassen
(Kehrtw)Ende
Fachärztliche Anmerkungen zur psychosozialen Betreuung nach der Entlassung
Selbsthilfe – was können Sie tun, um zu verhindern, daß Ihnen ähnliches widerfährt wie Mariella Berger?
Checkliste für Kreißsaal und Wochenstation
Schlußbemerkung: Ärzte und Patienten sitzen im selben Boot!
Nachwort – Déjà vu hoch zwei
Geht der 11. September 2001 einfach nur als ein ganz normaler Dienstag in die Weltgeschichte ein? Natürlich nicht. Das wäre ja wohl kaum die richtige Bezeichnung für solch eine folgenschwere Tragödie.
Es wäre aber ein ähnlich namensgeberischer Missgriff, wenn ich meinen Erlebnissen die heiter – schwungvolle Überschrift »Baby Blues« spendiert hätte. Angemessen wäre das meiner persönlichen Tragödie garantiert nicht gewesen.
Wie lange habe ich eigentlich darüber gegrübelt, welcher Titel für dieses Buch und seinen Inhalt der passende ist? Ich habe darüber kein Protokoll geführt. Aber gefühlt dürften es etliche Monate gewesen sein.
Zwischenzeitlich stand mir tatsächlich mal besagter Titel »Baby Blues« vorm geistigen Auge. Klang gut. Jedenfalls anfangs.
Aber Baby Blues fasst es nicht. Ganz und gar nicht.
Denn das, was ich kurz vor, während und vor allen Dingen lange nach der Geburt meines Sohnes durchleben und durchleiden musste, geht schon Lichtjahre über das hinaus, was der niedliche Begriff Baby Blues so alles vors geistige Auge holt. Das ist bekanntlich die Niedergeschlagenheit, die viele Frauen nach der Geburt heimsucht. »Heultage« – diesen wenig schmeichelhaften Ausdruck haben die Ärzte dafür in die Welt gesetzt. Sei‘s drum. Bei allem Respekt, den ich anderen jungen Müttern vorbehaltslos entgegenbringe: Ich wäre damals froh gewesen, wenn es bei mir mit ein bisschen Heulen getan gewesen wäre. War es aber beileibe nicht.
Als ich den Baby Blues als Titel ad acta gelegt hatte, führten mich meine Gedanken zu guter Letzt auf »Ausgeburten«. Wie macht sich das in Ihren Ohren? Abstoßend? Bedrohlich? Extrem unangenehm? Dann habe ich den Nagel auf den Kopf getroffen. Denn genauso werte ich rückblickend die Ereignisse von damals…
Ich fühlte mich als Frau, werdende Mutter und Patientin vom Krankenhauspersonal abgewertet, zu einer bloßen Nummer degradiert, die sich auf Teufel komm raus in das Routine-Gefüge des Klinikbetriebs einzuordnen hatte. Als extrem unangenehm, ja sogar lebensbedrohlich entwickelte sich daraufhin so ziemlich alles, was sich manche Ärzte während und nach der Geburt geleistet haben – mit mir und meinem kleinen Sohn. Und dieselbe negative Einschätzung muss ich auch auf die vielen, vielen Monate nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus stempeln: Ja, ich befand mich in akuter Gefahr für Leib und Seele – und mit mir mein Kind, mein Mann und meine Angehörigen.
Natürlich, »Ausgeburt«, das klingt schon hart. Verdammt hart sogar. In aller Regel tritt dieses Sprichwort ja immer als Duo Infernale auf, als »Ausgeburt der Hölle« zum Beispiel. Nun ist das mit dem Begriff Hölle so eine Sache. Diese Metapher nimmt unsere von seichter Kommunikation durchtränkte und entsprechend abgestumpfte Welt ja immer wieder gern in den Mund – und lädt damit Ereignisse negativ auf, die eigentlich weit davon entfernt sind, dem Bild vom Inferno gerecht zu werden. In meinem Fall jedoch – wenn ich auch vielleicht nicht komplett durch die Hölle gegangen bin, so hat mich das Schicksal doch immerhin einige Schritte dort hinein tappen lassen. Noch nicht mal so sehr bei der Geburt meines Sohnes – obwohl auch die schon unglaublich steinig war. Nein, das Negativ-Prädikat »höllisch« verdienten sich vor allem die vielen Monate nach der Geburt.
Aber ich will den Ereignissen hier nicht vorgreifen. Sie können sie ja gleich selber nachlesen. Es geht mir nur um eines – aber das ist mir sehr wichtig…
Mit »Ausgeburt« meine ich ziemlich vieles und ziemlich viele – meinen Sohn aber schließe ich hier ausdrücklich von dieser Abwertung aus! Auch wenn das jetzt sehr schmalzig klingt: Er ist heute die Sonne meines Lebens. Das war er von Anfang an. Allerdings hatten sich, kaum, dass er auf der Welt war, so viele dicke Wolken vor diese Sonne geschoben, dass ich dieses wunderbare Leuchten einfach nicht wahrnehmen konnte. Folglich verdüsterte sich mein Leben massiv.
Gott sei Dank ist das vorbei. Ich fühle mich heute wie neu geboren. Ich freue mich über jeden neuen Tag, den ich mit meinem Kind und meiner ganzen Familie verbringen darf. Wem ich diese positive Wendung zu verdanken habe, werden Sie noch lesen können. Es wird Sie mit Sicherheit überraschen.
Natürlich könnte man fragen, ob mein Schicksal und das meiner Familie gleich ein ganzes Buch wert sei. Ich gebe ganz ehrlich zu, dass es vor allen Dingen einen Grund für mich gab, mit dem Schreiben dieses Buches anzufangen: Ich wollte auf diese Weise dieses Geburtstrauma mental verarbeiten. Ich vermute mal, dass ich mit diesem therapeutischen Schreib-Ansatz nicht die Einzige bin. Viele Menschen, bei denen das Leben den Knüppel der Größenordnung XXL rausholt, greifen anschließend zu Papier und Kugelschreiber oder eben zur Tastatur ihres Rechners. So ein Buchmanuskript wird dann zum Reinigungspapier, das die geschundene Seele vom Schmutz der negativen Erlebnisse säubert. Wirklich, das Schreiben ist eine erstklassige Methode, um seelische Traumen zu verarbeiten. Meistens aber landet das Geschriebene zum schlechten Schluss dann in der Schublade. Oder, schlimmer noch, im Rundordner, im Papierkorb also.
Und ja, natürlich kenne ich das gute, alte Sprichwort: »Unter jedem Dach wohnt ein Ach!« Klar, irgendein Päckchen (das allerdings nicht selten die Ausmaße eines Seefrachtcontainers annehmen kann) hat jeder Mensch in seinem Leben zu tragen. Und jeder könnte sprichwörtlich »ein Buch darüber schreiben«, was ihm oder ihr in seinem oder ihrem Dasein schon so alles widerfahren ist. Warum also glaube ich, dass es ausgerechnet bei mir etwas Besonderes nachzulesen gibt?
Um gleich mal mit dem wichtigsten Unterscheidungskriterium anzufangen: Dieses Buch belässt es nicht dabei, die Ereignisse einfach nur zu schildern. Sie werden nämlich parallel von einem äußerst kompetenten und zugleich sehr liebenswerten Fachmediziner kommentiert. Ich bin Dr. Stein wirklich äußerst dankbar für seinen Einsatz. Sie werden bei der Lektüre feststellen, dass er mir in vielem Recht gibt – dass es aber gar nicht so selten vorkommt, dass er meiner – wie sollte es auch anders sein? – subjektiven Sichtweise der Dinge offen widerspricht. Auch für dieses Rückgrat und diese Geradlinigkeit danke ich Dr. Stein sehr. Sie macht seine Kommentare authentisch – und das macht sie ganz besonders wertvoll. Und zwar für Sie, die Leserin und den Leser. Denn auf diese Weise ist aus einem »normalen« Schicksalsbericht ein aussagekräftiger »Geburtshelfer« geworden, den Sie jederzeit heranziehen können. Und der auch Ihr vollstes Vertrauen verdient, wenn Sie oder Ihre Angehörigen von einem vergleichbaren Schicksal betroffen oder zumindest bedroht sind.
Sie werden die folgenden Seiten noch nicht einmal besonders aufmerksam lesen müssen, um zu bemerken, dass es Dr. Stein, aber auch mir keinesfalls um bloßes Doktoren-Prügeln geht. Doc-Bashing nennt man das wohl auf Neudeutsch. Ich gebe zu, dass ich während der Ereignisse, die zu diesem Buch geführt haben, meinen Glauben an die Medizin – an die Schulmedizin vor allem – fast restlos verloren habe. Ja, es gab sogar mal eine Zeit, da habe ich all diese Krankenhausärzte gehasst. Aus tiefster Seele sogar.
Aber auch diese Phase habe ich hinter mir gelassen. Heute weiß ich (und ich werde in dieser Position von Dr. Stein bestätigt): Nicht die Krankenhausärzte und die Pfleger tragen die Schuld an den Zuständen – es ist unser völlig kaputtes, chronisch unterfinanziertes, von den Interessen der Pharmafia gesteuertes Gesundheitssystem, das zum Beispiel Mediziner und Krankenschwestern an den Rand des völligen körperlichen und seelischen Zusammenbruchs führt. Mal ehrlich: Wenn Sie 48 Stunden am Stück auf den Beinen sein müssten – wie zuverlässig würden Sie am Ende noch Ihre Arbeit ausführen können? Eine Arbeit übrigens, bei der schon ein falscher Schnitt mit dem Skalpell tödliche Folgen haben kann. Solche (vor letztgenanntem Aspekt betrachtet sogar im mehrfachen Sinne) mörderischen Arbeitszeiten aber sind für deutsche Krankenhausärzte heute die Norm – dem Himmel sei es geklagt! Für diese untragbaren Zustände sind aber die Ärzte selber am wenigsten verantwortlich.
Als ich mitten beim Schreiben dieses Buches war, habe ich mich mal auf dem Markt umgesehen – und mir verblüfft die Augen gerieben: Es gibt noch gar nicht so viel Literatur über das Thema, das man im Großen und Ganzen als »Geburtstrauma« bezeichnen könnte. Meistens wird die Sachlage aus Sicht von Fachmedizinern betrachtet – und entsprechend verquollen und verfachchinesischt hören sich solche Bücher dann auch an. Damit kann frau gewiss nichts anfangen. Man auch nicht.
Mit nicht ganz unbeträchtlichem Stolz darf ich daher sagen: Mein Buch gehört zu den ganz wenigen, die aus der Warte einer Betroffenen abgefasst worden sind. Erwarten Sie also keine fachmedizinische, staubgraue Theorie. Sogar die Kommentare von Dr. Stein klingen erfrischend menschlich und auch für Normalpatienten verständlich (noch ein Punkt, für den ich ihm überaus dankbar sein muss). Nichtsdestotrotz hoffe ich, dass auch viele Uni-Mediziner, Politiker, Gesundheitsbeauftragten usw. ihre gebildeten und leider viel zu oft weltfernen Nasen in diese Seiten stecken werden. Vielleicht geht ihnen dann ein Licht auf, was in unserem deutschen Gesundheitssystem so gründlich schiefläuft.
Wo wir schon von weltfern reden: Das Thema »Geburtstrauma« steht in Deutschland leider im Rang eines absoluten Tabus. Heutzutage be- und zerreden wir in unserer ach so freien und toleranten Gesellschaft so ziemlich jedes Thema. Achten Sie mal auf die vielen Quassel-Shows im Unterschichten-TV: Kein Sujet ist uns zu schleimig, zu pervers oder zu geisteskrank – nur an das Geburtstrauma traut sich so gut wie niemand heran. Laut der öffentlichen Meinung muss es durchweg etwas Wunderbares sein, so einen kleinen Menschen auf die Welt zu bringen. Alles Friede, Freude, Eierkuchen!
Pustekuchen – kann ich da nur sagen. Ich werde Ihnen ein paar Seiten weiter zeigen, dass massive Geburtstraumen viel mehr Frauen aus der Bahn werfen, als unsere Gesellschaft das wahrhaben will. Auffallend totgeschwiegen wird das Thema. Wenn es mir mit meinem Buch gelingt, wenigstens ein paar Steine aus dieser fest gefügten Mauer des Schweigens zu lockern oder gar herauszulösen – das wäre fantastisch! Und wenn Sie vielleicht sogar selbst von diesem extrem existenzbedrohenden Problem betroffen sind, so sollen Ihnen diese und die nachfolgenden Zeilen ganz deutlich sagen: Sie sind gewiss nicht allein mit Ihrer Qual. Es gibt deutlich mehr Leidensgenossinnen, als Sie im Moment glauben oder ahnen. Es offenbart Ihnen nur niemand.
Allerdings gilt das meines Wissens nach vorwiegend für Deutschland; in Großbritannien etwa wurde schon vor Jahren eigens eine »Geburtstrauma-Vereinigung« ins Leben gerufen. Dort messen die für die Gesundheit Verantwortlichen diesem Problem offenbar deutlich mehr Bedeutung zu, als es bei uns der Fall ist. Ich denke, dass ich jetzt im Namen vieler Tausend anderer deutscher Betroffenen sprechen darf: Es wäre schön, wenn es so etwas in Deutschland ebenfalls gäbe.
So, jetzt kommt so langsam der Schluss meines Vorwortes in Sicht. Eines aber ist mir wichtig, sehr wichtig sogar, und deshalb will ich es ganz klar sagen:
Wenn Sie sich als Frau gerade fragen, ob Sie Ihrem Kinderwunsch nachgeben sollten oder wenn sie sogar im Moment schwanger sind und sich auf Ihr Baby freuen – bitte, bitte, lassen Sie sich die Vorfreude darauf nicht nehmen. Niemals! Sicherlich, so ein Geburtstrauma kommt wahrscheinlich öfters vor, als es der Gesellschaft und uns Frauen lieb ist – die Regel ist es dennoch nicht. Gehen Sie zunächst einmal In aller Ruhe davon aus, dass bei ihnen alles gut werden wird. Sehen Sie in diesem Buch vor allen Dingen einen Indikator, der der Vorbeugung dient. Wenn Sie und auch Ihr nächstes Umfeld wissen, was alles auf Sie zukommen kann (nicht zwangsläufig wird!) und welche Anzeichen beispielsweise für eine postnatale Depression sprechen, werden Sie auf alle Fälle gegensteuern können. Rechtzeitig. Und genau darauf kommt es an. Es ist wie bei vielen anderen gesundheitlichen Störungen: Wenn Sie die ersten Anzeichen beizeiten bemerken, können Sie den größten Schaden abwenden. Gefahr erkannt – Gefahr gebannt.
Deswegen stufe ich mein Buch auch nicht als Lamento ein. Es ist ausdrücklich kein Klagelied. Es ist vielmehr ein Ratgeber. Ein Mutmacher. Ein Wegweiser.
Last, but not least…
Ich bedanke mich bei allen, die es möglich gemacht haben, dass ich dieses Buch schreiben konnte. Da ich bei einer namentlichen Aufzählung höchstwahrscheinlich so manchen wichtigen Menschen vergessen würde und ich mich auch nicht selber durch die Nennung von Klarnamen in Regress-Gefahr bringen möchte, sage ich hier ganz zum Schluss…
Ich danke wirklich jeder und jedem von euch – für die Hilfe, für die Ermutigung, für den Zuspruch. Ihr seid klasse!
Blauberge, im Juni 2014
Mariella Berger
von Dr. med. Joachim Stein, Bürgstadt1
Jede Geburt verläuft einzigartig und höchst individuell. Auch nach 16 Jahren Berufserfahrung als Gynäkologe und Geburtshelfer ist es mir - wie allen Kollegen und Hebammen - nicht möglich, den Ausgang einer Geburt im Einzelfall vorherzusagen. Jeder Geburtshelfer hat in seiner Laufbahn Fälle erlebt, von denen er (oder sie) im Nachhinein sagt: Das hätte mir nicht passieren dürfen, hier hätte ich schneller reagieren, früher einen Kaiserschnitt machen oder Saugglocke bzw. Zange zur Geburtsbeendigung einsetzen sollen o.ä.
Daher liegt mir eine Be- oder gar Verurteilungsabsicht ebenso fern wie allen Autoren dieses Buches. Vielmehr möchte ich etwas Aufklärungsarbeit leisten und zum gegenseitigen Verständnis zwischen Patientinnen, Ärzten, Hebammen und Krankenschwestern beitragen.
Mit dem bewußt gewählten Wort "gegenseitig" meine ich hierbei vor allem, daß auch den Patientinnen, wenn sie nicht gerade bewußtlos, in Narkose oder durch schwere Schmerzen akut beeinträchtigt sind, immer auch eine Mitgestaltungsmöglichkeit und Mitverantwortung zukommt. Unsere Gesellschaft und unser Gesundheitssystem fördern eine einseitige Forderungshaltung zulasten der im Krankenhaus Tätigen, die hier noch durch krankheitsbedingte Angst, Schmerzen und Hilflosigkeit in zwar menschlich verständlicher, aber im Ergebnis verhängnisvoller Weise verstärkt wird. So kann sich selbst eine medizinische Fachkraft, wie im vorliegenden Fall eine Arzthelferin, nicht auf ihre Kenntnisse und Erfahrungen verlassen, weil ihr der Zugang zu ihren eigenen Ressourcen teilweise versperrt ist.
Hiermit sensibel umzugehen wäre eigentlich Aufgabe der Schwestern, Hebammen und Ärzte - wozu es erforderlich ist, nicht "zwei Meter über dem Boden zu schweben", sondern erdverbunden zu bleiben. Dies wiederum kann nur ein Mensch, der auch Mensch bleiben darf und nicht von einem alle Ressourcen fordernden Kliniksystem zu einem Medizinroboter und Diagnosekodierer degradiert und in erster Linie als Kostenfaktor begriffen wird.
Verständnis zu wecken für die schwere, teils aufopfernde Tätigkeit in den Kliniken und für die Komplexität der Arzt-Patienten-Kommunikation, die sich nicht auf einfache Schuldzuweisungen, Feindbilder, lehr- und lernbare Techniken oder Schwarz-Weiß-Schemata reduzieren läßt - das ist das Ziel dieses ärztlichen Kommentars zu den traumatischen Erlebnissen von Mariella Berger im Krankenhaus Blauberge.
Ich möchte Fragen aufwerfen und Möglichkeiten diskutieren, ich gebe keinesfalls vor, alle Antworten zu haben oder Patentlösungen anbieten zu können! Dazu ist die Individualität der Menschen, die als Patienten kommen, aber auch die Verschiedenheit derer, die in den Kliniken arbeiten, viel zu groß.
Dennoch - wenn wir uns dem Sachverhalt und der generellen Thematik verantwortungsvoll und sensibel nähern wollen - können wir nicht umhin zu fragen:
Was hätte hier anders und besser ablaufen können? Welche teils gravierenden Kommunikationsmängel könnten leicht abgestellt werden, welche sind möglicherweise so subtil und verborgen, daß sie sich dem flüchtigen Blick des Beobachters entziehen?
Es erscheint mir sinnvoll, die Analyse in Teilbereiche zeitlicher Art zu gliedern, die sich um die Geburt des Sohnes von Frau B. gruppieren:
Betreuungsphase vor dem Einsetzen geburtswirksamer Wehen
Eigentliche Geburt des Kindes
Nachgeburtsperiode und Komplikation durch schwere Blutung sowie Operation
Situation in den ersten Wochenbetttagen bis zur Entlassung
Medizinische Betreuung nach der Entlassung
Psychosoziale Situation nach der Entlassung
Selbsthilfe – wie können Sie dazu beitragen, ähnliche Erfahrungen zu verhindern?
Diese Einzelanalysen finden Sie sinnvollerweise im direkten Kontext zu den Schilderungen von Frau B. Ich möchte zudem darauf hinweisen, daß ich der alten deutsche Rechtschreibung den Vorzug gebe. Bitte mißdeuten Sie diese Tatsache nicht als Indiz für ein veraltetes medizinisches Fachwissen auf meiner Seite.
1 Dr. med. Joachim Stein hat viele Jahre als Gynäkologe in Krankenhäusern gearbeitet. Inzwischen hat er sich als Frauenarzt im Raum Süddeutschland niedergelassen. Mehr über seine außergewöhnlichen Prinzipien und Ansichten zu Fragen der modernen Medizin und zum Zustand des deutschen Gesundheitssystems finden Sie hier: http://www.frauenarzt-buergstadt.de/home.html
Egal, wie Sie die Überschrift zu diesem Kapitel auch verstehen mögen: Sie haben Recht.
»Ja, gibt’s das denn?« Wenn Ihnen diese rhetorische Frage immer dann von der Zunge geht, wenn sich Ihr Verstand, Ihr Seelenleben oder beide zusammen Sachverhalten, Schlussfolgerungen oder Vorstellungen gegenübergestellt sehen, die man nur als überraschend, erschreckend oder schier unglaublich einstufen kann – dann werden Sie im Verlauf dieses Buches reichlich Gelegenheit finden, diesen Ausdruck ungläubigen Erstaunens, stellenweise sogar Entsetzens anzubringen. Denn Mariella Berger, die junge Frau, die den Anstoß zu diesem Buch gegeben hat, musste während und nach der Geburt ihres ersten Kindes derart viel einstecken, dass einem allein beim Hören genau dieses Hören vergeht – neben dem Sehen. Den Chronisten dieser Ereignisse befiel beim direkten Gespräch mit Mariella Berger mehr als nur ein Mal der Argwohn, diese Geschichten hätten sich in Wahrheit in der »Dritten Welt« zugetragen. Oder wenn schon auf deutschem Boden, dann höchstens im finsteren Mittelalter.
Aber nichts da! Die Ereignisse, die Ihnen in den weiteren Kapiteln dieses Buches des Öfteren den Atem verschlagen werden, haben sich alle hier zugetragen, im Deutschland des 21. Jahrhunderts also, in einem hochentwickelten Industrie- und Hightech-Staat mit einem der vermeintlich besten Gesundheits- und Sozialsysteme der Welt. Wenn Sie allerdings die letzte Seite dieses Werks umgeschlagen haben, dürften Sie große Zweifel an dieser gängigen Selbst-Einschätzung beschleichen. Zumindest, was die medizinische Versorgung in diesem Land angeht – und alles, was im Entferntesten damit zusammenhängen mag.