Ausgeliefert - Lee Child - E-Book
SONDERANGEBOT

Ausgeliefert E-Book

Lee Child

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Unversöhnlich, unerbittlich, unschlagbar: Jack Reacher, der eigenwilligste Ermittler der amerikanischen Thrillerliteratur.

Ein Mann und eine Frau treffen zufällig auf einer Straße in Chicago zusammen. Plötzlich tauchen zwei Männer auf und entführen die beiden mit vorgehaltener Waffe. Sie werden mit Handschellen aneinandergekettet, in einen Lieferwagen geworfen und in die tiefen Wälder Montanas gebracht. Die Frau ist Holly Johnson, Agentin des FBI und Tochter eines der ranghöchsten Generäle Washingtons. Der Mann ist Jack Reacher …

Jack Reacher greift ein, wenn andere wegschauen, und begeistert so seit Jahren Millionen von Lesern. Lassen Sie sich seine anderen Fälle nicht entgehen. Alle Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 725

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Der ehemalige Militärpolizist Jack Reacher trifft in Chicago vor einem Laden auf eine Frau, der gerade ihre Krücke auf den Boden gefallen ist. Er hebt die Krücke auf und will sie ihr geben, als plötzlich zwei Männer auftauchen, die Frau und ihn mit Pistolen bedrohen, in ein Auto verfrachten und entführen. Sie werden mit Handschellen aneinandergekettet und nach Westen, nach Montana, gebracht.

Während der Fahrt lernt Reacher die junge Frau namens Holly Johnson näher kennen. Sie arbeitet für das FBI, und ihr Vater ist einer der ranghöchsten Generäle in Washington. Es stellt sich heraus, dass es den Entführern weniger um die Tochter als vielmehr um ihren Vater, den General, geht. Doch mit einem haben sie überhaupt nicht gerechnet – mit Jack Reacher …

Autor

Lee Child wurde in den englischen Midlands geboren, studierte Jura und arbeitete dann zwanzig Jahre lang beim Fernsehen. 1995 kehrte er der TV-Welt und England den Rücken, zog in die USA und landete bereits mit seinem ersten Jack-Reacher-Thriller einen internationalen Bestseller. Er wurde mit mehreren hoch dotierten Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem »Anthony Award«, dem renommiertesten Preis für Spannungsliteratur.

Die Jack-Reacher-Romane bei Blanvalet:

1. Größenwahn • 2. Ausgeliefert • 3. Zeit der Rache • 4. Sein wahres Gesicht • 5. In letzter Sekunde • 6. Tödliche Absicht • 7. Der Janusmann • 8. Die Abschussliste • 9. Sniper • 10. Way Out • 11. Trouble • 12. Outlaw • 13. Underground • 14. 61 Stunden • 15. Wespennest • 16. Der Anhalter • 17. Der letzte Befehl • 18. Die GejagtenBesuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvaletund www.twitter.com/BlanvaletVerlag.

Lee Child

Ausgeliefert

Ein Jack-Reacher-Roman

Deutsch von Heinz Zwack

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel »Die Trying« bei Bantam, London 1997.

1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 1998 by Lee Child

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2000 by Wilhelm Heyne Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright dieser Ausgabe © 2017 by Blanvalet Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: www.buerosued.denach einer Idee von www.henrysteadman.com

Umschlagabbildung: Getty Images/National Geographic/Michael K. Nichols

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-21458-6V002www.blanvalet.de

Wenn ich aufzählen wollte, wie sehr sie mir hilft, würde diese Widmung länger werden als das Buch selbst.Und deshalb sage ich bloß:Für meine Frau Jane mit tausend Dank.

1

Nathan Rubin starb, weil er sich mutig zeigte. Es war nicht jene Art von Mut, mit der man im Krieg einen Orden bekommt, sondern diese plötzliche Aufwallung von Empörung, die dazu führen kann, dass man auf der Straße umgebracht wird.

Er ging früh von zu Hause weg, so wie er das immer machte, sechs Tage die Woche, fünfzig Wochen im Jahr. Ein schmales Frühstück, angemessen einem kleinen, rundlichen Mann, der vorhatte, auch in seinen vierziger Jahren in Form zu bleiben. Langer Gang durch die mit Teppichen belegten Korridore eines Hauses am See, wie es sich für einen Mann gehörte, der an jedem der dreihundert Tage, an denen er arbeitete, tausend Dollar verdiente. Ein Daumendruck auf den Knopf des Garagentüröffners und eine kleine Drehung des Handgelenks, um den lautlosen Motor seiner teuren importierten Limousine zu starten. Eine CD in das Abspielgerät, ein kleiner Schwenk nach rückwärts auf die kiesbelegte Einfahrt, ein kurzes Antippen der Bremse, ein kleiner Schubser am Wählhebel der Automatik, ein wenig Gas, und die letzte, kurze Fahrt seines Lebens hatte begonnen. Sechs Uhr neunundvierzig morgens, Montag. Die einzige Ampel auf seiner Route stand auf Grün, und das war die unmittelbare Ursache seines Todes. Das bedeutete nämlich, dass das Präludium von Bachs Fuge in b-Moll noch achtunddreißig Sekunden zu laufen hatte, als er hinter seinem Praxisgebäude auf den reservierten Parkplatz bog. Er blieb sitzen und hörte sich das Stück zu Ende an, bis der letzte Orgelklang verhallt war, und das wiederum bedeutete, dass die drei Männer, als er aus seinem Wagen stieg, so nahe herangekommen waren, dass er unwillkürlich zu ihnen hinübersah. Die drei änderten ihren Kurs, drei Männer im Gleichschritt, wie Tänzer oder Soldaten. Er wandte sich ab und ging auf das Gebäude zu. Aber dann blieb er stehen. Sah sich um. Die drei Männer waren an seinem Wagen. Machten sich an den Türen zu schaffen.

»He!«, rief er.

Ein Ruf, der Überraschung, Ärger und Herausforderung ausdrückte. Die Art von instinktivem Laut, wie ihn ein ernsthafter, naiver Bürger von sich gibt, wenn etwas geschieht, was nicht geschehen sollte. Die Art von instinktivem Ruf, die bewirkt, dass ein ernsthafter, naiver Bürger umgebracht wird. Er ertappte sich dabei, wie er geradewegs auf seinen Wagen zuging. Zwar war er eins zu drei in der Minderzahl, aber er war im Recht, und das verschaffte ihm Auftrieb und machte ihn selbstbewusst. Er ging mit schnellen Schritten zurück, wütend, und fühlte sich dabei so fit, als hätte er die Lage voll im Griff.

Aber dieses Gefühl war eine Illusion. Ein weicher Vorstadttyp wie er würde niemals eine Situation wie diese in den Griff bekommen. Und was er als Fitness ansah, war bloß Produkt eines Fitnessclubs. Hier hatte das überhaupt nichts zu bedeuten. Seine straffen Bauchmuskeln rissen bereits nach dem ersten brutalen Schlag. Sein Gesicht ruckte nach vorn und dann nach unten, harte Knöchel verwandelten seine Lippen in Brei und zerschmetterten seine Zähne. Grobe Hände und muskelbepackte Arme fassten ihn und hielten ihn hoch, als ob er gewichtslos wäre. Die Autoschlüssel wurden ihm entrissen, und dann traf ihn ein schmetternder Schlag am Ohr. Sein Mund füllte sich mit Blut. Er fiel auf den Asphalt, und dann krachten schwere Stiefel auf seinen Rücken herunter. Und auf seinen Bauch und seinen Kopf. Um ihn wurde es schwarz, wie auf einem Fernsehschirm bei einem Gewitter. Die Welt verschwand einfach. Sie schrumpfte zu einem dünnen, heißen Strich zusammen und verlosch.

Und so starb er, weil er den Bruchteil einer Sekunde lang mutig gewesen war. Aber nicht gleich. Er starb viel später, nachdem der Sekundenbruchteil von Mut in lange Stunden qualvoll keuchender Angst übergegangen war und nachdem die langen Stunden der Angst in schreiender Panik explodiert waren.

Jack Reacher blieb am Leben, weil er vorsichtig geworden war. Er war vorsichtig geworden, weil er ein Echo aus seiner Vergangenheit gehört hatte. Aus seiner umfangreichen Vergangenheit. Und das Echo stammte so ziemlich aus ihrem schlimmsten Teil.

Dreizehn Jahre Militärdienst lagen hinter ihm, und die einzige Verwundung, die er dabei abbekommen hatte, stammte nicht von einer Kugel. Sie stammte von einem Fragment aus der Kinnlade eines Sergeants der Marines. Reacher war in Beirut stationiert gewesen, in dem US-Stützpunkt beim Flughafen. Auf den Stützpunkt wurde ein Attentat mit einer Autobombe verübt. Reacher stand gerade am Tor, und der Sergeant stand hundert Meter näher bei der Explosion. Der Knochensplitter aus seiner Kinnlade war das Einzige, was von dem Mann übrig blieb. Er traf den hundert Meter von ihm entfernt stehenden Reacher und bohrte sich wie ein Geschoss in seinen Bauch. Der Militärarzt, der Reacher zusammenflickte, sagte ihm später, er könne von Glück reden. Er sagte ihm, dass eine richtige Kugel wesentlich schmerzhafter gewesen wäre. Das war das Echo, das Reacher hörte. Und er beachtete es genau, als er jetzt, dreizehn Jahre später, dastand und jemand eine Pistole auf seinen Bauch gerichtet hielt. Aus etwa vier Zentimeter Distanz.

Die Pistole war eine Neun-Millimeter-Automatik. Sie war nagelneu. Sie war geölt. Und sie war nach unten gerichtet, gezielt auf seine alte Narbe. Der Mann, der sie auf ihn richtete, sah durchaus so aus, als wisse er, was er tat. Die Waffe war entsichert. Die Mündung zitterte kein bisschen. Keine Nervosität. Der Finger am Abzug war bereit abzudrücken. Das konnte Reacher sehen. Er konzentrierte sich voll auf diesen Finger am Abzug.

Reacher stand neben einer Frau und hielt ihren Arm. Er hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sie starrte auf eine identische Neun-Millimeter, die auf ihren Bauch gerichtet war. Der Mann, der sie in Schach hielt, wirkte angespannter als der vor ihm. Er wirkte unruhig. Seine Waffe zitterte vor Anspannung. Seine Fingernägel waren zerkaut. Ein nervöser, fahriger Typ. Die vier standen auf der Straße, drei von ihnen reglos wie Statuen, während der vierte von einem Fuß auf den anderen trat. Sie waren in Chicago. Mitten im Stadtzentrum, auf einem belebten Bürgersteig, Montag, letzter Tag im Juni. Helllichter Tag, strahlende Sommersonne, die ganze Situation hatte sich im Bruchteil einer Sekunde ergeben. Auf eine Art und Weise, wie man sie nicht einmal in einer Million Jahre choreografisch hätte in Szene setzen können. Reacher war einfach die Straße hinuntergegangen, ohne Ziel, nicht schnell, nicht langsam. Er war gerade dabei gewesen, den Ausgang einer chemischen Reinigung zu passieren, als die Tür aufgestoßen wurde, mitten in sein Gesicht, und eine alte Gehhilfe aus Metall klappernd vor ihm auf den Bürgersteig fiel. Er hatte aufgeblickt und eine Frau in der Türöffnung gesehen. Die im Begriff war, einen ganzen Arm voll Reinigungsbeutel, neun waren es, fallen zu lassen. Sie war nicht ganz dreißig, teuer gekleidet, dunkel, attraktiv, selbstsicher. Offensichtlich hatte sie irgendein Problem mit einem ihrer Beine. Eine Verletzung vielleicht. Reacher erkannte an ihrer gezwungenen Haltung, dass das Bein ihr Schmerzen bereitete. »Würde es Ihnen etwas ausmachen?« schien ihr Blick zu sagen, und er hatte mit einem »Kein Problem«-Blick darauf geantwortet und den Stock aufgehoben. Er hatte ihr mit einer Hand die neun Plastikbeutel abgenommen und ihr mit der anderen die Gehhilfe gereicht, hatte sich die Beutel über die Schulter geschwungen und gespürt, wie die neun Drahtbügel in seine Finger schnitten. Sie hatte die Gehhilfe auf den Bürgersteig aufgesetzt und ihren Unterarm auf den gebogenen Knauf aus Metall gestützt. Er hatte ihr die Hand hingehalten. Sie hatte kurz gezögert. Dann hatte sie ein wenig verlegen genickt, und er hatte ihren Arm genommen und kurz gewartet und war sich dabei hilfsbereit und ein wenig ungeschickt vorgekommen. Reacher war der Meinung gewesen, dass er vielleicht ein paar Schritte mit ihr gehen würde, bis sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Dann wollte er ihren Arm loslassen und ihr die gereinigten Kleidungsstücke zurückgeben. Aber beim Umdrehen war er geradewegs auf die zwei Männer mit den Neun-Millimeter-Automatikpistolen gestoßen.

Jetzt standen die vier da, zwei Paare, Angesicht zu Angesicht. Wie vier Leute, die in einer engen Nische in einem Schnellimbiss zusammen essen. Die zwei Männer mit den Waffen waren Weiße, gut genährt, auf unbestimmte Art militärisch wirkend und auf unbestimmte Art einander ähnlich. Mittelgroß, kurzes braunes Haar. Große Hände, muskulös, breite Gesichter mit unauffälligen Zügen. Angespannter Ausdruck, beide, und harte Augen. Der nervöse Typ war kleiner, so als ob er seine Energie damit verbrennen würde, sich Sorgen zu machen. Sie trugen beide karierte Hemden und Popelinwindjacken und standen aneinandergedrückt da. Reacher war wesentlich größer als die drei anderen. Er konnte über ihre Köpfe hinwegsehen. Überrascht schaute er sich um, die gereinigten Sachen der Frau über der Schulter. Die Frau stützte sich auf ihre Krücke und starrte die beiden stumm an, während die Männer ihre Waffen auf sie und Reacher richteten. Er hatte das Gefühl, dass sie schon eine Ewigkeit so dastanden. Aber er wusste, dass das ein trügerisches Gefühl war. Wahrscheinlich waren noch nicht mehr als eineinhalb Sekunden verstrichen.

Der Mann, der Reacher gegenüberstand, schien der Anführer zu sein. Der größere. Der ruhigere. Er sah zwischen Reacher und der Frau hin und her und deutete dann mit einer ruckartigen Bewegung mit dem Lauf seiner Automatik auf den Randstein.

»In den Wagen, Schlampe«, sagte der Mann. »Und du auch, Arschloch.« Er sprach ganz leise, aber man konnte hören, dass er es ernst meinte. Ohne auffälligen Akzent. Vielleicht aus Kalifornien, dachte Reacher. Am Randstein stand eine Limousine. Sie hatte dort auf sie gewartet. Ein großer schwarzer Wagen, teuer. Der Fahrer beugte sich gerade über den Beifahrersitz und streckte sich, um die hintere Tür zu öffnen. Der Mann, der Reacher gegenüberstand, gestikulierte wieder mit seiner Waffe. Reacher machte keine Bewegung. Er sah nach links und rechts. Seiner Schätzung nach hatte er vielleicht noch eineinhalb Sekunden Zeit, um die Lage zu peilen. Die zwei Männer mit den Neun-Millimeter-Automatiks bereiteten ihm keine große Sorge. Er hatte nur eine Hand zur Verfügung, wegen der Reinigungsbeutel, aber vermutlich würde es kein großes Problem sein, mit den beiden fertigzuwerden. Das Problem war hinter und neben ihm. Er blickte in das Schaufenster der Reinigung und benutzte es als Spiegel. Zwanzig Meter hinter ihm drängte sich eine zusammengepackte Masse von Leuten an einem Straßenübergang. Einige Kugeln, die ihr Ziel nicht trafen, würden da leicht einige andere Ziele finden. Daran gab es gar keinen Zweifel. Überhaupt keinen Zweifel. Das war das Problem hinter ihm. Das Problem neben ihm war die unbekannte Frau. Wozu sie imstande war, blieb eine unbekannte Größe. Sie hatte irgendetwas an ihrem Bein. Sie würde langsam reagieren. Sich langsam bewegen. Er war nicht darauf vorbereitet, hier zu kämpfen. Nicht in dieser Umgebung und nicht mit dieser Frau als Partner. Der Mann, der so klang, als käme er aus Kalifornien, streckte die Hand aus und packte Reacher am Handgelenk, das von dem Gewicht der neun gereinigten Kleidungsstücke, die ihm in ihren Beuteln über den Rücken hingen, gegen seinen Hals gedrückt wurde. Und an diesem Handgelenk zog er ihn auf den Wagen zu. Der Finger am Abzug der Waffe sah immer noch so aus, als könnte er jederzeit in Aktion treten. Reacher beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Er ließ den Arm der Frau los und ging auf den Wagen zu. Warf die Beutel auf den Rücksitz und stieg hinter ihnen ein. Die Frau wurde ebenfalls hineingeschoben. Dann drängte sich der nervöse Typ neben sie auf die Sitzbank und knallte die Tür zu. Der Anführer stieg vorne rechts ein. Schloss die Tür. Der Fahrer schob den Wählhebel auf D, und der Wagen setzte sich sanft und lautlos in Bewegung, die Straße hinunter.

Die Frau stöhnte vor Schmerz, und Reacher vermutete, dass der nervöse Typ ihr seine Waffe gegen die Rippen presste. Der Anführer der beiden saß umgedreht auf dem Vordersitz, und seine Hand mit der Waffe lag an der dick mit Leder gepolsterten Kopfstütze. Die Waffe war direkt auf Reachers Brust gerichtet. Es war eine Glock 17. Reacher war mit dieser Art von Waffe gut vertraut; er hatte den Prototyp für seine Einheit getestet. Den Auftrag hatte man ihm während seiner Genesungszeit nach der Verletzung in Beirut erteilt. Leichter Dienst. Die Glock war eine verdammt wirksame Waffe. Achtzehn Zentimeter lang, vom Griffstück bis zum vorderen Laufende. Lang genug, um zielsicher zu sein. Reacher hatte damit auf eine Distanz von fünfundzwanzig Meter Reißnagelköpfe getroffen. Und sie verfeuerte ein ordentliches Geschoss – sieben Gramm schwer und knapp 360 m/sec schnell. Siebzehn Schuss pro Magazin – daher die Zahl hinter dem Namen. Und sie war leicht. Bei der ganzen Leistung knapp unter ein Kilo schwer. Die entscheidend wichtigen Teile bestanden aus Stahl. Der Rest war Plastik. Schwarzes Polykarbonat, wie teure Kameras. Saubere Handwerksarbeit.

Aber er hatte sie nicht sonderlich gemocht. Jedenfalls nicht hinsichtlich der speziellen Bedürfnisse seiner Einheit. Man war seiner Empfehlung gefolgt, sie abzulehnen. Stattdessen hatte er sich für die Beretta 92F ausgesprochen. Die Beretta war ebenfalls eine Neun-Millimeter, ein halbes Pfund schwerer, knapp drei Zentimeter länger, zwei Schuss weniger im Magazin. Aber sie hatte etwa zehn Prozent mehr MannStopp-Wirkung als die Glock. Das war für ihn wichtig. Und sie war auch nicht aus Kunststoff. Reachers Wahl war auf die Beretta gefallen. Und der Kommandeur seiner Einheit hatte zugestimmt. Er hatte Reachers Testergebnisse in Umlauf gebracht, und die Army hatte sich insgesamt seiner Empfehlung angeschlossen. In der gleichen Woche, in der er seine Beförderung erhielt und in der ihm sein Silver Star und sein Purple Heart angesteckt wurden, hatten sie Berettas bestellt, obwohl die Beretta teurer war und sich die NATO ganz scharf auf die Glock zeigte und Reacher eigentlich bloß die Stimme eines Einzelnen darstellte, der noch gar nicht so lange aus West Point raus war. Dann war er woanders eingesetzt worden und hatte so ziemlich überall auf der Welt gedient und seitdem eigentlich nie mehr eine Glock 17 zu Gesicht bekommen. Bis jetzt. Zwölf Jahre später bekam er Gelegenheit, sie sich noch einmal verdammt genau anzusehen.

Er löste seine Aufmerksamkeit von der Waffe und sah sich den Mann, der sie in der Hand hielt, noch einmal gründlich an. Er war ziemlich gebräunt, bloß am Haaransatz war seine Haut heller. Vor kurzem beim Friseur gewesen. Der Fahrer hatte eine hohe, glänzende Stirn, schütter werdendes, nach hinten gekämmtes Haar, rosige, lebhafte Gesichtszüge und diese besondere Art von Feixen, wie es so potthässliche Typen an sich haben, wenn sie sich einbilden, gut auszusehen. Dasselbe billige Kaufhaushemd und dieselbe Windjacke. Dieselbe wohlgenährte Körperfülle. Dasselbe »Ich habe hier das Sagen«-Selbstbewusstsein mit ein bisschen Atemlosigkeit an den Rändern. Drei Männer, alle etwa dreißig oder fünfunddreißig, ein Anführer, ein verlässlicher Gefolgsmann und ein schreckhafter Gefolgsmann. Alle drei angespannt, aber trainiert und im Begriff, hastig irgendeinen Auftrag zu erfüllen. Ein Rätsel. Reacher sah an der unverwandt auf ihn gerichteten Glock vorbei dem Anführer in die Augen. Aber der schüttelte den Kopf.

»Mund halten, Arschloch«, sagte er. »Ein Wort, und ich leg dich um. Kannst dich drauf verlassen. Wenn du den Mund hältst, passiert dir nichts.«

Reacher glaubte ihm. Der Mann hatte harte Augen und einen Mund, der ein gerader Strich war. Also sagte er nichts. Dann wurde der Wagen langsamer, rollte in einen bucklig ausbetonierten Hof und fuhr um einen verlassenen Fabrikbau herum. Sie waren nach Süden gefahren. Reacher schätzte, dass sie sich jetzt vielleicht fünf Meilen südlich von der Innenstadt Chicagos, dem Loop, befanden. Der Fahrer brachte die große Limousine sanft zum Stillstand, und zwar so, dass die hintere Tür genau gegenüber der Rückseite eines kleinen geschlossenen Lieferwagens war. Der Lieferwagen stand allein auf dem leeren Parkplatz. Ein Ford Econoline, schmutzig weiß, nicht alt, aber sichtlich viel benutzt. An der Seite war früher einmal eine Aufschrift gewesen, die man jetzt mit frischer weißer Farbe überstrichen hatte, die nicht genau zum übrigen Lack passte. Reacher sah sich vorsichtig um. Auf dem Gelände stand eine Menge Schrott herum. Er sah einen Farbkübel, den jemand neben dem Lieferwagen stehen gelassen hatte. Einen Pinsel. Kein Mensch zu sehen. Das Gelände schien verlassen. Wenn er handeln wollte, war dies jetzt der richtige Zeitpunkt und der richtige Ort. Aber der Mann vorn im Wagen lächelte ein dünnes Lächeln und lehnte sich über die Sitzlehne nach hinten. Packte Reacher mit der linken Hand am Kragen und bohrte ihm die Mündung der Glock mit der rechten Hand ins Ohr.

»Ruhig sitzen, Arschloch«, sagte der Mann.

Der Fahrer stieg aus und tänzelte um die Motorhaube herum. Zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und schloss die hinteren Türen des Lieferwagens auf. Reacher saß reglos da. Jemandem den Lauf einer Pistole ins Ohr zu drücken, ist nicht sonderlich schlau. Wenn der Betreffende plötzlich seinen Kopf herumreißt, auf die Waffe zu, dann rutscht der Lauf heraus und gleitet über die Stirn. Und dann ist nicht einmal jemand, der den Finger am Abzug sehr schnell bewegen kann, in der Lage, viel Schaden anzurichten. Möglicherweise kann er dem Betreffenden die Ohrmuschel zerfetzen und auch ganz sicher sein Trommelfell zum Platzen bringen. Aber das sind keine tödlichen Wunden. Reacher nahm sich eine Sekunde Zeit, seine Chancen abzuwägen. Dann zerrte der nervöse Typ die Frau aus dem Wagen und drängte sie hastig hinten in den Lieferwagen. Sie hoppelte und hinkte das kurze Stück. Aus der einen Tür raus und durch die andere hinein. Reacher beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Der Mann, der sich um sie kümmerte, nahm ihr die Handtasche weg und warf sie in den Wagen zurück. Sie fiel Reacher vor die Füße und plumpste schwer auf den dicken Teppich. Eine große Handtasche, teures Leder und mit etwas Schwerem darin. Etwas aus Metall. Und es gab nur ein Ding aus Metall, das Frauen mit sich herumtragen, das so schwer aufplumpsen konnte. Er sah zu ihr hinüber, plötzlich interessiert.

Sie lag hingestreckt hinten im Laderaum des Lieferwagens. Von ihrem Bein behindert. Dann zog der Anführer vorne Reacher über den Ledersitz und gab ihn an den nervösen Typen weiter. Kaum dass die eine Glock aus seinem Ohr heraus war, bohrte sich die andere in seine Seite. Er wurde über den unebenen Betonboden gezerrt. Zum hinteren Teil des Lieferwagens. Dann stieß man ihn zu der Frau hinein. Der nervöse Typ hielt sie beide mit der zitternden Glock in Schach, während der Anführer in den Wagen griff und die Gehhilfe der Frau herauszog. Er ging zu dem Lieferwagen hinüber und warf sie hinein. Sie prallte mit lautem Dröhnen gegen die Seitenwand aus Blech. Die Sachen aus der Reinigung ließ er mit ihrer Handtasche im hinteren Teil der Limousine liegen. Hastig zog er eine Handschelle aus der Jacketttasche, schnappte sich das rechte Handgelenk der Frau und ließ die eine Hälfte der Handschelle darüber zuschnappen. Dann zog er sie unsanft zur Seite und schnappte sich Reachers linkes Handgelenk. Ließ die andere Hälfte der Handschelle darüber zuschnappen. Schüttelte die Handschelle, um sich zu vergewissern, dass sie auch sicher geschlossen war. Knallte die linke Hintertür des Lieferwagens zu. Reacher sah, wie der Fahrer Plastikflaschen in das Innere der Limousine entleerte. Er bemerkte die blasse Farbe und roch den kräftigen Geruch von Benzin. Eine Flasche auf den Rücksitz, eine vorn. Dann schwang der Anführer die rechte hintere Tür des Lieferwagens zu. Das Letzte, was Reacher sah, ehe die Dunkelheit ihn einhüllte, war, wie der Fahrer ein Briefchen Streichhölzer aus der Tasche zog.

2

Eintausendsiebenhundertundzwei Meilen Fahrstrecke von Chicago entfernt war man dabei, eine Gästeunterkunft vorzubereiten. Diese Gästeunterkunft nahm die Gestalt eines einzigen Zimmers an. Das Zimmer entsprach einem sehr unkonventionellen Entwurf, den ein gründlicher Mensch nach sorgfältigem Nachdenken entwickelt hatte. Der Entwurf erforderte verschiedene ungewöhnliche Dinge.

Die Unterkunft war für einen ganz speziellen Zweck und einen ganz speziellen Gast bestimmt. Dieser ganz spezielle Zweck und die Identität des Gastes hatten die ungewöhnlichen Eigenschaften der Unterkunft diktiert. Die Konstruktion konzentrierte sich auf das erste Obergeschoss eines existierenden Gebäudes. Ein Eckzimmer war ausgewählt worden. Es verfügte über eine Anzahl großer Fenster an den beiden Außenwänden. Die Fenster blickten nach Süden und Osten. Die Glasscheiben hatte man eingeschlagen und durch kräftige Sperrholzplatten ersetzt, die an die verbliebenen Fensterrahmen genagelt wurden. Das Sperrholz hatte man außen weiß gestrichen, um es der Fassadenfarbe anzupassen. Innen blieb das Sperrholz ungestrichen.

Die Decke des Eckzimmers war herausgerissen worden. Es handelte sich um ein altes Gebäude, und die Decke hatte aus dick verputzten Rigipsplatten bestanden. Beim Abreißen waren gewaltige Staubwolken entstanden. Jetzt war der Raum bis zu den Deckenbalken offen. Die innere Wandverkleidung wurde abgerissen. Die Wände waren mit altem Fichtenholz verkleidet gewesen, vom Alter und der Möbelpolitur glatt geworden. All das war jetzt nicht mehr da. Das Innengerüst des Gebäudes und die dicke alte Teerpappe hinter der Außenverkleidung lagen offen. Die Bodenbretter hatte man herausgerissen. Die staubige Decke des darunter liegenden Raums war unter den schweren Balken zu sehen. Der Raum war bloß noch eine leere Schale.

Der alte Verputz von der Decke und die Bretter von den Wänden und dem Boden hatte man durch die Fenster hinausgeworfen, ehe man diese mit Sperrholz vernagelt hatte. Die beiden Männer, die mit den Abbrucharbeiten beauftragt gewesen waren, hatten den ganzen Bauschutt auf einen großen Haufen zusammengeschaufelt und waren dann mit ihrem Lastwagen dicht an den Haufen herangefahren, um den Schutt wegzukarren. Sie waren sehr darauf bedacht, alles ordentlich und sauber zu hinterlassen. Dies war das erste Mal, dass sie für diesen ganz speziellen Auftraggeber arbeiteten, und es hatte Andeutungen gegeben, dass weitere Aufträge zu erwarten waren. Und wenn sie sich umsahen, konnten sie erkennen, dass hier noch viel getan werden musste. Alles in allem eine Situation, die zu Optimismus Anlass gab. Neue Aufträge waren schwer zu finden, und dieser ganz spezielle Auftraggeber hatte keinerlei Interesse am Preis gezeigt. Die beiden Männer hatten das Gefühl, dass es in ihrem langfristigen Interesse stand, einen guten ersten Eindruck zu hinterlassen. Sie waren im Schweiße ihres Angesichts damit beschäftigt, auch die letzten Verputzreste auf ihren Laster zu laden, als der Auftraggeber selbst vorbeikam.

»Alles erledigt?«, fragte er.

Der Auftraggeber war ein hünenhaft gebauter Bursche, unnatürlich aufgedunsen, mit einer hohen Stimme und zwei roten Flecken von der Größe eines Fünf-Cent-Stücks, die auf seinen bleichen Wangen brannten. Er bewegte sich leicht und leise, wie jemand, der höchstens ein Viertel seiner Leibesfülle hatte. Der Gesamteindruck war der eines Menschen, von dem man den Blick abwandte und auf dessen Fragen man schnell antwortete.

»Wir sind nur noch beim Saubermachen«, erklärte der erste der beiden. »Wo können wir das Zeug hier abladen?«

»Das werde ich Ihnen zeigen«, sagte der Auftraggeber. »Sie werden zweimal fahren müssen. Bringen Sie die Bretter mit einer separaten Fuhre hin, okay?«

Der zweite nickte. Die Bodenbretter waren achtzehn Zoll breit und noch aus einer Zeit, als die Zimmerleute sich aussuchen konnten, aus welchem Baumstamm sie ihr Holz geschnitten haben wollten. Sie hätten unmöglich mit dem restlichen Bauschutt auf die Ladebrücke gepasst. Die Männer luden den Mörtel vollends auf, und ihr Auftraggeber zwängte sich mit ihnen in das Fahrerhäuschen. Seiner Körperfülle wegen wurde es recht eng. Er deutete hinter das alte Gebäude.

»Fahren Sie nach Norden«, sagte er, »etwa eine Meile weit.« Die Straße führte sie geradewegs aus der Ortschaft hinaus und wand sich dann über ein paar steile Kurven in die Höhe.

Der Auftraggeber deutete auf einen Schuppen.

»Dort drinnen«, sagte er, »ganz hinten, okay?«

Er schlenderte davon, und die beiden Männer entluden ihren LKW. Fuhren damit wieder nach Süden und luden die alten Fichtenbretter auf. Fuhren erneut die vielen Kurven hoch und luden aus. Sie trugen die Bretter hinein und stapelten sie ordentlich auf. Ganz hinten, wo es dunkel war. Dann trat der Auftraggeber aus den Schatten hervor. Er hatte auf sie gewartet. Er hielt etwas in der Hand.

»Wir sind fertig«, sagte der erste. Der Auftraggeber nickte.

»Das sind Sie allerdings«, entgegnete er.

Seine Hand kam hoch. Er hielt darin eine Pistole. Eine stumpf schimmernde Automatik. Er schoss den ersten in den Kopf. Der Knall des Schusses war betäubend. Blut, Knochensplitter und Gehirnmasse spritzten nach allen Seiten. Der zweite erstarrte entsetzt. Dann rannte er los. Er warf sich zur Seite, suchte verzweifelt Deckung. Der Auftraggeber lächelte. Er mochte es, wenn sie rannten. Langsam ließ er seinen muskulösen Arm sinken, bis er schräg nach unten zeigte. Feuerte und jagte dem Mann eine Kugel durchs Knie. Lächelte wieder. So war es noch besser. Er mochte es, wenn sie rannten, aber noch mehr mochte er es, wenn sie sich auf dem Boden wanden. Er stand da und hörte sich eine ganze Weile an, wie der Mann winselte. Dann ging er leise zu ihm hinüber und zielte sorgfältig. Jagte ihm eine Kugel durch das andere Knie. Er sah eine Weile zu, und dann wurde er des Spiels müde. Zuckte die Schultern und schoss ihm in den Kopf. Nachdem er die Pistole hingelegt hatte, wälzte er die beiden Leichen ein Stück über den Boden, bis sie parallel zu den alten Bodendielen lagen.

3

Sie waren jetzt seit dreiunddreißig Minuten auf der Straße unterwegs. Zuerst im Kriechgang im Stadtverkehr und dann schneller werdend, ein gleichmäßiges Dahinrollen. Vielleicht sechzig Meilen, die sie zurückgelegt hatten. Aber in der geräuscherfüllten Dunkelheit, die in dem Laderaum des Lieferwagens herrschte, hatte Reacher keine Ahnung, in welche Richtung ihn jene sechzig Meilen brachten.

Er war mit der jungen Frau mit einer Handschelle verbunden, und sie hatten die ersten Minuten ihrer erzwungenen Bekanntschaft damit verbracht, es sich so bequem wie unter diesen Umständen überhaupt nur möglich zu machen. Gemeinsam waren sie im Laderaum des Lieferwagens herumgekrochen, bis sie schließlich seitwärts auf dem Boden saßen, die Beine ausgestreckt, beide den Rücken an den großen Radkasten auf der rechten Seite gelehnt und so ein wenig vor den Rüttelbewegungen des Fahrzeugs geschützt. Die Frau saß an der Hinterseite, Reacher an der vorderen. Ihre mit der Handschelle miteinander verbundenen Handgelenke lagen zusammen auf der flachen Oberseite der Ausbuchtung im Blech, als ob sie ein Liebespaar wären, das sich gemeinsam in einem Café die Zeit vertrieb.

Anfänglich hatten sie nicht miteinander geredet. Sie hatten bloß still und benommen dagesessen. Das unmittelbare Problem war die Hitze. Es war um die Mittagszeit am letzten Junitag im Mittleren Westen, und sie waren eingesperrt in einem umschlossenen Raum mit Blechwänden. Es gab keinerlei Ventilation. Reacher nahm an, dass der außen an der Karosserie vorbeiströmende Fahrtwind diese bis zu einem gewissen Maße abkühlte, aber es reichte bei weitem nicht.

Er saß einfach in der Düsternis da und nutzte die heiße, tote Zeit dazu, um nachzudenken und Pläne zu machen, wie man es ihm beigebracht hatte. Blieb dabei ruhig, entspannt und jederzeit bereit und vergeudete seine Energie nicht mit nutzlosen Spekulationen. Beurteilend und einschätzend. Die drei Männer hatten ein gewisses Maß an Effizienz erkennen lassen. Kein großes Talent, keine besondere Raffinesse, aber auch keine signifikanten Fehler. Der nervöse Typ mit der zweiten Glock war das schwächste Glied des Teams, aber der Anführer hatte das recht gut ausgeglichen. Ein effizientes Dreierteam. Keineswegs das schlechteste, das er bisher erlebt hatte. Aber im Augenblick machte er sich keine Sorgen. Er hatte sich schon in schlimmeren Lagen befunden und sie heil überstanden. Sogar in viel schlimmeren Lagen und das auch mehr als einmal. Also machte er sich noch keine Sorgen.

Dann fiel ihm etwas auf. Es fiel ihm auf, dass die Frau sich auch keine Sorgen machte. Sie war ebenfalls ruhig. Sie saß einfach da, schwankte, war mit einer Handschelle an sein Handgelenk gefesselt und dachte und plante, wie man es ihr vielleicht ebenfalls beigebracht hatte. Er sah in dem schwachen Licht zu ihr hinüber und bemerkte, dass sie ihn aufmerksam musterte. Ein leicht spöttisch wirkender Blick, ruhig, kontrolliert, ein wenig überlegen, ein wenig missbilligend. Die selbstbewusste Zuversicht der Jugend. Jetzt hatte sie bemerkt, dass er sie ansah, hielt seinem Blick aber stand. Sie streckte ihre in der Handschelle steckende rechte Hand aus und stieß dabei an sein linkes Handgelenk, aber es war eine aufmunternde Geste. Er griff mit der anderen Hand herum und schüttelte ihr die Hand, und dann lächelten sie beide, ein kurzes, ironisches Lächeln hinsichtlich ihrer wechselseitigen Förmlichkeit.

»Holly Johnson«, sagte sie.

Sie musterte ihn aufmerksam. Er konnte sehen, wie ihr Blick über sein Gesicht wanderte, es losließ, kurz seine Kleidung erfasste und dann wieder zu seinem Gesicht zurückwanderte. Wieder lächelte sie kurz, als ob sie zu dem Entschluss gelangt wäre, dass er eine höfliche Geste verdiente.

»Nett, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte sie.

Er erwiderte ihren Blick. Betrachtete ihr Gesicht. Sie war eine sehr gut aussehende Frau. Vielleicht sechsundzwanzig, siebenundzwanzig. Er musterte ihre Kleider. Eine Zeile aus einem alten Lied ging ihm durch den Kopf: Hundred Dollar dresses, that I ain’t paid for yet. Konnte er sich noch an die nächste Zeile erinnern? Nein. Also erwiderte er ihr Lächeln und nickte.

»Jack Reacher«, sagte er. »Ganz meinerseits, Holly, glauben Sie mir.«

Es war schwierig, sich verständlich zu machen, weil der Lieferwagen großen Lärm machte. Das Motorengeräusch kämpfte gegen das Dröhnen der Räder auf der Straße an. Reacher wäre mit dem größten Vergnügen noch eine Weile still sitzen geblieben, aber Holly hatte da andere Pläne.

»Ich muss Sie loswerden«, sagte sie.

Eine selbstbewusste Frau, die sich gut im Griff hatte. Er gab keine Antwort. Sah sie bloß an und sah wieder weg. Die nächste Zeile in dem Lied lautete: Cold, cold blooded woman. Eine traurige, eine bittere Zeile. Ein altes Memphis-Slim-Lied. Aber der Text passte nicht auf sie. Passte überhaupt nicht. Das hier war keine kaltblütige Frau. Er sah wieder zu ihr hinüber und zuckte die Schultern. Sie starrte ihn an. Ungeduldig, weil er schwieg.

»Ihnen ist doch klar, was hier abläuft?«, fragte sie ihn.

Er musterte ihr Gesicht, ihre Augen. Sie starrte ihn an. Erstaunen in ihrem Gesicht. Sie dachte, dass sie hier mit einem Idioten zusammengespannt war. Sie dachte, er begreife nicht genau, was da ablief.

»Ist doch ziemlich klar, oder?«, sagte er. »Nach dem vorliegenden Beweismaterial …«

»Beweismaterial?«, wiederholte sie. »Im Bruchteil einer Sekunde war doch alles vorbei.«

»Genau«, sagte er. »Mehr braucht man auch nicht zu sehen, stimmt’s? Das verrät doch mehr oder weniger alles, was man wissen muss.«

Er hörte zu reden auf und fing wieder an, sich auszuruhen. Die nächste Gelegenheit zur Flucht würde dann kommen, wenn der Lieferwagen das nächste Mal anhielt. Bis dahin konnten noch ein paar Stunden vergehen. Er hatte das Gefühl, dass ihm vielleicht ein langer Tag bevorstand. Das Gefühl, dass er sich darauf einstellen sollte, seine Kräfte zu schonen.

»Und was muss man wissen?«, fragte die Frau. Ihre Augen sahen ihn genau an.

»Sie sind entführt worden«, sagte er. »Ich bin rein zufällig hier.«

Sie sah ihn immer noch an. Immer noch selbstsicher. Dachte immer noch nach. War sich immer noch nicht sicher, ob sie hier mit einem Idioten zusammengefesselt war.

»Ist doch ziemlich klar, oder?«, sagte er wieder. »Ich war nicht der, hinter dem die Kerle her waren.«

Sie antwortete nicht darauf. Hob nur eine schmale Augenbraue.

»Niemand hat gewusst, dass ich dort sein würde«, sagte er. »Nicht einmal ich habe das gewusst. Bis ich da war. Aber es war eine gut geplante Operation. Muss Zeit gekostet haben, das vorzubereiten. Gründliche Beobachtung, stimmt’s? Drei Männer, einer im Auto, zwei auf der Straße. Das Auto parkte dicht vor der Tür. Die hatten keine Ahnung, wo ich sein würde. Aber sie wussten ganz offensichtlich genau, wo Sie sein würden. Also sehen Sie mich nicht so an, als ob ich hier der Idiot wäre. Sie sind diejenige, die den großen Fehler gemacht hat.«

»Fehler?«, fragte die Frau.

»Sie haben zu regelmäßige Gewohnheiten«, entgegnete Reacher. »Die haben Sie studiert, vielleicht zwei oder drei Wochen lang, und dann sind Sie ihnen regelrecht in die Arme gelaufen. Die haben nicht damit gerechnet, dass da sonst noch jemand sein würde. Das ist wohl klar, oder? Sie hatten bloß eine Handschelle mit.«

Er hob sein Handgelenk an, womit ihres ebenfalls hochgehoben wurde, um seine Feststellung zu unterstreichen. Die Frau blieb eine ganze Weile stumm. Sie korrigierte jetzt ihre Meinung über ihn. Reacher folgte den Schaukelbewegungen des Fahrzeugs und lächelte.

»Und Sie hätten es eigentlich besser wissen müssen«, sagte er. »Sie sind irgendwie für die Regierung tätig, stimmt’s?

DEA, CIA, FBI, irgendetwas in der Art, vielleicht Detective beim Chicago Police Department? Noch neu, noch ziemlich engagiert. Und recht wohlhabend. Also hat es jemand entweder auf ein Lösegeld abgesehen, oder Sie sind bereits für jemanden zu einem potenziellen Problem geworden, obwohl Sie noch neu sind – aber, was auch immer, Sie hätten besser auf sich aufpassen sollen.«

Sie sah zu ihm hinüber. Nickte, die Augen in der Dunkelheit geweitet. Beeindruckt.

»Beweismaterial?«, fragte sie. Er lächelte sie wieder an.

»Ein paar Dinge«, sagte er. »Was Sie da aus der Reinigung geholt haben. Ich vermute, dass Sie jeden Montag in der Mittagspause die Kleider der vergangenen Woche hinbringen, um sie reinigen zu lassen, und Kleider für diese Woche abholen, um sie zu tragen. Das bedeutet, dass Sie Garderobe für fünfzehn- bis zwanzigmal zum Wechseln haben. Und wenn man sich ansieht, was Sie da tragen, kleiden Sie sich nicht gerade billig. Sagen wir mal, vierhundert Kröten für ein Outfit – das heißt, dass Sie vielleicht acht Riesen in Klamotten angelegt haben. Man könnte Sie also als einigermaßen wohlhabend bezeichnen.«

Sie nickte langsam.

»Okay«, sagte sie. »Und was bringt Sie darauf, dass ich für die Regierung tätig bin?«

»Ganz einfach«, sagte er. »Die haben Sie mit einer Glock siebzehn bedroht, und dann hat man Sie in einen Wagen geschoben und anschließend in einen Lieferwagen, hat Sie mit einem völlig Fremden mit Handschellen zusammengekoppelt, und Sie haben nicht die leiseste Ahnung, wo die Sie hinbringen oder warum sie das tun. Jeder durchschnittliche Mensch würde dabei durchdrehen und ein Riesengeschrei machen. Aber nicht Sie. Sie sitzen ganz ruhig da, und das deutet auf eine gewisse Ausbildung, vielleicht sogar eine gewisse Vertrautheit mit beunruhigenden oder gefährlichen Situationen hin. Und vielleicht steckt sogar so etwas wie die sichere Gewissheit dahinter, dass ein paar Leute sich darum kümmern werden, Sie so bald wie möglich zurückzuholen.«

Er hielt inne, doch sie bedeutete ihm nickend, dass er fortfahren solle.

»Außerdem hatten Sie eine Waffe in Ihrer Handtasche«, sagte er. »Etwas ziemlich Schweres, vielleicht eine Achtunddreißiger mit langem Lauf. Wenn das eine private Waffe wäre, würde jemand, der sich so kleidet wie Sie, sich für etwas Zierliches entscheiden, eine kurzläufige Zweiundzwanziger beispielsweise. Aber das war ein schwerer Revolver, also ist das eine Dienstwaffe. Und deshalb sind Sie irgendwie im Regierungsdienst tätig, vielleicht Polizeibeamtin.«

Die Frau nickte wieder, langsam.

»Und warum bin ich neu in meinem Job?«, fragte sie.

»Ihr Alter«, sagte Reacher. »Wie alt sind Sie denn? Sechsundzwanzig?«

»Siebenundzwanzig«, sagte sie.

»Das ist jung für einen Detective«, sagte er. »College, ein paar Jahre in Uniform? Jung für das FBI oder die DEA, und für die CIA auch. Und deshalb sage ich – für wen auch immer Sie arbeiten –, dass Sie erst seit kurzer Zeit dabei sind.«

Sie zuckte die Schultern.

»Okay. Und warum bin ich ziemlich engagiert?«

Reacher deutete mit der linken Hand und brachte dabei die Handschelle, die sie sich teilten, zum Klirren.

»Ihre Verletzung«, sagte er. »Sie hatten irgendeinen Unfall und haben wieder zu arbeiten angefangen, und zwar bevor Sie ganz genesen waren. Sie benutzen immer noch diese Krücke für Ihr verletztes Bein. Die meisten Leute in Ihrer Position würden zu Hause bleiben und sich Krankengeld auszahlen lassen.«

Sie lächelte.

»Ich könnte körperbehindert sein«, sagte sie. »Vielleicht ein Geburtsfehler.«

Reacher schüttelte in der Dunkelheit den Kopf.

»Das ist eine Krankenhauskrücke«, sagte er. »Die hat man Ihnen geliehen, kurzfristig, bis Sie von Ihrer Verletzung genesen sind. Wenn das etwas Dauerndes wäre, hätten Sie sich eine eigene Krücke gekauft. Wahrscheinlich hätten Sie sich ein ganzes Dutzend gekauft und sie unterschiedlich lackieren lassen, damit sie zu Ihrer teuren Kleidung passen.«

Sie lachte; es war ein angenehmes Geräusch, das sogar das Dröhnen und Poltern des Lieferwagens und das Brausen der Straße übertönte.

»Gar nicht schlecht, Jack Reacher«, sagte sie. »Ich bin Special Agent beim FBI. Seit letztem Herbst. Und den Bänderriss habe ich mir kürzlich beim Fußballspielen zugezogen.«

»Sie spielen Fußball?«, sagte Reacher. »Gratuliere, Holly Johnson. Und was für eine Art FBI-Agent sind Sie seit letztem Herbst?«

Sie blieb einen Augenblick lang stumm.

»Einfach Agent«, sagte sie. »Eine von vielen im Chicagoer Büro.«

Reacher schüttelte den Kopf.

»Nicht einfach Agent«, sagte er. »Sondern ein Agent, der jemandem auf die Füße getreten ist, der möglicherweise zurückschlagen möchte. Also, wem sind Sie auf die Füße getreten?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Darüber darf ich nicht sprechen«, sagte sie. »Nicht mit Zivilisten.«

Er nickte. Ihm sollte das recht sein.

»Okay«, sagte er.

»Jeder Agent macht sich Feinde«, meinte sie.

»Natürlich«, erwiderte er.

»Ich genauso viele wie jeder andere.«

Er warf ihr einen Blick zu. Das war eine eigenartige Bemerkung. Irgendwie abwehrend. Eine Bemerkung, wie sie eine Frau machte, die eine gute Ausbildung absolviert hatte und loslegen wollte, die aber seit letztem Herbst an einen Schreibtisch gekettet war.

»Abteilung Finanzen?«, riet er. Sie schüttelte den Kopf.

»Darüber darf ich nicht reden«, sagte sie wieder.

»Aber Sie haben sich bereits Feinde gemacht.«

Das trug ihm ein halbes Lächeln ein, das aber schnell verblasste. Dann sagte sie nichts mehr. Sie wirkte äußerlich ruhig, aber Reacher spürte an ihrem Handgelenk, dass sie sich zum ersten Mal Sorgen machte. Aber sie hatte unrecht.

»Die wollen Sie nicht töten«, sagte er. »Die hätten Sie auf diesem Schrottplatz umlegen können. Warum Sie in diesem verdammten Lieferwagen wegbringen? Und dann ist da noch Ihre Gehhilfe.«

»Was ist mit meiner Gehhilfe?«, sagte sie.

»Das ergibt einfach keinen Sinn«, sagte er. »Warum sollten die Kerle Ihre Gehhilfe hier reinwerfen, wenn sie vorhaben, Sie zu töten? Sie sind eine Geisel, Holly, darüber müssen Sie sich klar sein. Sind Sie sicher, dass Sie diese Männer nicht kennen? Sie vorher nie gesehen haben?«

»Niemals«, sagte sie. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wer sie sind oder was sie von mir wollen.«

Er starrte sie an. Sie klang viel zu entschieden. Natürlich wusste sie mehr, als sie ihm sagte. Beide schwiegen in all dem Lärm um sie herum. Sie schwankten und schaukelten in dem dahinpolternden Lieferwagen. Reacher starrte in die Dunkelheit. Er konnte spüren, wie Holly dicht neben ihm Entscheidungen traf. Sie drehte sich wieder seitlich zu ihm herum.

»Ich muss Sie loswerden«, sagte sie erneut.

Er warf ihr einen Blick zu, sah dann wieder weg und grinste.

»Soll mir recht sein, Holly«, sagte er. »Je früher, desto besser.«

»Wann wird jemand Sie vermissen?«, fragte sie.

Das war eine Frage, auf die er vorgezogen hätte, keine Antwort zu geben. Aber sie sah ihn scharf an, wartete. Und so dachte er darüber nach und sagte ihr die Wahrheit.

»Nie«, entgegnete er.

»Warum nicht?«, fragte sie. »Wer sind Sie, Reacher?« Er sah zu ihr hinüber und zuckte die Schultern.

»Niemand«, sagte er.

Sie fuhr fort, ihn fragend und leicht spöttisch zu mustern. Vielleicht sogar irritiert.

»Okay, was für eine Art von Niemand?«, fragte sie.

Er hörte Memphis Slim vor seinem inneren Ohr: Got me working in a steel mill.

»Ich bin Türsteher«, sagte er. »In einem Club in Chicago.«

»Was für einem Club?«, fragte sie.

»Eine Blues-Kneipe an der South Side«, erwiderte er. »Sie werden sie nicht kennen.«

Sie sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Türsteher?«, sagte sie. »Für einen Türsteher gehen Sie das aber recht cool an.«

»Türsteher geraten ziemlich oft in alle möglichen Situationen«, meinte er.

Sie wirkte so, als ob sie nicht überzeugt wäre, und er senkte den Kopf auf seine Armbanduhr, um nachzusehen, wie spät es war. Halb drei Uhr nachmittags.

»Und wie lange dauert es, bis jemand Sie vermisst?«, fragte er.

Sie sah auf ihre Uhr und verzog das Gesicht.

»Eine ganze Weile«, erklärte sie dann. »Ich habe eine Fallbesprechung, die heute Nachmittag um fünf losgeht. Vorher nichts. Zweieinhalb Stunden, bis jemand auch nur merkt, dass ich nicht mehr da bin.«

4

Im Rahmen des Zimmergerüsts im ersten Obergeschoss nahm ein zweites Gerüst Gestalt an. Es wurde aus neuen, kräftigen Balken, fünf mal zehn Zentimeter stark, auf konventionelle Weise zusammengenagelt. Bald sah es so aus, als würde innerhalb des alten Zimmers ein neues Zimmer entstehen, nur dass dieses neue Zimmer in jeder Richtung um etwa einen Fuß kleiner sein würde, als das alte gewesen war. Dreißig Zentimeter kürzer, dreißig Zentimeter schmaler und dreißig Zentimeter niedriger.

Der neue Unterbau für die Bodenbretter sollte dreißig Zentimeter über dem alten Boden angeordnet werden, wozu man jeweils fünfundzwanzig Zentimeter lange Pflöcke aus dem neuen Holz benutzte. Diese waren inzwischen angebracht und sahen aus wie ein Wald aus kurzen Stelzen, bereit, den neuen Boden zu tragen. Weitere kurze Pflöcke warteten darauf, die neue Wandverkleidung in dreißig Zentimeter Entfernung von der alten Wand zu halten. Das neue Gerüst strahlte in dem hellen Gelb von neuem Holz und leuchtete vor dem honigfarben verräuchert wirkenden alten Gebälk. Das sah aus wie ein altes Skelett, aus dem plötzlich ein neues Skelett herauswuchs.

Drei Männer waren damit beschäftigt, das neue Gerüst zu errichten. Sie balancierten geschickt von einem Balken zum nächsten und wirkten wie Männer, denen diese Art von Arbeit nicht neu war. Und sie arbeiteten schnell. Der Vertrag, den sie unterschrieben hatten, verlangte, dass sie rechtzeitig fertig wurden. In dem Punkt hatte der Auftraggeber keine Zweifel an seinen Wünschen gelassen. Eile war geboten. Die drei Zimmerleute beklagten sich nicht darüber. Der Auftraggeber hatte ihr erstes Angebot akzeptiert. Es war ein Angebot mit viel Luft gewesen, eines, das durchaus Platz zum Feilschen ließ. Aber der Mann war daran nicht interessiert gewesen. Er hatte überhaupt nicht gefeilscht. Er hatte bloß genickt und ihnen gesagt, sie sollten sofort, nachdem der Abrisstrupp mit seiner Arbeit fertig war, anfangen. Arbeit war schwer zu finden, und noch schwerer war es, Auftraggeber zu finden, die auf das erste Angebot eingingen. Also waren die drei Männer glücklich und zufrieden und bereit, hart zu arbeiten, schnell zu arbeiten, und das bis spät in die Nacht hinein. Sie waren bemüht, einen guten Eindruck zu machen. Schließlich brauchten sie sich bloß umzusehen, um zu erkennen, dass es hier noch eine ganze Menge mehr zu tun gab.

Und deshalb strengten sie sich nach Kräften an. Sie rannten mit ihren Werkzeugen und frischem Holz treppauf, treppab. Sie arbeiteten mit Augenmaß, markierten die Schnittstellen im Holz mit dem Daumennagel und ließen ihre Sägen und Nagelschussgeräte heißlaufen. Aber sie hielten häufig inne, um den Abstand zwischen dem alten Gerüst und dem neuen zu messen. Der Auftraggeber hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass dieses Maß von kritischer Bedeutung war. Der Abstand zwischen dem alten Gebälk und dem neuen betrug dreißig Zentimeter.

»Okay?«, fragte der eine Zimmermann den Vorarbeiter.

»Ideal«, sagte der. »Genau, was er verlangt hat.«

5

Holly Johnsons auf siebzehn Uhr angesetzte Fallbesprechung sollte in dem Konferenzzimmer im zweiten Stock des Chicagoer FBI-Büros stattfinden. Das war ein großer Raum von etwa sechs mal zwölf Metern, den eine lange, polierte Tafel mit dreißig Stühlen, fünfzehn auf jeder Seite, mehr oder weniger ausfüllte. Die Stühle waren massiv und mit Leder bezogen, und der Konferenztisch bestand aus gutem Hartholz, aber jede sonstige Ähnlichkeit mit dem Sitzungssaal eines Wirtschaftsunternehmens wurde durch die schmuddelige Tapete und den billigen Teppich zunichtegemacht. Auf dem Boden lagen etwa siebzig Quadratmeter Teppich, aber die ganzen siebzig Quadratmeter hatten wahrscheinlich weniger gekostet als ein einziger Stuhl.

Siebzehn Uhr an einem Sommernachmittag, und die Nachmittagssonne brannte durch die Fenster an der einen Wand herein und ließ den Leuten, die in dem Sitzungssaal eintrafen, nur eine zweifelhafte Wahl. Wenn sie sich gegenüber der Fensterfront setzten, schien ihnen die Sonne ins Gesicht; sie mussten während der ganzen Besprechung die Augen zusammenkneifen und hatten am Ende quälende Kopfschmerzen. Und die Sonne war mächtiger als die Klimaanlage; wenn sie also mit dem Rücken zum Fenster saßen, wurden sie so aufgeheizt, dass sie sich unbehaglich fühlten und deshalb Sorge bekamen, ob ihr Deodorant um fünf Uhr nachmittags noch wirkte. Eine schwere Wahl, aber die bessere Entscheidung war, die Kopfschmerzen zu vermeiden und das Risiko des Sichaufheizens einzugehen. Also setzten sich die früh Eingetroffenen auf die Plätze an der Fensterseite.

Als Erster erschien der FBI-Anwalt, der speziell für Finanzstraftaten zuständig war, in dem Raum. Er stand einen Augenblick lang in der Tür und überlegte, wie lange die Besprechung wohl dauern würde. Vielleicht eine Dreiviertelstunde, dachte er, weil er Holly kannte, also drehte er sich um und versuchte zu beurteilen, welcher Platz wohl in den Genuss des Schattens von der schmalen Säule gelangen würde, die die Fensterwand in zwei Teile teilte. Der Schattenstreifen lag links von dem dritten Stuhl in der Reihe, und der Anwalt wusste, dass er sich im Laufe der Zeit in Richtung auf das Kopfende des Tisches verschieben würde. Also lud er seinen Stapel Akten vor dem zweiten Stuhl auf dem Tisch ab, schlüpfte aus seinem Jackett und dokumentierte seinen Anspruch auf den Platz, indem er das Jackett auf den Stuhl fallen ließ. Dann drehte er sich wieder um und schlenderte zu der Anrichte am Ende des Raums, um sich dort eine Tasse Kaffee aus der Filtermaschine zu holen. Als Nächstes trafen zwei Agenten ein, die in Fällen tätig waren, die möglicherweise mit dem in Verbindung standen, den Holly Johnson bearbeitete. Sie nickten dem Anwalt zu und nahmen zur Kenntnis, welchen Platz er sich ausgewählt hatte. Natürlich wussten sie, dass es wenig Sinn ergab, eine Wahl unter den anderen vierzehn Stühlen am Fenster zu treffen. Die würden alle in gleicher Weise der Hitze ausgesetzt sein. Also ließen sie ihre Aktentaschen einfach auf die zwei Plätze daneben fallen und stellten sich um Kaffee an.

»Ist sie noch nicht da?«, fragte einer von ihnen den Anwalt.

»Ich habe sie den ganzen Tag noch nicht gesehen«, antwortete er.

»Schade, was?«, meinte der andere.

Holly Johnson war neu, aber sie war talentiert, und das machte sie populär. In der Vergangenheit hätte es dem FBI überhaupt keinen Spaß gemacht, die Art von Geschäftsleuten auffliegen zu lassen, für die Holly zuständig war, aber die Zeiten hatten sich geändert, und das Chicagoer Büro war inzwischen auf den Geschmack gekommen. Diese Geschäftsleute sahen jetzt wie Kotzbrocken aus, nicht wie solide Bürger, und die Agenten waren es leid, sie sich anzusehen, wenn sie in den Vorortszügen nach Hause fuhren. Die Agenten stiegen schon meilenweit vor den Stationen aus, wo die Banker und die Aktienmakler ihre Paläste in den teuren Vororten stehen hatten. Saßen sie ihnen gegenüber, dachten sie gewöhnlich über eine zweite Hypothek und vielleicht sogar einen zweiten Job nach und malten sich dann aus, wie viele Jahre sie nebenher als Privatdetektiv tätig sein müssten, um die magere Pension aufzubessern, die ihnen die Regierung bezahlen würde. Und die Bankbonzen ihnen gegenüber lächelten selbstgefällig. Und deshalb war man im Büro durchaus glücklich und zufrieden, wenn einer oder zwei von ihnen ins Trudeln gerieten. Als aus einem oder zwei zuerst zehn und dann zwanzig und später Hunderte wurden, machte man sich sogar eine Art Sport daraus.

Der einzige Nachteil dabei war, dass es harte Arbeit bedeutete. Wahrscheinlich machte es mehr Mühe, sie festzunageln, als irgendetwas sonst. Und da war Holly Johnson aufgetaucht, und seitdem ging alles ein wenig leichter. Sie hatte das Talent dafür. Sie brauchte nur einen Blick auf eine Bilanz zu werfen und wusste dann sofort, ob etwas daran nicht hasenrein war. Fast schien es so, als ob sie es riechen könnte. Sie saß einfach an ihrem Schreibtisch, sah sich die Papiere an, legte den Kopf etwas zur Seite und dachte nach. Manchmal tat sie das stundenlang, aber wenn sie dann mit Denken aufhörte, wusste sie ganz genau, was im Busch war. Und dann erklärte sie es in einer Fallbesprechung. So wie sie es darstellte, klang es ganz einfach und logisch, als könnte überhaupt niemand auch nur die leisesten Zweifel daran haben. Sie war eine Frau, die vorwärtskam. Sie war jemand, der Fortschritte machte. Sie war jemand, dem ihre Kollegen es zu verdanken hatten, wenn sie sich abends in ihren Vorortszügen besser fühlten. Und das machte sie populär.

Als Vierter traf in dem Konferenzraum im zweiten Stock der Agent ein, der damit betraut worden war, Holly allgemein behilflich zu sein, bis sie sich von ihrer Fußballverletzung erholt hatte. Er hieß Milosevic. Schlank gebaut, leichter Westküstenakzent. Keine vierzig, legere khakifarbene Designerklamotten, Gold um den Hals und am Handgelenk. Er war ebenfalls ein Neuzugang, den man kürzlich in das Chicagoer Büro versetzt hatte, weil die Leitung des FBI der Ansicht war, dort Finanzleute zu brauchen. Er reihte sich in die Kaffeeschlange ein und sah sich im Raum um.

»Scheint sich zu verspäten«, sagte er.

Der Anwalt reagierte darauf mit einem Schulterzucken, das Milosevic erwiderte. Er mochte Holly Johnson. Er arbeitete jetzt seit fünf Wochen mit ihr zusammen, seit dem Unfall auf dem Fußballplatz, und hatte jede Minute dieser Zusammenarbeit genossen.

»Gewöhnlich verspätet sie sich nie«, sagte er.

Als Nächster traf Brogan ein, Hollys Abteilungsleiter. Irischer Herkunft, aus Boston, via Kalifornien. Auf der jungen Seite der mittleren Jahre. Dunkles Haar, rotes Irengesicht. Zäher Bursche, in einem teuren Seidensakko, ehrgeizig. Zur gleichen Zeit wie Milosevic nach Chicago gekommen, war er sauer darüber, dass es nicht New York war. Er war ständig in Wartestellung auf die Beförderung, von der er überzeugt war, dass er sie verdiente. Es gab eine Theorie, dass Hollys Eintritt in seine Abteilung seine Chancen verbesserte.

»Sie ist noch nicht da?«, fragte er.

Die anderen vier zuckten die Schultern.

»Die kann sich auf was gefasst machen«, sagte Brogan. Holly war Aktienanalystin an der Wall Street gewesen, ehe sie sich um die Stellung beim FBI beworben hatte. Niemand konnte sich vorstellen, warum sie übergewechselt war. Sie hatte irgendwelche Verbindungen zu höchsten Kreisen und einen Vater, der irgendwie berühmt war, und deshalb lag die Vermutung nahe, dass sie vielleicht Eindruck auf ihn machen wollte. Keiner wusste genau, ob der alte Herr nun wirklich beeindruckt war oder nicht, aber man war sich allgemein darüber im Klaren, dass er eigentlich allen Anlass dazu hatte. Holly war eine der zehntausend Bewerber und Bewerberinnen ihres Jahrgangs gewesen und hatte die Aufnahmeprüfung an der Spitze der vierhundert bestanden, die es geschafft hatten. Ja, sie hatte die Aufnahmebedingungen sogar zu so etwas wie einer Farce gemacht. Das Büro hatte Collegeabsolventen mit Jura- oder Betriebswirtschaftsdiplomen gesucht und ersatzweise auch Absolventen etwas fadenscheinigerer Disziplinen, die anschließend wenigstens drei Jahre Berufserfahrung aufzuweisen hatten. Holly hatte sich in jeder Hinsicht qualifiziert. Sie hatte ein Betriebswirtschaftsdiplom von Yale, ein Magisterexamen in Harvard und obendrauf noch drei Jahre Praxis an der Wall Street. Die Intelligenztests und die Eignungsprüfungen hatte sie mit fliegenden Fahnen bestanden. Und die drei Agenten, die sie bei der mündlichen Prüfung durch die Mangel hatten drehen sollen, waren von ihr regelrecht bezaubert gewesen.

In Anbetracht ihrer Beziehungen war es kein Wunder, dass die Recherchen hinsichtlich ihrer Vergangenheit keinerlei Probleme aufgezeigt hatten, und so war sie schließlich auf der FBI-Akademie in Quantico gelandet. Und dann hatte sie richtig angefangen, Ernst zu machen. Sie war körperlich fit und stark, sie lernte schießen, sie legte eine fantastische Leistung im Reaktionskurs für Durchsetzungsvermögen hin und schnitt bei den simulierten Schießereien in Hogan’s Alley hervorragend ab. Aber das Herausragendste an ihr war die Einstellung, die sie an den Tag legte. Sie schaffte zwei Dinge gleichzeitig. Zunächst einmal machte sie sich die ganzen ethischen Grundlagen des FBI in einer Art und Weise zu eigen, wie das bei Neuzugängen selten war. Allen wurde schnell völlig klar, dass sie es hier mit einer Frau zu tun hatten, die für das Büro ihr Leben geben würde. Aber zum Zweiten tat sie das auch auf eine Art und Weise, dass niemand das Gefühl hatte, sie würde zu dick auftragen. Sie ging alles so locker und humorvoll an, dass niemand je auf die Idee kam, sie nicht zu mögen. Vielmehr waren alle von ihr begeistert. Es gab nicht den geringsten Zweifel, dass das FBI mit ihr wirklich das große Los gezogen hatte. Man schickte sie nach Chicago und wartete darauf, dass ihr Einsatz Früchte tragen würde.

Als Letzte trafen in dem Sitzungszimmer im zweiten Stock eine Gruppe Männer ein, die gemeinsam erschienen. Dreizehn Agenten und der Agent-in-Charge McGrath. Die dreizehn Agenten drängten sich um ihren Chef, der im Stehen mit ihnen eine Art Grundsatzbesprechung abhielt. Sie klebten förmlich an seinen Lippen. McGrath hatte so ziemlich jeden Vorteil für sich, den man sich vorstellen konnte. Er war ein Mann, der ganz oben gewesen, dann wieder heruntergekommen und jetzt im Außeneinsatz tätig war. Drei Jahre hatte er im Hoover Building als stellvertretender Direktor des FBI verbracht und hatte sich dann selbst um eine Herunterstufung und entsprechende Gehaltskürzung bemüht, um wieder im Außeneinsatz tätig sein zu können. Diese Entscheidung hatte ihn zehntausend Dollar Jahreseinkommen gekostet, aber seitdem fühlte er sich bei seiner Arbeit wieder richtig wohl. Außerdem hatte ihm sein Schritt die geradezu blinde Zuneigung der Männer eingetragen, mit denen er zusammenarbeitete.

Ein Agent-in-Charge, wie die offizielle FBI-Bezeichnung lautet, noch dazu in einem Außenbüro wie Chicago, ist so etwas wie der Kapitän eines großen Kriegsschiffs. Theoretisch gibt es Instanzen über ihm, aber die sind alle ein paar tausend Meilen weit weg und sitzen in Washington. Sie sind Theorie. Der Agent-in-Charge ist Realität. Er übt sein Kommando aus wie die Hand Gottes. So sah jedenfalls das Chicagoer Büro McGrath. Und er tat nichts, um dieses Gefühl in irgendeiner Weise zu enttäuschen. Er war zurückhaltend, aber zugänglich. Er hielt eine gewisse Distanz ein, vermittelte seinen Leuten aber das Gefühl, dass er für sie alles tun würde. McGrath war ein kleiner, untersetzter Mann, ein Energiebündel, jemand, der eine Aura von Selbstsicherheit und Vertrauen ausstrahlte. Jemand, der seine Mitarbeiter allein dadurch, dass er sie führte, zu Höchstleistungen anspornte. Mit Vornamen hieß er Paul, aber alle nannten ihn Mack.

Er ließ seine dreizehn Agenten Platz nehmen, zehn von ihnen mit dem Rücken zum Fenster und drei mit der Sonne in den Augen. Dann zog er einen Stuhl ans Kopfende des Tisches, für Holly. Er selbst ging ans andere Ende zu einem Stuhl an der Schmalseite. Saß damit seitlich zur Sonne. Und begann unruhig zu werden.

»Wo ist sie?«, fragte er. »Brogan?«

Der Abteilungsleiter zuckte die Schultern und hob beide Hände mit den Handflächen nach oben.

»Eigentlich sollte sie schon hier sein«, sagte er.

»Hat sie jemandem etwas aufgetragen?«, fragte McGrath. »Milosevic?«

Milosevic und die fünfzehn anderen Agenten sowie der FBI-Anwalt zuckten alle die Schultern und schüttelten die Köpfe. McGrath begann noch unruhiger zu werden. Die Leute haben normalerweise ein Verhaltensmuster, einen Rhythmus, und der ist so verlässlich wie ein Fingerabdruck. Holly hatte sich bis jetzt erst ein oder zwei Minuten verspätet, aber das wich so stark vom Üblichen ab, dass in ihm bereits die Alarmglocken zu klingeln anfingen. Er hatte in acht Monaten noch nie erlebt, dass sie sich verspätet hatte. Das war nie vorgekommen. Andere Leute konnten sich zu einer Besprechung fünf Minuten verspäten, und allen würde das normal erscheinen. Wegen ihres Verhaltensmusters. Aber nicht Holly. Um drei Minuten nach siebzehn Uhr starrte McGrath ihren leeren Sessel an und wusste, dass es ein Problem gab. Im Raum herrschte völlige Stille. Er stand auf und ging zu der Anrichte an der gegenüberliegenden Wand. Neben der Kaffeemaschine gab es ein Telefon. Er nahm den Hörer ab und wählte die Nummer seines Büros.

»Hat Holly Johnson angerufen?«, fragte er seine Sekretärin.

»Nein, Mack«, antwortete sie.

Er tippte auf die Gabel und wählte die Nummer des Empfangs zwei Stockwerke weiter unten.

»Irgendeine Nachricht von Holly Johnson?«, fragte er den Agenten.

»Nein, Chief«, antwortete der. »Hab sie nicht gesehen.«

Er drückte erneut auf die Gabel und rief in der Zentrale an.

»Hat Holly Johnson angerufen?«, fragte er.

»Nein, Sir«, sagte die Frau.

Mit dem Hörer am Ohr winkte er nach Bleistift und Papier. Dann wandte er sich wieder der Frau in der Zentrale zu.

»Geben Sie mir ihre Pagernummer«, sagte er. »Und die ihres Handys, ja?«

Er schrieb die Nummern auf. Trennte die Verbindung und wählte Hollys Pager. Ein langer, tiefer Ton sagte ihm, dass der Pager ausgeschaltet worden war. Dann versuchte er die Handynummer, hörte aber nur ein elektronisches Piepen und die Tonbandstimme einer Frau, die ihm mitteilte, dass das Telefon, dessen Nummer er gewählt hatte, nicht zu erreichen sei. Er legte auf und sah sich im Saal um. Es war zehn nach fünf, Montagnachmittag.

6

Um achtzehn Uhr dreißig nach Reachers Uhr änderte sich die Bewegung des Lieferwagens. Sechs Stunden und vier Minuten waren sie stetig dahingerollt, vielleicht fünfundfünfzig oder sechzig Meilen die Stunde, und die Hitze hatte ihren Höhepunkt erreicht und war dann schwächer geworden. Er hatte dagesessen, schwitzend und in der Dunkelheit hin- und herschaukelnd, mit dem Radkasten zwischen sich und Holly Johnson, und hatte die zurückgelegte Entfernung auf einer Karte abgehakt, die in seinem Kopf erschien. Er ging davon aus, dass man sie etwa dreihundertneunzig Meilen weit fortgebracht hatte. Aber er wusste nicht, in welche Richtung. Wenn sie nach Osten fuhren, dann würden sie jetzt Indiana passiert haben und bald auch Ohio hinter sich lassen, vielleicht gerade Pennsylvania oder West Virginia erreichen. War es nach Süden, dann könnten sie jetzt Illinois verlassen haben und in Missouri oder Kentucky sein, vielleicht sogar in Tennessee, falls er ihr Tempo unterschätzt hatte. Westen bedeutete, dass sie durch Iowa rollten. Sie hatten vielleicht einen Bogen unten um den See herumgeschlagen und fuhren jetzt wieder nach Norden, durch Michigan. Oder geradewegs nach Nordwesten; in dem Fall müssten sie sich jetzt in der Gegend von Minneapolis befinden. Aber irgendwo waren sie jetzt offenbar angelangt, weil die Fahrt langsamer wurde. Dann gab es ein Schwanken nach rechts, so als würden sie einen Highway verlassen. Dann ein Getriebegeräusch und Poltern über Löcher im Asphalt. Die Rüttelbewegungen warfen sie hin und her. Hollys Krücke rutschte klappernd über das Riffelblech am Boden. Der Lieferwagen quälte sich mit aufheulendem Motor Steigungen hinauf und rollte dann wieder bergab, hielt an unsichtbaren Straßenkreuzungen an, beschleunigte, bremste hart, bog scharf nach links und fuhr dann langsam eine Viertelstunde lang über unebenes Terrain bergab.

»Farmland irgendwo«, sagte Reacher.

»Ja, offensichtlich«, sagte Holly. »Aber wo?«