Ausgerechnet Mallorca - Selma Nentwig - E-Book

Ausgerechnet Mallorca E-Book

Selma Nentwig

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Beschreibung

Die DDR im Jahre 1989. Selma sucht das Weite. Auf ihre erste Flucht über die Prager Botschaft, folgte eine zweite. Westdeutschland war nur eine Durchgangsstation. Wer ja sagt zu seiner Freiheit, darf sie leben! Was folgt, ist ein amüsanter Spagat zwischen Fernweh und der Suche nach Identität. Ein hoffnungsvolles Porträt mit Inspiration und Augenzwinkern, vor allem für andere liebenswerte Träumer, die rastlos irritiert durch die Welt streunen. Eine Liebeserklärung.

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Seitenzahl: 365

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Das Buch

Selma darf zurückblicken auf eine ganze Versuchsreihe spannender Entdeckungstouren, die sie geprägt und verändert haben. Im persönlichen Rückblick begleiten wir sie auf eine turbulente Zeitreise. Weit über Grenzen hinaus. Ein rastloser Weg durch ein freies Leben, gelenkt von Neugier und Zuversicht. Bestimmt von kleinen und großen Entscheidungen, Abschiedstränen, Sehnsüchten und deren Wirklichkeit. Eine Generation voll neuer Möglichkeiten.

Die Autorin

Geboren an einem Sonntag im Mai 1970 lebt Selma Nentwig seit 2011 mit Ihrer Familie auf Mallorca.

Buch und Teil des Erlöses sind dem Kinderheim „CASA PADRE WASSON“ in Nicaragua gewidmet.

Selma Nentwig

Ausgerechnet Mallorca

© 2014

Selma Nentwig

Umschlag, Illustration: „©viperagp/fotolia.com“

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Paperback ISBN:

978-3-8495-8393-4

Hardcover ISBN:

978-3-8495-8394-1

e-Book ISBN:

978-3-8495-8395-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

A ship in harbour is safe,

but that is not what ships are built for.

John A. Shedd, Salt from My Attic (1928)

Inhalt

Die Schönheit von Grau

Fliehkräfte

Schlaraffenland

Liebesleben

Aufbruchstimmung

So weit, so gut

Heimsuchung

Lonely Planet

Halt auf freier Strecke

Wankelmut

An und für sich

Land in Sicht

Fruchtbare Zeiten

Familienbande

Lotterleben

Stopover

Gastspiel

Gestrandet

Die Schönheit von Blau

Die Schönheit von Grau

Es ist nicht zu leugnen.

Wir alle beurteilen Menschen doch irgendwie erst einmal nach dem Zufall ihrer Geburt. Wo kommst du her? In meinem Fall, lässt sich ein gewisser Migrationshintergrund nicht abstreiten. Inzwischen habe ich gelernt, dass Bonanza nicht nur ein Fahrrad und Banjo ein Schokoriegel war. In meiner Kindheit gab es weder Monopoly, Risiko oder MAD. Unser „Lego“ hieß „Formo“ und unsere Superhelden waren Fix und Fax und nicht Fix und Foxi.

„Keine Ahnung, die kenne ich nicht. Ich komme doch aus dem Osten.“

„Ach?! Hört man gar nicht.“

Offensichtlich sieht man es mir auch nicht mehr an. Entspannt lehne ich mich zurück. Dem folgt gewöhnlich der ein oder andere nachsichtige Blick, dann wird auch meist schon das Thema gewechselt.

Immerhin. Wir leben im Jahr 2014. Bald liegt der Fall der Mauer länger zurück, als es die DDR überhaupt gab. Irgendwann bin auch ich nur noch ein verstümmeltes Fossil einer Zeit, welche lediglich in Geschichtsbüchern erwähnt wird. Die eigene Vergangenheit aufzuschreiben ist weiß Gott keine revolutionäre Idee, selbst Boris Becker kann das. Aber das soll mich auch nicht davon abhalten. In Ermangelung der Enkelkinder, denen ich davon berichten könnte, bringe ich sie eben zu Papier, solange sie noch da ist, die Erinnerung. Es soll kein weiterer nostalgischer Rückblick eines Zonenkindes werden. Versprochen. Und wenn schon, dann äußerst geschickt getarnt.

In erster Linie möchte ich davon erzählen, wie ich bedächtig aus meinem Kokon kam und den Streifzug durch die lang ersehnte Freiheit erlebt habe.

Stell Dir vor, du wirst in Ostdeutschland geboren, in der grauen Realität zwischen Leipzig und Magdeburg, in einer kleinen damals noch 5000-Seelen-Gemeinde. Nein, es war kein niedliches „Unser Dorf soll schöner werden“-Idyll. Ein wahres Nest ohne geringste Charmeoffensive. Der nächste echte Wald war der Harz, welcher fünfmal im Jahr erobert wurde. Mit dem Trabbi natürlich, gewienert und poliert, zwei gefühlte Tagesreisen entfernt. Unser höchster Berg hieß „Elefantenbuckel“, 400 Meter über dem Saalespiegel. Alles war überschaubar. Die Akazie auf dem Bäckerplatz, der Kindergarten mit dem dottergelben Klettergerüst, die neue „Hans-Beimler“- Schule, die Post mit dem einzigen Telefon im Ort, Konsum und LPG-Kolchose. Ein kleiner Bahnhof war das Tor zur Welt. Dort gab es immerhin zwei Gleise. Rein und raus. Das Raus hielt sich bekanntlich in Grenzen. So blieb auch niemand außen vor. Nicht unbemerkt.

Es gab einen top gepflegten Sportplatz, ein Kino in dem man für 50 Pfennig „Ernst Thälmann - Sohn seiner Klasse“ und Mitte der Achtziger sogar „Dirty Dancing“ betrachten konnte. Freundliche Kleinigkeiten wie ein Krankenhaus, eine Apotheke, fließendes Wasser und Steckdosen waren vorhanden. Ebenso ein Kraftfuttermischwerk und die Molkerei. Naturgemäß auch einen Friedhof. Das war wohl der beschaulichste Ort im Ort. Hier waren die Dinge noch in Ordnung, oder schon wieder. Die Leute grüßten sich freundlich, wenn sie genügsam zufrieden mit ihren Gießkannen und den sorgsam aufgesammelten welken Blättern zum Komposthaufen schlenderten. Käuzchen waren zu hören. Es wurde zusammen gegraben, geweint, geplaudert, geputzt und so manches reizende Muster vor die Gräber der Lieben geharkt. Schon damals fragte ich mich, wie viel gepflegte Langeweile darin steckte.

Hier wuchs ich also auf. Zwischen Honecker-Bildern und Westpaketen, zwischen „Schwarzem Kanal“ und der „Tagesschau“, Pionierhalstuch, Eierlikör und Intershop. Die Generation Trabant. Man durfte nicht sagen was man denkt oder tun was man wirklich wollte. Das muss man an der Stelle nicht dramatisieren, aber diese Jahre waren sicherlich prägend. Das Thema wurde längst hinreichend, besprochen, beschrieben und verfilmt. Tatsächlich war es so wie in „Good Bye Lenin“ oder „Das Leben der Anderen“. Nur war es eben nicht das Leben der Anderen, ich war mitten drin. Wenn mir heute danach ist, schiebe ich ganz selbstverständlich die ein oder andere Marotte auf diese kuriose Zeit.

Im Großen und Ganzen fühlte ich mich wohl und hatte eine behütete Kindheit. Putzige Erinnerungen an den weißen Quietschhund im Laufstall, das erste Mal „Pan Tau“ im Farbfernsehen, mein eigenes Radieschen-Beet im Garten, bis hin zum geschmuggelten Limahl-Poster an der Wand. Prinzipiell gefahrlos und fröhlich. Sorgenfreie erste Jahre, auch ohne Sesamstraße und Nutella-Glas.

Alles was ich beeinflussen konnte, machte ich mit höchstem Ehrgeiz und unnachgiebigem Einsatz. Auf dem Papier war ich die Klassenbeste. Dadurch saß ich kompakt im Sattel und war die, die beim morgendlichen Fahnenappell vor der ganzen Schule die „Wir sind bereit - Meldung“ an den Direktor aufsagen durfte. Nicht ganz ohne Stolz. Wozu das gut war, wurde einfach nicht hinterfragt. Das gehörte sich so. Kollektiverziehung.

Ich habe keine Geschwister und irgendwann aufgegeben mich darüber zu beklagen. Für einen Big Brother war es eh zu spät. Schließlich gab es Gleichaltrige, mit denen ich auf dem Bäckerplatz Mutter-Vater-Kind spielen konnte. Mir wurde immer die schnöde Vaterrolle zugeteilt. Daher bevorzugte ich Kästchenhüpfen oder Seilspringen. Gut, dass es damals keine Computer gab. Dafür hätten wir überhaupt keine Zeit gehabt. Wie man weiß, stellten wir uns im größten Teil unserer Freizeit irgendwo an. In Erwartung eines ofenfrischen Brotes, Radeberger Exportbier oder einer Rolle Dachpappe. Ohne Futterneid. Geduldig stand man in einer Schlange und fragte nur gelegentlich nach, was es gab. Die Begeisterung über die Beute war unbezahlbar. Man bejubelte selbst kleinste Dinge, welche ich heute, ohne jede freudige Regung, lustlos in den Einkaufswagen lege.

Eine staatlich geprüfte Obst- und Gemüse-Fachverkäuferin der DDR, hatte durchaus das Zeug zu einem Profiler beim FBI. Meisterhaft konnte sie Gesichter und Verwandtschaftsverhältnisse erfassen. Pro Familie gab es ein Kilo kubanischer Orangen und an Weihnachten sogar die Guten aus Israel. Das war zwar wenig originell, aber so freute man sich umso mehr aufs Fest.

Die angenehmsten Erinnerungen habe ich an Oma Helene und Opa Franz. Wie gern brauste ich nach der Schule eilig in die „Große Freiheit“. Auf meinem himmelblauen Fahrrad, mit wehendem blonden Haar. Die „Große Freiheit“ war eine lange trostlose Straße und endete am Gasthof „Bürgergarten“. Der „Bürgergarten“ war elementarer Schauplatz nahezu aller Hochzeiten, Todesfälle und sonstiger privater Feierlichkeiten. Nur für die Jugendweihe war explizit das Kulturhaus vorgesehen. Event Location Nummer Eins.

Oma Leni war eine herzliche, heitere Person, die allzeit nach Frühling roch. Auf hübsche Dekoration legte sie größten Wert. In der Wohnung, sowie an sich selbst. Einmal wöchentlich tippelte sie zum Friseur und zog sich noch mit siebzig Jahren Augenbrauen und Lippen nach. Mit dem Wort „Oma“ konnte sie sich nie anfreunden, also nannten wir sie „Ma“. Sie war eine Frau, die adrett zurechtgemacht, lautstark beim Kartoffeln schälen Operetten trällerte. Nebenbei fütterte sie zweimal am Tag die Hühner und führte gewissenhaft ihr Eierbuch. Sozialistische Eier konnte man nämlich in Eiersammelstellen bringen und bekam auch noch Geld dafür. Das Gleiche galt für Obst und Gemüse. Eigentlich eine feine Sache. So wurde restlos alles abgeerntet, nur vereinzelt purzelte etwas achtlos vom Baum. Nichts war für die Katz, es wurde eingekocht oder eingefroren. Speisen aus Dosen und Gläsern vom Supermarkt waren mir weitgehend fremd. Und wenn überhaupt, hieß der Supermarkt damals „Kaufhalle“. Zudem bewirtschaftete jede Klasse eigene Gemüsebeete im Schulgarten. Unsere Gurkentruppe finanzierte sich damit den Ausflug zum Zoo. Offiziell „Wandertag“ genannt. Das Entscheidende war jeden Spatenstich vereint zu tun, kein Platz für Individualisten.

Mein Opa brachte mir Schach, Skat und Halma bei. Dazu noch eine Prise Lässigkeit. Er hetzte sich nicht. Nach „Höfers Frühschoppen“ fand man ihn sonntags gern unrasiert und mit Hosenträgern, pfeifend auf der Gartenschaukel. Wenn er dort so zwischen Birnbaum und Gewächshaus saß, baumelte er zufrieden mit den Beinen. Dabei verdrückte er ab und zu eine klebrige Weinbrandbohne und wünschte sich an keinen anderen Platz.

Als Leni sechzig Jahre wurde, durfte sie regelmäßig ihre Geschwister in Westdeutschland besuchen. Fränzchen erst ein paar Jahre später. So brach sie also allein auf und ließ ihn als „Pfand“ zurück. Ich durfte mich dann um ihn kümmern. Wie Rotkäppchen hatte ich einen Korb mit Kuchen und Wein dabei. Er kochte sich einen „Rondo-Kaffee“ und die Küche roch nach Bratäpfeln und Glück. Später durfte ich sogar noch „Dalli Dalli“ mit ihm schauen. Ich kann mich noch gut erinnern, als auch mein Opa Rentner wurde. Endlich war ihm gestattet auf große Fahrt zu gehen! Als er zurückkam, federte sein Gang wie bei James Cook nach der ersten langen Südsee-Reise. Seine Augen strahlten. Wie ein Schneekönig freute er sich, als er mir den prächtigen Kölner Dom beschreiben konnte. Fasziniert saß ich mit ihm auf der braunen Ledercouch und er wollte gar nicht mehr aufhören, zu erzählen. Wie Käpt’n Blaubär, der von einem fernen Land hinterm Regenbogen sprach. Gebannt lauschte ich seinen Geschichten, aber richtig glauben konnte ich ihm nicht. Wollte man das glauben?

Franz hatte ein Gesicht wie eine Landschaft. Sein Leben lang hat er davon geträumt eines Tages noch die Alpen zu sehen. Sein persönlicher „Alptraum“, Österreich und die Berge. Nur durch den Krieg war er, wie viele dieser Generation, überhaupt einmal in ein anderes Land gekommen. Eher unfreiwillig. Dabei hatte man kaum Sinn für Sightseeing. Hin und wieder erwähnte er die Tage in Biarritz. Gedankenvoll kramte er dann und wann alte vergilbte Postkarten aus einem Schuhkarton. Immerhin hatte er in diesen schrecklichen Zeiten, einmal das Meer gesehen. Zum ersten und letzten Mal.

Meine Großeltern waren für mich das Maß aller Dinge. Ein Traumpaar. Selten fiel ein böses Wort. Sie lachten viel, mit und über einander. Ihr Zusammensein betrachteten sie nie als selbstverständlich. Vielleicht hatte das auch mit ihrer Geschichte zu tun.

Über die Vergangenheit zu sprechen, wurde weitgehend vermieden. Nur ein paar Bruchstücke und Familienfotos konnte ich ihnen entlocken. Während der letzten Kriegsmonate, saß die junge Helene, gemeinsam mit ihren Geschwistern, in einem Zug ohne Ziel. Sie war mitten auf der Flucht und dabei hochschwanger. Auf alten Fotos wirkt sie stets zierlich und anmutig. Von ihrem Mann Franz hatte sie seit Wochen nichts mehr gehört. Es wurde ein Weggang für immer als sie ihre Heimat, das Städtchen Gleiwitz, verlassen musste. Es war kurz vor Leipzig, als sie an einem Bahnsteig ungläubig in ein vertrautes Gesicht blickte. Zufall! Franz war einige Tage zuvor von der Front entlassen worden, weil er eine Infektion bekam. Vermutlich rettete ihm das sein Leben. Unverhofft traf er dadurch Leni wieder. Das Schicksal wollte es so. In Eilenburg kam bald darauf meine Mutter zur Welt. Alle acht Geschwister meiner Oma zogen 1945 weiter in den Westen. Nur meine Großeltern bauten sich im Ostteil Deutschlands ein neues zu Hause auf, bekamen später noch ein zweites Kind. In all den Jahren, gab es eine Kraft, die größer war als Angst und Kummer. Ihre Liebe. Man nahm keine Antidepressiva oder ging in Therapie. Man musste einfach stark sein. Zusammenhalten. Geschichten wie diese, gab es in vielen Familien jener Zeit. Und das ist nur die Kurzfassung. Viele Paare und Geschwister wurden getrennt. Durch den Krieg, auf der Flucht und noch Jahre später, durch eine sinnlose Mauer. Warum erwähne ich das alles? Weil mir mein eigener Weg dagegen äußerst komfortabel erscheint. Es ging nie um Leib und Leben.

Mein Opa starb im Januar 1987. Viel zu früh für uns alle und zu früh für die Alpen.

Unmittelbar nach seiner Beisetzung, entdeckte ein eifriger Genosse im Rathaus, dass Helene in der „Großen Freiheit“ nun allein zu viel Platz hatte. Platz wurde klar geregelt. Durch sozialpolitische Maßnahme wurde sie kurzerhand in das Haus meiner Eltern umquartiert. In ihre „Kleine Freiheit“, sozusagen. Dort kam sie mir nie wirklich zu Hause vor, eher wie auf Besuch. Zudem verlor sie ohne Franz rasch an Kraft und Lebensmut.

Es gab noch eine zweite Oma, auch Tante, Onkel und Cousine, ganz in der Nähe. Jedoch erlaubten mir meine Eltern nicht, mit ihnen zu sprechen. Aus lauter Keckheit grüßte ich Oma Hilde zuweilen beim Bäcker. Ein zaghaftes Nicken war offen erkennbar, jedoch erwiderte sie niemals ein Wort. Eigenartig, aber ich habe keine Ahnung welches Familiengeheimnis da gehütet wird.

Wenn ich an meine Eltern denke, dann eher an unser schwieriges Verhältnis in diesen Jahren. Meine Mutter war auf unbestimmte Weise nicht der Typ, der mir versonnen liebevoll durch die blonden Haare bürstete. Sie hielt sie kurz und im Zaum. Kurzbob mit Fransen. Pragmatisch. Es gibt die einen, die dich ungefragt unterstützen, ermutigen und dir mit Rat und Tat zur Seite stehen auf deinen manchmal holprigen Wegen. Es gibt aber auch die anderen, die nie aufhören dir ein schlechtes Gewissen zu machen und bei denen du dir alles erkämpfen musst. Meine gehörten zur zweiten Gruppe. Seinerzeit. Helden der Arbeit.

In meiner Jugend hatte ich niemals den Eindruck, ihre Erwartungen erfüllen zu können. Ich erinnere mich, dass es im ersten Schuljahr für jede gute Note eine Mark Taschengeld gab. Als ihnen das irgendwann zu kostspielig wurde, erhielt ich nur noch für jede dritte Eins einen Ehrensold. Wenn ich gefragt wurde, was ich denn mal werden wolle, antwortete ich unverzagt: Grundschullehrerin. Lange Zeit hielt ich das für meine eigentliche Berufung. In den entscheidenden Wochen, gingen meine Eltern mit mir zum Schuldirektor. Überrascht von mir selbst, hörte ich mich mit fester Stimme sagen, dass ich gern Jura studieren würde. Wie verwegen! Ich hatte wohl zu viele Gerichtsfilme gesehen, welche mit der Realität kaum etwas zu tun hatten. Meine Zeugnisse waren tadellos. Zehn Jahre hatte ich mich politisch einwandfrei verhalten. Doch der Direktor erklärte mir schnörkellos, das wäre ohne „spezielle Beziehungen“ für mich nicht vorgesehen. Das Jurastudium gehörte zu den am stärksten reglementierten Studiengängen. Außerdem hatte ich Englisch und nicht Französisch als zweite Fremdsprache gewählt. Böser Fehler. Und überhaupt! Es blieb was es war, unerhört! Ich weiß bis heute nicht, was ich hätte anders tun sollen. Am Ende war ich sogar zu unsicher meinen größten Wunsch, erst einmal das Abitur zu machen, durchzusetzen. Meine Familie sah mich ohnehin lieber in der kleinen feinen Apotheke um die Ecke. Ich tat wie mir geheißen und begann eine solide anständige Ausbildung im sauberen Kittel. Alle waren zufrieden.

Das Einzige, was mich selbst daran faszinierte, war der Sohn des Apothekers. Wie mein tragisch verstorbener Wellensittich, hieß er Hansi. Hansi Bauer, einer meiner Mitschüler und zeitlose Jugendliebe. Allerdings hat er sich niemals auch nur eine Sekunde ernsthaft für mich interessiert. Hansi hatte tolle braune Augen, war ziemlich groß und athletisch, eigentlich clever, doch aufsässig allem und jedem gegenüber. Welches gehorsame Mädchen, wie ich es war, kann solch einer Mischung schon widerstehen? Ich wäre gern so rebellisch gewesen wie er. In seinen Augen war ich ein Streber und vielleicht brachte er es damit auf den Punkt. Jedenfalls nannte er mich manchmal Professor. In Momenten wie diesen, wollte ich gern aus meiner braven Haut schlüpfen, mit ihm eine Bank ausrauben oder dergleichen. Insgeheim erlaubte ich mir die Illusion, dass ein verträgliches Ende auf uns wartet. Immerhin waren wir im gleichen Monat geboren und lagen bei der wöchentlichen Baby-Wiegestunde immer dicht beieinander. Splitterfasernackt! Allerdings würdigte er mich schon damals keines Blickes und wird sich wohl kaum noch daran erinnern. Wie bedauerlich.

Ich schweife ab. Jedenfalls lernte ich Apothekenfacharbeiter in der Deutschen Demokratischen Republik. Nach Abschluss der Lehrzeit, in der ich zigtausend Gläser spülen und mehrere hundert Kilo Kamillentee abfüllen durfte, verdiente ich 460 Ostmark. Monatlich. Beruhigend war, dass das Auto, welches ich an meinem 18. Geburtstag bestellte, erst 17 Jahre später lieferbar sein würde. Gewesen wäre. Quasi. Bis dahin hätte ich die zwanzigtausend Mark für den Skoda locker zusammen. Für eine eigene Wohnung musste man als Single locker drei Jahre Wartezeit einplanen. Technischen Firlefanz besaß nur, wer über Beharrlichkeit, Kontakte und Geld verfügte. So durfte man seine Lebenszeit intensiv nutzen. Für Rücklagen und Vorfreude. Dafür sparte man sich bekanntlich die Ausgaben für unnütze Fernreisen.

Nach fünf Jahren Studienzeit zum Pharmazieingenieur würde ich immerhin etwas mehr verdienen. Stolze 650 Mark. Dieses Studium war der nächste Teil des elterlichen Plans. In jener Lebensphase geschehen die Dinge selten aufgrund einer inneren Entscheidung. Sie passieren einfach. Also sollte es so sein. Ich konzentrierte mich dennoch mehr auf mein Privatleben. Inzwischen war ich volljährig und wollte flüchten. Flüchten vor geregelten ernsten Bahnen, dem Geruch nach Rizinusöl und Wundpuder, den Parteiabzeichen, meinem winzigen Durchgangszimmer zwischen Küche und Bad. Flüchten vor meiner eigenen Vernunft, der Kohleheizung und dem großen Gemeinschaftsgefühl. Ich war achtzehn und wollte meine ganz persönlichen Entscheidungen treffen, verrückte verbotene Sachen machen, Abenteuer, Risiken und Experimente. In diesem Alter will man nicht angepasst sein, will coole Klamotten tragen, endlich erwachsen werden und seinen eigenen Kopf durchsetzen. Stur sein dürfen! Ich wollte weg. Der Klassiker. Einfach nur weit weg. Ich hätte mich vielleicht sogar damit abgefunden, dass es irgendwo Stacheldraht gab und wir nie Westberlin, den Eiffelturm oder Billy Idol live erleben durften. Jedoch habe ich es nicht verstanden, wieso man vom Elbsandsteingebirge nicht einfach an die Ostsee ziehen konnte. Keinen Millimeter. Man brauchte „Zuzugsrecht“, welches man natürlich nie bekam, außer man heiratet einen begehrten Rügen-Mann. Meine Eltern besaßen zwar ein Haus, aber ich hatte keinerlei Recht auf ein separates Zimmer. Uns wurden Mieter zugewiesen. Unser kompletter Alltag war kontrolliert, unfrei und eingeschränkt. Die Menschen, die Bananen, ich glaube, selbst die Hunde dackelten reguliert umher. Die Leinen kürzer als die Beine. Wie ferngesteuert. Mein Schicksal in der „Adler-Apotheke“ zwischen Buna, Leuna und Magdeburger Börde schien besiegelt. Dabei spürte ich schon immer diese ungeheuerliche Neugierde in mir, Lebenslust, Verlangen nach dem Fremden und das dringende Bedürfnis Dinge zu tun, die niemand von mir erwartete.

Also stürzte ich mich relativ früh ins Liebesleben. Ein Stück Zuneigung, Aufregung und Abwechslung musste her. Es funktionierte. Nach einigen wenig nennenswerten und doch so wichtigen Schwärmereien im begrenzten Angebot einer Kleinstadt lernte ich ihn kennen. Andreas. Einen Typ den meine Mutter todsicher ablehnen würde. Das tat sie auch. Er hatte einen schlechten Ruf, war derb motorisiert und trank regelmäßig eine Überdosis „Goldbrand“. Außerdem war er Metzger. Perfekt! Mit ihm fühlte ich mich komplett. Ich war ausbalanciert. Er rückte meinen viel zu artigen Weißkittel-Alltag und meinen Rehblick mit der Jugendweihe-Dauerwelle etwas ins Gleichgewicht. Ich war bereits siebzehn, als ich ihn in einer Dorfdisko kennen lernte. Er hatte nette tolerante Eltern und ein riesiges ungestörtes Zimmer. Wir waren sehr verliebt. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir mal ernsthaft Streit hatten, außer wenn es um Alkohol ging. Fast täglich holte er mich von der Apotheke ab. Immer später kam ich, wenn überhaupt, nach Hause. Meine Eltern applaudierten nicht. Was sollten die Nachbarn denken? Mein Leben hatte plötzlich etwas leicht Lasterhaftes. Nichts Verruchtes, aber wenigstens, etwas tendenziell Böses. Gut so. Gegensteuern.

Fliehkräfte

Sommer 1989. Ich hatte gerade meinen 19. Geburtstag gefeiert und war stolz auf meinen Studienplatz. Das klassenfeindliche Westfernsehen zeigte Bilder voller Aufruhr. Hoffnungsfrohe Flüchtlinge am Zaun von Ungarn und vor deutschen Botschaften.

Es war ein eigentümlicher Sonntagnachmittag. Andreas und ich saßen in der Gaststätte „Burgfrieden“. Erlebnisgastronomie. Kai und Sabine, ein gleichaltriges Pärchen, uns gegenüber. Wie damals viele junge Paare waren die beiden bereits verheiratet, in der Hoffnung, so rascher eine Wohnung zugeteilt zu bekommen. Wir diskutierten über dies und das, überwiegend über politische Themen, die wir nicht wirklich verstanden. Unsere Gespräche mündeten meist in der nüchternen Erkenntnis: Es gibt auf der Welt nur einen einzigen Ort in dem die Menschen wie im Zoo lebten. Nicht artgerecht. Überwacht hinter Mauern und Draht. Die DDR. Der blinde Fleck. Mauerblümchen! Klar, heute weiß ich, dass es da noch ganz ähnliche Formen der Käfighaltung gibt. Wie auch immer, ich fand unsere Situation ungeheuer empörend und war fest entschlossen, mich trotzig dagegen zu wehren. Wie angepflockt fühlte ich mich. Wie ein Kind, dessen Spielzeug hoch oben im Regal liegt, unerreichbar. Dabei wollte ich nicht einmal hoch hinaus, sondern mich einfach nur frei bewegen dürfen. Frischluft schnuppern. Meine Fühler ausstrecken. Es roch nach Zweitaktmotor und ich hatte Lust auf den Duft von jungem Frühling. Keine halbdunkle Dämmerung, sondern leuchtend warmes Morgenlicht. In einer Mischung aus hormonell bedingter Abenteuerlust, Auflehnung, Naivität und eingebildetem, wachsendem Bewusstsein, dachten wir ernsthaft an Flucht, überzeugt wir hätten nichts zu verlieren.

Meine Eltern hatten mich zu keiner Zeit politisch beeinflusst. Zwar waren sie keine Liebhaber des Systems, aber erkannten, dass ich nur Nachteile hätte, wenn wir die Wahrheit diskutierten. Bei ambivalenten Versuchen, mich mit Ihnen auseinander zu setzen, blieben sie sachlich ruhig und meinten, ich solle meine eigenen Erfahrungen machen, stets bemüht sich neutral zu verhalten. Rückblickend halte ich das für das einzig Richtige. Schließlich fuhr ich im Schüleraustausch nach Moskau und wollte meinen Studienplatz behalten.

Es ist schwer zu rekonstruieren, was den nächsten Schritt auslöste, welcher alles in Gang setzte. Andreas und ich stellten gemeinsam einen Ausreiseantrag. Ganz offiziell. Allerdings wusste sonst niemand davon. Bereits wenige Tage später, lud man uns vor. Zum „Rat des Kreises“. Wir wurden freundlich platziert. Mit gezielt zynischen Bemerkungen, drohte man mir dann mit baldiger Abschiebung. Andreas sollte jedoch mit unmittelbarer Einberufung zur Wehrpflicht rechnen. Wir wollten unbedingt zusammen bleiben. Das blieb auch dem engagierten „Funktionär“ unterm Willi Stoph-Bild nicht verborgen. Unser wunder Punkt. Da wir nicht verheiratet waren, hatte man das gute Recht uns zu trennen. Wir dagegen, hatten nicht einmal ein Recht auf Pflichten. Also zogen wir reumütig den Schwanz ein und den Antrag zurück.

Es war eine seltsame Zeit. Wir hatten Lampenfieber ohne konkreten Auftritt und dachten nur noch an eine goldene Zukunft im Westen. Wir sind ein Volk und so.

Auch der zweite Versuch verlief eher suboptimal. Wir hatten vor, nach Ungarn zu reisen. Dort wollten wir möglichst effizient über die grüne Grenze marschieren. Wie die unzähligen neuen Helden aus der Tagesschau. Allerdings war es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr so einfach, überhaupt nach Ungarn einzureisen. Unser Gesuch wurde abgelehnt. Wir benötigten eine entsprechende private Einladung, welche ich schließlich für Dezember beschaffen konnte. So gingen wir also zum Reisebüro (Hoho! Es gab ein Reisebüro!) und buchten einen Besuch bei „Freunden“. Das wurde ganz offiziell genehmigt. Im Weihnachtsfest 1989 lag also unsere nächste große Hoffnung. Wir hatten August!

Täglich wurden sie mehr, die Fernsehbilder von frei laufenden glücklichen Ossis, die es tollkühn geschafft hatten. Über Botschaften, durch Flüsse, Seen, Felder, Wiesen oder auf dem Luftweg. Der Letzte macht das Licht aus. Zunehmend machte sich das Gefühl breit, wir müssten etwas riskieren, es war nicht befriedigend jeden Montag auf Demos ein entschlossenes Gesicht zu zeigen. Ein Schlachtplan musste her! Kai und Sabine verfügten über einen alten, schrottreifen Wartburg. In der Trendfarbe bahamabeige. Unser Fluchtfahrzeug! In unseren Kinderzimmern schmiedeten wir geheime Pläne für den Tag X und fühlten uns wie Mafiabosse, die einen großen Clou einfädelten. Wenn ich heute darüber nachdenke, würde ich unsere Aktion als haarsträubend ahnungslos, gefährlich und leicht wahnsinnig bezeichnen. Aber das gab uns den so lang ersehnten Kick, der in Freier Deutscher Jugend und kontrollierter DDR-Kultur, nicht gestattet war. Wohl ziemlich genau das, was uns in diesem Alter fehlte.

Die Prager Botschaft war dicht, Ungarn vor Weihnachten für uns nicht gestattet, also fiel die entscheidende Wahl auf Polen. Auch hier gab es eine nette deutsche Botschaft. Mit etwas Glück war es möglich, von dort erfolgreich in den Westen abgeschoben zu werden. Wenigstens aus der ersten Reihe-Sicht von ARD und ZDF. Allerdings gestaltete sich auch hier eine offizielle Einreise schwierig. Selbst Polen erlaubte DDR-Bürgern keinen Zutritt mehr, die Grenzen waren abgeriegelt. Aber wir wollten einen Versuch wagen. Dabei entschieden wir uns für die sportliche Variante. Schwimmen über einen Fluss. 300 Meter Freistil. Die Neiße sollte es sein, bei Görlitz. Zusammen mit den Zeugnissen, packten wir unsere bescheidenen Ersparnisse in wasserfeste Plastiktüten. Wir hatten weder ein Nachtsichtgerät noch Badekappen mit Tarnanstrich. Dafür ausreichend kindliche Phantasie.

Da saßen wir dann. Im Tal der Ahnungslosen. Ein frisch verheiratetes tapferes Pärchen und ein zu allem bereiter Metzger mit seiner waghalsigen Freundin. Bereit, etwas Verrücktes, etwas Verbotenes zu tun. Heute möchte ich sogar behaupten, dass es anfangs kaum eine Spur von Anspannung oder gar Aufregung zu erkennen gab. Mit aller Entschlossenheit fuhr unsere kleine Brigade in besagter Nacht Richtung Görlitz. Verblüffend ruhig und fokussiert. Allein unser Wartburg klapperte vor Angst und Verfall. Wir selbst empfanden ein beinahe herkulisches Gefühl von „Zusammen sind wir stark“. Man darf das inzwischen getrost als jugendlichen Leichtsinn bezeichnen.

Dann wurde es ernst. Gegen 3 Uhr morgens fuhren wir wachsam das Grenzgebiet entlang um eine geeignete Wasserstelle zu finden. Insgeheim, hat sich wohl spätestens hier jeder gefragt, was wir da überhaupt machten. Gründlich planlos stellten wir das total erschöpfte Auto ab, überließen es seinem Schicksal. Dann stromerten wir tapfer in die dunkle Nacht. Wir schwärmten aus! Schnurstracks Richtung Flussufer. Im Gepäck nur die gut verstauten Papiere. Kurz darauf kann ich mich nur noch nebulös an tiefe laute Männerstimmen und blendendes Taschenlampenlicht erinnern. Intuitiv hasteten wir zurück zum Fahrzeug und rasten davon. Dem folgte eine hollywoodreife Verfolgungsjagd durchs nächste Dorf. Der Klang von Polizeisirenen ertönte. Viel zu nah. Unser Wartburg war hoffnungslos überfordert, doch als das Quietschen der Reifen zu hören war, fühlten wir uns ein Stück weit wie Robert de Niro. Tatsächlich hatten wir die vage Hoffnung, wir hätten unsere Jäger abgehängt. Mein Herz klopfte bis in die Haarspitzen. Auf freier Landstraße Richtung Norden kamen wir allerdings nur bis zur nächsten Straßensperre. Die Polizisten waren so breit wie ihr Grinsen, weder Freund noch Helfer. Betont spöttisch, fragten sie wo wir hinwollten. Um diese unchristliche Zeit. An diesem Punkt erreichte unsere Blauäugigkeit ihren glanzlosen Höhepunkt. Müde stammelten wir etwas von „Onkel besuchen“. Vergeblich versuchten wir auch nur ansatzweise überzeugend zu wirken. Den Ernstfall hatten wir nicht geprobt. Amateure! Spätestens als man unsere Dokumente und Zeugnisse fand, wechselten wir nur noch gesenkte Blicke. Kleinlaut. Das hier war weder ein Spiel noch ein Hollywood-Streifen.

Wir ergaben uns unserer Bestimmung. Hilflos. Ab diesem Moment verbot man uns jegliche Unterhaltung und wir wurden in Polizeifahrzeugen nach Görlitz gebracht. Getrennt voneinander. Die Kühnheit hatte uns schlagartig verlassen. Erstaunlich detailliert erinnere ich mich an folgende Situation: Einigermaßen verzweifelt, wurden wir in ein hell erleuchtetes Haus geführt, direkt neben uns stand eine Kolonne von Fahrzeugen. Ausnahmslos mit westdeutschen Kennzeichen. Der legale Grenzübertritt nach Polen. Eine Kleinfamilie saß in ihrem BMW und starrte uns an. Gleichgültige Leere. Verrückte Welt.

Im Inneren des Polizeigebäudes spielten sich bizarre Szenen ab. Einige Menschen blickten versteinert vor sich hin, still in Tränen versunken, daneben lärmende Starrköpfe und Idealisten mit farblosen Gesichtern. Revolutionstouristen. Ich gehörte zur ersten Sorte. Ähnlich wie Sabine wurde mir angst. Himmelangst. Wie erwähnt, durften wir nicht miteinander sprechen. Der einzige Mensch mit dem ich in diesen Stunden, die mir wie Tage vorkamen, Kontakt hatte, war ein Polizist. Bis heute kann ich nicht sagen, ob man ihn zu den Guten oder den Bösen zählen sollte. Er gab mir im Flur den Rat alles zuzugeben und vor allem zu bereuen. „Reue ist das Einzige was dich hier raus bringt“, meinte er ganz ohne Augenzwinkern.

Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Es war wohl irgendwann in den späten Morgenstunden, als ich zu zwei Beamten in ein schlichtes liebloses Zimmer gebracht wurde. Niedergeschmettert hockte ich in einer Ecke auf einem weißen harten Klappstuhl. Die beiden „Grenzschützer“, saßen gefühlte fünf Meter entfernt, neben einem Schreibtisch. In gespenstischer Gelassenheit. Das Honecker-Bild hatte bereits Staub angesetzt. Grelles Verhörlicht blendete mich. Wie in einer Filmszene. Einfach und wirkungsvoll. Völlig unabhängig davon, was der Polizist mir auf dem Flur gerade noch zugeflüstert hatte, konnte ich sowieso nicht anders als klein bei zu geben. Ich war keine tapfere Heldin, keine Märtyrerin. Ich erkannte sehr schnell, dass ich hinter diesen Gittern nichts ausrichten konnte. Dabei hoffte ich bloß, dass Andreas ähnlich dachte. In den letzten Stunden hatte ich ihn nicht gesehen. Das beunruhigte mich mehr als alles andere. Man würde dahinter kommen, dass ich bisher einen mustergültigen Weg absolviert hatte, sogar studierte, würde mir diesen verirrten „Fehltritt“ schon nicht so übel nehmen. Schon bald dürfte ich die Höhle des Löwen verlassen. Ungeschoren. Schuldbewusst, angemessen gebeugt. Etwas Anderes wollte ich mir nicht vorstellen. Andreas hatte zwar eine weiße Weste, war unbescholten, doch tendenziell weniger linientreu. Und jetzt?

Zeitgleich, erreichten meine Eltern neue Fernsehbilder von Flüchtlingen. Sie dachten, dass wir zum Zelten an einen See gefahren waren. Doch stieg leise in ihnen ein erster Verdacht auf. Intuitiv warfen sie einen Blick auf mein Sparbuch. Das Konto war leer geräumt. Der Schock saß tief. Schlaflos verbrachten sie die Nacht bei den Eltern von Andreas. Dort schwankten die vier gemeinsam zwischen Hoffnung, Sorge und Wut. Es muss schrecklich für sie gewesen sein.

Nach getrennten Befragungen in Görlitz, brachte man uns nach und nach wieder zusammen. Es war völlig klar, dass es damit nicht getan war. In Handschellen wurden wir abgeführt. Keiner von uns sah außerordentlich tapfer aus. Vier mutmaßliche Republikflüchtlinge ohne Mut, wurden auf einen offenen LKW verladen und abtransportiert. Das war in der Architektur der Reise nicht vorgesehen. Wir fuhren nur wenige Kilometer. Dann schloss sich hinter uns ein Tor. Vermutlich ein insgesamt unscheinbares Eisentor. Doch in dem Moment kam es mir mächtig monströs vor. Als wir über steile Treppenstufen in die Kellerräume geführt wurden, stiegen mir erneut Tränen in die Augen. Mit uns ging es abwärts. Ein modrig feuchter Geruch machte sich breit. Das war also unser Tages- und Nachtlager. Schäferhunde waren unsere treuen Begleiter, selbst zur Toilette. Die Maulkörbe trugen wir. Es herrschte absolutes Redeverbot. Das Schlimmste war wieder die Trennung. Wir wurden in separate Winkel verwiesen. Auf der Pritsche neben mir, lag ein evangelischer Pfarrer. Im Laufe der nächsten Stunden wechselten wir leise ein paar Sätze. Doch nach dem, was ich von ihm erfuhr, fehlten mir selbst zum Flüstern die Worte. Der Mann war tatsächlich bereits über den Fluss geschwommen. In Polen durfte er auf einen LKW aufspringen. Erleichtert und gelöst, wähnte er sich auf dem Weg Richtung Warschau. Wenige Momente später wurde er jedoch zum Absteigen gedrängt. Fast spöttisch flatterte über ihm wieder eine Fahne mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz. Er war erschüttert. Ich kann nicht sagen, ob unsere polnischen Freunde Kopfgeld für das Einfangen verirrter Brüder und Schwestern bekamen, jedenfalls war ich froh, dass mir diese herbe Enttäuschung erspart blieb.

Die Kellerbilder von damals habe ich bis heute noch blass in Erinnerung. Genau das, wollte man sicherlich damit erreichen. Eine reine Erziehungsmaßnahme um uns mürbe zu machen, ein Stück Substanz verlieren. Es war dunkel und kalt, Verpflegung im Service nicht eingeschlossen. Es gab kein Fenster zum Hof, nicht mal einen Lichtschacht. Bei jeder Bewegung fauchte uns ein Hund an. Irgendwann führte man mich ans Tageslicht. Aha, es war schon Morgen. Lebendkontrolle. Hofgang. Der Weg zum Schafott. Nein, nur ein paar müde Meter zu einem unscheinbaren Büro. Hier musste ich lediglich ein Dokument unterschreiben, erneut zerknirscht Reue zeigen und meinen Personalausweis abgeben. Eine Gerichtsverhandlung sollte folgen. Bis dahin wurde ich nach Hause entlassen. Freigang. Völlig neben der Spur, stand ich kurz darauf in einer großen Vorhalle und traf Sabine wieder. Ich kannte sie nur als lebensfrohes hochgewachsenes Mädchen, doch davon war nichts mehr zu spüren. Die Summe unserer einzelnen Teile hockte ausdruckslos auf einer Bank und wartete. Wartete, dass der Wecker klingelte und wir wieder in der Behaglichkeit unserer Kinderzimmer aufwachten. Als ob nichts geschehen war.

Wir konnten nur hoffen, dass auch Kai und Andreas irgendwann wieder auftauchen würden. Nach einer gefühlten Ewigkeit, kamen die Beiden um die Ecke. Sichtlich betreten. So oder so, waren sie über Nacht reifer geworden. Erst jetzt erkannten wir unsere missliche Lage. Nicht ganz die erhoffte Heldensaga. Zwar konnten wir wieder frei laufen, allerdings ohne uns ausweisen zu können. Wir durften uns als vorbestraft betrachten. Aktenkundig. Keiner von uns hatte eine erleuchtende Idee, was jetzt folgen sollte. Vermochten wir in dieser Situation unseren Eltern unter die Augen zu treten? Uns fehlte es an Schlaf, die Nerven lagen blank. Wir beschlossen, per Anhalter Richtung Grenze zu fahren und unseren überstürzt verlassenen Wartburg zu suchen. Unversehrt stand er am Straßenrand. Treu ergeben, resigniert.

Unser Schweigen war nicht zu überhören, als wir über die leere Autobahn tuckerten. Wider Willen. In der Luft lag eine Mischung aus Scham, Angst, Schock und innerer Unruhe. Ich fühlte mich absolut unfähig unter diesen Umständen geradewegs nach Hause zu fahren. In Dresden wollte ich Energie tanken. Ohne Ausweise ein Hotelzimmer zu finden, erwies sich jedoch als aussichtslos. Ich kam mir jämmerlich vor. Tatsächlich blieb uns nichts weiter übrig, als beschämt heimwärts zu fahren. Bei Andreas Eltern hoffte ich Ruhe finden. Wenigstens eine kleine Atempause um Kräfte zu bündeln. Wie konnten wir ahnen, dass sich hier bereits eine Tragödie abgespielt hatte. Kaum waren wir in seinem Zimmer, wurden meine Eltern informiert. Aufgebracht hämmerten sie gegen die Fenster. Was folgte, war ein ungemütliches Drama, eine gehörige Standpauke. Ihre Enttäuschung war maßlos. Die Auseinandersetzung in unserer eigenen Bestürzung kaum zu bewältigen. Eigentlich wollte ich in diesem Moment nie mehr nach Hause, oder mich wenigstens in Luft auflösen dürfen.

Einige Tage später. Die Wogen hatten sich halbwegs geglättet. Wie gewohnt, stand ich in der ersten Dämmerung an meiner Bushaltestelle, ging aufrecht zum Studium und lernte Formeln von Kohlenwasserstoffverbindungen. In einer winzigen Kleinstadt, wo man froh sein durfte, dass die Eltern keine Geschwister sind, war es nur eine Frage von Stunden, dass jeder über unsere Aktion Bescheid wusste. Wir mussten uns so einige seltsame Bemerkungen und Blicke gefallen lassen. Dadurch wurde der Wunsch endlich RAUS zu kommen nur noch verstärkt. Doch ohne Ausweise, wäre jeder weitere Fluchtversuch zwecklos. Hinzu gesellte sich eine gewisse Anspannung. Kai und Sabine hatte bereits der Mut verlassen neue Pläne zu schmieden. Sie wollten die Gerichtsverhandlung abwarten und sich bis dahin unauffällig verhalten. Wir hingegen, verfolgten aufmerksam die aktuellen Geschehnisse in der Prager Botschaft. Seit einigen Tagen durfte man wieder in die Tschechoslowakei einreisen. Wir wussten nicht wie lange das so bleiben würde. Die Regierung wirkte in diesen Tagen gründlich überfordert und ratlos. Chaotische Lagerhaltung. Die Gefängnisse platzten aus allen Nähten. Realistisch gab es für mich nur zwei Möglichkeiten: Entweder das Land würde in Kürze gewaltsam abgeriegelt. Ein Grund mehr, jede vielleicht letzte Fluchtmöglichkeit zu nutzen. Die härteste Prüfung wäre dabei ein Abschied für immer. Oder dem Land gelänge eine elegante Wendung in die Freiheit. Selbst diese Option wäre kein Grund nicht zu gehen, denn man könnte so jederzeit Familie und Freunde besuchen. Ein vernünftiges Motiv zu bleiben und unter diesem System an bessere Zeiten zu glauben, sah ich nicht. In meinen Augen gab es nur eine Richtung. Die Leinen waren gekappt.

Es war ein Dienstag. Am Abend zuvor standen Andreas und ich mal wieder auf einer der berühmten Montagsdemos. Seite an Seite mit meinem unverzagt optimistischen Vater. Wie bereits erwähnt, gab uns das jedoch wenig Zuversicht. Weitaus bedeutungsvoller, war eine Vorladung aufs Polizeirevier. Vollkommen unerwartet erhielten wir unsere Ausweise zurück. Unter streng mahnenden Blicken. Eine Vorladung vor Gericht würde bald folgen. Als wir das Büro verließen, konnten wir in unseren Augen deutlich die gleichen Gedanken lesen, sprachen sie jedoch nicht aus. Noch am selben Abend trafen wir vertraute Freunde, die uns am nächsten Morgen nach Dresden fahren sollten. Unser Ziel lautete Prag. Ganz offizielle Einreise. Vor Ort wollten wir versuchen über den berühmten Zaun der deutschen Botschaft zu klettern. Geld und persönliche Dinge, wie Schulabschlüsse oder Geburtsurkunden, welche unser Vorhaben eventuell verraten würden, blieben dieses Mal zurück. Wir waren uns nicht darüber im Klaren was das wirklich hieß. Wir fühlten einen inneren Zwang den niemand verstand, nicht einmal wir selbst, am wenigsten unsere Eltern. Das war natürlich die größte Hürde. Wir mussten es Ihnen sagen. Lieber wären wir wieder auf leisen Sohlen davon geschlichen, ohne Abschied. Aber das hätten Sie wohl nicht noch einmal verkraftet. Selbst die Idee mit ihnen zu reden und auf eine stille unausgesprochene Zustimmung zu hoffen, war ganz und gar unrealistisch. Alles was mir im Gedächtnis haften blieb, sind Bilder schmerzlicher Diskussionen und Vorhaltungen. Die verzweifelte Stimme meines Vaters und ein riesiger Kloß im Hals. Auch der Abschied von meiner Oma war unsagbar schmerzlich und einschneidend. Dennoch war da diese starke Neugier die sich Bahn brach. Die Sehnsucht nach der anderen, unbekannten Seite. Lust auf die Welt!

Und dann gab es da noch diese eine unwirkliche Szene am nächsten Morgen. Im Radio dudelte die goldene Stimme aus Prag. Karel Gott sang „Fang das Licht“. Meine Mutter kochte uns Eier und schmierte Brote. Wie hypnotisiert. Man stelle sich vor, was das für sie bedeutet haben muss. Angesichts der späteren Ereignisse sieht man das heute locker. Aber in diesem Moment war es tatsächlich eine Trennung auf unbestimmte Zeit, ein Weg ohne Ziel, vielleicht nicht ganz ungefährlich. Wir verließen unser zu Hause, kehrten den Eltern den Rücken, suchten das Weite. Was wir damit von ihnen erwarteten, wurde uns erst Jahre später klar. Ebenso wie der Verlust.

Die verschwiegenen „Fluchthelfer“ brachten uns an einem frühen Mittwochmorgen zuverlässig nach Dresden. Drei ganze Trabbi-Stunden entfernt. Momente voller Anspannung und Melancholie. Von dort erhofften wir uns einen direkten Zug nach Prag. In die „verbotene Stadt“. Ich reiste mit leichtem Gepäck. Nur eine kleine Handtasche mit Tagesration, Papiertaschentüchern und den zehn Westmark meiner Oma. Und natürlich das Wichtigste: Andreas. Mein arglos naives Gemüt, lässt sich am eindringlichsten durch den ersten Brief an meine Eltern wiedergeben. Ich schrieb ihn einige Wochen danach, Mitte November. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits vollkommen aus dem Häuschen (im wahrsten Sinne):

Liebe Eltern,

Grüß Gott! Wir haben es geschafft. Ein neues Leben hat für uns begonnen. Die ganzen Eindrücke zu verarbeiten und zu verstehen, war am Anfang nicht leicht. Heute, nachdem wir auch die letzten bürokratischen Wege hinter uns gebracht haben, habe ich endlich die Zeit, etwas aufs Papier zu bringen. Doch bevor ich Euch Einzelheiten schreibe: Es geht uns gut, wir haben viele nette Leute kennen gelernt, viel erlebt, haben eine tolle Unterkunft und Arbeit! Vor allem hatten wir großes Glück!

Nachdem wir in Dresden gleich einen Anschlusszug nach Prag bekamen, lief alles perfekt. Schon am Bahnsteig sah man in den ängstlichen Gesichtern der Menschen dass sie keine Touristen waren, sondern alle hofften, dass sie dieser Zug in eine andere Welt bringt. Es schien, als ob jeder das Gleiche vorhatte. Als der „Flüchtlingszug“ sich langsam der Grenze näherte, hatte wohl jeder Bauchschmerzen. Auch wir. Die Grenzbeamten wollten unsere Ausweise sehen und verglichen die Nummern mit denen registrierter, gesuchter Personen. Wir hielten den Atem an. Woher sollten wir wissen, ob nicht auch unsere Namen auf der Fahndungsliste standen? Manfragte jeden Passagier nach seinem Grund der Reise und kontrollierte das Gepäck. Offiziell wollten sich alle das schöne Prag anschauen, Onkel und Tanten besuchen. Einige durften nicht im Zug bleiben. Wir sahen sie hilflos mit Handschellen am Bahnsteig zurück bleiben. Als wir dann die ersten tschechischen Ortsnamen der Bahnhöfe lesen konnten, machte sich Erleichterung breit. Plötzlich wurde munter geredet, gegessen und sogar gelacht, obwohl es doch noch immer eine Fahrt ins Unbekannte war.

In Prag angekommen, hatten die Taxifahrer, die uns auf dem Bahnhof zaghaft ansprachen, eine Menge zu tun. Für zehn Westmark wollte man uns zur Botschaft bringen. Unser einziges Geld! Eine lange Taxikolonne setzte sich in Bewegung. Alle hatten nur ein Ziel. Vor dem berühmten Botschaftsgebäude wurden wir dann von irgendeinem Fernsehsender interviewt. Dann warteten wir und schauten erwartungsvoll auf das große Tor. Es dauerte keine halbe Stunde, dann betraten wir aufgeregt die heiligen Hallen. Dieser Moment war einzigartig. Spektakulär! Was das DRK dort leistete, war nicht zu begreifen. Die Kinder wurden ganz besonders herzlich betreut. Ein Mädchen hatte sogar ihre Katze dabei. Alle waren unvorstellbar freundlich. Wir bekamen Essen und einen Schlafplatz. Dann lernten zwei nette Männer kennen. Der eine frisch geschieden, hatte scheinbar nichts zu verlieren. Der andere war ohne seine Freundin gegangen und konnte sich kaum von ihrem Foto los reißen. Die Räume in der Botschaft waren mit einem Schloss vergleichbar. Noch niemals zuvor, hatten wir in einem so großen Prunksaal geschlafen. Natürlich sah es ansonsten ganz schön verwüstet aus. Am nächsten Abend erfuhren wir dass wir schon einen Tag später ausreisen dürften. Wir verbrachten also noch eine gespannte Nacht in doppelstöckigen Armeebetten und erzählten uns unsere kleinen Geschichten, Hoffnungen und Träume.

Am nächsten Morgen wurden wir mit Bussen zum Bahnhof gefahren. Das setzte einen kurzen Fußmarsch außerhalb des Botschaftsgeländesvoraus. Ich hatte ein ungutes Gefühl. Was ist wenn Sie uns jetzt wieder „einfangen“ und zurück bringen? Danach ging es 6 Stunden mit dem Zug Richtung Westen! Am letzten tschechischen Grenzort, in Eger, mussten wir noch einmal unseren Ausweis vorzeigen. Die Abteile wurden gründlich von Hunden durchsucht. Nach ca. 30 Minuten Aufenthalt, der uns wie eine Ewigkeit vorkam, war es soweit. Wir fuhren an Stacheldraht und Wachtürmen vorbei. Der ganze Zug jubelte und bebte vor Freude und Begeisterung. Als eine Stimme mit bayerischem Dialekt ertönte: „Wir begrüßen Sie in der Bundesrepublik Deutschland – Herzlich willkommen!“ konnte es noch immer niemand so richtig fassen. Freudentränen. Umarmungen. Was dann kam, war sensationell. Am Bahnsteig in Schirnding verteilten die Leute Getränke, Spielsachen und vieles mehr (durch die Fenster des Zuges). Das DRK lief durch die Gänge und wir erlebten eine beispiellose Freundlichkeit. Fremde Menschen fielen sich schluchzend in die Arme. Als wir weiterfuhren, waren die Straßen gesäumt von jubelnden Menschen.

Der erste Ort, den wir in der BRD betraten, hieß Marktredwitz. Auch dort erhielten wir vom DRK alle notwendigen Dinge und von den „Schaulustigen“ kleine Geschenke. Unvergesslich! Als wir uns in den 45 Minuten Aufenthalt (16.15 Uhr bis 17.00 Uhr) die Stadt ansehen wollten, wussten wir noch nicht in welches Aufnahmelager wir kommen sollten. Das war uns auch ziemlich egal. Nachdem man uns schon am Bahnhof einfache Jobs anbot, wussten wir, der Start würde nicht allzu schwer werden. Erst einmal mussten wir die neuen grellen Farben verarbeiten. Unweit des Bahnhofs drückten wir uns die Nasen an den Schaufenstern platt. Alle naselang. Dabei sprachen uns plötzlich zwei Fremde an. Sie fragten, ob wir hier bleiben möchten. Einfach so! Damit meinten sie nicht in Westdeutschland, wie wir vermuteten, sie meinten hier, bei ihnen, in Bayern. Es ist ein freundliches Ehepaar, so um die 50 Jahre alt. Ehe wir uns richtig entscheiden oder freuen konnten, hatten sie schon alles mit den Behörden geregelt. Sie konnten uns problemlosmitnehmen, mussten jedoch versprechen, uns am nächsten Tag im Lager Hammelburg anzumelden. Unsere Gefährten aus der Botschaft staunten nicht schlecht, als wir uns eilig von ihnen verabschiedeten. Gerade eben, hatten wir uns geschworen, uns in zehn Jahren wieder zu treffen. Nur um zu sehen, was aus unseren Wünschen geworden ist, aber wo? Wir wussten nicht genau wohin unsere Reise ging, sie wussten noch weniger wohin sie dieser Zug bringen würde. Also war es ein Abschied für immer. Schade, wir hätten diesen Bahnhof als Treffpunkt wählen sollen. So blieben wir „flüchtige “Bekannte. Am nächsten Tag in Hammelburg erfuhren wir übrigens, dass der Sonderzug ohne uns weiter ins Ruhrgebiet fuhr.

Bereits nach wenigen Minuten auf westdeutschem Boden, saßen wir in einem Opel Ascona und wurden durchs Fichtelgebirge chauffiert. Das nette Ehepaar war erstaunlich hilfsbereit und großzügig. Sie erklärten uns später, sie hätten uns schon eine Weile am Bahnhof beobachtet. Spontan hatten sie beschlossen uns anzusprechen und „aufzunehmen“. Von den unzähligen Menschen in den vielen Waggons, ausgerechnet uns! Das ist Schicksal.