Austerität - Florian Schui - E-Book

Austerität E-Book

Florian Schui

3,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wie die Enthaltsamkeit in die Wirtschaftspolitik kam und warum sie immer scheitern wird.

In Zeiten der Krise tritt – verlässlich, unvermeidlich, „alternativlos“ – die Politik der Sparsamkeit auf den Plan: Was könnte tugendhafter sein, als sündhafter Verschuldung mit Verzicht und Enthaltsamkeit zu begegnen? Auch heute steht Austerität wieder im Zentrum öffentlicher Debatten. Ihre Verfechter preisen sie als Fundament für künftiges Wachstum und die Rückkehr zur Stabilität. Ihre Kritiker warnen vor Abschwung und sozialer Ungerechtigkeit. Florian Schui betrachtet unsere heutige Diskussion im Kontext der jahrhundertealten Ideengeschichte der Austerität – einer Idee, die sich in der Wirtschaftspolitik hartnäckig hält, obwohl sie sich für die Bewältigung von Wirtschaftskrisen Mal um Mal als großer Fehler erwiesen hat.

Der Wirtschaftshistoriker Florian Schui legt eine prägnante Analyse vor, die belegt: Ein enthaltsamer Staat mag zwar die Moral auf seiner Seite haben, nicht aber die wirtschaftliche Vernunft. Ein wichtiger Beitrag zu der Debatte, die Europa zu spalten droht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 290

Bewertungen
3,0 (18 Bewertungen)
2
3
8
3
2
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DAS BUCH

Die Politik der Sparsamkeit spaltet Europa. Dort, wo sie durchgesetzt wird, gehen die Bürger gegen Kürzungen, Arbeitslosigkeit und soziale Härte auf die Straße. Dort, wo sie eingefordert wird – wie in Deutschland – gilt Austerität nach wie vor als vernünftige, wenn auch schmerzhafte finanzpolitische Haltung. Der Wirtschaftshistoriker Florian Schui legt eine kurze, aber prägnante Analyse vor, die belegt: Ein enthaltsamer Staat mag die Moral auf seiner Seite haben, nicht aber die wirtschaftliche Vernunft.

DER AUTOR

Florian Schui, geboren 1973, lehrte und forschte an zahlreichen Instituten, darunter die University of Cambridge und die University of London, über die Geschichte ökonomischer und politischer Ideen und die Wirtschaftsgeschichte Europas. Er veröffentlichte bereits vielbeachtete Bücher, u. a. über das Preußische Bürgertum unter Friedrich II. und den Diskurs über Industrialisierung zu Voltaires Zeiten. Heute ist Schui an der Universität St. Gallen tätig.

FLORIAN SCHUI

AUSTERITÄT

Politik der Sparsamkeit:

Die kurze Geschichte eines

großen Fehlers

Autorisierte Übersetzung

aus dem Englischen

von Ingrid Proß-Gill

Karl Blessing Verlag

Titel der Originalausgabe: Austerity – The Great Failure

Originalverlag: Yale University Press, New Haven and London

1. Auflage

Copyright © 2014 der Originalausgabe by Florian Schui

Copyright © 2014 by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie

nach einem Motiv von Plainpicture/Johner

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN: 978-3-641-14074-8

www.blessing-verlag.de

Für Cecilia

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Einführung

1  Austerität als Ideal und Praxis

     Von Aristoteles zu Thomas von Aquin

2  Austerität versus Vernunft

     Von Mandeville zu Voltaire

3  Austerität für den Kapitalismus

     Von Smith zu Weber

4  Austerität für Stabilität

    Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg

5  Austerität für später

  Keynes

6  Austerität für den Staat

    Hayek

7  Austerität für unseren Planeten

  Grüne Konsumkritik

8  Ist Gier gut?

Anmerkungen

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Die Austeritätspolitik ist ökonomisch gescheitert: Die Staatsschulden sind kaum gesunken und das Wachstum ist weiterhin schwach. Warum wird die Sparpolitik trotzdem mit breiter Unterstützung von Politikern, Ökonomen und großen Teilen der Öffentlichkeit fortgesetzt? Das ist die Frage, die dieses Buch zu beantworten versucht.

Viele deutsche Leser werden über die negative Einschätzung der Austeritätspolitik, die diesem Buch zugrunde liegt, die Stirn runzeln: Ist Deutschland denn nicht das beste Beispiel dafür, dass Sparpolitik funktioniert? Hat das Austeritätspaket, das sich Deutschland mit der Agenda 2010 und der Schuldenbremse verordnet hat, nicht gerade dazu geführt, dass das Land heute besser dasteht als die meisten anderen?

Es hat in der Tat einen »deutschen Sonderweg« durch die Krise gegeben. Der hat aber wenig mit der Sparpolitik zu tun und war auch weitaus weniger erfolgreich als häufig angenommen. Die bessere wirtschaftliche Lage Deutschlands basiert zum großen Teil auf starken Exporten. Etwa die Hälfte des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) besteht heute aus Waren und Dienstleistungen, die exportiert werden. Exporte spielten schon früher eine bedeutende Rolle. Aber ein erneuter Anstieg ab 2009 hat wesentlich dazu beigetragen, die Folgen der Finanzkrise abzumildern. Diese Tatsache ist unstrittig. Fraglich ist aber, ob die Agenda- und Sparpolitik der Vergangenheit der Grund für die heutigen Erfolge der Exportwirtschaft sind.

Die Reallöhne in Deutschland sind im Zeitraum von 2000 bis 2008 leicht gesunken, was dazu beigetragen hat, der deutschen Wirtschaft einen Kostenvorteil zu sichern. Das war teilweise ein Ergebnis der Agendareformen: Die Kürzungen der Renten- und Sozialversicherung haben dazu geführt, dass mehr Arbeitnehmer dem Arbeitsmarkt auch zu unattraktiven Konditionen zur Verfügung standen. Gleichzeitig verschlechterte sich die Verhandlungsposition der Gewerkschaften in Tarifverhandlungen, weil Arbeitnehmer mit schwindender sozialer Absicherung weniger konfliktbereit waren. Diese Entwicklung wurde jedoch auch durch langfristige Entwicklungen verstärkt, die nichts mit der Agenda 2010 zu tun hatten. Besonders sinkende Mitgliederzahlen der Gewerkschaften trugen zur schwachen Lohnentwicklung bei.

Die Senkung der Lohnkosten, so argumentieren die Verteidiger der Sparpolitik, hat die deutsche Wirtschaft wettbewerbsfähig gemacht und die Grundlage für die heutigen Exportüberschüsse gelegt. Ein Blick auf Geschichte und Struktur der deutschen Exporte lässt jedoch Zweifel an diesem Argument aufkommen. So stiegen die deutschen Exporte schon vor der Einführung der Agenda in den 1990er-Jahren deutlich an. Außerdem erzielt Deutschland heute deutliche Exportüberschüsse auch gegenüber Ländern wie der Türkei, die weitaus niedrigere Lohnkosten haben. Die deutschen Exportüberschüsse sind auch höher als die von Niedriglohnländern wie China. Darüber hinaus spielen hochwertige Produkte unter den deutschen Exporten eine große Rolle. Zusammen legen diese Beobachtungen die Vermutung nahe, dass deutsche Produkte sich international nicht deswegen gut verkaufen, weil sie billig sind, sondern weil sie qualitativ hochwertig und technisch innovativ sind. Der Umfang der Exporte hängt damit weniger von ihrem Preis ab als vielmehr von der Nachfrage in den Exportländern. Der Boom der Schwellenländer hat die Nachfrage nach deutschen Produkten in den letzten Jahren erhöht, nicht die Lohnzurückhaltung der deutschen Arbeitnehmer.

Ein positiver Effekt des kollektiv verordneten Konsumverzichts auf die deutschen Exporte ist fragwürdig. Dafür sind negative Auswirkungen auf den heimischen Markt sicher. Die schwache Lohnentwicklung zusammen mit den staatlichen Sparmaßnahmen hat der Nachfrage nach deutschen Produkten in Deutschland geschadet. Der deutschen Wirtschaft ist es gelungen, trotzdem zu wachsen, indem sie sich auf Exporte verlegt hat. Langfristig ist das jedoch eine risikoreiche Strategie, weil das deutsche Wachstum dadurch sehr stark von der wirtschaftlichen Entwicklung in den Exportmärkten abhängt.

Darüber hinaus braucht Deutschland eine stärkere Binnennachfrage, um über das spärliche Wachstum der letzten Jahre hinauszukommen. Denn die ökonomische Entwicklung der letzten Jahre kann nur deswegen als Erfolg gewertet werden, weil es anderen Ländern heute viel schlechter geht. Gemessen an den Boomphasen der Vergangenheit ist die Leistung der deutschen Wirtschaft schwach: In den 1960er- und 1970er-Jahren wuchs die westdeutsche Wirtschaft im Durchschnitt zwischen 2,5 und 3 Prozent. In den Jahren 2000 bis 2010 lag der Durchschnitt bei 1 Prozent und 2012 und 2013 waren es 0,7 und 0,4 Prozent. Dass Deutschland heute weit unter seinem wirtschaftlichen Potenzial bleibt, liegt vor allem an der Sparpolitik.

Die deutsche Austeritätspolitik der letzten 20 Jahre hat jedoch nicht nur der ökonomischen Entwicklung Deutschlands geschadet, sondern auch erheblich zur Eurokrise beigetragen. Denn die schwache Lohnentwicklung und der staatliche Sparkurs in Deutschland haben die Importe aus EU-Staaten geschwächt. Viele deutsche Unternehmen kamen gut durch die Krise, weil sie die sinkende heimische Nachfrage durch vermehrten Absatz im Ausland ausgleichen konnten. Der deutsche Markt spielte wegen der Sparpolitik keine vergleichbare Rolle für Unternehmen im europäischen Ausland.

Die schwachen Importe trugen auch zur Erhöhung der Handelsbilanzüberschüsse Deutschlands gegenüber anderen Eurostaaten bei. Die Folge waren deutsche Kapitalexporte in die späteren Krisenstaaten, die dort zu einer Überhitzung der Konjunktur führten. Kredite wurden zu großzügig vergeben und Löhne stiegen deutlich schneller als in Deutschland. Diese unterschiedlichen Entwicklungen haben in der Vergangenheit die Grundlagen für die Eurokrise gelegt. Die deutsche Sparpolitik war nicht der einzige Grund für dieses Auseinanderdriften. Sie war jedoch ein wichtiger Teil dieser Fehlentwicklung, die noch heute das Fortbestehen des Euro bedroht.

Die deutsche Sparpolitik hat aber nicht nur ökonomischen Schaden angerichtet. Die sozialen Folgen waren ebenfalls negativ. Der Lebensstandard vieler Deutscher ist in den letzten Jahren gesunken. Darunter sind nicht nur Arbeitslose und andere Empfänger von Sozialleistungen, deren Lage durch die Agendareformen verschlechtert wurde. Die schwache Lohnentwicklung hat auch dazu geführt, dass viele Deutsche, die Arbeit haben, geringere Lebensstandards hinnehmen müssen. Besonders gravierend ist dabei die rapide Vergrößerung des Niedriglohnsektors. In der Vergangenheit spielten solche Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland kaum eine Rolle. 1996 waren es bereits 15,6 Prozent der Beschäftigten und 2010 mussten 21,2 Prozent der Beschäftigten mit solchen Kleinstgehältern auskommen, die häufig nicht ausreichen, um die Grundbedürfnisse zu decken.

Darüber hinaus haben die Kürzungen der öffentlichen Haushalte auch den kollektiven Konsum der Deutschen eingeschränkt: Die Qualität öffentlicher Dienstleistungen sinkt kontinuierlich. Dabei geht es nicht nur um öffentliche Schwimmbäder, die die Wassertemperatur senken, oder Bibliotheken, die Öffnungszeiten kürzen. Auch in Kernbereichen spart sich Deutschland tot: Deutsche Schulen und Universitäten bewegen sich langsam, aber stetig ins internationale Mittelmaß, und die Infrastruktur für Verkehr, Internet und Energie muss dringend verbessert werden.

Schwaches Wachstum, Eurokrise, sinkende Lebensstandards: Die Politik der Sparsamkeit war in Deutschland ebenso wenig erfolgreich wie anderswo. Dennoch ist sie in Deutschland deutlich populärer als in anderen Ländern. Auch in den Krisenländern gibt es starke öffentliche Unterstützung für die Sparpolitik. In keinem der Krisenländer konnten bisher Austeritätsgegner Wahlen gewinnen. Aber in der deutschen Öffentlichkeit ist die Unterstützung für die Sparpolitik besonders weit verbreitet und tief verwurzelt.

Die historischen Debatten, die in diesem Buch behandelt werden, haben die Einstellung zur Austeritätspolitik in Deutschland genauso beeinflusst, wie sie es in anderen Teilen der westlichen Welt getan haben. Es gibt aber auch einige spezielle Gegebenheiten, die die besonders starke Zustimmung in Deutschland erklären. Ein entscheidender Faktor hat damit zu tun, dass kritische Reflektion in der Regel das Ergebnis von Scheitern ist. Das ist in der Wirtschaftspolitik nicht anders als in anderen Politikbereichen. Die vergleichsweise positive ökonomische Entwicklung in Deutschland hat daher sedierend auf die öffentliche Debatte über die Sparpolitik gewirkt. Die negativen Folgen sind in anderen Ländern deutlicher sichtbar und kritische Fragen entsprechend lauter.

Eine wichtige Rolle spielt aber auch die nationale Selbstwahrnehmung vieler Deutscher. Das 1990 entstandene vereinigte Deutschland hat im Wesentlichen die Institutionen und das nationale Selbstverständnis Westdeutschlands übernommen. Die Konstruktion der westdeutschen nationalen Identität in der Nachkriegszeit war jedoch eng mit spezifischen wirtschaftspolitischen Vorstellungen verbunden, die in der Aufbauphase traditionelle Formen nationaler Symbolik ersetzt hatten. Das war notwendig, weil der westdeutsche Nachkriegsnationalismus nicht auf die üblichen Requisiten des Nationalismus zurückgreifen konnte. Nationen definieren sich häufig über die nationale Geschichte und militärische und andere Glanzleistungen der Vergangenheit. In Westdeutschland war dies nicht möglich, weil die jüngere deutsche Geschichte zu diesem Zeitpunkt aus einer gescheiterten Demokratie, zwei verlorenen Weltkriegen mit umfangreichen Kriegsverbrechen und dem brutalsten Völkermord aller Zeiten bestand. Ein Teil der westdeutschen Gesellschaft war daher aktiv um die Vertuschung dieser Vergangenheit bemüht, während ein anderer sich um die kritische Aufarbeitung bemühte. Jedenfalls taugte der historische Bezug kaum zur Stiftung eines neuen Nationalgefühls.

Weitere Hindernisse auf dem Weg zu einem westdeutschen Nationalgefühl ergaben sich aus der deutschen Teilung. Neben der nationalen Geschichte sind normalerweise Sprache und Kultur wichtige Faktoren für die Schaffung eines Nationalgefühls. Westdeutschland war jedoch gezwungen, all diese Zutaten des klassischen Nationalismus mit der DDR zu teilen. Goethe und Bach waren ebenso wenig spezifisch westdeutsch wie Friedrich II. und daher wenig geeignet als Symbole eines Nationalismus, der sich auch gegenüber der DDR abgrenzen musste.

Westdeutsche Politiker bestanden in ihren Sonntagsreden stets auf dem Fortbestehen einer gesamtdeutschen nationalen Identität und dem politischen Alleinvertretungsanspruch der BRD. In der Praxis brauchte der westdeutsche Staat jedoch eigene identitätsstiftende Symbole und Ideale, um die notwendige Identifikation der westdeutschen Bevölkerung mit »ihrem« Staat herbeizuführen.

Dabei kristallisierten sich bald die freiheitliche Wirtschaftsordnung und die wirtschaftlichen Erfolge Westdeutschlands als wichtige Elemente der westdeutschen Identität heraus. Die Qualität deutscher Produkte und der rasche ökonomische Aufschwung nach dem Krieg nahmen eine Schlüsselstellung im Selbstverständnis der neuen Teilnation ein. Deutsche Autos, Werkzeugmaschinen und andere hochwertige Exportgüter fanden trotz Krieg und Niederlage auch weiterhin Anerkennung im Ausland und wurden so zum Gegenstand des westdeutschen Nachkriegspatriotismus. Gleichzeitig ermöglichte die Identifizierung mit Wirtschaftswunder und Marktwirtschaft auch die Abgrenzung von der DDR. Rasantes Wachstum, Exportüberschüsse und Marktwirtschaft setzten Westdeutschland positiv gegenüber Ostdeutschland mit seiner stagnierenden Planwirtschaft ab.

Wirtschaftliche Prosperität ist ein wichtiges Ziel aller Staaten, aber in kaum einem anderen Land haben ökonomische Erfolge und wirtschaftspolitische Vorgaben so stark identitätsstiftend gewirkt wie in Westdeutschland. Michel Foucault hat diese Eigenart des westdeutschen Nationalismus bereits Ende der 1970er-Jahre in seinen Vorlesungen am Collège de France diskutiert. In den Vereinigten Staaten spielt das Bekenntnis zum Kapitalismus eine ähnlich wichtige Rolle als Teil der nationalen Identität, und in Frankreich wird die protektionistische Wirtschaftspolitik des »Colbertismus« oft als Teil der nationalen Identität beschrieben. Aber der weitgehende Mangel anderer Symbole macht den westdeutschen Fall einzigartig.

Aus dieser Besonderheit der westdeutschen Identität ergibt sich zum Beispiel eine Bedeutung der Handelsbilanz in der öffentlichen Wahrnehmung, die weit über ihre eigentliche ökonomische Aussagekraft hinausgeht. Große und wachsende Exportüberschüsse wurden zum Symbol ökonomischer Stärke und zum Gegenstand des westdeutschen Nationalstolzes. In ähnlicher Weise wie die Medaillengewinne ostdeutscher Sportler spielte der imaginäre Titel des »Exportweltmeisters« eine zentrale Rolle für die westdeutsche Identitätsfindung. Allenfalls den Weltmeistertiteln im Fußball stand eine ähnlich wichtige Rolle für die westdeutsche Selbstfindung zu.

Ebenso identitätsstiftend wie die wirtschaftlichen Erfolge waren die Vorstellungen von den wirtschaftspolitischen Grundlagen des ökonomischen Aufstiegs. Die »soziale Marktwirtschaft« wurde als spezifisch westdeutsches Erfolgsmodell gefeiert, das sich nicht nur von der Planwirtschaft der DDR, sondern auch von den Wohlfahrtsstaaten anderer westlicher Industrienationen unterschied.

In der sozialen Marktwirtschaft bestand die wirtschaftspolitische Kernaufgabe des Staates darin, einen ordnungspolitischen Rahmen zu schaffen, der das Funktionieren des freien Wettbewerbs garantiert. Dadurch, so die Vorstellung, wurde maximale ökonomische Effizienz garantiert. Aus dem marktwirtschaftlich erzeugten Überschuss wurden dann die Sozialleistungen finanziert, die die »soziale« Komponente dieses Wirtschaftsmodells ausmachten. Dabei war das Ziel des westdeutschen Sozialstaats, vor allem Familien und einzelne Bürger vor Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit und Armut im Alter zu schützen. Die »soziale Marktwirtschaft« war daher im Kern eine Mischung liberaler Wirtschaftspolitik und konservativer Sozialpolitik.

Damit unterschied sich das westdeutsche Modell nicht nur vom Staatssozialismus der DDR, sondern auch von anderen wirtschafts- und sozialstaatlichen Modellen dieser Zeit, die weitaus interventionistischer waren. Die Wohlfahrtstaatsmodelle Großbritanniens und anderer Länder gingen von der keynesianischen Grundannahme aus, dass die Marktwirtschaft ohne regelnde Eingriffe des Staats dazu neigte, auf ineffiziente Gleichgewichte abzusacken. Nach diesem Verständnis war es nicht Aufgabe des Staates, den freien Wettbewerb zu schützen, sondern die Wirtschaft durch aktive Eingriffe zu manipulieren, um Krisen zu vermeiden und Vollbeschäftigung sicherzustellen.

Auch die Sozialpolitik, die eine wichtige Komponente der sozialen Marktwirtschaft ausmachte, unterschied sich von anderen Modellen. In anderen Staaten ging es neben der Absicherung der bestehenden sozialen Verhältnisse auch um ihre progressive Veränderung. Stand im westdeutschen Kontext etwa die Förderung der Familie mit traditioneller Rollenverteilung im Mittelpunkt, war es in anderen Ländern, zum Beispiel in Frankreich, ein erklärtes Ziel, den Anteil der erwerbstätigen Frauen zu erhöhen und Beruf und Familie auch für Frauen miteinander vereinbar zu machen.

Die Nachkriegszeit hat 1989 geendet, aber die vorherrschenden wirtschaftspolitischen Vorstellungen in Deutschland sind weiterhin von der ökonomischen Identität dieser Ära geprägt. Mehr noch als in anderen Ländern drehen sich wirtschaftspolitische Debatten in Deutschland nie nur um ökonomische Fakten und Theorien, es geht immer auch um Fragen der nationalen Identität. Jede Analyse der Eurokrise, die die deutschen Exportüberschüsse nicht als Teil der Lösung, sondern als Teil des Problems ansieht, stellt neben ökonomischen Theorien auch wesentliche Bestandteile der deutschen Identität infrage. Ganz gleich, wie solide die Faktenbasis einer keynesianischen Kritik der Austeritätspolitik ist, in Deutschland hat sie es schwerer, sich Gehör zu verschaffen. Den ökonomischen Sinn der Sparpolitik infrage zu stellen heißt in Deutschland auch immer, Gewissheiten infrage zu stellen, die seit über 50 Jahren die Grundlage der Staatsräson und der nationalen Identität darstellen.

Das Selbstverständnis vieler Deutscher orientiert sich weiterhin an der westdeutschen Nachkriegsidentität, doch die Realität hat sich verändert. Deutschland kann seiner Führungsrolle in Europa nicht entkommen. Das größte und wirtschaftlich stärkste Land der Europäischen Union muss sich seiner historischen Verantwortung stellen. Es kann diese Rolle aber nur erfolgreich ausfüllen, wenn es sich kritisch mit seiner eigenen nationalen Identität auseinandersetzt. Wenn es um Wirtschaftspolitik geht, dann darf es nicht mehr um die Frage gehen, was zu den westdeutschen Gewissheiten der letzten 50 Jahre passt. Das Ziel muss sein, eine Wirtschaftspolitik zu formulieren, die in den nächsten 50 Jahren und darüber hinaus zu einem geeinten Europa passt.

Dabei müssen nicht ökonomische Ziele wie Frieden, Menschlichkeit und Umweltschutz eine wichtige Rolle spielen. Ebenso wichtig sind aber auch ökonomische Ziele: Es muss eine Wirtschaftspolitik geben, die Wachstum und Wohlstand für alle sichert. Die aktuelle Sparpolitik trägt weder dazu bei, die erstgenannten Ziele zu erreichen, noch hilft sie bei der Verwirklichung des letztgenannten. Sie hilft weder Europa als Ganzem noch Deutschland alleine.

Einführung

Die Austeritätsmaßnahmen, die in vielen westlichen Ländern umgesetzt wurden, haben zwar die ganze Härte der wirtschaftlichen Stagnation gebracht, die angestrebten Ziele, Schuldenabbau, wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand, sind jedoch nicht erreicht worden. Trotz ihres ökonomischen Scheiterns erfreuen sich diese Maßnahmen bei vielen Ökonomen und Politikern sowie bei großen Teilen der Öffentlichkeit allerdings nach wie vor starker Unterstützung. Wie lässt sich diese Beharrlichkeit erklären? Ein Ansatz ist es, die derzeitigen Diskussionen aus einer historischen Perspektive zu betrachten und die historisch tief verwurzelten Argumente für Austerität zu untersuchen.

Denn trotz ihrer Aktualität sind die heutigen Kontroversen um die Sparpolitik nicht neu. Die Idee, dass eine Einschränkung des Konsums Individuen, Staaten und Gesellschaften Vorteile bringt, ist fast so alt wie die Menschheit. Der Begriff »Austerität« geht auf die alten Griechen zurück; mit der Frage, wie viel Konsum zu viel oder vielleicht sogar zu wenig ist, beschäftigten sich bereits einige der größten Denker der Antike. Seitdem ist sie in der Geschichte der westlichen Zivilisation Gegenstand politischer und wirtschaftlicher Debatten geblieben und hat die Aufmerksamkeit sehr unterschiedlicher Denker erregt: darunter die Verfasser der Bibel, mittelalterliche Asketen, Philosophen der Aufklärung und moderne Ökonomen. Die derzeitige Debatte um die Austeritätspolitik als eine Wiederholung jahrhundertealter Kontroversen über den Konsum zu betrachten hilft dabei, die von beiden Seiten vorgebrachten Argumente besser einzuordnen und zu verstehen.

Heutzutage wird der Begriff »Austerität« häufig zur Bezeichnung genereller Kürzungen bei den Staatsausgaben benutzt. Damit erfasst man zwar eine wichtige Ausprägung der Austeritätsmaßnahmen, nicht aber ihre grundlegenden Ziele. Sie sollen die Staatsfinanzen wieder ins Gleichgewicht bringen und die wirtschaftliche Dynamik und Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen. Das erste Ziel soll vornehmlich durch Kürzungen bei den Staatsausgaben erreicht werden, die individuelle und kollektive Formen des Konsums fördern, zum Beispiel bei den Renten, im Gesundheitswesen und im Bildungswesen. Wenn die Steuern erhöht werden, verringern sich häufig Einkommen und Konsum des Einzelnen. Das zweite Ziel, die Stimulierung des Wachstums, wird vorwiegend durch das Drücken der Lohnkosten angestrebt, also durch eine Senkung der Löhne und damit des individuellen Konsums. Auch von der Verringerung der Staatsausgaben und -schulden wird neue wirtschaftliche Dynamik erwartet: Man geht davon aus, dass ein kleinerer Staat mehr Raum für private Initiative lässt und das Vertrauen der Anleger und Verbraucher stärkt. In der Praxis haben Austeritätsmaßnahmen viele Facetten, doch ihr Kern ist meist Konsumverzicht.

Natürlich entfallen nicht alle Kürzungen bei den Staatsausgaben, die im Namen der Austerität vorgenommen werden, auf den Konsum. Die staatlichen Ausgaben für Investitionen wie den Bau von Brücken, Straßen und Flughäfen werden zwar auch in einigen Fällen beschnitten, doch normalerweise bleiben sie unangetastet oder werden sogar erhöht. Die Hauptlast der Kürzungen muss gewöhnlich der Konsum tragen. Das liegt vor allem daran, dass die Finanzierung diverser Formen des Verbrauchs den mit Abstand größten Teil der Staatsausgaben ausmacht. Daher muss eine Senkung der Staatsausgaben zwangsläufig vorwiegend hier ansetzen. Zudem werden die Konsumausgaben oft als entbehrlicher angesehen. Es wird allgemein akzeptiert, dass Kürzungen bei der Infrastruktur die Chancen für eine wirtschaftliche Erholung und die langfristige Entwicklung verschlechtern werden.

Nicht alle Reformen, die der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit wieder Auftrieb geben sollen, konzentrieren sich auf die Senkung der Lohnkosten, aber das ist doch immer ein wesentliches Element. Wer Arbeitsmärkte dereguliert, zielt in erster Linie auf Gesetze und Institutionen ab, die die Rechte der Arbeiter und Gewerkschaften und die Löhne schützen. In liberalisierten Arbeitsmärkten befinden sich Arbeitnehmer gewöhnlich in einer schwächeren Verhandlungsposition. Sinkende oder stagnierende Löhne sind meistens eine einschlägige Folge der Deregulierung. Sie ermöglicht es den Unternehmen, zu niedrigeren Kosten zu produzieren und wettbewerbsfähiger zu werden. Die unvermeidliche Kehrseite dieser Entwicklung ist aber, dass viele Lohnempfänger Einkommen einbüßen und daraufhin ihren Verbrauch einschränken müssen.

Die derzeitige Kontroverse um Austeritätsmaßnahmen dreht sich somit letztlich um die Frage, inwieweit solche Formen von Konsumabstinenz positive Effekte haben können. In diesem Sinne fügt sich unsere Debatte in eine jahrhundertealte Tradition der Konsumkritik ein. Tatsächlich wirkt ein großer Teil der historischen Kommentare zum Thema Konsum seltsam vertraut, wenn wir sie heute lesen. Natürlich hat sich viel verändert, seit Aristoteles, Thomas von Aquin und Voltaire über solche Fragen nachdachten. Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft politisch organisiert war und wie sie dem Einzelnen ermöglichte, seine materiellen Bedürfnisse zu befriedigen, unterschied sich jeweils drastisch: Für Aristoteles war es ebenso normal, dass ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft – vor allem Frauen und Sklaven – von der politischen Macht ausgeschlossen blieb, wie für Thomas von Aquin, dass praktisch alle Männer und Frauen seiner Zeit in der Landwirtschaft arbeiteten und im Elend lebten, ohne große Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Lebensumstände. Selbst die uns viel vertrauteren Kontexte, in denen Keynes und Hayek schrieben, unterschieden sich in wichtigen Aspekten von den heutigen. Wenn wir die Argumente aus der Vergangenheit verstehen wollen, müssen wir sie also unbedingt im richtigen Kontext betrachten.

Wer sich mit früheren Diskussionen über Konsum beschäftigt, trifft unweigerlich auf Sichtweisen, die heute fremdartig erscheinen. Das liegt auch daran, dass man sich der Frage, wie viel Verbrauch richtig ist, aus vielen sehr unterschiedlichen Blickwinkeln nähern kann. Das ist eben nicht nur eine ökonomische Frage, sondern ebenso sehr eine moralische, religiöse oder politische und sogar ästhetische. Die Perspektive, aus der Autoren sie angehen, entscheidet oft schon darüber, wie ihre Antwort ausfallen wird.

Die Diskussionen von heute sind ein gutes Beispiel für solche perspektivischen Unterschiede. Die Befürworter der Austerität werden oft als knallharte Wirtschaftsfachleute angesehen, die für unangenehme, aber notwendige Maßnahmen eintreten. Der Inbegriff des Verteidigers der Austerität ist der Technokrat: der Ökonomieprofessor, der in der Stunde, in der sein Land sich in größter Not befindet, Premierminister wird, und die Experten der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und andere, die in Krisenländer entsandt werden, um sie vor einem finanziellen Zusammenbruch zu retten. Die beachtliche Macht dieser Experten beruht primär darauf, dass man annimmt, sie würden wirtschaftliche Angelegenheiten besser verstehen als andere. Obwohl solche Experten normalerweise nicht gewählt sind, unterstützen große Teile der Öffentlichkeit sie, weil viele Menschen sich in den Händen von Leuten, die in der Logik des Kapitalismus gut bewandert sind und deren Analysen nicht durch Sentimentalitäten getrübt sind, sicher fühlen.

Die Gegner der Austerität werden hingegen oft als wohlmeinend, letztlich aber naiv erachtet. Auch wenn man vielleicht ihre Sorgen über die sozialen Folgen der Austerität teilt, wirft man ihnen vor, sie würden die unerbittliche Logik unseres Wirtschaftssystems nicht ausreichend berücksichtigen.

Kritische Beobachter weisen darauf hin, dass die Realität oft komplizierter ist. Die Wirtschaftsleistung von Ländern, in denen Austeritätsmaßnahmen besonders strikt angewendet wurden, war häufig schlechter als die von Ländern, die Kürzungen der öffentlichen Ausgaben und Reformen des Arbeitsmarktes nicht so eifrig vorantrieben. Es wird immer klarer, dass Austerität Krisen nicht verkürzt und abmildert, sondern unnötig verlängert und verschärft. Dabei vertreten Kritiker nicht die Ansicht, dass Austerität eine Rückkehr des Wachstums für immer verhindern wird. Aus Gründen, die wir noch immer nicht ganz verstehen, arbeiten Marktwirtschaften in Zyklen von konjunkturellen Auf- und Abschwüngen. Daher wird es auch dann zu Phasen erneuten Wachstums kommen, wenn eine Politik der Sparsamkeit betrieben wird. Die Frage ist allerdings, ob die Austerität zu Abschwüngen führt, die länger und drastischer als nötig sind, und Aufschwünge bewirkt, die kürzer und schwächer sind, als sie sein könnten.

Die überwältigenden Beweise dafür, dass Austeritätsmaßnahmen nicht die gewünschten Ergebnisse liefern, haben den IWF inzwischen dazu gebracht, seine Analyse kritisch zu überdenken. Solche Einsichten sind jedoch die Ausnahme geblieben. Paradoxerweise hat die Feststellung, dass Austerität keine spürbaren Vorteile in einem vernünftigen Zeitrahmen gebracht hat, keine Abkehr von diesem wirtschaftspolitischen Ansatz bewirkt. Selbst dort, wo Sparmaßnahmen nicht die gewünschten Effekte der Haushaltskonsolidierung und des erneuten Wirtschaftswachstums erzeugten, haben die politischen Führer und große Teile der Öffentlichkeit auf dem Sparkurs beharrt. Auf den ersten Blick ist das verblüffend. Eine schwache Entwicklung der Wirtschaftsleistung sollte Argumenten für Austerität doch schnell den Wind aus den Segeln nehmen, und die Wirtschaftsexperten, die für sie eintreten, sollten die Ersten sein, die das zugeben. Wie lässt sich dieses Phänomen erklären?

Die Befürworter der Austerität sind weder Fanatiker, noch können sie wirtschaftliche Daten schlechter verstehen und beurteilen als andere. Die Standhaftigkeit, mit der die Sparmaßnahmen selbst angesichts der Fehlschläge verteidigt werden, deutet vielmehr darauf hin, dass hier ein Missverständnis vorliegt. Im Gegensatz zur allgemeinen Auffassung basieren die Argumente für die Austerität eben nicht vorwiegend auf ökonomischen Prinzipien, und das war schon immer so. Seit Jahrtausenden rufen prominente Stimmen nach Zurückhaltung in Sachen öffentlicher und privater Ausgaben, doch wenn wir ihre Argumente aufmerksam lesen, sehen wir, dass es ihnen kaum um die Steigerung des Wohlstands oder die effiziente Nutzung der ökonomischen Mittel geht. Die Frage, die den Kern der modernen Ökonomie bildet – »Wie lassen sich die unbegrenzten Bedürfnisse mit begrenzten Mitteln am besten befriedigen?« –, spielt bei diesen Argumenten keine zentrale Rolle.

In den letzten 2 500 Jahren haben die Befürworter der Abstinenz ihre Argumente vor allem auf moralische und politische Überlegungen gegründet. Als die Vorteile der Genügsamkeit in der europäischen Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert erstmals bestritten wurden, griffen die Kritiker die moralische Verdammung des Luxus nicht direkt an. Sie führten ihre Attacke vielmehr auf einem anderen Terrain. Sie behaupteten, übermäßiger Konsum möge zwar schlecht für die Seele sein, mache das Leben aber angenehmer und bringe Reichtum. Ihnen ging es überhaupt nicht um moralische Urteile, sondern um die Frage, wie man die wirtschaftlichen Ressourcen effizienter nutzen könnte, um größeres materielles Wohlbefinden zu erzeugen.

Seit jener Zeit haben die Argumente für und gegen Austerität viele Veränderungen durchlaufen, doch das Grundmuster ist geblieben: Die Befürworter stützen sich auf die Moral und die Politik, während die Kritiker die Sprache der wirtschaftlichen Effizienz benutzen, um diesen Standpunkt anzugreifen. Das hat unter anderem dazu geführt, dass die Teilnehmer an der großen Debatte über die Austerität oft nicht miteinander reden, sondern aneinander vorbei. Gescheiterte Kommunikation hat erheblichen Anteil daran, dass diese Kontroverse eine der längsten und unkonstruktivsten in der westlichen Kultur darstellt.

Der moralische Charakter der Argumente für Austerität hat auch noch auf andere Weise zur Langlebigkeit dieser Kontroverse beigetragen. Denn auf den ersten Blick ist es erstaunlich, dass die Befürwortung eines einfachen Lebensstils die kommerziellen und industriellen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts überhaupt überlebte. Die moderne ökonomische Welt, die aus diesen Revolutionen entstanden ist, ist ausgesprochen dynamisch und wächst ständig. Diese Ausdehnung wird größtenteils vom wachsenden Konsum angetrieben, und in einer kapitalistischen Gesellschaft scheint nichts so fehl am Platz wie eine austeritäre Lebensweise. Man hätte daher erwarten können, dass die Argumente für Austerität mit dem Aufstieg des Kapitalismus verschwinden würden. Sie erlitten tatsächlich einen schweren Rückschlag, als die Öffentlichkeit sich in der Aufklärung daran gewöhnte, das Wirtschaftswachstum zu feiern und sich wegen der moralischen Konsequenzen keine Sorgen mehr zu machen. Trotz dieser Herausforderungen haben die Argumente für eine Einschränkung des Konsums sich als widerstandsfähig erwiesen. Selbst unsere heutige Konsumgesellschaft hält an den moralischen Argumenten für Austerität unverzagt fest.

Das beruht zum Teil darauf, dass ihr Fokus sich verschoben hat. Die Ermahnungen, die Ausgaben einzuschränken, waren jahrhundertelang an den Einzelnen gerichtet worden. In unserer Zeit sind die Argumente für und gegen Austerität jedoch vor allem auf kollektive Konsumformen konzentriert. Nur ein kleiner Teil der Öffentlichkeit verurteilt Ausgaben für das neueste Handy noch so, wie die Denker der Antike übermäßige Ausgaben für eine besonders schön geschmückte Tunika verurteilt hätten. Es gibt im Gegenteil viel öffentliches Kopfzerbrechen über die Frage, wie man die Konsumausgaben des Einzelnen in die Höhe treiben könnte. Gleichzeitig warnen viele Kommentatoren vor unheilvollen Konsequenzen, sollten die Individuen ihr Geld zusammenlegen und – über den Staat – kollektiv konsumieren, beispielsweise durch die Finanzierung eines kostenlosen Bildungswesens oder kostenloser öffentlicher Verkehrsmittel. Diese neue Sicht auf die Argumente zur Abstinenz geht einher mit einer umfassenderen politischen Veränderung zugunsten individualistischer beziehungsweise zulasten kollektivistischer Ideen. Zum Teil bewirkte gerade diese Verlagerung des Schwerpunktes von individuellen zu kollektiven Formen des Konsums, dass die Botschaft der Abstinenz mit den sich verändernden ökonomischen Realitäten und politischen Ideologien vereinbar blieb.

Die seit zweieinhalb Jahrtausenden anhaltende Anziehungskraft der Austeritätsargumente lässt sich allerdings nicht allein durch ihre erfolgreiche Anpassung erklären. Sie liegt nicht zuletzt darin, dass diese Argumente in mancher Hinsicht veraltet sind. Wir sind die Kinder unserer Zeit, durch die Realität einer Konsumgesellschaft geformt, die grenzenlosen Appetit lobt; unsere Denkweise wird jedoch auch von Ideen geprägt, die aus der fernen Vergangenheit stammen und ein tiefes Verlangen nach ethischer Orientierung stillen. Die meisten Menschen in der westlichen Welt sind direkt oder indirekt von Werten und Ideen erfüllt, die schon weit vor unserer Zeit formuliert wurden. Selbst diejenigen, die die Bücher der Bibel, Aristoteles’ Schriften oder gar die Überlegungen Thomas von Aquins lange nicht oder überhaupt noch nie gelesen haben, sind in kultureller und religiöser Hinsicht davon geprägt. Wenn Eltern ihre Kinder auffordern, nicht gleich die ganze Packung zu essen, sondern sich nur einen Keks zu nehmen, bringen sie ihnen alte Werte der Mäßigung und Zurückhaltung nahe, und zwar auf eine Weise, die stärker und dauerhafter ist als selbst die eifrigste Beschäftigung mit den klassischen Texten.

Austeritätsargumente sind nicht zuletzt deshalb so zeitlos überzeugend, weil sie auf vertraute moralische und kulturelle Kategorien wie Mäßigung, Opfer, Selbstlosigkeit und kathartische Reinigung anspielen. Auch dort, wo wir die mit den Austeritätsargumenten verbundene ökonomische Logik nicht verstehen – oder wo sie ohne eine zwingende ökonomische Erklärung präsentiert werden –, ist ihre emotionale Anziehungskraft stark. Austerität spricht unser Über-Ich auf eine Weise an, die rationalen ökonomischen Argumenten einfach nicht gegeben ist. Um es mit Jonathan Swift zu sagen: Man kann die Menschen nicht durch Vernunft von etwas abbringen, zu dem sie nicht durch Vernunft gebracht wurden.

In diesem Buch möchte ich mich mit den Wurzeln der historischen Argumente für und gegen Austerität in der westlichen Welt beschäftigen. Es bietet keine umfassende Diskussion der Geschichte des ökonomischen Denkens und die Betrachtungen beschränken sich überwiegend auf westliche Traditionen. Diese Einschränkung entspricht der Geografie der heutigen Austeritätsmaßnahmen, die vor allem in den Industriestaaten Europas und Nordamerikas durchgeführt und diskutiert werden. Ich werde die Hauptdarsteller und ihre Argumente mit so vielen Informationen über ihre Zeit wie nötig präsentieren, sodass der Leser ihre Anliegen ganz verstehen kann. Außerdem werden wir die Beiträge dieser Personen – es waren fast durchweg Männer – und ihre Argumente mit der Frage im Hinterkopf lesen, wie die heutigen Diskussionen über Austerität mit ihren Ansichten zusammenhängen. Im letzten Kapitel mache ich dann einige Vorschläge dafür, wie die großen Denker der Vergangenheit uns helfen können, unsere derzeitige Krise zu überwinden.

Ein Buch von so großer Reichweite konnte ich nur schreiben, weil ich mich ein gutes Stück über die Gebiete hinausgewagt habe, für die ich mich als Experten bezeichnen kann. Ich habe mich dabei auf hervorragende Forschungen gestützt, die von anderen durchgeführt wurden. Es ist schlicht nicht möglich, alle Quellen, die ich verwendet habe, zu ihrem Recht kommen zu lassen, und ich werde das gar nicht erst versuchen. Wo ich direkte Zitate verwende oder ergänzende Kommentare zum Haupttext liefern möchte, finden sich Endnoten. Manche der Autoritäten, die ich benutzt habe, werden in der Bibliografie aufgeführt, die kapitelweise aufgebaut ist. Ich hoffe, dass das Fehlen detaillierterer Verweise dadurch zumindest zum Teil ausgeglichen wird und dass der Leser nützliche Anhaltspunkte für weitere interessante Literatur zu diesem Thema finden wird.

1 Austerität als Ideal und Praxis

Von Aristoteles zu Thomas von Aquin

Obwohl das Wort »Austerität« auf das altgriechische αuστηρoς(»austeros«) zurückgeht, hatte Aristoteles (384–322 v. Chr.) vermutlich wenig Verwendung dafür. Ursprünglich hatte es »Trockenheit der Zunge« bedeutet, doch zu seiner Zeit bezeichnete es bereits harte oder schwierige Umstände.

Aristoteles führte jedoch wie viele andere damalige Philosophen ein privilegiertes Leben. Er verfügte über genug Mittel, um seine Zunge mit dem Besten, was Griechenland zu bieten hatte, feucht zu halten, einschließlich der berühmten Weine seiner Heimat, der im Norden Griechenlands gelegenen Halbinsel Chalkidike. Auch in anderer Hinsicht waren ihm die schönen Dinge des Lebens nicht fremd: Dem Biografen Diogenes Laertios zufolge soll er »stets sorgfältig gekleidet und frisiert und mit Fingerringen geschmückt« gewesen sein.1

Sein Lebensstil prädestinierte Aristoteles also kaum dafür, seine Stimme gegen Konsumexzesse zu erheben – doch eben das tat er wiederholt. Verwirrenderweise lobte er bei anderen Anlässen allerdings auch großzügige Ausgaben. Würde er heute leben, würde man ihm vermutlich Inkonsequenz oder das Messen mit zweierlei Maß vorwerfen, doch zu seiner Zeit runzelte man über die Zweideutigkeit seiner Ansichten kaum die Stirn. Die damalige Gesellschaft unterschied sich fundamental von der heutigen, und wenn wir seine Auffassung von Luxus und von Austerität verstehen wollen, müssen wir uns zunächst die Welt ansehen, in der er lebte und konsumierte.

Gesellschaften ohne Wachstum

Aristoteles wurde im Jahre 384 v. Chr. in Stageira in der Nähe des heutigen Thessaloniki geboren. Sein Vater war dort Leibarzt des Königs von Makedonien. Der junge Aristoteles genoss die privilegierte Erziehung, die damals den Sprösslingen der Elite vorbehalten war. Später schickte man ihn nach Süden, nach Athen, wo er Platons Akademie besuchte, deren Mitglied er dann fast 20 Jahre lang blieb. Danach bereiste er verschiedene Teile der griechischen Welt.

Mit 45 folgte er dem Beispiel seines Vaters und trat in den Dienst des makedonischen Königshauses. Philipp von Makedonien berief ihn zum Erzieher seines Sohnes Alexander, der später den Beinamen »der Große« erhielt. 335 v. Chr. kehrte er nach Athen zurück und eröffnete dort eine eigene Philosophenschule, das berühmte Lykeion. Dieser zweite Aufenthalt in Athen, der zwölf Jahre dauerte, war eine seiner fruchtbarsten Schaffensperioden. Damals verfasste er die beiden Werke, in denen wir die meisten seiner Bemerkungen zum Konsum finden: die Nikomachische Ethik und die Politik. Er verließ Athen erst wieder nach Alexanders Tod im Jahre 323 v. Chr., da er befürchtete, dass seine Verbindung zur makedonischen Dynastie ihn zur Zielscheibe des Volkszorns machen würde. Trotz seines überhasteten Aufbruchs wurde er nicht obdachlos: Er zog sich auf einen Landsitz nördlich von Athen zurück, den er von seiner Mutter geerbt hatte. Dort starb er ein Jahr später.

Das hervorstechendste Merkmal seines Lebens war Stabilität. Zwar reiste er viel, aber nur in der griechischen Welt. Für sein Denken gilt dasselbe – es blieb im Wesentlichen immer ethnozentrisch. Seine Ansichten zur außergriechischen Welt lassen durchgängig ein starkes Gefühl von Überlegenheit erkennen. Man könnte einwenden, dass Aristoteles wohl eine der turbulentesten Perioden der griechischen Geschichte miterlebte. Die hellenische Welt war zwar vergleichsweise klein, doch kam es dort in dieser Zeit zu großen Umwälzungen. Zunächst stieg das nördliche Königreich Makedonien unter Philipp zur vorherrschenden Macht in der Region auf und beendete die Unabhängigkeit Athens. Unter Alexander breitete das makedonische Reich sich dann durch die Eroberung von Gebieten in Persien und darüber hinaus nach Osten aus. Manche dieser Ereignisse hatten direkte Auswirkungen auf Aristoteles, beispielsweise, als er nach Alexanders Tod aus Athen fliehen musste. In mancher Hinsicht kann man das Leben des großen Denkers also als recht ereignisreich bezeichnen. Er saß jedenfalls ganz bestimmt nicht in einem Elfenbeinturm.

In anderer Hinsicht war sein Leben, wie das vieler Zeitgenossen, jedoch von bemerkenswerter Stabilität. Besonders auffällig ist, dass sich sein sozialer Status und sein wirtschaftliches Umfeld kaum veränderten. Sein Vater war schließlich Leibarzt eines makedonischen Herrschers gewesen, und vier Jahrzehnte später wurde Aristoteles mit der Erziehung von dessen Enkel betraut. Als Fremder konnte er sich zwar in Athen nicht in die Politik einbringen, doch seine wirtschaftlichen Rechte unterlagen kaum Einschränkungen. Selbst als er Athen gegen seinen Willen verlassen musste, wurde er nicht mittellos. Sein ererbter Reichtum er