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Gabi Pertus

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Beschreibung

Kinder psychisch kranker Eltern Interviews mit Erwachsenen, welche in ihrer Kindheit mit einem psychisch kranken Elternteil lebten. Ohne Fach- und Fremdwörter geschrieben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 188

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Gabi Pertus

AUSwege finden

Kinder psychisch kranker Eltern

© 2017 Gabi Pertus

Verlag und Druck: tredition GmbH, Grindelallee 188, 20144 Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7439-5236-2

Hardcover:

978-3-7439-5237-9

e-Book:

978-3-7439-5238-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Gabi Pertus

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Kinder psychisch kranker Eltern

© 2017 Gabi Pertus

Verlag und Druck: tredition GmbH, Grindelallee 188, 20144 Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7439-5236-2

Hardcover:

978-3-7439-5237-9

e-Book:

978-3-7439-5238-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

„Es gibt so viele Wahrheiten und Realitäten wie es Menschen auf Erden gibt."

Anonyme Psychiatrieerfahrene

 

Vorwort

Psychische Erkrankungen sind keine gesellschaftliche Randerscheinung. Folgt man seriösen Einschätzungen, dann zeigt sich, dass rund ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland Erfahrungen mit Ängsten, Depressionen, Suchterkrankungen oder schizophrenen Beeinträchtigungen hat. Psychische Erkrankungen lassen sich kaum mit grippalen Infekten vergleichen, die kurzfristig auftreten und nach ihrem Abklingen wieder in die normale Alltagswelt entlassen: Denn psychische Beeinträchtigungen verstören, verwunden und hinterlassen oftmals Narben der Scham und der Schuld. Selten bleibt alles so wie es vor der Erkrankung war. Auch wenn die Auseinandersetzung mit der Erkrankung eine Chance auf Reflexion und existentielle Veränderung bietet: Sie ist teuer erkauft. Eine „Zu-Mutung" für Betroffene und ihre Angehörige ist sie allemal.

In der professionellen Auseinandersetzung mit dem Thema psychischer Erkrankungen geraten insbesondere die Kinder von Eltern mit psychischer Erkrankung schnell aus dem Blickfeld. In einer aktuellen Umfrage unter Menschen mit langwierigen psychischen Beeinträchtigungen wurde deutlich, dass rund ein Drittel der Betroffenen Kinder hat. Aber was sagen diese nüchternen Zahlen der Statistik letztlich aus? Wir wissen aus der Praxis, dass die Erkrankung eines Elternteils für die Jungen und Mädchen eine dramatische Herausforderung darstellt. Dabei gehtes nicht allein um das Scheidungsrisiko der Eltern oder um die – krankheitsbedingte – Armut. Beideswäre schlimm genug. Es geht vielmehr um die Bindungserfahrungen der Kinder: Sicherheit und Vertrauen in das elterliche Erziehungsverhalten bleiben - zumindest - riskiert, weil die psychische Erkrankung der Mutter oder des Vaters eine verlässliche Beziehung immer zu unterlaufen droht. Daran können – sofern die notwendigen Rahmenbedingungen stimmen - Kinder psychisch wachsen. Aber letztlich leiden viele ihr Leben lang darunter, bleiben verunsichert, beschämt, misstrauisch und entwickeln unter Umständen ein Bewältigungsverhalten, das zerstörerische Formen annehmen kann. Auch wenn pauschale Zuschreibungen schwierig sind: Aufwachsen im „Schatten" der elterlichen psychischen Erkrankung ist oftmals ein Drama mit lebenslanger Prägung.

Die Journalistin Gabi Pertus hat in ihren bisherigen Veröffentlichungen immer wieder versucht, hinter die Sichtschutzmauern der öffentlichen Wahrnehmung zu leuchten. Das gilt auch für das vorliegende Buch: Sie lässt in den Interviews mit erwachsenen Kindern psychisch beeinträchtigter Eltern die Betroffenen selber zu Wort kommen, anrührend und berührend. Es wird die Auseinandersetzung mit den Eltern beschrieben, die – von ihrer Erkrankung vereinnahmt – den kindlichen Bedürfnissen nicht immer gerecht werden können. Zur Sprache kommen die kindliche Wut, die Ängste, die Einsamkeit und die Überforderung. Aber auch das Verzeihen als schmerzliche Einsicht in die elterliche Not.

Ihr Motiv für diese Themenwahl ist in den biographischen Bezügen von Gabi Pertus zu suchen. Ihr großes Engagement für die Belange von Menschen mit psychischen Erkrankungen und deren Angehörige ist über die regionalen Grenzen Rostocks hinaus bekannt. Ich hoffe, dass dieses Buch viele Leserinnen und Leser findet und nicht nur bei Betroffenen Resonanz auslöst. Es bleibt weiterhin notwendig, auch in der fachlichen und breiten Öffentlichkeit, die Aufmerksamkeit für die Belange der Kinder von Menschen mit psychischen Erkrankungen zu schärfen.

Bärbel 28

Wann und wie ist dir bewusst geworden, dass deine Mutter anders tickt als andere Menschen?

Schon in sehr früher Kindheit, weil sie dauernd geweint hat und einen Putzzwang hatte. Es wurden jeden Montag fast alle Möbel aus dem Wohnzimmer geräumt, damit „ordentlich und gründlich" sauber gemacht werden konnte. Ich musste in meinem Zimmer bleiben, bis sie fertig war. Als ich ungefähr sechs Jahre alt war, habe ich dann draußen im Hof mit den Nachbarskindern gespielt. Als ich acht Jahre alt war, hatte ich einen Unfall. Ich bin mit der Hand durch eine Glasscheibe gefallen und habe mir den ganzen Unterarm bis auf den Knochen aufgeschnitten. Meine Mutter geriet in Panik und wusste die Nummer vom Notruf nicht mehr. Diese musste ich ihr sagen. Im Krankenhaus wollte sie von den Ärzten Beruhigungsmittel haben und konnte die Frage nicht beantworten, wo mein Vater arbeitet. Das musste ich dann machen, obwohl ich ja eigentlich der Patient und ein achtjähriges Kind war. Sie war stets nervös und nahm dann zur Beruhigung ein paar Schnäpse. Sie hat viel gejammert, weil sie Probleme hatte mit ihrer Mutter.

Wie äußerte sich die Krankheit?

Sie hat geweint, geputzt oder geschlafen. Tagelang hat sie mit niemanden geredet.

Gab es Suizid-Gedanken?

Sie hat oft erzählt, dass sie nicht mehr leben mag und von der Brücke springen oder sich die Pulsadern aufschneiden will. Zum Schluss hat sie gesagt, dass sie sich mit Alkohol tottrinken will, was ihr dann ja leider gelungen ist.

Mit wem konntest du darüber reden?

Leider mit niemanden. Meine Verwandtschaft und die Freundin meiner Mutter sagten zu mir, dass es ja mit ihr so nicht weitergehen könnte und ich mich bitte mal darum kümmern sollte. Mutter selbst wollte sich nicht mit ihrer Krankheit beschäftigen. Die Verwandten haben mich sogar als einzige Vernünftige in der Familie bezeichnet. Für mich und meine Probleme war kein Platz. Ich war allein mit allen meinen Sorgen.

Wie wurde das das ungewöhnliche Verhalten in deiner Familie und bei deinen Freunden aufgenommen?

Meine Freunde wussten nichts davon, ich habe alles gut verstecken können. Die Reaktion der Familie war:Gar nicht drüber reden und alles dem Kind überlassen. Ich habe die mir zugewiesene Rolle gut gespielt. „Immer lächeln, immer vergnügt. Bei uns ist alles super." Hat auch jeder geglaubt, es kamen nie Fragen von anderen. Also war ich wohl eine perfekte Schauspielerin.

Wurde Hilfe – welcher Art – angeboten?

Nein, ich bekam nie Hilfe – trotz offensichtlicher Ungereimtheiten. Ich hatte der Fels in der Brandung zu sein.

Welche Unterstützung habt Ihr von außen – Ärzte, Ämter, soziales Netz – bekommen?

Gar keine. Ich habe meine Mutter zwar zum Arzt (Psychologe und Amtsarzt) geschleppt – in der Hoffnung, dass sich jemand um sie kümmert. Das war leider alles Fehlanzeige.

Welche Reaktionen zeigte das Umfeld (Kollegen, Hausbewohner, Sportfreunde usw.) ?

Die Mitbewohner haben sich später im Altenwohnheim bei der Heimleitung beschwert, weil meine Mutter unter Alkoholeinfluss meinen Vater laut angepöbelt hat. Bevor das Paar in diese Einrichtung gezogen ist, haben die Nachbarn nicht viel mitbekommen. Meine Mutter hat meistens geschlafen und war nicht auf der Straße zu sehen.

Wie unterschied sich Euer Familienleben von dem deiner Klassenkameraden?

Bei uns herrschte nie Fröhlichkeit, sondern Kummer und Sorgen bestimmten das Familienleben. Alles war ernst und mit Problemen besetzt. In meiner Kindheit hatte meine Mutter große Angstzustände. Sie ist mit mir im Herbst in der Wohnung Laterne gelaufen, wenn mein Vater abends nicht da gewesen ist. Sie hatte Angst, dass uns auf der Straße etwas passieren könnte.

Musstest du Verantwortung für deine Mutter übernehmen?

Ich habe die Verantwortung für meine Mutter übernommen. Als ihre Mutter starb, habe ich mich um alles Amtssachen gekümmert. Überhaupt alle Dinge, die von außen kamen, hatte ich zu erledigen.

Als Kind habe ich mit meiner Oma über die Auseinandersetzungen gesprochen, welche die beiden miteinander hatten. Mir hat meine Oma zugehört, ohne böse zu werden. Darüber war meine Mutter ganz erstaunt. Die Schwester und die Cousine meiner Oma wollten mit unserem Thema nichts zu tun haben. So blieb alles an mir hängen.

Bist du dadurch stärker, umsichtiger, selbständiger geworden?

JA, zwangsläufig. Ich bekomme heute noch von vielen Menschen die Rückmeldung, dass ich ein Fels in der Brandung sei. Ich wäre ja so patent und praktisch.

Allerdings habe ich dadurch ein Helfersyndrom entwickelt, nehme anderen schnell ihre Eigenverantwortung ab. Ich war es ja über Jahre gewohnt, einfach zu machen, ohne zu fragen ob es für den Betroffenen okay ist. Für die Ratsuchenden ist es ja schön bequem. In dieser Hinsicht muss ich jetzt an mir arbeiten, um ein gesundes Maß zu entwickeln.

Hat dich jemand über die Krankheit aufgeklärt?

Nein, ich habe mir alles aus Büchern und im Internet angelesen.

Hast du wenigstens ansatzweise das eigenartige Verhalten verstehen können?

Ich war von frühester Kindheit an der Seelenmülleimer meiner Mutter, weil ich stets hartnäckig gefragt habe, warum sie denn weine. Selbst, wenn sie gesagt hat, dass ich das nicht verstünde, habe ich sie so lange bedrängt, bis sie mir ihre Sorgen erzählt hat. So kannte ich die Zustände meiner Erziehungsberechtigten schon sehr zeitig und habe diese verstehen gelernt. Es hat mich unheimlich wütend gemacht, dass bei uns Jegliches so problembesetzt gewesen ist. Ich wollte auch so eine lockere und fröhliche Mutter wie meine Schulkameraden hatten.

Wusstest du, wie die Medikamente wirkten?

Sie hat Antidepressiva bekommen. Eine positive Wirkung konnte ich nicht feststellen. Hauptsächlich nahm sie Alkohol als Medizin. Die Wirkung habe ich voll zu spüren bekommen. Das ging von Wutausbrüchen bis dazu, dass sie den ganzen Tag geschlafen hat oder längere Zeit auf dem Fußboden lag. Die Führung des Haushalts oblag mir. Naja, das kann man ja nicht früh genug lernen. Als ich dann allein lebte, war die Selbständigkeit hilfreich für mich.

Hattest du Angst, kannst du das Gefühl formulieren?

Ich hatte immer Angst, dass meiner Mutter etwas passiert. Sei es, dass sie im Suff hinfällt (das kam oft vor) oder dass sie sich das Leben nimmt. Als ich dann meine eigene Wohnung hatte, bin ich jedes Mal zusammengezuckt, wenn das Telefon klingelte. Es kam nicht selten vor, dass mich der Notdienst auf dem Handy anrief, weil meine Mutter bei ihren Eltern gewesen ist und dort hingefallen war. Durch die Feuerwehr habe ich vom Tode meiner Mutter erfahren. Sie ist auf dem Fußboden betrunken gestorben.

Was hast du getan, wenn dir alles über den Kopf zu wachsen drohte?

Ich bin am Wochenende zu Freunden aufs Land gefahren. Hauptsache ich war raus aus der Stadt und in Gesellschaft von anderen Menschen. Allerdings immer mit dem schlechten Gewissen, dass während meiner Abwesenheit meiner Mutter etwas zustoßen könnte.

Konntest du dein ungewöhnliches Leben in einer Therapie bearbeiten?

Ich habe mal eine Therapie gemacht, hatte aber das Gefühl, dass ich nichts bearbeitet habe. Die Therapeutin setzte sich stumm vor mich hin und wartete, bis ich anfing zu reden. Ich hätte es lieber gehabt, wenn sie mich gefragt hätte, wie es mir geht, wie meine Woche gewesen ist usw.. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich nicht für mich interessierte. Genau nach 50 Minuten musste ich gehen. Mir reichte diese Zeit nie, wenn sich ein Redebedürfnis entwickelt hatte. Als einziges nahm ich folgenden Satz aus der Therapie mit: Ihre Mutter hört sie nicht bzw. nimmt sie nicht wahr. Ich hatte eine Freundin, die selbst eine Therapie machte. Mit ihr habe ich mich das erste Mal über die mich belastenden Dinge unterhalten. Siesagte zu mir: „Man spürt dich gar nicht, du bist ja total zu. Immer bist du gut gelaunt. Bringt dich denn gar nichts aus der Ruhe oder macht dich nie etwas wütend?" Diese Rückmeldung hätte ich mir von der Psychologin gewünscht. Das war ein Anfang des Nachdenkens für mich in eine bestimmte Richtung.

Bist du früher selbständig und verantwortungsbewusst gewesen als deine Freunde?

Ja, natürlich. Ich hatte schon mit acht Jahren einen eigenen Haustürschlüssel. Wenn wir als Kinder mal mit dem Feuer gespielt haben, hatte ich natürlich Sand zum Löschen dabei, damit wir abgesichert waren. Als wir im Hof Verstecken gespielt haben, schlug ich vor, dass eine Eisentür zum Freischlagen benutzt würde. Die Hoftür hatte Glasscheiben, das war mir zu gefährlich. Die anderen Kinder überstimmten mich, ich war dann leider das Opfer, schnitt mir den ganzen Unterarm auf.

Haben dich deine Erfahrungen in der Kindheit sensibel für andere Menschen gemacht? Interessiert dich ein sozialer Beruf?

Ja, ich merke sofort, wenn es jemanden schlecht geht. Es dauert nicht lange, dann kommen solche Leute auf mich zu und erzählen mir aus ihrem Leben. Ich scheine da etwas auszustrahlen, denn ich frage ja kei nen, ob er ein bisschen mit mir reden möchte.....Einige meiner Kollegen beschäftigen sich im Moment mit ihren psychisch kranken Angehörigen. Sie bitten mich um Rat und Gespräche. Im Moment mache ich die EX-IN-Ausbildung als Genesungsbegleiterin für Angehörige. Ich würde gern hauptberuflich als Genesungsbegleiterin arbeiten, es sieht aber nicht aus, als wenn man davon leben könnte.

Brigitte 32

Wir sind zwei Schwestern, mit einem Abstand von drei Jahren wurden wir geboren. Jede von uns hat einen anderen Vater. Ich war zwei Jahre und meine Schwester fünf Jahre alt, da zogen wir nach Berlin und meine Mutter heiratete.

Zu ihrem neuen Gefährten sollten wir Papa sagen. Die Verbindung hielt nicht lange. Als ich fünf Jahre alt war, verließen wir den Peiniger. Vorher prügelte er meine Mutter fast zu Tode. Wir hatten noch ein Brüderchen bekommen. Das blieb bei seinem Erzeuger. Unsere neue Bleibe war klein und miefig. Ich erinnere mich, dass es eine Altbauwohnung im Hinterhaus ohne Dusche und Heizung war. Ich denke nicht gern daran zurück. Meine Mutter hatte von meinem Stiefvater das Drechseln gelernt. Die von ihr hergestellten Gegenstände waren damals gefragt. Nach ihrer Trennung machte sich Mutter selbständig mit ihrer Drechselei. Kunstgewerbliche Angebote kamen gut an. Oft hatte sie über Monate hinweg Bestellungen. Da Mutter gut verdiente, hatten wir ein schönes Leben, konnten uns so einiges leisten. Stephan hieß der nächste Geliebte meiner Mutter. Er gliederte sich in unsere Familie gut ein. Wir haben alle zusammen viel unternommen. Unser Bruder lebte inzwischen wieder bei uns. Sein Erzeuger hatte eine neue Frau gefunden und war in eine andere Stadt gezogen. Zu Ostern flochten wir Körbe für die Eier, im Februar organisierten wir eine Faschingsfeier, im Sommer gingen wir an einen See baden oder im Herbst in den Wald zum Pilze sammeln. Es war eine schöne Zeit, an die ich gern zurückdenke. Noch heute spüre ich das Gefühl des Zusammenhalts, des Vertrauens und der Wärme.

Obwohl wir uns alle wohlfühlten, kaum Sorgen hatten, geriet meine Mutter immer wieder in eigenartige Phasen. Sie war dann aufgedreht, nervös, angespannt und schon durch Kleinigkeiten aus der Ruhe zu bringen. Dieser Umstand hat mich in meinem kindlichen Alter nicht weiter beschäftigt. Das war eben hin und wieder mal so.

Das Kinderzimmer teilte ich mit meiner Schwester. Wenn die Erwachsenen abends mal weggingen und unser Bruder schlief, war bei uns so richtig was los. Sobald wir die Tür ins Schloss fallen hörten, zeigte Giesela ihre Kunststückchen. Sie konnte fast ohne Hilfsmittel die glatten Wände hochklettern. Dazuwar ich viel zu plump. Müde verschanzte ich mich mit meinen Kuscheltieren auf dem Schrank und schlief dort ein. Das gab vielleicht ein Gezeter als die Großen nach Hause kamen.

Bei der immer wiederkehrenden Unruhe und dem gereizt sein meiner Mutter blieb Streit der Partner nicht aus. Dabei war es meist meine Mama, die Diskussionen mit Stephan anfing, sie provozierte, meckerte und beleidigte. Sehr spät registrierte ich, dass es immer diese unruhigen Phasen waren, in denen solcher Art Zwist entstand. Irgendwann kam sie darauf, dass man diese Befindlichkeiten mit Medikamenten wegdrücken kann. Wenn sie ihre Faustan (zur Spannungs- und Angstlösung) genommen hatte, machte sie sehr bald einen gelösten Eindruck.

Wenn Mutter etwas verbeult von Stephans Schlägen war, wollte sie mir immer einreden, dass es bei dem Streit um mich gegangen wäre. Ich fühlte mich jedes Mal schuldig. Der Mann wohnte trotz aller Zwistigkeiten weiter bei uns. Das machte keinen Spaß. Er hing nur rum, verpennte seine Zeit, wusch sich nicht. Eine Anzeige beim Jugendamt wegen Sauferei in Anwesenheit der Kinder und seiner Verwahrlosung nützte gar nichts. Wir wurden ihn nicht los.

Nach vielen Querelen haben wir dann mit Hilfe von Freunden endlich eine andere Wohnung gefunden. Nachdem Stephan einige Wochen in der alten Bude ganz allein vor sich hin gelitten hatte, fiel ihm ein, wieder mit uns zusammen sein zu wollen. Die Erwachsenen schlossen ein Abkommen. Stephan sollteunser Stiefvater bleiben und sich um uns kümmern, wenn Mutter arbeitete. Das klappte dann auch gut. Zwischen den Beiden entwickelte sich so etwas wie eine Freundschaft. Stephan brachte uns bei, die Uhr zu lesen, schaute die Hausaufgaben nach und achtete darauf, dass wir immer pünktlich nach Hause kamen. Er hatte bei uns Baderecht und durfte die Waschmaschine benutzen.

Auch Stephan war eines Tages nicht mehr da. Erklärt wurde uns sein Verschwinden nicht. Mutter arbeitete hart in ihrem Drechsel-Keller. Wir waren nun Schlüsselkinder. An einem Schlüppergummi baumelte der Schlüssel an unserem Hals. Wir organisierten uns selbst. Nach der Schule erledigten wir Hausaufgaben und gingen dann zum Spielen raus.

Ich kam mit sechs Jahren wie alle anderen Kinder in die Schule. Schnell wurde ich zum Außenseiter, das war im Kindergarten nicht so gewesen. „Die hat keinen Vater" tuschelte es. Ich war mir bis dahin gar nicht dessen bewusst, dass das ein Makel sein könnte. Kannte ich es doch gar nicht anders.

Pflegeleicht war ich nicht. Es konnte schon vorkommen, dass ich irgendeinen Jungen verprügelte, der mich blöd angemacht hatte. Dann hatte ich heftige Diskussionen mit dem Lehrer, dem Rektor und zuletzt mit meiner Mutter. Mein Bruder hatte Glück, er hatte eine tolle Lehrerin, deswegen ging er sehr gern in die Schule. Mir dagegen ging es ganz anders. Mein Klassenlehrer behauptete ständig – und das vor der ganzen Klasse -:"Du kannst das nicht, du bist zudumm." Ich bildete mir daraufhin ein, verrückt zu sein, nicht richtig zu ticken.

Überhaupt waren wir drei Geschwister immer die schwarzen Schafe. Mich nannte man „Die Doofe". Ich hatte kaum Freunde, war viel mit Erwachsenen zusammen. Einmal gab es Läuse in der Klasse, das konnte natürlich nur von uns kommen. Die Kinder aus dem Haus klopften an unsere Tür und riefen: „Läuseweiber, Läuseweiber". „Assikind" war eine Bezeichnung, die wir uns oft gefallen lassen mussten. Wir trauten uns manchmal gar nicht auf die Straße.

Wir Geschwister verhielten uns nicht so wie die anderen Jungen und Mädchen in unserer Schule. Pionierbluse und Pionier-Halstuch so etwas hatten wir nicht, weil wir gar nicht Mitglied dieser Organisation wurden. Das war damals ungewöhnlich. Außenseiter sind wir gewesen. Wir hatten keine Lust zu den bescheuerten Festen Fahnen und Transparente herumzuschleppen. Beim Fahnenappell mussten wir in der letzten Reihe stehen, damit uns nicht so schnell einer sieht, weil wir ja nicht die richtigen Klamotten anhatten. Für meine Mutter war die Pionierorganisation nicht wichtig. Sie wollte kein Geld für Pionierkleidung ausgeben. Ihr parteitreuer Vater hat sie oft gewarnt. Er hatte Angst, dass wir ins Heim kommen, wenn Mutter Parolen heraushaute, die nicht gerade staatsfreundlich waren.

In unserem Zuhause war es sauber und ordentlich. Zwei-dreimal in der Woche wurde gesaugt, auch in der Drechsel-Werkstatt. In unserer Wohnung konnteman nichts rumliegen lassen. Alles war dort, wo es hingehörte. Wir hatten so wenig Raum zur Verfügung, dass es ein Chaos geworden wäre, wenn jeder irgendwo etwas platziert hätte. Viel Licht fiel durch die kleinen Fenster nicht in die Zimmer. Mutter versuchte es so schön wie möglich für uns zu machen. Die besten Ideen hatte sie, wenn sie ihre kleinen weißen Pillen geschluckt hatte. Sie sagte immer, das wäre eine verzauberte Wohnung, weil sie sich ständig etwas Neues einfallen ließ, um eine Veränderung zu schaffen. So kamen wir eines Tages nach Hause und mein Bruder hatte ein Hochbett, darunter einen Schreibtisch. Wir Schwestern bekamen nach der Wende jede ein eigenes Zimmer, da war ich elf Jahre alt, Helga war 14.



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