Autismus als Kontextblindheit - Peter Vermeulen - E-Book

Autismus als Kontextblindheit E-Book

Peter Vermeulen

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Beschreibung

Untersuchungen in Europa, Kanada und den USA ergaben, dass bei sechs bis sieben von tausend Personen eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) diagnostiziert wird. Was bedeutet das?Mit »Autismus als Kontextblindheit« beschreibt Peter Vermeulen eine neue Sichtweise zum Autismus-Verständnis. Seine Kernaussage lautet: Menschen mit Autismus zeigen in der Wahrnehmung ihrer objektbezogenen und sozialen Umwelt Probleme bei der schnellen, vorbewussten, intuitiven Erfassung und Nutzung von Kontextinformation. Dieses im Vergleich zu anderen Menschen herabgesetzte Gespür für Kontext ist hirnorganisch begründet und erklärt die autistischen Besonderheiten in Wahrnehmung, sozialer Interaktion, Kommunikation und Denken. Peter Vermeulen knüpft (kritisch) an viele bestehende neurokognitive Erklärungsansätze an und untermauert und belegt seine Thesen mit zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungsergebnissen, aber auch mit Beispielen aus seiner langjährigen praktischen Erfahrung mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum.Allgemeinverständlich und unterhaltsam geschrieben eröffnet das Buch Betreuern, Lehrern, Begleitern und Eltern von Menschen mit Autismus neue Sichtweisen. Es zeigt Strategien zur Kompensation bzw. Hinweise und Beispiele für eine autismusfreundliche Gestaltung der Umwelt und gibt so neue Impulse für den Alltag der Betroffenen.

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Peter Vermeulen

Autismus als Kontextblindheit

Übersetzt von Rita Hallbauer und Reinhard Rudolph

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 68 Abbildungen und einer Tabelle

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-99749-0

Umschlagabbildung: © Peter Vermeulen

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.

www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Vorwort

Einleitung

1. Kapitel: Kontext

Was ist Kontext?

Der Begriff »Kontext« und seine Geschichte

Wo beginnt Kontext und wo hört er auf?

Externer und interner Kontext

Wichtiger und nebensächlicher Kontext

Resümee

2. Kapitel: Kontext im Gehirn

Wahrnehmung: Zwei Missverständnisse

Das Gehirn: Mehr Regisseur als Zuschauer

Erst der Wald und dann die Bäume

Detailblindheit

Veränderungsblindheit

Das Gehirn als Sinfonieorchester

Kontextsensitivität und neuronale Netzwerke im Gehirn

Das autistische Gehirn: Weniger kontextbasierte Top-down-Steuerung

Kontext und Spiegelneuronen

Kontext und sensorische Probleme

Resümee

3. Kapitel: Kontext in der Wahrnehmung

Kontext führt und leitet die Wahrnehmung

Kontext schafft Erwartungen

Kontext sorgt für schnelles Erfassen

Kontext fokussiert unsere Aufmerksamkeit

Kontext verdeutlicht, was undeutlich ist

Kontextblindheit – ein anderer Blick auf die Welt

Resümee

4. Kapitel: Kontext in der sozialen Interaktion

Kontext im Verständnis menschlichen Verhaltens

Mimik im Kontext

Gefühle erkennen im Kontext

Kontext und Aufmerksamkeit für mentale Zustände

Kontext und Einfühlungsvermögen (Theory of Mind)

Kontext und sozial angemessenes Verhalten

Kontext und die Fähigkeit, soziale Probleme zu lösen

Kontext, Systemizing und Empathizing

Resümee

5. Kapitel: Kontext in der Kommunikation

Kontext und Lauterkennung in der Sprache

Kontext und Worterkennung

Kontext und das Verstehen von Wörtern

Kontext und doppelter Wortsinn

Kontext und die Unbestimmtheit (Vagheit) von Wörtern

Kontext und konkrete versus abstrakte Wörter

Kontext und Satzverständnis

Kontext und das Verstehen der Welt hinter den Wörtern

Kontextblindheit und wortwörtliches Verstehen

Kontext und Pragmatik in der Kommunikation

Kontext in Symbolen und Piktogrammen

Resümee

6. Kapitel: Kontext im Wissen

Begriffe: Kriterien, Prototypen, Beispiele

Von der Schwierigkeit, Hunde oder Fahrräder zu kategorisieren

Kontext und atypische Beispiele

Wie kategorisiere ich etwas, das ich noch nie gesehen habe?

Wechselnde Kategorien

Kontext, konkrete und abstrakte Kategorien

Kontext und die Kriterien, nach denen wir kategorisieren

Begriffe sind Chamäleons

Kontext und Gedächtnis

Kontextblindheit und Widerstand gegen Veränderungen

Kontext aktiviert Begriffe

Kontext und Skripte (Handlungsschemata)

Kontext und Intelligenz

Resümee

7. Kapitel: Autismus als Kontextblindheit – die Theorie

Kontextblindheit und zentrale Kohärenz

Sind Menschen mit Autismus Detaildenker?

Zentrale Kohärenz auf verschiedenen Ebenen: Lokale und zentrale Kohärenz

Kontextblindheit: Die Definition

Kontextblindheit und die sozial-kognitiven Theorien zum Autismus

Kontextblindheit und exekutive Funktionen

Kontextblindheit: Ein subkognitives Problem

Kontextblindheit: Eine gute Theorie?

Resümee

8. Kapitel: Autismus als Kontextblindheit – die Praxis

Autismus autistisch betrachtet: Kontextblindheit bei Menschen ohne Autismus

Diagnostik und Kontextblindheit

Kann Kontextsensitivität erlernt werden?

Den »Kontextknopf drücken«

Kontext hervorheben

Kontext verdeutlichen: Konkrete Kommunikation

Kontextbezogen umdeuten

»Braille« (Blindenschrift) für Kontextblindheit

Kontextbezogenes Training von Fertigkeiten

Nicht nur Fertigkeiten, sondern auch Situationen trainieren

Die Notwendigkeit einer autismusfreundlichen Lebenswelt

Kontextblindheit im Kontext

Literatur

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Immer mehr Wissenschaftler und Laien interessieren sich für das Thema Autismus. Nicht zuletzt autistische Menschen selbst wollen vermehrt besser begreifen, worin genau ihre Andersartigkeit besteht. Eine zentrale Frage, die dabei alle umtreibt, ist: Wie denken autistische Menschen? Wie erleben sie ihre Umwelt und was ist der Kern ihrer andersartigen Wahrnehmung? Der bekannte belgische Psychologe und gute Kollege Dr. Peter Vermeulen widmet sich diesem Rätsel auf gleichermaßen erfrischende wie faszinierende Art und Weise. Er baut sein Modell vom Autismus als Kontextblindheit auf gängigen Theorien und aktuellen Forschungsergebnissen mit geschultem klinischen Auge auf. Er versteht es dabei ausgezeichnet, eine Vielfalt von diskutierten Konzepten und komplexe Forschung zu einer verständlichen und jedermann zugänglichen Synthese zu vereinen sowie diese konkret und anschaulich auf die Schwierigkeiten von Menschen mit Autismus anzuwenden, so dass diese auf kognitiver Ebene begreiflich werden.

Vermeulens Modell der Kontextblindheit verbindet geschickt die führenden kognitiven Ansätze zum Autismus, darunter die Theory of Mind (Schwierigkeiten mit Mentalisierung und Perspektivenübernahme) und exekutive Dysfunktionen (Probleme der Handlungsplanung, -steuerung und -kontrolle, der kognitiven Flexibilität und Selbstregulation), ist aber vor allem eine Erweiterung und Spezifizierung der populären Theorie der schwachen zentralen Kohärenz, die schon vor geraumer Zeit von der mittlerweile emeritierten und in London arbeitenden deutschen Kognitionsforscherin Professorin Uta Frith eingeführt wurde. Vermeulen hatte im Rahmen der Erstellung dieses Buches engen Kontakt mit Frith, die die Weiterführung und Deutung ihrer früheren Arbeit durch Vermeulen ausdrücklich begrüßt. Im Wesentlichen geht Vermeulen davon aus, dass autistische Menschen in vielen Bereichen – von der Sprache bis zur sozialen Interaktion – weniger sensitiv für den situativen Kontext sind, was oft unangemessenes Verhalten generiert. Ursache hierfür ist vor allem eine Tendenz zur sogenannten Bottom-up-Informationsverarbeitung, das heißt an einer vorwiegend an gegebenen Reizen einer bestimmen Situation orientierten Wahrnehmung, welche eher typisch ist für eine frühe Phase der neurokognitiven Entwicklung. Bei einer beispielhaften neurokognitiven Entwicklung gewinnt dagegen Top-down-Informationsverarbeitung immer mehr an Gewicht, das heißt eine meist automatische und konstruktivistische Deutung der gegebenen Situation aufgrund von generalisierter Erfahrung, Strategien und Annahmen. Kürzlich publizierte Forschungsarbeiten sind mit Vermeulens Modell weitgehend konsistent. Zum Beispiel die Arbeit der britischen Forscherin Dr. Elisabeth Pellicano zum Hyperrealismus beim Autismus (Pellicano u. Burr, 2012) oder die Metaanalyse von Van der Hallen und Mitarbeitern (Van der Hallen, Evers, Brewaeys, Van der Noortgate u. Wagemans, 2015), welche nahelegt, dass das globale visuelle Wahrnehmen bei Autismus signifikant verzögert ist.

Als ich angefragt wurde, ob ich ein Vorwort für dieses Buch schreiben möchte, habe ich nicht gezögert, sondern spontan zugesagt, nicht zuletzt, weil Vermeulens Buch auch eine gute Zusammenfassung meiner eigenen Hypothesen und Forschungsergebnisse zum Autismus darstellt, unter anderem die zur Gestaltwahrnehmung und Untersuchungen des Gehirns mit bildgebenden Verfahren während der Bearbeitung von psychologischen Tests zur zentralen Kohärenz (Bölte, Hubl, Dierks, Holtmann u. Poustka, 2008; Bölte, Holtmann, Poustka, Scheurich u. Schmidt, 2007). Beim Lesen dieses Buchs fiel mir auf, dass es abgesehen von der rein inhaltlichen Stärke und wissenschaftlichen Qualität aufgrund seiner gelungenen Didaktik mit zahlreichen Abbildungen und Alltagsbeispielen eine Vielzahl von verschiedenen Lesern ansprechen wird: Experten, Eltern, Lehrer, interessierte Laien und Personen mit Autismus. Durch die reichhaltigen Zitate von empirischer Forschung gibt Vermeulen zudem die Möglichkeit, sich weiter in das Thema zu vertiefen.

Das Buch eröffnet mit Hintergrundinformationen zum Begriff des Kontexts und verbindet diese im Folgenden mit Erkenntnissen zum Gehirn, zu Wahrnehmungsprozessen, dem Sozialverhalten und der Kommunikation, dem Wissenserwerb und der Wissensanwendung. Während Vermeulen im ganzen Buch den Begriff des Kontexts und der Kontextblindheit auf Autismus anwendet, widmen sich die zwei abschließenden Kapitel ganz spezifisch dem Modell und dem Phänomen autistischen Verhaltens und Erlebens. Hier kommt eine weitere Stärke des Buches zum Tragen, da es Vermeulen nicht bei der Theorie belässt, sondern vor allem im Praxiskapitel konkrete Hinweise gibt, was Kontextblindheit für Menschen mit Autismus und deren Umwelt im alltäglichen Leben bedeutet, wie man mit den Auswirkungen von Kontextblindheit umgehen kann, wie gegebenenfalls Kompensation von Kontextblindheit trainiert werden kann und vor allem, wie wichtig eine autismusfreundliche Lebensumwelt ist. Diese Ausführungen sind ein großer Gewinn, und ich hoffe, dass sich viele Leser genau diesen Teil des Buches zu Herzen nehmen werden.

In der Zusammenschau kann ich sagen, dass mich Vermeulens Ansatz überzeugt und ich sehr viele neue Einsichten gewonnen habe, obwohl ich selbst langjährig als Forscher und Kliniker im Bereich Autismus tätig bin. In diesem Buch steckt gleichermaßen eine enorme Arbeitsleistung und Sachkenntnis wie sympathische Bescheidenheit. Ich wünsche der deutschen Fassung viele Leser und Auflagen, und darf darauf hinweisen, dass das Buch auch in anderen Sprachen (u. a. Englisch) erschienen ist, und ich es daher auch unter internationalen Kollegen empfehlen kann.

Professor Dr. Sven BölteDirektor des Forschungszentrums KINDKarolinska Institutet, Schweden

Vorwort

Tausende Jahre Evolution haben aus dem menschlichen Gehirn ein besonders effizientes Organ zur Informationsverarbeitung gemacht. Trotz dieser rasanten Weiterentwicklung ist das menschliche Gehirn paradoxerweise nicht in der Lage, sich selbst ausreichend zu verstehen. Trotz jahrelanger Forschung mit zunehmend ausgereifter Methodik wissen wir nur teilweise, wie ein »typisches« Gehirn funktioniert, doch wenn es um ein autistisches Gehirn geht, sind wir noch sehr viel weiter davon entfernt. Im Jahr 1996 schrieb ich »Das ist der Titel«, ein Buch über autistisches Denken. Inzwischen ist es mehr als 10.000 Mal verkauft worden und wurde in etliche Sprachen übersetzt. Der Begriff »autistisches Denken« ist seitdem bei Fachleuten, Angehörigen und Betroffenen ein gängiger Begriff geworden. Dennoch habe ich nach all den Jahren den Eindruck, dass das autistische Denken, vor allem aber dessen Bedeutung für den Umgang mit autistischen Menschen, noch unzureichend verstanden wird.

In den letzten Jahren rückte das Phänomen Autismus zunehmend in das öffentliche Bewusstsein. Zahlreiche Therapien und Interventionsstrategien wurden entwickelt: Social Stories™, Einbezug neuer Techniken (Computer, Smartphone-Apps), Frühförderung, »pivotal response training«, strukturiertes Lernen, Psychoedukation oder sogar autismusspezifisches Jobcoaching. Trotz all dieser Entwicklungen und erweiterten Sichtweisen fällt es vielen schwer, die autistische Art zu denken ausreichend zu verstehen. Mit anderen Worten: Es gibt bereits eine Menge Fachwissen über Autismus (Know-how), aber es mangelt noch gehörig an Know-why.

Anna ist eine junge Frau mit Autismus und wenig Durchsetzungsvermögen, die zu allem »Ja« sagte oder an Aktivitäten teilnahm, die sie eigentlich ablehnte. Sie konnte sich nicht entscheiden und folgte darum Entscheidungen, die andere für sie trafen. Die Betreuer beschlossen, Anna an einem Assertiveness-Training teilnehmen zu lassen. Dabei sollte sie lernen, andere Meinungen zu äußern und sich durchzusetzen. In der Folge, so berichteten die Eltern, machte Annas Sozialverhalten zusehends Probleme. Es gab ständig Ärger und sie wollte immer Recht behalten, selbst dann, wenn sie im Unrecht war (und dies auch wusste). Im Assertiveness-Training hatte man der Frau beigebracht, sich gegen Vorstellungen und Meinungen anderer durchzusetzen und ihr erklärt, wie wichtig es sei, das Erlernte konsequent anzuwenden. Sie hatte das Assertiveness-Training ganz klar auf ihre autistische Art verstanden: Durchsetzungsfähig zu sein bedeutet »Nein« zu sagen.

Robert war ein zwölfjähriger Junge mit Autismus, dessen Mutter an einem meiner Seminare teilgenommen hatte. Robert zeigte ein Problem, er weigerte sich, die Zahnspange zu tragen, die er vom Zahnarzt bekommen hatte. Eltern und Zahnarzt hatten alles getan, um den Jungen auf autismusgerechte Weise darauf vorzubereiten. Sie hatten alles gründlich erklärt und mit Fotos verdeutlicht, wie man Zahnspangen trägt und wie man damit umgeht. Zu Hause weigerte sich der Junge jedoch, die Spange zu tragen. Die Mutter teilte mir mit: »Wir haben versucht, ein Belohnungssystem für ihn aufzustellen, um ihn zu motivieren. Nichts hat geholfen. Auch der Zahnarzt weiß nicht mehr weiter. Robert hat Angst, er könne die Spange verschlucken.«

Belohnungssysteme können hilfreich sein, aber nur wenn es um willentlich steuerbares Verhalten geht. Das traf in diesem Fall aber nicht zu, weil Robert Angst hatte, die Zahnspange zu verschlucken. In seiner autistischen Art zu denken, konnte alles was sich im Mund befindet auch verschluckt werden.

Beide Beispiele illustrieren, dass oft nur am Verhalten herumgebastelt wird, ohne dabei zu beachten, wie Menschen mit Autismus Dinge wahrnehmen und verstehen. Und das wird häufig so gemacht, obwohl alle über autistisches Denken reden. Die Behandlung von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) ist noch viel zu sehr auf das Verhalten ausgerichtet, statt auf die Wahrnehmung und das Denken, das dem Verhalten zugrunde liegt. Darum habe ich dieses Buch geschrieben.

Darüber hinaus haben wissenschaftliche Untersuchungen über das autistische Gehirn in den letzten Jahren zu vielen neuen Einsichten geführt, die ein Update von »Das ist der Titel« notwendig machen. So schrieb ich in dem Buch, dass Autismus auf einem Defizit des Zusammenhangdenkens beruht. Inzwischen ist deutlich geworden, dass Menschen mit Autismus sehr wohl in der Lage sind, Zusammenhänge zu erkennen (z. B. den Zusammenhang zwischen einem Gesichtsausdruck und einer Emotion oder den Zusammenhang zwischen einem Wort und seiner Bedeutung) und dass sie auch »das große Ganze« sehen können, besonders wenn sie dazu angeregt werden. Wenn der Zusammenhang also nicht das Problem ist, was ist es dann? Das war meine Ausgangsfrage.

»Das ist der Titel« basierte auf einer Definition der bekannten Psychologin Uta Frith. In dieser Definition benutzt sie neben dem Begriff »Zusammenhang« auch das Wort »Kontext«. Wie so viele andere auch hatte ich Friths Definition jedoch nicht vollständig verstanden. Also versuchte ich weiter zu ergründen, was Kontext ist, vor allem aber, wie ihn das menschliche Gehirn verarbeitet. Dabei machte ich überraschende Entdeckungen. Neueste Untersuchungen auf diversen Gebieten, wie Neurologie, Psychologie, Philosophie und artifizielle Intelligenz belegen, dass Kontext eine zentrale Rolle dabei spielt, wie das menschliche Gehirn Informationen verarbeitet. Und zu meiner großen Überraschung stellte ich fest, dass gerade jene Bereiche der Informationsverarbeitung, in denen Kontext eine Rolle spielt, wie zum Beispiel bei der Verarbeitung sozialer Information, bei Autismus betroffen sind. Also entstand die Idee vom Autismus als Kontextblindheit.

Ich nahm mit Frith Kontakt auf und stellte ihr meine Überlegungen vor. Sie reagierte positiv und wir führten einige interessante Gespräche in London, in Flandern und per E-Mail. Ich fühlte mich bestärkt durch ihr positives Feedback zur Idee der Kontextblindheit, doch sie stellte auch grundlegende Fragen. Was ursprünglich als Update von »Das ist der Titel« gedacht war, wuchs sich rasch zu einem völlig neuen Buch aus.

Dieses Buch hebt nachdrücklich einen Aspekt des autistischen Denkens hervor, der zwar erwähnt wird, bislang aber weder detailliert noch kritisch genug beschrieben wurde. Menschen mit Autismus haben Schwierigkeiten mit Kontexten. Was Kontextblindheit ist, können wir erst verstehen, wenn wir wissen, was es heißt, Kontext zu erkennen und wie das menschliche Gehirn Kontext erfasst und verwertet. Darum handelt dieses Buch nicht nur von Autismus, sondern vor allem auch von der Kontextsensitivität des nicht autistischen Gehirns. Es ist meine Hoffnung, dass sowohl autistische als auch neurotypische Leser etwas über das Gehirn lernen werden.

Es ist nicht einfach zu erklären, wie das menschliche Gehirn arbeitet. Kontext ist ein unscharfer und schwammiger Begriff und Autismus ist eine sehr komplexe Beeinträchtigung. Ich habe versucht, auch sehr theoretische und wissenschaftliche Themen, wie zum Beispiel die neurologischen Grundlagen und die theoretischen Aspekte der Kontextsensitivität, mit Beispielen und Anekdoten möglichst allgemeinverständlich darzustellen. Die meisten Informationen und Fakten haben eine wissenschaftliche Grundlage, eine ganze Reihe von Studien und Experimenten werden im Detail beschrieben. Für einige andere finden Sie in den Fußnoten die Literaturangabe und kurze Bemerkungen und Erläuterungen. Die Fußnoten sind in erster Linie für Leser gedacht, die sich für den wissenschaftlichen Hintergrund dieses Buchs interessieren.

In diesem Buch geht es um Kontext. Aber natürlich hat auch dieses Buch selbst einen Kontext. Und damit meine ich in erster Linie die vielen Menschen, mit denen ich meine Ideen über Kontextblindheit teilen konnte und die mir mit ihren Fragen und Anmerkungen geholfen haben, Ideen weiterzuentwickeln. Dazu zählen Menschen mit Autismus, ihre Eltern, Betreuer und auch Wissenschaftler. Ich bin ganz besonders Uta Frith für ihre Hilfe dankbar, für ihre kritischen Anmerkungen und vor allem ihre Bereitschaft, sich Zeit für meine Fragen zu nehmen, obwohl sie zu jener Zeit mit Blick auf ihre nahende Emeritierung selbst sehr unter Druck stand. Ich habe auch viel von den Gesprächen mit Ina van Berckelaer-Onnes, Rita Jordan und Ilse Noens profitiert. Roger Verpoorten brachte mich ebenfalls zum Nachdenken, vor allem über die Rolle von Kontext bei der Begriffsbildung. Meine Kollegen von Autisme Centraal in Gent (Belgien) gaben mir bei vielen Gelegenheiten zahlreiche Denkanstöße durch kritische Anmerkungen und Fragen zu Kontextblindheit. Ich bin dankbar für viele fruchtbare Diskussionen.

Und schließlich ist da noch Det, die ich in den letzten Jahren stets aufs Neue zum Thema Kontext genervt habe, aber die dies glücklicherweise in den richtigen Kontext stellen konnte. Sie half mir, sprachlich wie auch inhaltlich, meine Gedanken zu ordnen, sie zu schärfen und zu Papier zu bringen. Und ich selbst wäre kontextblind, wenn ich ihre Beiträge zu diesem Buch nicht sehen würde.

Besonderer HinweisIm gesamten Buch wird das Wort »Autismus« als Synonym verwendet für Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Auch wenn es einige Argumente dafür gibt, die verschiedenen Untergruppen aus dem Autismusspektrum (z. B. Asperger-Syndrom) gesondert zu betrachten, halte ich es im Sinne des Verständnisses für das grundlegende Problem – wie es in diesem Buch beschrieben wird – aller Menschen mit ASS und auch im Blick auf mögliche Behandlungsformen für angemessener, eine breite Definition zu wählen, die alle Störungsbilder des Spektrums umfasst. Wenn also das Wort »Autismus« benutzt wird, ist immer Autismus-Spektrum-Störung damit gemeint.

Einleitung

Warum kann ein Buch auch Schirm oder Mordwaffe sein?

Woher wissen Sie, ob ein Müllsack Kunst ist odernur ein gewöhnlicher Müllsack?

Was hat Kontext mit Autismus zu tun?

–Was ist ein schönes Geburtstagsgeschenk für eine gute Freundin?

–Wie spricht man August, Montage oder Rentier aus?

–Wie viel Milch gießt man in eine Tasse Kaffee?

–Was bedeutet es, wenn jemand »nein« sagt?

–Darf man das Haar eines anderen Menschen anfassen?

–Wie viele Seiten hat ein Buch?

–Was macht man am besten, wenn jemand seine Hand hebt?

–Was packen Sie in den Koffer, wenn Sie verreisen?

Sie können sich zweifellos zu jeder dieser Fragen eine Antwort ausdenken, doch wenn ich Sie auffordern würde, zu jedem Satz die einzig richtige Antwort zu geben, müssten Sie passen und würden antworten, dass keine absoluten Antworten möglich sind. Was beispielsweise für die eine Freundin ein schönes Geschenk ist, findet eine andere Freundin abscheulich. Und was Sie in den Koffer packen, hängt von Ziel und Reisedauer ab. Eine allgemeingültige Antwort auf die oben gestellten Fragen lautet deshalb: »Es kommt darauf an«, womit ich sagen will, es kommt auf die jeweilige Situation an, auf den Kontext. So bestimmt der Satzkontext, wie man das Wort August aussprechen muss. Vergleichen Sie einmal die beiden folgenden Sätze:

»Im August regnet es eher selten.«»Der dumme August betrat die Manege.«

Und was halten Sie davon:

»Dem August ist es im August meist zu heiß.«

Es ist derselbe Reiz auf Ihrer Netzhaut, nämlich die Buchstaben A-u-g-u-s-t. Dennoch hat dies eine Wort verschiedene Bedeutungen:

»August« – der Name eines Monats.»August« – Clownsfigur im Zirkus.

Und der Name »August« kann noch mehr Bedeutungen haben. So kann er der Vorname unterschiedlicher Menschen sein. Und dann gibt es das Wort auch noch im Englischen und wird dort wieder anders ausgesprochen.

Wörter mit unterschiedlicher Bedeutung und Aussprache aber gleicher Schreibweise nennen wir Homographen. Ihre Bedeutung und Aussprache lassen sich nur aus dem Kontext herleiten.

Ähnlich verhält es sich mit Homophonen. Ein Homophon ist ein Wort, das genauso ausgesprochen wird wie ein anderes Wort, mit einer anderen Bedeutung und (manchmal) mit einer anderen Schreibweise, wie zum Beispiel fiel – viel oder Häute – Heute. Wenn Sie so ein Wort hören, können Sie dessen Bedeutung ebenfalls nur mit dem zugehörigen Kontext zuordnen, wie in folgenden Redewendungen:

»Lieber arm dran, als Arm ab« oder »der Mensch ist, was er isst«.

Und dann gibt es noch Homonyme mit gleichem Klang und gleicher Schreibweise, aber unterschiedlicher Bedeutung, wie zum Beispiel Bank, Leiter oder drehen.

Die meisten Sprachen enthalten Hunderte solcher Homographe, Homophone und Homonyme. Die Sprache ist voller Mehrdeutigkeiten, aber das menschliche Gehirn schafft es trotzdem in den meisten Fällen, mit dieser Mehrdeutigkeit klarzukommen. In der Regel finden wir unter allen möglichen Bedeutungen die jeweils passende, weil wir den jeweiligen Kontext nutzen, um die Mehrdeutigkeit aufzulösen.

Die Mehrdeutigkeit von Bedeutungen beschränkt sich nicht nur auf Wörter und Sprache. Mehrdeutigkeit gilt auch für das Verstehen von vielen anderen Reizen, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen. Nichts in unserer Welt scheint eine absolute feste Bedeutung zu haben.

Bei bestimmten Wörtern wie »August« oder »Bank« ist die unterschiedliche Bedeutung noch recht augenfällig. Aber gilt das auch für einfache Alltagsgegenstände, so wie beispielsweise für das Buch, das Sie gerade lesen? Ein Buch ist doch ein Buch und kein Trampolin, kein Toaster, kein Hocker, keine Druckpresse oder Waffe. Ein Buch ist ein Buch und man benutzt es, um darin zu lesen (siehe Abbildung 1). Wenn es um ein Buch geht, ist klar, es hat nur eine Bedeutung. – Denken Sie!

Abbildung 1: Das Buch mit seiner primären Bedeutung – Lesen

Aber das scheint nur so. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie haben ein Buch auf dem Nachttisch liegen, weil Sie jeden Abend vor dem Einschlafen ein wenig darin lesen. Nachdem Sie das Licht ausgemacht haben, kuscheln Sie sich gemütlich ein und schließen die Augen, doch bevor Sie in tiefen Schlaf fallen, hören Sie ein Summen. Eine lästige Mücke! Sie machen das Licht wieder an, und das erste, was Sie zu Gesicht bekommen, ist das Buch auf dem Nachttisch. In diesem Kontext bekommt das Buch plötzlich eine völlig andere Bedeutung. Es wird zur Waffe, um diese lästige Mücke totzuschlagen. Ein Buch kann also genauso gut eine Waffe sein. Und in anderen Kontexten kann ein Buch noch andere Bedeutungen bekommen. Sie könnten ein Buch als Trittstufe benutzen, um an etwas heranzukommen, was sonst unerreichbar für Sie wäre (es müsste dann vielleicht nur ein etwas dickeres Buch sein). Sie können ein Buch auch verwenden, um Blumen zu pressen, die Sie bei einem Spaziergang gesammelt haben. Es würde dann die Funktion einer Blumenpresse erfüllen. Sogar als Schirm kann ein Buch dienen (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: Bedeutungen können sich verändern: ein Buch ist manchmal auch ein Regenschirm

Die Anzahl der Beispiele ist sicher nicht unendlich und der Versuch, ein Buch als Toaster, Werkzeug oder Trampolin zu nutzen, klingt wenig Erfolg versprechend. Dennoch dürfte klargeworden sein, dass ein Buch sehr unterschiedliche Bedeutungen und Funktionen haben kann. Und das gilt für beinahe alles, was wir sehen. Die vielen Bedeutungen von Gegenständen, Wörtern, menschlichem Verhalten und Ereignissen sind kontextabhängig.

Das menschliche Gehirn hat im Laufe der Evolution gelernt, die Aufmerksamkeit schnell auf den jeweiligen Kontext zu richten, weil der Kontext uns hilft, den Reizen, die unser Gehirn empfängt, eine Bedeutung zu geben. Kontext hilft uns auch zu erkennen, welches Verhalten in welcher Situation passend ist und welches Geschenk einer Freundin gefallen wird. Wer ist die Freundin? Was hat sie schon oder was macht sie gern? Zu welchem Anlass brauchen Sie ein Geschenk? Würde unser Gehirn keinen Kontext berücksichtigen, würden die Leute noch mehr unnütze oder geschmacklose Geschenke bekommen, als das jetzt bereits der Fall ist.

Am 9. April 2008 malt ein Künstler in der Beddenstraat in Antwerpen ein Bild auf eine Betonmauer. Die Arbeiten finden hinter einer Abschirmung statt, weil niemand sehen soll, dass es sich nicht um irgendeinen Maler handelt, sondern um den international renommierten Künstler Luc Tuymans. Tuymans arbeitet im Rahmen eines Experiments des Kultursenders »Klara« an der Kopie eines seiner Meisterwerke. Nach Fertigstellung des Bildes wird die Abschirmung entfernt. Innerhalb von 48 Stunden gehen 2858 Menschen an dem Bild vorbei. Nur 197 Personen, also etwas mehr als 4 %, sehen sich das Bild an. Die anderen, also fast alle, laufen achtlos vorbei.

Im Kontext einer gewöhnlichen Straße fällt das Meisterwerk nicht groß auf und ist für die meisten Menschen nichts Besonderes, sondern wird eher als gewöhnliches Graffito wahrgenommen. An einer Straße erwarten Menschen keine großen Meisterwerke. Im Kontext eines Museums sieht das anders aus. In dem Moment, in dem Sie ein Museum betreten, wissen Sie, dass das, was Sie sehen werden, Kunst ist. Kontext bestimmt, was wir erwarten können. So hat der Kontext Einfluss darauf, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten und wie wir Dinge interpretieren. Im Experiment mit Tuymans hat man die Menschen, die vorbeikamen, nicht gefragt, wie sie das Bild finden. Es hätte das Experiment noch interessanter gemacht. Auch ohne Psychologiediplom weiß man, dass viele Menschen Wandmalereien eher gewöhnlich finden. Befragen wir dieselben Menschen zur selben Malerei von Tuymans in einer Kunstgalerie, werden wir zweifellos eine andere Meinung hören. Der Kontext einer Umgebung, in der wir etwas wahrnehmen, bestimmt Stärke und Umfang der Aufmerksamkeit, die wir den Dingen entgegenbringen.

Abbildung 3: Ein Müllsack ist nicht immer ein Müllsack, manchmal ist er Kunst

Neben dem physischen Kontext der Umgebung (Straße oder Museum), sorgen auch unser Wissen, unsere Erinnerungen oder unsere Absichten für interne Kontextbezüge und damit dafür, welche Bedeutung wir den Dingen verleihen. In diesem Fall können die Informationen in unserem Kopf unser Urteil beeinflussen, ob wir etwas für Kunst halten oder nicht. Im Jahr 2004 brachte eine Putzfrau in der berühmten Londoner Tate Gallery ein Kunstwerk des deutschen Künstlers Gustav Metzger zum Müll, weil sie glaubte, es sei Abfall. Das war nachvollziehbar, denn bei dem Kunstwerk handelte es sich um einen mit Papier vollgestopften Müllsack (vgl. Abbildung 3). Drei Jahre früher war etwas Ähnliches mit einem Kunstwerk des populären britischen Künstlers Damien Hirst passiert. Es ging um eine Reihe herumliegender Flaschen, volle Aschenbecher und Farbdosen, die das Chaos am Arbeitsplatz eines Künstlers darstellen sollten. Beide Kunstwerke standen in einem Kontext, der eine Beziehung zu Kunst herstellte. Die Putzfrauen waren aber wohl mit der Kunst nicht so vertraut. Diese Anekdoten illustrieren noch einmal, dass in unserer Welt nichts eine feste Bedeutung hat. Ein Müllsack ist nicht immer nur ein Müllsack. Manchmal ist er Kunst. Und Kunst ist, und das wissen wir schon länger, selbstverständlich auch relativ.

Ich hoffe, dass diese Beispiele Sie davon überzeugen konnten, wie wichtig der jeweilige Kontext für die menschliche Wahrnehmung und die Zuordnung von Bedeutungen ist, und dass Sie Lust bekommen haben, den Rest des Buchs auch noch zu lesen. Die beschriebenen Beispiele und Anekdoten bieten nur einen kleinen Einblick. Kontext spielt eine wichtige Rolle bei sehr vielen Aspekten menschlichen Denkens und Handelns, und dieses Buch beschreibt den Einfluss von Kontext auf menschliche Wahrnehmung, Sozialverhalten und Kommunikation. Es zeigt auf, wie unentbehrlich Kontext für unser Denken ist, für unsere Fähigkeit, Probleme zu lösen, für unser Anpassungsvermögen und auch für unseren gesunden Menschenverstand. Wissenschaftliche Untersuchungen in sehr unterschiedlichen Disziplinen, von Philosophie über Psychologie bis hin zur Informatik, haben in den letzten Jahren in zahlreichen Aspekten der menschlichen Funktionsfähigkeit erstaunliche und bedeutsame Fakten ans Licht gebracht. Daraus lässt sich ableiten, dass Kontextsensitivität eine unverzichtbare Voraussetzung ist, um in einer Welt ohne feststehende Bedeutungen gut zurechtzukommen. Wer einen Blick für Kontext hat, erkennt eher, was in einer bestimmten Situation wichtig ist und was nicht, er versteht besser, was andere denken und wie sich andere verhalten. Wer weniger Gespür für Kontext hat oder gar blind dafür ist, den werden kontextuelle Veränderungen verwirren und der wird oft ein logisches aber unangemessenes Verhalten zeigen, so wie die Putzfrauen in den Kunstgalerien.

Und hier kommt der Autismus ins Spiel. Das Verhalten und die Reaktionen von Menschen mit Autismus erscheinen meistens logisch, aber gleichzeitig ein wenig unangemessen, weil der Kontext nicht ausreichend berücksichtigt wird. Als die Türklingel schellte, bat die Mutter eines sieben Jahre alten Jungen mit Autismus ihren Sohn, die Tür zu öffnen. Er öffnete die Hintertür statt der Haustür. Seine Reaktion war logisch; er tat genau das, was seine Mutter ihm aufgetragen hatte: Er öffnete eine Tür. Aber ohne den Kontext zu beachten.

Viele wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Kontext genau in jenen Bereichen eine wichtige Rolle spielt, die bei Menschen mit Autismus betroffen sind: soziale Interaktion, Kommunikation und Flexibilität im Denken und Handeln. Deshalb erscheint es plausibel, Autismus als eine Form von Kontextblindheit zu verstehen.

Im Laufe der Jahre ist mir aufgefallen, dass viele sogenannte autistische Merkmale und Besonderheiten mit mangelnder Kontextsensitivität in Verbindung gebracht werden können. Autismus, gegenwärtig bevorzugen viele die Bezeichnung Autismus-Spektrum-Störung, zeigt sich vor allem in Problemen und Defiziten in drei Bereichen: Sozialverhalten, Kommunikation und Vorstellungsvermögen. Folgen mangelnder Vorstellungskraft sind Schwerfälligkeit im Handeln, eingeschränkte Verhaltens- und Interessensmuster und Probleme, sich neuen Situationen und veränderten Umständen anzupassen. Diese Schwierigkeiten und Probleme zeigen alle Menschen mit Autismus, aber das Ausmaß in dem sie davon betroffen sind, ist bei jedem Individuum verschieden. Die Unterschiede zwischen Menschen mit Autismus sind genauso groß wie deren Gemeinsamkeiten. Autismus gab es schon immer, wurde aber erst Mitte des 20. Jahrhunderts von zwei Ärzten »entdeckt«. Die Kinder- und Jugendpsychiater Leo Kanner und Hans Asperger beschrieben fast gleichzeitig, aber unabhängig voneinander, Autismus als eine gesonderte Störung.

Seitdem wurde Autismus von Wissenschaftlern ausführlich erforscht und dürfte inzwischen so etwas wie die am meisten untersuchte Entwicklungsstörung der Welt sein. Seit den Erstbeschreibungen von Kanner und Asperger haben Eltern, Fachleute und Wissenschaftler nach Erklärungsansätzen für dieses rätselhafte Phänomen Autismus gesucht. Manche Erklärungsversuche können wir mittlerweile ins Reich der Autismus-Mythen verbannen. Dazu gehört auch die Theorie, dass Autismus Folge von zu wenig Mutterliebe sei.

Die genetische und neurologische Forschung hat herausgefunden, dass Autismus durch genetisch bedingte Veränderungen im Gehirn hervorgerufen wird. Psychologen und Neurologen haben Theorien über die Schwierigkeiten und Unterschiede bei der autistischen Informationsverarbeitung entwickelt. Im Folgenden werden wir uns neben einigen Exkursen in den Bereich der Neurologie hauptsächlich mit der Psychologie des Autismus beschäftigen: wie ein autistisches Gehirn arbeitet, wie Menschen mit Autismus die Welt wahrnehmen und wie ihr Verhalten dadurch beeinflusst wird.

Die Suche nach einer neuropsychologischen Erklärung des Autismus erbrachte vor allem drei Haupthypothesen, die weltweit Beachtung fanden: schwache zentrale Kohärenz, Theory of Mind und exekutive Dysfunktion. Diese drei Theorien (vgl. Rajendran u. Mitchell, 2007, S. 224–260) haben wesentlich dazu beigetragen, unser Verständnis für den Autismus »von innen« zu erweitern:

–Die Theorie einer schwachen zentralen Kohärenz nimmt an, dass Menschen mit Autismus Informationen nur schwer in ein großes Ganzes integrieren oder in einen Zusammenhang miteinander bringen können.

–Im Theory-of-Mind-Ansatz wird angenommen, dass sich Menschen mit Autismus nur schwer vorstellen können, was andere Menschen wissen, denken, fühlen, erwarten etc. Menschen mit Autismus mangelt es demnach an Einfühlungsvermögen. Eine neuere Variante dieser Theorie beschreibt Autismus als eine extreme Form des männlichen Gehirns mit Schwächen im Verstehen von Menschen (»empathizing«) und Stärken beim Verstehen von Systemen (»sytemizing«).

–Die Theorie einer exekutiven Dysfunktion nimmt an, dass Autismus aus einem Defizit bei Flexibilität, Handlungsplanung und anderen höheren kognitiven Funktionen zur Organisation und Kontrolle des Verhaltens resultiert.

Obwohl diese Theorien unser Autismus-Verständnis beträchtlich erweitert haben, kann keine von ihnen das ganze Bild des Autismus beleuchten. Keine der Theorien umfasst alle Verhaltenscharakteristiken des Autismus.

Der Theory-of-Mind-Ansatz erklärt beispielsweise gut die sozialen und kommunikativen Schwierigkeiten, es lässt sich jedoch keine logische Verbindung zwischen einer Theory-of-Mind-Schwäche und rigidem Verhalten mit Widerstand gegen Veränderungen ableiten. Darüber hinaus werden zur Erklärung autistischen Erlebens und Verhaltens sehr komplexe kognitive Vorgänge als Schlüsselprozesse beschrieben und es wird vernachlässigt, dass Autismus auch die Wahrnehmung und kognitive Basisfunktionen beeinträchtigt (man denke nur an Probleme bei der Sensorik und Aufmerksamkeit). Wie kann man zum Beispiel die sensorischen Probleme bei Autismus als Effekt einer herabgesetzten Theory of Mind verstehen? Ina van Berckelaer-Onnes, eine niederländische Professorin für Erziehungswissenschaften, hat in diesem Zusammenhang einen treffenden Vergleich gezogen: »Autismus aus einem Mangel an Einfühlungsvermögen heraus erklären zu wollen ist so, als versuche man eine geistige Behinderung damit zu begründen, dass jemand nicht in der Lage ist, Quadratwurzeln zu ziehen« (van Berckelaer-Onnes, 1992, S. 14).

Was für diese Kritik am Theory-of-Mind-Ansatz zutrifft, gilt ebenfalls, wenn auch in geringerem Maße, für die beiden anderen Theorien. Die gängigen kognitiven Theorien zum Autismus erklären seine Merkmale aus Abweichungen und Defiziten des Denkens heraus oder, wie man immer öfter hört und liest, durch einen abweichenden kognitiven Stil. Menschen mit Autismus denken anders, heißt es dann. Das ist sicher zutreffend, aber durch dieses Buch soll deutlich werden, dass Autismus nicht nur ein Problem der bewussten Denkprozesse auf höherer Ebene ist, sondern auch und vor allem durch Schwierigkeiten auf der primären Ebene der unbewussten und vorbewussten Prozesse gekennzeichnet ist.

Was der berühmte Kognitionswissenschaftler Douglas Hofstadter (1988, S. 651) im Rahmen von Untersuchungen über artifizielle Intelligenz schreibt, gilt genauso für die Untersuchung des autistischen Gehirns: »Nicht das bewusste Denken, sondern alles, was sich schnell und unbewusst in den Gehirnen abspielt, das heißt, in weniger als 100 bis 200 Millisekunden, ist interessant«. In dieser Hinsicht soll klar werden, dass sich der Einfluss von Kontext auf die menschliche Informationsverarbeitung vor allem in dieser kurzen Zeitspanne auswirkt, in der wir Reize aufnehmen und ihnen Bedeutung verleihen, ohne dass wir dies bewusst erleben und steuern, also mehr auf der Ebene der Wahrnehmung als auf der Ebene des Denkens. Natürlich lässt sich nicht einfach beurteilen, wann (mehr oder weniger unbewusste) Wahrnehmungsprozesse enden und wann (eher bewusste) Denkprozesse beginnen. Beides ist untrennbar miteinander verbunden.

Im Folgenden werde ich verdeutlichen, wie die Wahrnehmung unser Denken steuert aber wie auch gleichzeitig das Denken unsere Wahrnehmung beeinflusst. Dennoch kann jeder von uns intuitiv unterscheiden zwischen bewusstem logischem Denken und unbewusster Informationsverarbeitung. Man muss nicht über jeden Buchstaben oder jedes Wort in diesem Buch bewusst nachdenken, obwohl unser Gehirn alle von ihnen verarbeitet, um den Text auf einer bewussten Ebene zu verstehen.

Genau wie in meinem Buch »Das ist der Titel« (Vermeulen, 2011) geht es auch in diesem Buch im Wesentlichen noch einmal um autistisches Denken, doch diesmal richtet sich die Aufmerksamkeit mehr auf die vorbewussten und spontan verlaufenden kognitiven Prozesse. Es geht eher um die autistische Subkognition als um autistische Kognition, mehr um Wahrnehmung als um Denken. Zum Beispiel werde ich darlegen, dass Menschen mit Autismus sehr wohl über Theory of Mind verfügen, dass ihre sozial-kognitiven Fähigkeiten jedoch im Gegensatz zu Personen ohne Autismus nicht durch die mehr basalen, subkognitiven Prozesse aktiviert werden.

Es liegt nicht im meiner Absicht, eine neue Theorie des Autismus vorzulegen, insbesondere nicht zu einem Zeitpunkt, wo viele Argumente dafür sprechen, dass es nicht nur eine einzige Erklärung für Autismus zu geben scheint. Mit der Hypothese des Autismus als Kontextblindheit versuche ich die Bedeutung des Kontexts hervorzuheben und die Rolle, die er in den subkognitiven Prozessen spielt, die beim Autismus betroffen sind. Dieser subkognitive Ansatz sollte als Ergänzung gesehen werden zu den bereits existierenden kognitiven Theorien zum Autismus. Im vorletzten Kapitel dieses Buchs werde ich den Zusammenhang zwischen Kontextblindheit und den drei kognitiven Haupttheorien detailliert beschreiben.

Mein Interesse für die Rolle des Kontexts bei Autismus beschränkt sich aber nicht auf theoretische Aspekte. Es ist auch praktisch ausgerichtet, wahrscheinlich mehr praktisch als theoretisch. Wenn Probleme des Autismus vor allem auf dem Niveau unbewusster und subkognitiver Prozesse im Gehirn entstehen, wirft dies auch ein neues Licht auf einige gebräuchliche Vorgehensweisen im Umgang mit autistischen Menschen. Ich werde darauf eingehen, welche Folgen Kontextblindheit auf die Art und Weise hat, wie wir mit Menschen mit Autismus umgehen und kommunizieren und wie sie sich auswirkt auf viel verwendete Trainingsprogramme und Interventionsstrategien. Ich werde begründen, dass einige Techniken zur Verbesserung der sozialen Kognition und Trainingsprogramme zu sozialen Fertigkeiten nur begrenzte Erfolge erzielen, weil sie nicht die wichtige Rolle der Kontextsensitivität berücksichtigen, zum Beispiel bei der Erkennung von Emotionen oder bei sozialer Problemlösung. Es sollte auch deutlich werden, dass im Rahmen unseres derzeitigen Wissens und unserer derzeit verfügbaren Methodik eindeutige Grenzen bestehen, am Autismus selbst etwas zu ändern, und dass wir den Fokus vor allem auch darauf richten sollten, die Umgebung und das Umfeld autistischer Menschen autismusfreundlicher zu gestalten und nicht versuchen sollten, den Autismus selbst zu heilen oder zu behandeln. Aber nun möchte ich nicht alles vorwegnehmen, sondern diesen interessanten Kontextbegriff, erst einmal genauer betrachten. Was ist Kontext?

1. Kapitel:Kontext

Was ist Kontext?

Warum finden Japaner es nicht schockierend, wenn ein Kleinkindan einem Eis leckt, das wie ein großer Penis aussieht?

Warum verstehen wir Wörter, deren Bedeutung uns niemals erklärt wurde?

Warum denken Sie bei dem Satz »Das Haustier läuft kläffend durchden Garten und verfolgt die Katze« an einen Hund?

Warum hat die Rückseite von Spielkarten Einfluss auf das Risiko,das wir beim Kartenspiel eingehen?

Was ist Kontext?

Es ist schwierig, eine exakte Definition für »Kontext« zu finden. Jeder weiß intuitiv, was der Begriff bedeutet, man findet jedoch keine allgemeingültige Definition. Es ist wohl eher kein Zufall, dass die Bedeutung des Wortes »Kontext« wiederum abhängig ist vom Kontext, in dem das Wort verwendet wird.

In der Archäologie beispielsweise verweist Kontext auf die Umgebung, in der ein historischer Gegenstand gefunden wurde: Die exakte Stelle, an der er gelegen hat, die Umgebung, in der sich diese befindet (Wasser oder Bodenart) und der Bezug zu anderen Gegenständen. Für Archäologen ist ein Gegenstand ohne Kontext bedeutungslos.

Ein anderes Gebiet, in dem es sehr auf den Kontext ankommt, ist die Geschichte. Der Begriff »historischer Kontext« ist Ihnen sicher bekannt. Damit bezeichnet man geschichtliche Zusammenhänge, die uns helfen, ein bestimmtes Ereignis oder eine bestimmte Person aus jener Zeit zu verstehen. Kontext ist, historisch betrachtet, ein wichtiger Begriff. Anachronistisches Arbeiten gehört zu den größten Fehlern, die ein Historiker machen kann. Anachronismus bedeutet, einen Gegenstand, Personen oder Ereignisse der falschen Zeit oder dem falschen Kontext zuzuordnen. Herrlich humorvoll anachronistisch ist zum Beispiel die Trickfilmserie der »Flintstones« (Familie Feuerstein). Die Dinosaurier waren bereits seit vielen Millionen Jahren ausgestorben, als Menschen die Bühne betraten. Im Fall der Familie Feuerstein sorgen diese Anachronismen für den Humor der Serie. Für ernsthafte Geschichtsforschung ist der korrekte Kontext allerdings unerlässlich.

Der Begriff »Kontext« und seine Geschichte

Der Begriff »Kontext« hat als »Text um eine Text-Passage«, auch nach 16 Jahrhunderten noch stets die gleiche Bedeutung, die man auch in Wörterbüchern findet. Der Duden definiert »Kontext« als:

1.(Sprachwissenschaft) umgebender Text einer sprachlichen Einheit;

2.(Sprachwissenschaft) (relativ selbstständiges) Text- oder Redestück;

3.(Sprachwissenschaft) inhaltlicher Gedanken-, Sinnzusammenhang, in dem eine Äußerung steht; und Sach- und Situationszusammenhang, aus dem heraus sie verstanden werden muss;

4.(bildungssprachlich) Zusammenhang.

In der Linguistik wird das Wort »Kontext« ebenfalls im Sinne von »co-text« verwendet. Dabei handelt es sich um Material, das bei einer Textanalyse um eine Textstelle herum angesiedelt ist. Mit der Interpretation alter Texte, zum Beispiel in der Bibel, erscheint das Wort »Kontext« im 16. und 17. Jahrhundert in mehreren europäischen Sprachen: Italienisch – »contesto«, Französisch – »contexte«, Englisch – »context«, und auch Deutsch – »Kontext«.

Im Laufe der Jahre wurde die Bedeutung des Wortes ausgeweitet, stets jedoch im Rahmen von Textinterpretationen. Im weiteren Sinn verweist das Wort »Kontext« aber nicht nur auf den Co-Text, sondern auch auf die Intention des Text-Autors (in Latein »scopus«, Herkunft des englischen Worts »scope«). Noch später, im 19. Jahrhundert, wurde der Begriff ausgeweitet auf »alle Umstände einer Situation«. Um Texte gut zu verstehen, reicht es nicht aus, nur auf den übrigen Text und die Absicht des Autors zu achten. Es ist darüber hinaus erforderlich, auch auf den historischen Kontext, den kulturellen Kontext, den Zeitgeist, kurzum auf alle Umstände, die mit dem Text in Zusammenhang stehen, zu achten. Wenn diese Aspekte nicht berücksichtigt werden, verwenden wir auch heute noch den Ausdruck, dass etwas »aus dem Kontext (Zusammenhang) gerissen« wird.

Heutzutage wird das Wort »Kontext« nicht mehr nur im Kontext des Interpretierens und Verstehens von Texten benutzt. Kontext erklärt beispielsweise auch die Bedeutung von Musik. Im Jahr 1952 gab der amerikanische Komponist und Künstler John Cage einem seiner musikalischen Werke den Titel »4’33”«. Das Bemerkenswerte daran ist, dass in dem ganzen Stück keine einzige Musiknote vorkommt. Zur Aufführung des Stückes gehört es, exakt 4 Minuten und 33 Sekunden auf dem Podium zu sitzen ohne zu musizieren. Mit anderen Worten: Sie hören keine Musik. Das scheint keinen Sinn zu ergeben, aber die Komposition von Cage bekommt musikalische Bedeutung, wenn man sie im Kontext der avantgardistischen Kunstbewegung ihrer Zeit sieht. Avantgardisten wie Cage experimentierten mit vielen Kunstformen und Cage meinte mit seiner »4’33”« nicht wirklich Stille, was vielleicht viele denken. Das Stück besteht aus den Geräuschen der Umgebung, in der »4’33”« aufgeführt wird. Ohne diesen Kontext bliebe Cages Komposition eher ohne Bedeutung oder zumindest schwer zu verstehen.

Im Lauf der Geschichte hat sich der Begriff »Kontext« und alles was damit gemeint ist deutlich erweitert. »Kontext« bezieht sich mittlerweile auf alle Dinge, denen wir Bedeutung und Sinn geben wollen. Das gilt für Texte, Bilder, Musik, Gegenstände oder Ereignisse. Ein Kontext verweist schon lange nicht mehr ausschließlich auf Textabschnitte, sondern beispielsweise auch auf einen gesellschaftlichen Kontext, einen politischen, historischen oder kulturellen Kontext etc.

Der Bedeutungsumfang des Kontextbegriffs hat sich erweitert, seine Funktion ist jedoch in all den Jahrhunderten stets dieselbe geblieben. Kontext hilft uns, Bedeutungen zu finden und Dinge und Ereignisse zu verstehen. Kontext ist gewissermaßen unser Wegweiser auf der Suche nach Bedeutung. Wenn wir den Kontext von etwas nicht kennen oder nicht beachten, laufen wir Gefahr, Dinge falsch zu verstehen.

Im Jahr 2006 erschien im Internet das Foto eines japanischen Kleinkindes, das an einem Eis leckte. Dieses Eis glich einem Penis von beachtlicher Größe. Allgemeine Bestürzung machte sich in unserem Kulturkreis breit und schnell fielen Worte wie »Porno«, »schockierend« oder »unverantwortlich«. Die moralischen Standards der Japaner wurden ernsthaft infrage gestellt. Japaner selbst und Leute, die sich mit japanischen Gewohnheiten und Veranstaltungen auskennen, blieben jedoch gelassen, denn sie kannten den Kontext. Das Foto wurde in Kawasaki auf dem Kanamara Matsuri aufgenommen, einem Festival mit sehr alter Tradition, das jedes Jahr im April stattfindet. Es ist das Festival des stählernen Phallus (das ist auch der Name des Festes), einem Fruchtbarkeitsfest, das mit vielen, oft gigantisch großen Penissen und anderen Phallussymbolen geschmückt wird. In diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich, dass es dort auch Eis in Penisform gibt. Deshalb kann von moralischem Verfall keine Rede sein, im Gegenteil: Das Festival selbst dient einem guten Zweck. Mit dem Erlös (des einen oder anderen Peniseises) wird die HIV-Forschung finanziell unterstützt.

Wo beginnt Kontext und wo hört er auf?

Kontext hilft uns zu verstehen, was wir sehen, hören oder fühlen. Aber wo beginnt Kontext und wo hört er auf?

Der Kontext eines Wortes ist der Satz, in dem es steht. Der Satz wiederum ist eingebettet in einen Absatz. Kontext um einzelne Absätze sind die Kapitel, für die dann das ganze Buch den nötigen Kontext liefert. Um das Buch zu verstehen, ist es hilfreich, die Vorstellungen und Intentionen des Autors als Kontext zu kennen. Um den Autor zu verstehen, muss man etwas über sein Leben wissen, das wiederum in einem zeitlichen und geografischen Kontext gesehen werden kann. So könnten wir endlos weiter fortfahren.

Es gibt demnach nicht nur so etwas wie den Kontext, sondern stets mehrere Kontextebenen. Woher wissen wir nun in diesem unendlichen kontextuellen Raum, was jeweils wichtig ist, um etwas richtig zu verstehen? Welchen der Kontexte braucht man dazu? Eine rätselhafte Angelegenheit. Trotzdem scheint es für unser Gehirn in aller Regel nicht so schwierig zu sein, nur denjenigen Kontext zu nutzen, der nötig ist, um etwas zu verstehen. Keiner käme auf die Idee, die ganze Biografie eines Autors zu lesen, um sein Buch zu verstehen (außer, es scheint notwendig zu sein). Wir nutzen nur den Kontext, den wir zum Verständnis brauchen. Wie wir das machen, ist kein großes Geheimnis. Dazu ein Beispiel.

Was bedeutet das Wort »konvaleszent«? Ich hoffe, Sie kennen das Wort nicht, denn sonst klappt es nicht so gut mit meinem Beispiel. Versuchen Sie bitte auch nicht, es jetzt im Wörterbuch oder im Internet zu recherchieren.

Wenn das Wort für sich allein steht, ist es wirklich schwer zu verstehen. Glücklicherweise begegnen uns in unserer Welt selten einsame Wörter. Wörter pflegen gewöhnlich in Sätzen zusammen zu hocken, auf ganzen Buchseiten. Nun stellen Sie sich vor, Sie lesen das Wort »konvaleszent« in folgender Passage der Erzählung »Der Mann in der Menge«, geschrieben 1840 von Edgar Allan Poe:

»Vor nicht allzu langer Zeit saß ich an einem Herbstabend, bei Einbruch der Dunkelheit am großen Bogenfenster des D-Coffee House in London. Ich war einige Monate krank, bin aber nun konvaleszent, und mit der zurückgekehrten Kraft befinde ich mich in einer jener glücklichen Stimmungen, die …«

Nun wird es etwas leichter. Ganz sicher bin ich zwar nicht, aber unzweifelhaft bietet sich nun eine Anzahl möglicher Bedeutungen an, die allesamt etwas mit »genesen« oder »besser werden« zu tun haben. Zu den Bedeutungen sind Sie nicht gekommen, weil Sie wild danach gesucht haben, sondern Sie haben sie aus dem Kontext abgeleitet, nämlich aus dem Satz um das Wort »konvaleszent« herum. »Erst war er krank und nun kehren seine Kräfte zurück«. Der Sinn ergibt sich aus der unmittelbaren und deutlichen Nähe zum Kontext des Wortes »konvaleszent«. Natürlich gibt es auch einen erweiterten Kontext: Die vollständige Erzählung oder auch das ganze Werk, von Edgar Allan Poe.1 Zwischen dem unmittelbaren Kontext (dem Satz) und dem erweiterten Kontext (dem ganzen Werk), befindet sich natürlich noch eine Menge anderer Kontexte: Die Absätze, die Kapitel, die ganze Erzählung. Die verschiedenen Kontextebenen befinden sich also rund um einen Zielbegriff, Psychologen bezeichnen das als »target stimulus« (siehe Abbildung 4), in unserem Fall der Begriff »konvaleszent«.

Abbildung 4: Konzentrische Anordnung der Kontextebenen rund um den Zielbegriff

Vielleicht können wir es uns folgendermaßen vorstellen: Wenn uns der direkte Kontext zur Erklärung nicht weiterhilft, schauen wir nach der nächsten Ebene (in unserem Beispiel der ganze Satz). Erst wenn der Satz uns auch nicht hilft, die Bedeutung von »konvaleszent« zu verstehen, ziehen wir den ganzen Abschnitt zu Rate, und wenn das nicht reicht, vielleicht noch mehr Text. Um die Bedeutung von »konvaleszent« verstehen zu können, studieren wir aber nicht das ganze Leben und Werk von Edgar Allan Poe, obwohl er ganz bestimmt eine sehr interessante Persönlichkeit war. Wir suchen logischerweise nur so weit wie nötig, denn unser Gehirn arbeitet nach dem Prinzip des geringsten Aufwands.2 Nicht dass unser Gehirn faul wäre, es arbeitet nur sehr effizient.

Externer und interner Kontext

Wir können den Kontextbegriff noch weiter differenzieren, eine Unterscheidung, die in diesem Buch noch wichtig sein wird in Bezug auf Autismus.

Wenn wir uns mit »Kontext« auf die jeweilige Situation beziehen, dann meinen wir den externen Kontext eines Begriffs. Dabei geht es um die physische oder soziale Umgebung des Zielbegriffs, wie beim Text rund um das Wort »konvaleszent«. Daneben gibt es auch noch den internen Kontext, den Kontext in unserem Kopf: unsere Vorstellungen, unser Wissen, unsere Erfahrungen, Gefühle, Erwartungen etc., alles was in unserem Langzeitgedächtnis gespeichert ist.3 So kann es sein, dass Sie das Wort »konvaleszent« verstehen, ohne dass Sie seine Bedeutung aus dem Text erschließen mussten. Wenn man beispielsweise Latein studiert hat, kann man viele Fremdwörter auf der Basis dieses Wissens erkennen. Dann weiß man auch, dass viele schwierige Wörter ihren Ursprung im Lateinischen haben. Vielleicht erinnern Sie sich an das lateinische Verb valescere, was »gesund werden« bedeutet. Sowohl der interne wie auch der externe Kontext helfen uns, die Bedeutung eines Wortes wie »konvaleszent« zu finden (siehe Abbildung 5).

Abbildung 5: Externer und interner Kontext

Internen und externen Kontext können wir theoretisch recht gut unterscheiden, doch in der Praxis gehören sie untrennbar zusammen. Wenn Sie beispielsweise tief in ihrem Gedächtnis graben müssen, um die Übersetzung für das lateinische Verb valescere zu finden und sie sich trotzdem nicht sicher sind, dann wird der externe Kontext die Zweifel daran schnell beseitigen. Die vage Vermutung, dass valescere »gesund werden« bedeutet, wird durch den Satz rund um das Wort »konvaleszent« bestätigt. Dieser Prozess kann aber auch umgekehrt ablaufen. Durch den Sinn, den der Satz rund um das Wort ergibt, denkt man an »genesen« oder »wiederherstellen« und das aktiviert so manche Lateinkenntnisse, durch die man dann endgültig Sicherheit bekommt.

Das Zusammenspiel zwischen internen und externen Kontexten ist, neben dem Prinzip des geringsten Aufwands, das zweite Prinzip, das uns hilft, bei der unendlichen Vielfalt der uns zur Verfügung stehenden Menge von Kontexten die richtige Auswahl zu treffen. Es gibt nicht nur unendlich viele Ebenen und Elemente im externen Kontext, auch in unserem Gehirn als internem Kontext gibt es unbegrenzt viele Gedanken. Der externe Kontext hilft uns bei der Auswahl dieser gedanklichen Vorstellungen.

Ein interessantes Experiment von Diederik Aerts und Liane Gabora (2005a; 2005b) verdeutlicht das. Aerts und Gabora gaben ihren Versuchspersonen die Aufgabe, einen der folgenden Sätze zu lesen:

Das Haustier nagt an einem Knochen.Das Haustier wurde dressiert.Weißt du, welche Art Haustier er hat? Daran sieht man, dass er ein merkwürdiger Mensch ist.

Danach gaben Aerts und Gabora ihren Versuchspersonen eine Liste mit Namen von Haustieren wie Hamster, Papagei, Hund, Goldfisch, Kanarienvogel, Katze, Spinne, Igel und Schlange und fragten sie, ob die Tiere ihrer Meinung nach typische Haustiere4 seien.

Der externe Kontext (der Satz) schien einen deutlichen Einfluss auf die Antworten der Probanden zu haben. Beim Kontext des ersten Satzes (»das Haustier nagt an einem Knochen«) denken Menschen zuerst an einen Hund oder eine Katze, aber niemals an einen Kanarienvogel oder einen Goldfisch. Logisch, Goldfische, die an einem Knochen nagen, sind sehr selten und sicher irgendwie gestört. Beim Satz über die bizarre Person dachten die Befragten niemals an Hund oder Katze, viel eher an Spinnen, Schlangen oder Igel.

Der externe Kontext hat folglich einen Einfluss darauf, welche Konzepte wir in unserem Gehirn aktivieren. So werden Ihnen bei dem Satz »Das Haustier läuft durch den Garten« verschiedene Begriffe einfallen, etwa Katze, Hund oder Kaninchen. Aber bei dem Satz »Das Haustier läuft kläffend durch den Garten und jagt die Katze« denken Sie nur noch an einen Hund.

Jetzt, gerade in diesem Moment während Sie dieses Buch lesen, spielt auch der externe Einfluss auf Ihren mentalen Kontext eine Rolle. Ein Text über Kontext aktiviert vor allem Ihre Begriffe und Vorstellungen über Psychologie, Denken oder Wahrnehmung, während alles, was Sie über Radrennen, historische Schlachten, Toilettenpapiermarken oder italienische Gerichte wissen, nicht in Ihrem Kopf aktiviert wird. Obgleich es sein kann, dass Sie durch die Beschreibung des Experiments von Aerts und Gabora plötzlich an Ihren Goldfisch denken, den Sie bereits seit einer Woche vergessen haben zu füttern. Aber auch dieses Beispiel zeigt, welchen Einfluss der externe auf den internen Kontext hat.

Umgekehrt hat der interne Kontext Einfluss darauf, auf welche Aspekte des externen Kontexts Sie Ihre Aufmerksamkeit richten. Irgendwo in Ihrem Kopf gibt es ein Konzept von »Buch«. Das Konzept beinhaltet das Merkmal »lesen«. Wenn Sie ein Buch sehen, werden Sie besonders auf den Titel achten. So können Sie unterscheiden zwischen »interessant, sollte ich lesen« oder »interessiert mich nicht«. Um zu dieser Einschätzung zu kommen, befühlen Sie nicht das Papier und achten nicht auf den Einband. Aber vielleicht tun Sie das doch, wenn Ihr Beruf oder Hobby Buchbinden ist. Für einen Buchbinder sind Bindung und Papiersorten möglicherweise viel interessanter als das, was im Buch zu lesen ist. Wer Sie sind, was Sie wissen, was Sie wollen und wofür Sie sich interessieren, hat Einfluss darauf, welcher externe Kontext Ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht. Wenn Sportfans ein Fußballspiel anschauen, haben sie kaum ein Auge dafür, was auf den Reklamebannern rund um das Spielfeld steht, während Werbefachleute dem doch deutlich mehr Interesse entgegenbringen. Im Kapitel über Kontext und Wahrnehmung werden wir näher darauf eingehen, welchen Einfluss der Kontext auf die Aufmerksamkeit hat.

Interner und externer Kontext beeinflussen sich kontinuierlich und wechselseitig. Der externe Kontext (die Situation) verändert und beeinflusst unsere Ideen, Erwartungen, Gefühle, das heißt alle Elemente unseres psychischen Gesamtzustands. Die wiederum bestimmen stets mit, für welche Aspekte des externen Kontexts wir uns interessieren. Es macht keinen Sinn zu fragen, welcher Kontext zuerst kommt, der externe oder der interne Kontext, denn da wären wir wieder bei der Frage von Huhn und Ei, wie wir im folgenden Kapitel sehen werden.5

Wichtiger und nebensächlicher Kontext

Jetzt wenden wir uns der Frage zu, wie wir in der endlosen Ansammlung kontextueller Gegebenheiten diejenigen finden, die wichtig sind. Nicht alles in einem Kontext ist gleichermaßen relevant. Manche Psychologen differenzieren daher zwischen wichtigem und nebensächlichem Kontext.6 Wichtiger Kontext umfasst jene Abschnitte, die einen Einfluss auf die Bedeutung von etwas haben, wie zum Beispiel das Wort »kläffend« in dem Satz: »Das Haustier läuft kläffend durch den Garten«. Zum nebensächlichen Kontext zählen all die Dinge, die eher zufällig in der Nähe sind und darum nicht unbedingt wichtig sind für Sachverhalte, die wir verstehen wollen. Die Schriftfarbe des Satzes: »Das Haustier läuft kläffend durch den Garten« wäre beispielsweise weniger wichtig.

Abbildung 6: Probanden, die ein Set Karten bekamen, deren Rückseiten mit einem Konterfei von James Bond bedruckt waren, zeigten sich beim Glücksspiel wesentlich risikobereiter als jene, deren Spielkarten neutral gestaltet waren. Bei Karten mit der Abbildung eines Babys, zeigten die Spieler die geringste Risikobereitschaft.

Warum schafft man eine gesonderte Kategorie für einen Kontext, der nebensächlich ist? Wenn er doch nebensächlich ist, ist er auch nicht wichtig, oder? Dem ist nicht so. Man mag es kaum glauben, aber selbst nebensächlicher Kontext hat Einfluss auf die Bedeutung, die wir den Dingen geben und damit auf unser Verhalten, nur sind wir uns der kontextuellen Beeinflussung nicht bewusst. So hat zum Beispiel bei Wahlen auch das Wahllokal, in dem die Menschen ihre Stimme abgeben, Einfluss auf ihr Abstimmungsverhalten, ohne dass sie sich dessen bewusst sind (Berger, Meredith u. Wheeler, 2008). Oder die Rückseite von Spielkarten hat Einfluss auf die Risikobereitschaft beim Glücksspiel, obwohl wir die Rückseiten der Karten üblicherweise kaum beachten (siehe Abbildung 6).

Boicho Kokinov, ein bulgarischer Professor der Psychologie, der solche Effekte untersucht hat, zeigte, dass selbst kleine Veränderungen in scheinbar irrelevanten Kontextelementen Einfluss auf verschiedene kognitive Prozesse haben (Distant Context Effect – DICE, vgl. Kokinov u. Raeva, 2004). Kokinov demonstrierte, dass der kontextuelle Effekt von Nebensächlichem eine Rolle spielt beim Lösen von Problemen, wie zum Beispiel bei der Einschätzung des Lebensalters von Personen oder der Bewertung von Verkaufspreisen für Apartments. Im letzteren Fall scheint die Farbe, in der der Verkaufspreis ausgeschrieben wird, einen Einfluss darauf zu haben, ob der Verkaufspreis eher als teuer empfunden wird oder als preiswert. Vertrauen Sie darum niemals zu sehr auf Ihren kritischen Konsumentenblick, wenn Sie sich wieder einmal zwischen preiswert oder teuer entscheiden sollen. Sie könnten durch einige Nebensächlichkeiten beeinflusst werden, derer Sie sich gar nicht bewusst sind. In der Werbung werden scheinbar nebensächliche Kontextelemente sehr absichtsvoll eingesetzt.

Resümee

Die unendliche Ansammlung von Elementen, die wir »Kontext« nennen, können wir folglich unterteilen in:

–unmittelbaren nahen Kontext und erweiterten Kontext,

–internen und externen Kontext,

–wesentlichen und nebensächlichen Kontext.7

Mit dem, was wir bis jetzt wissen, können wir versuchen, Kontext so zu umschreiben, dass wir mit dieser Definition für den Rest des Buchs arbeiten können. Eine alles umschließende Definition wird es sicherlich nicht sein.

Eine wissenschaftlich-technische Definition für Psychologen und Studenten könnte wie folgt lauten:

Kontext ist die Gesamtheit von Elementen innerhalb der wahrnehmenden Person (affektiv und kognitiv, sowohl im Langzeit- als auch im Arbeitsgedächtnis) und von Elementen der räumlichen und zeitlichen Umgebung eines Stimulus (sowohl nah als auch fern), welche die Wahrnehmung dieses Stimulus und die Bedeutung, die ihm zugeschrieben wird, beeinflussen. Dieser Einfluss kann direkt, explizit und bewusst verlaufen, aber auch (und das überwiegend) indirekt, implizit und vorbewusst. Kontextsensitivität ist das Vermögen innerhalb der Gesamtheit der Elemente, kontextuell relevante Informationen zu erkennen und kontextuell Unwichtiges zu vernachlässigen.

Etwas leichter verdaulich ist vielleicht folgende Umschreibung:

Kontext umfasst Elemente in unserer Umgebung, sowohl in der Außenwelt als auch in der Innenwelt (in unserem Gehirn), die unsere Art und Weise, wie wir Dingen Bedeutung zuschreiben, beeinflussen. Die Fähigkeit, jene Elemente des Kontexts, die für eine Bedeutung nötig und nützlich sind, auszuwählen und zu verwerten, nennen wir Kontextsensitivität. Das neurotypische menschliche Gehirn ist von Natur aus kontextsensitiv.

Falls Sie übrigens den Suchbegriff »Kontext« googeln, dann werden Sie entdecken, dass der Begriff »Kontext« auch als Markenname oder Bezeichnung für einen Kongress dient. Falls Sie keine Lust haben zu googeln, steht alles in der Fußnote.8

__________________

1Burke (2002) spricht von einem Mikrokontext und einem Makrokontext.

2Das fanden Wissenschaftler des Center for Cognitive Brain Imaging an der Carnegie Mellon Universität heraus, oder präziser: die Forschungsgruppe um den Psychologen Marcel Just, der bedeutende Beiträge zur Hirnforschung bei Menschen mit Autismus lieferte.

3In der Literatur gibt es noch andere Bezeichnungen. So bezeichneten Phillips und Silverstein (2003) den externen Kontext als »stimulus context« und den internen Kontext als »task context«.

4In der originalen Anweisung wurde nicht eine Beurteilung der Wahrscheinlichkeit der konkreten Ausprägung erfragt, sondern deren Häufigkeit. Doch dieser Unterschied ist für unsere Darstellung nicht so wichtig.

5Darum sehen einige Autoren (z. B. Bradley u. Dunlop, 2005) Kontext nicht als Produkt, sondern eher als Prozess.

6Beispielsweise machte Smith (1988) einen Unterschied zwischen bedeutsamem und zufälligem Kontext. Baddeley und Woodhead (1982) trennten zwischen »unabhängigem Kontext«, jenem Kontext, der keinen Einfluss auf das Zuschreiben von Bedeutung ausübt, und dem »interaktiven Kontext«, der Einfluss darauf nimmt.

7Wissenschaftler, die sich mit menschlichem Denken beschäftigen, wären keine Wissenschaftler, wenn sie nicht versuchen würden, weitere Unterteilungen zu schaffen und Verbindungen zwischen diesen Unterteilungen herzustellen. So haben Mitarbeiter der Vanderbilt Universität in Nashville (Park, Lee, Folley u. Kim, 2003) folgende Aufschlüsselung hergestellt:

a)Perzeptueller Kontext (mehr oder weniger identisch mit dem, was ich als externen Kontext bezeichnet habe):

1. Der Kontext innerhalb des sogenannten »target stimulus«. Beispiel: Wenn es darum geht, vom Gegenstand eines Kontexts Farbe, Form, Größe, Ort etc. beurteilen zu müssen.

2. Der räumliche Kontext rund um den »target stimulus« oder genauer gesagt, sein Hintergrund und alle Dinge in der Nähe des »target stimulus«.

3. Der zeitliche Kontext: Alle Reize vor und nach dem »target stimulus«.

b)Kognitiver Kontext (mehr oder weniger identisch mit dem, was ich den internen Kontext genannt habe):

1. Das Wissen in unserem Langzeitgedächtnis (wir könnten es etwa mit unserem internen Kontext vergleichen).

2. Das Wissen in unserem Arbeitsgedächtnis, aufgabenrelevante Informationen (wir könnten es den unmittelbaren internen Kontext nennen).

c)Sozio-affektiver Kontext: Die aktuelle emotionale Befindlichkeit.

8ConTEXT ist der Name eines Computerprogramms für Software-Entwickler und ebenfalls der Name einer jährlich stattfindenden Messe in Columbus (USA) für Liebhaber von Science-Fiction-, Fantasy- und Horrorliteratur.

2. Kapitel:Kontext im Gehirn

Warum ist der Hinterkopf zum Sehen genauso wichtig wie unsere Augen?

Warum ist Sehen anders als Fotografieren?

Warum denken wir nicht, dass Menschen schrumpfen, wenn siesich von uns fortbewegen? Warum behalten Dinge ihre Farbe,auch wenn sie im Schatten anders aussehen als im Licht?

Was sehen wir zuerst? Die Bäume oder den Wald?

Was sind die charakteristischen Unterschiede in der Informationsverarbeitungbei Menschen mit Autismus?

Warum ist Walter in den Büchern »Wo ist Walter?« so schwer zu finden?Und warum entdecken wir auf Suchbildern die Veränderungen nicht sofort?

Warum übersehen wir einen Gorilla, der plötzlichin einer Gruppe Basketballer auftaucht?

Was hat das menschliche Gehirn mit einem großen Sinfonieorchestergemeinsam? Und was geschieht, wenn der Dirigent fehlt?

Wo im Gehirn sitzt eigentlich die Kontextsensitivität?

Wahrnehmung und Bedeutungszuschreibung finden primär in unserem Gehirn statt und, wie wir gesehen haben, das neurotypische Gehirn ist von Natur aus kontextsensitiv. Wo aber sitzt die Kontextsensitivität in unserem Gehirn? Wie beeinflussen kontextuelle Aspekte unsere Wahrnehmung? Wie nutzt unser Gehirn Kontext, und wann tut es das? Um diese Fragen dreht sich dieses Kapitel.

Wir betrachten vor allem das Sehen, unsere visuelle Wahrnehmung. Der Einfluss von Kontext auf die visuelle Wahrnehmung wurde bereits sehr ausführlich untersucht. Ausführungen über die Rolle des Kontexts beim Sehen sind in einem Buch auch besser aufgehoben, denn ein Buch verarbeitet man schließlich über das Sehen. Beispiele über das Hören würden zusätzlich zum Buch eine CD erfordern und ein Buch mit Duftmustern wäre ziemlich kompliziert, sowohl bei der Herstellung als auch beim Lesen, besonders in einem überfüllten Zugabteil. Obwohl es in diesem Kapitel ausschließlich um visuelle Wahrnehmung geht, hat Kontext natürlich aber auch Einfluss auf andere Formen der Wahrnehmung, wie das Hören, Fühlen, Tasten oder Riechen.9

Wahrnehmung: Zwei Missverständnisse

Die Rolle des Kontexts in der menschlichen Wahrnehmung wird deutlich, wenn wir zwei Missverständnisse über die Wahrnehmung zurechtrücken:

1.Wahrnehmen ist ein Prozess, bei dem wir Eindrücke aus der Umgebung aufnehmen und in unserem Gehirn verarbeiten. Mit anderen Worten: Sehen ist wie Fotografieren oder Filmen.

2.Während wir wahrnehmen, setzen wir viele Puzzleteile zu einem Ganzen zusammen. Wenn wir viele Bäume sehen, schließen wir daraus, dass es sich wohl um einen Wald handelt.

Die beiden Fehlannahmen stehen nicht getrennt voneinander, es sind zwei Aspekte derselben Sichtweise über Wahrnehmung, die man wie folgt zusammenfassen kann: Sehen ist das Verarbeiten vieler visueller Reize, die über die Augen in unser Gehirn gelangen und dort als Ganzes eine Bedeutung erhalten.

Wir illustrieren das an einem Beispiel, siehe Abbildung 7.

Abbildung 7: Visuelle Wahrnehmung: Auto

Was sehen Sie? »Das ist leicht«, denken Sie, »ein Auto natürlich!«10 Wie hat das Ihr Gehirn gemacht, dass Sie an ein Auto denken? Wir fassen einmal den Prozess der visuellen Wahrnehmung zusammen.11